Wenn der Herrscher bellt, jubelt das Volk

«Barkouf» von Jacques Offenbach in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Marcel Beekman (Bababek), Andreas Hörl (Gross-Mogul) und André Jung (Erzähler) in der Zürcher Produktion von Jacques Offenbachs «Barkouf» / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Das Stück ist eine Sensation, in mehr als einer Hinsicht. In «Barkouf», einer Opéra-comique, zeigte Jacques Offenbach zusammen mit seinem damals als Grossmeister des Fachs verehrten Librettisten Eugène Scribe, wie weit zu gehen er wagte, wenn er zu weit gehen wollte. In ihrer Absurdität wirkt die Geschichte von einem Hund, der von einem der Aufmüpfigkeit seines Volkes überdrüssigen Herrscher zum Vize-König mit allen Vorrechten ernannt wird, durchs Band erheiternd. Dabei ist sie von unerhörter Bissigkeit. Denn dank der früheren Besitzerin des Tiers und deren zielsicherer Übersetzung des vize-königlichen Gebells werden die herrschenden Verhältnisse in der (Bühnen-)Monarchie ihrer Fragwürdigkeit überführt und kurzerhand auf den Kopf gestellt.

Das ist seinerzeit nicht gut angekommen. Mitten in den Vorbereitungen meldete sich die kaiserliche Zensur. Sie verbot die Aufführung des Stücks, wenn nicht einige durchaus substantielle Abmilderungen vorgenommen würden. Und nach der Uraufführung von «Barkouf» an der Pariser Opéra-Comique Ende 1860 kam es in den bürgerlichen Zeitungen zu scharfer, teilweise vernichtender Kritik. Nach wenigen Vorstellungen abgesetzt, verschwand das Stück in der Schublade – bis es der Offenbach-Spezialist Jean-Christophe Keck in einem Haus der Familie Offenbach entdeckt und in der Folge für die Bühne eingerichtet hat. Ende 2018 kam «Barkouf» an der damals von Eva Kleinitz geleiteten Rhein-Oper in Strassburg zu einer erfolgreichen Wiederbelebung (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 12.12.18). Die Folge davon ist die dritte Produktion des Stücks, die jetzt im Opernhaus Zürich zu sehen und zu hören ist – schon allein das ist der Rede wert.

So viel darf gesagt werden, obwohl «Barkouf» in Zürich auch gewisse Längen aufweist – anders als in Strassburg. Möglicherweise sind dort einige Striche vorgenommen worden, möglicherweise ist in Zürich das Stück tatsächlich zur Gänze gespielt worden, wer weiss. Zudem liegt das Werk in einer Partitur vor, die auf der Originalhandschrift basiert: auf einer Fassung, an die Offenbach vor der Uraufführung, gewiss aber nach ihr noch Hand angelegt hat – das ist unklar, weil, wie in dem informativen Programmbuch des Opernhauses nachzulesen ist, die Materialien zur Uraufführung bei einem Brand der Opéra-Comique 1887 zerstört worden sind. In welcher Weise Offenbach «Barkouf» haben wollte, wird man also nie erfahren. Vielleicht hat er nach den Verrissen, jener von Hector Berlioz soll ihn besonders geschmerzt haben, das Werk auch einfach seinem Schicksal überlassen.

Kein Zweifel kann jedoch daran herrschen, dass die Längen, die in Zürich zu Tage treten, mit der Textfassung des Stücks zu tun haben. Die gesprochenen Zwischentexte von Scribe wurden vom Produktionsteam als veraltet angesehen, sie wurden daher neu geschrieben, und zwar von Max Hopp, dem Regisseur des Abends. Vorgetragen werden sie von André Jung, der als Conférencier durch das Geschehen führt, die Figuren vorstellt, die Verwicklungen erläutert – und an Verwicklungen fehlt es fürwahr nicht. Wie der grosse Schauspieler mit seiner nicht eben einfachen Aufgabe umgeht, ist hinreissend. Seine Bühnenpräsenz, das Schreiten in seinem grünen Dreiteiler, hier eine kleine Handbewegung, dort ein Blick, vor allem aber seine Diktion – das alles macht die vom Komponisten nicht vorgesehene Partie zu einer zentralen Rolle. Und sein Solo, analog zu jenem des Frosch in der «Fledermaus», ist grosse Kunst. Nicht verschweigen mag ich aber, dass die Texte Hopps, so geschickt sie den Zuschauer an die Hand nehmen, merklich oberlehrerhaft daherkommen: Brechts Zeigefinger lässt grüssen. Ausserdem und vor allem üben sie eine retardierende Wirkung aus, die ins Gewicht fällt.

Dazu kommt, dass der Regisseur fast durchwegs mit der grossen Kelle anrührt. «Barkouf» ist eine Opéra-comique, und die lebt von scharfer Lineatur und schneidender Ironie. Max Hopp zeigt das Stück jedoch als Operette, vielleicht sogar als Operette im Berliner Stil. Es wird jedenfalls nach Massen auf die Pauke gehauen. In üppiger Farbenpracht und anspielungsreicher Formenvielfalt die von Ursula Kudrna entworfenen Kostüme, gerade jene für die von Martina Borroni geleitete, sagenhaft agile Tanztruppe – und natürlich gäbe es diese blendend ausstaffierten Tanzeinlagen nicht, enthielte die Partitur nicht die entsprechende Musik. Auch das Bühnenbild von Marie Caroline Rössle, ein verwinkeltes Treppengeflecht in Schwarz-Weiss, drückt sich etwas schwergewichtig aus. Wenn der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor in Aktion tritt, scheint kein Fleckchen Boden mehr freizubleiben.

Auch in der Ausgestaltung der Figuren dominiert der dicke Pinsel. Den machtgeilen Mundschenk Bababeck, der mit seinen Intrigen am Ende kläglich scheitert, gibt Marcel Beekman mit aller sprachlichen Virtuosität und bedeutender Singkunst, aber doch arg chargierend. Das lässt sich auch von Andreas Hörl behaupten. Als Grossmogul führt er einen Wanst spazieren, für den kein Hemd gross genug ist, während er im entscheidenden Moment ausschliesslich Rülpser ausstösst, die vom Conférencier übersetzt werden müssen, so wie später Barkoufs Bellen von seinem Frauchen zu Sprache gemacht wird. Als Versuch, die Schärfe von Offenbachs Kritik an den Mächtigen seiner Zeit sicht- und fühlbar werden zu lassen, erscheint der Ansatz legitim, in der szenischen Ausführung schiesst er klar übers Ziel hinaus. Der Witz, der erklärt wird, ist keiner mehr.

Allerdings fehlt es auch nicht an Inseln mit ironischer Anspielung, überraschendem Humor und hochstehendem künstlerischem Ausdruck. Was Brenda Rae als Maïma, als die selbstbewusste und effizient agierende Besitzerin des Hundes Barkouf, und was Rachael Wilson als ihre Freundin Balkis leisten, setzt der Produktion Glanzlichter auf – zumal der Kontrast zwischen dem hohen, ausserordentlich beweglichen Sopran und dem in der Tiefe verankerten, klangvollen Mezzosopran seinen eigenen Reiz hat. Als Maïmas unglücklicher Liebhaber Saëb tritt Mingjie Lee mit einer kultiviert und gefühlvoll vorgetragenen Arie in Erscheinung. Während Sunnyboy Dladla in der Partie des Xaïloum als äusserst kurzfristig aufgebotener Einspringer brillierte. Eine Hauptrolle spielt auch die grossbesetzte Philharmonia Zürich, die unter der Leitung von Jérémie Rhorer Offenbachs Musik in ihrer ganzen Farbenpracht hören lässt und im zweiten Teil des Abends frappant an Spannung gewinnt.

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus

Zürich

Lustvoll ins Heute projiziert

Mozarts «Nozze di Figaro» in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Gräfin (Anita Hartig) und Cherubino (Lea Desandre) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Was für ein Vergnügen. Auf der Bühne wird singend gespielt, dass sich die Bretter biegen. Im Graben wird Klang gegeben, dass es eine Art hat. Und im (voll besetzten) Zuschauerraum wird herzlich gelacht. Das Stück aber, es ist 236 Jahre alt und spiegelt eine gesellschaftliche Konstellation, die so nicht mehr gibt – oder eventuell doch? «Le nozze di Figaro», die Opera buffa Wolfgang Amadeus Mozarts, hat bei der Uraufführung in Wien gehörigen Wirbel ausgelöst – kein Wunder, verhandelt sie doch das Gebaren adliger Herrschaften dem weiblichen Geschlecht gegenüber, insbesondere das ius primae noctis, das es als kodifiziertes Recht nicht gegeben hat, als Gepflogenheit aber selbstverständlich gepflegt wurde und in den Jahren vor der französischen Revolution als Inbegriff des feudalen Machtanspruchs in Verruf geraten war.

Heute ist das Thema, wenn auch in der Gegenwart anverwandelter Form, wieder sehr en vogue. Nicht dass Jan Philipp Gloger, der Regisseur der neuen Zürcher Produktion von «Le nozze di Figaro», den Grafen Almaviva umstandslos zu einem Harvey Weinstein gemacht hätte, doch die Verwandtschaft zwischen den beiden Verkörperungen männlichen Daseins ist derart mit Händen zu greifen, dass der Regisseur sie nicht links liegen lassen konnte. Unterstrichen wird der Gegenwartsbezug durch den immer wieder auf dem Zwischenvorhang auftauchenden Kodex zur Begegnung zwischen Mann und Frau, wie ihn sich etwa das Opernhaus Zürich nach einer dunklen Affäre rund um ein Mitglied von dessen Direktion gegeben hat. Zu einiger Heiterkeit führen am Abend selbst die Versuche, diesen Text mit dem Finger auf dem tragbaren Bildschirm den eigenen Bedürfnissen gemäss zu editieren.

Gloger, der das Stück klar in der Jetztzeit verortet, arbeitet mit dickem Stift, was angesichts der Erscheinung des Grafen, einem Pfau, der in jede ihm zugedachte Falle tappt, am Platz ist. Der Regisseur ging in der Vorbereitung aber auch mit einer Nonkonformität und einer Virtuosität zu Werk, die das Ensemble verzaubert hat und in der Vorstellung zu grosser Form auflaufen lässt. Auch in kleineren Partien wie zum Beispiel jener des Bartolo, den York Felix Speer in seiner ganzen Körperfülle zu einer herrlichen Theaterfigur macht. Oder in jener des Richters Don Curzio, den Christophe Mortagne als pralle Karikatur eines Bürokraten gibt. Ein Glanzlicht auch der puerile Cherubino von Lea Desandre. Scharf gezeichnet ist das Quartett der Protagonisten. Der Graf, Daniel Okulitch nimmt sich der Partie mit virilem Timbre an, als ein Schnösel in den hochgezogenen Hosen, die ihm die Kostümbildnerin Karin Jud entworfen hat. Die Gräfin, von Anita Hartig mit grossem Ton, aber auch einiger Unsicherheit in der Intonation gesungen, als eine tragische Figur aus der alten Welt. In seinem schwarzen Dreiteiler ist Figaro ganz der Diener als Herr, mit seinen kernigen Stimmfarben lässt Morgan Pearse keinen Zweifel daran. Das Energiezentrum bildet jedoch die Susanna von Louise Alder, einer Sängerin von hoher Musikalität und einer bezwingend quirligen Darstellerin.

Entscheidend für die Wirkung all dessen sind jedoch die Räume für die vier Akte, die der Bühnenbildner Ben Baur bewusst eng gehalten hat. Das Finale mit der endgültigen Demaskierung des Schürzenjägers ereignet sich nicht im nächtlichen Park des gräflichen Schlosses, sondern auf dessen alle andere als geräumigem Dachboden – da prallen die Energien ungebremst aufeinander. Wesentlichen Anteil daran hat die Philharmonia Zürich, die historisch informierten, unerhört präsenten, bisweilen geradezu wollüstigen Klang hören lässt. Wie der Regisseur lässt Stefano Montanari, der das musikalische Geschehen, behänd zwischen Lesebrille und Taktstock wechselnd, vom kräftig verstärkten Pianoforte aus leitet, keine Gelegenheit zu einer ironischen Anspielung aus. Liebevoll und witzig legt er zusammen mit dem Cellisten Claudius Herrmann den Basso continuo aus, intensive Emotionalität erreicht er in den orchestral begleiteten Rezitativen, bezwingend die Tempogestaltung und die Wechsel des Tons zwischen der herrscherlichen Attitüde im Finale des ersten Akts und der listigen Nasführung des Grafen durch seinen Kammerdiener am Ende des zweiten. Ein kräftiger Stoss Frischluft für das althergebrachte Genre der Oper.

Schöne heile Theaterwelt

Wagners «Rheingold» als Vorabend zum neuen Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Aufführung ohne Interpretation, geht das? Immer und immer wieder ist es behauptet worden – von Igor Strawinsky, der seine Musik lieber dem mechanischen Musikinstrument Pleyela überantwortete als den Interpreten seiner Zeit, auch von einem unverdächtigen Dirigenten wie Günter Wand, der für sich in Anspruch nahm, in seinem Tun ausschliesslich auf den Notentext zu reagieren. Und nun hat auch Andreas Homoki, der Intendant des Opernhauses Zürich, diese Fährte aufgenommen. Seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen», die jetzt mit «Rheingold» eröffnet worden ist und im Lauf der beiden kommenden Spielzeiten vollendet werden soll, möchte nicht eine Deutung der von Wagner erdachten Vorgänge zeigen, sondern die Vorgänge selbst. Der Regisseur mithin nicht als Interpret, sondern als Spielleiter, der szenisch lebendig werden lässt, was Wagner zu Papier gebracht hat. Zurück zum Text selbst, zu den Ursprüngen, so lautet Homokis Maxime – eine Haltung, die sich nicht zuletzt an der Tatsache orientiert, dass Wagners «Ring» zu grossen Teilen in Zürich entstanden ist.

Wenn sich nach den ersten, noch im Dunkeln erklingenden Takten des Vorspiels die Szene erhellt, wird die Drehbühne sichtbar: der Ring als Kreis und das Kreisen als die Beweglichkeit der Fluten. Zu sehen sind in der Ausstattung von Christian Schmidt hochweiss gehaltene Räume klassizistischen Zuschnitts; später werden sie mit schwerem gründerzeitlichem Mobiliar bestückt – was vielleicht noch keine Interpretation darstellt, aber immerhin einen Hinweis auf die Entstehungszeit der Tetralogie vermittelt. Bald schon zeigt sich, wie der leere Raum der Bühne gefüllt werden soll: mit Bewegung und Plastizität der Körpersprache. Das ist überzeugend gelöst – ebenso trefflich, wie der Konversationston des Stücks herausgestrichen wird. Bisweilen werden allerdings Grenzen sichtbar. Die Kissenschlacht, die sich Uliana Alexyuk, Niamh O’Sullivan und Siena Licht Miller als die fröhlichen Rheintöchter liefern, zieht sich merklich in die Länge, während Christopher Purves als ein unerhört stimmgewaltiger Alberich seinen Drang nach dem Weiblichen ziemlich dick auftragen muss und dabei an die Grenze zur Charge gerät.

Format kommt ins Spiel, wenn ab der zweiten Szene Wotan das Heft in die Hand nimmt. Die obligate Augenbinde trägt der Göttervater nicht, wohl aber den wallenden Mantel und in der Hand den Speer mit den Vertragsrunen. Mit Donnerstimme setzt Tomasz Konieczny seine Positionen durch – ein umwerfendes Rollenporträt. Fricka vermag ihrem herrscherlichen, erst wenige Zeichen der Schwäche zeigenden Gatten nicht das Wasser zu reichen, dafür bleibt Patricia Bardon zu unbestimmt, aber es folgt ja noch «Die Walküre» mit dem für Wotan ungünstig ausgehenden Ehestreit. Etwas schwach auch Matthias Klink, der die Partie des Loge aus dem neuen Stuttgarter «Ring» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 15.12.21) nach Zürich gebracht hat; der Scharfsinn seiner diplomatischen Winkelzüge gegenüber Mime (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) und Alberich fällt ab vor dem Hüpfen und Springen, das ihm der Regisseur abverlangt.

Getragen wird die Produktion von einem sehr soliden Ensemble. Die musikalischen Überraschungen ereignen sich jedoch im Orchestergraben. Dort führt mit Gianandrea Noseda ein Neuling in den Gefilden von Wagners «Ring» und ein Dirigent italienischer Muttersprache das Zepter. Hervorragend tut er das. Kraftvoll und satt klingt die Philharmonia Zürich, aber in keinem Moment zu laut, die Verständlichkeit ist jedenfalls hoch. Das geht auf die Sprachpflege zurück, deren Einfluss nicht genug gewürdigt werden kann, vor allem aber auf den sorgsamen Umgang mit der musikalischen Struktur: mit der klanglichen Balance im verhältnismässig kleinen Raum des Zürcher Hauses und dem Netz der Leitmotive. Immer wieder und mit Erfolg ruft Noseda dem Zuschauer in Erinnerung, dass das «Rheingold» auch eine Art Sinfonischer Dichtung darstellt. Der Dirigent scheut denn auch nicht davor zurück, Motive an entscheidenden Stellen krass herauszuheben – was man da und dort auch als etwas penetranten Wink mit dem Zeigefinger empfinden mag.

Nur, es passt zu einer Inszenierung, die insgesamt doch nicht wenig an ihrer Ambition leidet – am Versuch, die schwer befrachtete Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» ausser Acht zu lassen und stattdessen mit heiterer Naivität und frischfröhlicher Vitalität zu Werk zu gehen. Das mag im Ansatz denkbar sein, in der Realität der Aufführung führt es zu Problemen. Was der Liebhaber und Kenner verlangt, wird ihm im neuen Zürcher «Rheingold» geboten. Haufenweise wird das Gold in angeblich schweren Klumpen auf der Bühne aufgeschichtet. Und lustig hüpft die Kröte, in die sich Alberich fatalerweise verwandelt, über den Boden. Zuvor versucht es der Nibelung noch mit einer monströseren Erscheinung, deren Wotan und Loge fürs erste nicht gewahr werden – bis sich dann eine furchterregende Schwanzspitze durch eine offenstehende Tür hineinschlängelt. Das wäre schon des Effekts genug gewesen. Doch leider lassen sich Andreas Homoki und Christian Schmidt das Untier nicht nehmen, weshalb einen Lidschlag später gleichwohl ein Theater-Drache mit Dampf und Gloria auf der Bühne erscheint.

So hat es Wagner niedergeschrieben, aber ist es sakrosankt? Entspricht es nicht einem heute etwas kindlich wirkenden Theaterbegriff – einem von vorgestern, der durch die Vielzahl anregender Deutungsversuche längst in die Jetztzeit übersetzt ist? Und erinnert es nicht an die seligen Zeiten der Bayreuther «Ring»-Inszenierungen Wolfgang Wagners? Wenn schon «Rheingold» in der Art, die Wagner vorschwebte, dann vielleicht doch eher konsequent, nämlich in historisch informierter Aufführungspraxis, wie es bei den «Wagner-Lesarten» in Köln versucht wird (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 08.12.21). Schliesslich: Wenn Wotan seine Gattin auffordert, in Walhall mit ihm zu wohnen, und die Götter feierlich der Burg zuschreiten, erscheint in Zürich weder Burg noch Brücke, sondern vielmehr ein überlanger weisser Tisch mit goldenem Rand. Obwohl rechteckig, erinnert das Möbelstück an einen anderen überlangen weissen, freilich ovalen Tisch, der dieser Tage, meist von zwei Männern in schwarzen Anzügen besetzt, vielerorts in den Medien erscheint. Die Ähnlichkeit, sie soll nicht als ein Moment deutenden Inszenierens empfunden werden?

Seligkeit und Absturz

Lorenzo Viotti erstmals beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein fulminantes Debüt. Kurz und bündig: drei Stücke in spannungsvoller Beziehung zueinander, ein konzentrierter Verlauf von eineinhalb Stunden ohne Unterbruch durch eine Pause, sorgfältig konzipierte und mit Verve ausgeführte Deutungen – so und nicht anders muss es sein. Und so erübrigt sich auch die regelmässig geäusserte Vorstellung, das Konzert mit «klassischer» Musik bedürfe der Auffrischung.

Zu verdanken ist das – nicht nur, aber auch nicht zuletzt – Lorenzo Viotti, der nun zum ersten und hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich getreten ist. Die Erwartungen waren hoch, denn seit er 2015 den Dirigentenwettbewerb der Salzburger Festspiele gewonnen hat, verfolgt der 32-jährige Schweizer Dirigent eine kräftig nach oben weisende Laufbahn, die ihn inzwischen an die Spitze der Oper Amsterdam und der mit ihr verbundenen Niederländischen Philharmonie geführt hat.

Wien und seine musikalische Seligkeit, das bildete den Faden, dem der Abend folgte. Er hob an mit dem verkannten Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds, das in zart schimmernden Jugendstil-Klängen schwelgt. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg im amerikanischen Exil des Komponisten entstanden und dort nach Kriegsende revidiert, lässt das dreisätzige Stück die goldene Zeit der Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufleben. Immer wieder klingen die orchestralen Farben Franz Schrekers an, die Harmonik greift weit aus, jedoch ohne Verlust an tonaler Bodenhaftung, die Melodielinien kreisen in sinnlichen Bögen immer wieder höchsten Höhen zu. Veronika Eberle versah ihren Part mit betörenden Schwingungen, und das Tonhalle-Orchester stellte sich zusammen mit Lorenzo Viotti so akkurat an ihre Seite, dass die Bildhaftigkeit von Korngolds Musik in aller Farbenpracht heraustrat.

Erstaunlich und bemerkenswert, was der Dirigent mit dem ihm unvertrauten Orchester und in dem für ihn neuen Saal erzielte. Erst recht gilt das für die Suite aus dem «Rosenkavalier», die wohl nicht von Richard Strauss zusammengestellt wurde, den Geist des meisterlich rückwärtsgewandten Werks aber voll und ganz spiegelt. Lorenzo Viotti ist ein junger Musiker, den die durch Theodor W. Adorno geschürte Abneigung gegen Strauss in keiner Weise anficht. Mit dem Tonhalle-Orchester, das ihm in blendender Verfassung begegnete, kostete er die Schönheit dieser locker der Oper entlang gefügten Walzerfolge nach Massen aus. Immer wieder drosselte er die Tempi, als wollte er die Zeit anhalten, als wollte er seinem Publikum vielleicht aber auch Gelegenheit zu geben, in die Musik hineinzuhören, hineinzuhorchen. Der dunkel gefärbte Mischklang tat seine Wirkung; wenn auch noch bisschen mehr Transparenz geherrscht hätte, wenn das feingliedrige Spinnennetz, das Strauss’ Musik auch ausmacht, noch etwas besser zu hören gewesen wäre, das Glück wäre vollkommen gewesen. Aber was soll schon vollkommenes Glück…

Weiter ging es mit dem Wiener Walzer im dritten Schritt des Abends – nämlich mit «la Valse» von Maurice Ravel, unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und durchaus in Anspielung an den Zusammenbruch der kaiserlich-königlichen Wiener Monarchie verfasst. Ungeheuer die Energie, die Viotti aus dem Dreivierteltakt herausholte, blendend die Brillanz, in der er die Instrumentation leuchten liess. Auch hier hätte ein Plus an Innensicht, eine Schärfung der Klangereignisse im Einzelnen, den zerstörerischen Taumel noch stärker fühlbar gemacht.  Dessen ungeachtet schüttelten einen die überraschenden, heftig einfahrenden Schläge auf die grosse Trommel gewaltig durch. Und mit einem Mal stand das scheussliche Geschehen auf den Kriegsschauplätzen in unserer östlichen Nachbarschaft bedrohlich fassbar im Raum.

Das Vergangene als das Gegenwärtige?

John Adams beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

John Adams in der Zürcher Tonhalle / Bild Alberto Venzago, Tonhalle-Orchester Zürich

Tiefe Gräben liegen zwischen dem Musikdenken der Alten und der Neuen Welt – um es einmal so pauschal zu sagen. Als John Cage 1954 bei den Donaueschinger Musiktagen und vier Jahre später bei den Darmstädter Ferienkursen in Erscheinung trat, löste das lange anhaltende Schockwellen aus. Pierre Boulez, einer der Wortführer der Nachkriegsavantgarde, stellte einigermassen ernüchtert fest, dass die durch den Zufall gesteuerten Werke Cages kaum anders klängen als seine eigene, im Geist des Serialismus konzipierte Musik. Sozusagen über Nacht geriet das Gebäude der reinen, allein aus dem Material und seiner Entwicklung gewonnen Tonkunst in Schräglage – und tatsächlich wurde Cage mit seinem unorthodoxen Erfindungsgeist zu einer Galionsfigur jener heterogenen Bewegung, die sich zur Opposition gegen die Darmstädter Ästhetik formierte.

Ähnliche Erdbebenstösse löste die ebenfalls aus den USA stammende Minimal Music aus. Einfache Formeln in mehr oder weniger modifizierten Repetitionen, Verzicht auf einen Verlauf zwischen Anfang und Ende, stabile tonale Harmonik – Parameter dieser Art stiessen bei den Verfechtern der westeuropäischen Avantgarde auf entschiedenen Widerstand. «In C» von Terry Riley, «Drumming» von Steve Reich, «Glassworks» von Philip Glass – Stücke dieser Art wurden hierzulande angefeindet, in gleichem Masse jedoch Kult. Widerspruch regte sich gegen die angeblich geringe Handwerklichkeit, ja die offenkundige Ablehnung der akademischen Basis der europäischen Avantgarde wie auch, und vor allem, gegen die Annäherung der Kunstmusik an die Popmusik. Aus genau denselben Gründen freilich wurde die Minimal Music in Europa breit rezipiert – trotz dem Odium, das dieser musikalischen Richtung anhaftete.

Wenn nun das Tonhalle-Orchester Zürich John Adams, den zwar auch schon über siebzigjährigen, aber doch einer jüngeren Garde der Minimal Music angehörenden Komponisten und Dirigenten, in Residenz einlädt und ihm das Podium für eine ausführliche Werkschau öffnet, so mag das einen Zug ins Populistische aufweisen. «Mag», muss aber nicht. Denn die Begegnung mit Adams im Zürcher Konzertsaal war und ist von hohem informativem Wert. Mit der «Harmonielehre» von 1985, für die, wäre er gesundheitlich dazu in der Lage gewesen, David Zinman nach Zürich hätte zurückkehren wollen, für die dann aber Pierre-André Valade ans Pult gerufen wurde, erschien ein ikonisches Werk im Programm. Eines, in dem sich der Amerikaner als Enkelschüler Schönbergs mit dessen gleichnamigem Buch auseinandersetzt und das so anregend wie individuell tut. Im dritten der drei März-Konzerte mit Musik von John Adams wird dann Paavo Järvi einen bunten Querschnitt durch das Œuvre des Amerikaners vorlegen – von der «Tromba lontana», zwei verhältnismässig frühen Fanfaren (1986), bis hin zu «I Still Dance», dem Beitrag zum Abschiedskonzert von Michael Tilson Thomas 2019 in San Francisco.

Ja, John Adams, der mit seiner spektakulären zeitgeschichtlichen Oper «Nixon in China» von 1987 weit über die USA hinaus bekannt wurde, ist auch zu einer Art Staatskomponist geworden. Für manche Feierlichkeit schrieb er repräsentative Musik, zum Beispiel 2003 zur Einweihung des neuen Konzertsaals von Los Angeles, der von Frank Gehry entworfenen Disney Hall, ein Konzert für elektrische Violine und Orchester. Seinen Auftritt am Pult des gross besetzten Tonhalle-Orchesters Zürich eröffnete er mit «Short Ride in a Fast Machine», einem kurzen Stück von 1986, das er zur Eröffnung eines Musikfestivals in Massachusetts geschrieben hat. Dass die Partitur, wie Adams schreibt, auf der Erinnerung an eine offenbar halsbrecherische Fahrt als Nebensitzer in einem Sportwagen fusst, spielt hier keine Rolle, mit ihrem eingängigen Verlauf weiss die schräge Fanfare immerhin zu amüsieren. Und dass sie das kurz und bündig tut, kommt ihr nur zugute.

Da lag der deutlichste Nachteil der «Naive and Sentimental Music» von 1998 – einem Werk, das in der zeitlichen Ausdehnung und der Grösse der Besetzung an eine Sinfonie Bruckners heranreicht. «Naiv und sentimental» ist hier weder wörtlich noch ironisch gemeint, Adams schliesst vielmehr, intellektuell hochstehend und geradezu bildungsbürgerlich, an eine zur Zeit Schillers geführte ästhetische Diskussion zum Verhältnis zwischen der Kunst und der sie umgebenden Welt an. Sein im Programmheft abgedruckter Text erinnert im sprachlichen Duktus durchaus an die Beiträge, mit denen die Komponisten der Avantgarde an ihre Musik heranzuführen suchten – mit dem Hörerlebnis hatte er wenig zu tun.  Im Raum stand ein sinfonischer Entwurf in drei Sätzen, der in seinen repetitiven Mustern sehr wohl an die Minimal Music erinnerte – im gleichen Masse aber auch nicht, sind in die Wiederholungen doch Brechungen eingebaut, welche die Regelmässigkeit stören und zu komplexen rhythmischen Verläufen führen. War das von einigem Interesse, so wirkten die Anklänge an Gesten der westeuropäischen Spätromantik verbraucht und retrospektiv, aus zweiter Hand, wenn nicht sogar anbiedernd.

Ähnlich ambivalente Eindrücke hinterliess «Must the Devil Have All the Good Tunes?», Adams´ drittes Klavierkonzert von 2018. Zu bewundern gab es in diesem Totentanz einen horrend virtuosen Klavierpart, der das perkussive Element des Instruments brillant nutzt und der angesichts der ausgebauten Orchesterbesetzung ein wahrhaft stählernes Fortissimo verlangt – das Werk ist ja auch für Yuja Wang geschrieben. Víkingur Ólafsson, der kometenhaft aufsteigende, 38-jährige Pianist aus Reykjavik, blieb seiner Aufgabe nicht das Geringste schuldig. Er stieb förmlich durch seinen Part, hielt sich aber jederzeit trittsicher und glänzte mit farbenreicher, felsenfest in sich ruhender Kraft. Ganz besonders eindrücklich geriet ihm freilich die Zugabe, die der Pianist als ein Zeichen an die Adresse all jener ukrainischer und russischer Frauen, die ihre Männer und Söhne verloren haben, verstanden wissen wollte. Das «Ave Maria» des Isländers Sigvaldi Kaldalóns, ein kleines, hochemotionales Stück für Singstimme und Klavier, von Ólafsson für Klavier allein gesetzt, erklang als eine innige, warm leuchtende Preziose. Emphatisch, doch ohne jeden Zug ins Kitschige. Denn deutlich hörbar waren die Oberstimme und der Bass, während die Füllstimmen die Harmonie bildeten, das aber in differenziertester Ausgestaltung auf einer je eigenen klanglichen Ebene taten. So authentisch wahrgenommen, erwies sich das Vergangene als das Gegenwärtige.

Lebensangst und ihre Überwindung

Francis Poulencs «Dialogues des Carmélites» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Blanche (Olga Kulchynska) und die Priorin (Evelyn Herlitzius) beim Aufnahmegespräch / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Wie haben wir ihn nicht geschmäht: als Traditionalisten, als Katholiken, als Boulevardisten. Das war zu Zeiten, da Darmstadt noch den Vatikan der Neuen Musik beherbergte. Sie sind längst vorbei. Heute blickt man entspannter auf die Musik von Francis Poulenc (1899-1963), auf das unangepasste Gloria etwa, auf das verschmitzte Orgelkonzert oder das frischfröhliche Konzert für zwei Klaviere und Orchester. Auch auf die «Dialogues des Carmélites», Poulencs religiöse Oper von 1956, zumal wenn sie so schlüssig dargeboten wird, wie es jetzt am Opernhaus Zürich geschieht. Die Premiere war ein einhelliger, rauschender Erfolg.

Ein grossartiges, ganz und gar eigenständiges Stück, das zeigt der Abend. Und ein Werk, das stark und selbstbewusst am Rand des Repertoires steht. Was Oper zur Oper macht, ist kaum vorhanden. Es gibt keine Arien und keine Ensembles, keine Liebesgeschichte, auch fast keine Handlung. Und: Es gibt keine Männer, die wenigen Vertreter des starken Geschlechts fungieren als dramaturgische Zudiener. Im Zentrum steht eine Gruppe von Nonnen aus dem Orden der Karmeliterinnen, die im Sommer 1794, der Terror der französischen Revolution stand auf seinem Höhepunkt, aus ihrem Kloster vertrieben, zum Ablegen ihrer Tracht gezwungen und schliesslich unter einem Vorwand guillotiniert wurden. Unter ihnen Blanche, eine junge Frau adliger Herkunft, die angesichts der heiklen familiären Verhältnisse an Angstzuständen leidet und im klösterlichen Leben Heilung sucht. Nach der Vertreibung aus dem Asyl taucht sie unter – um sich am Ende wieder ihren Schwestern anzuschliessen und ihnen gleich aufs Schafott zu steigen. Sie hat ihre Angst überwunden, wenn auch um den Preis ihres Lebens.

Die Geschichte ist von Poulenc als seinem eigenen Librettisten in eine über zwölf Bilder reichende Folge von Rede und Gegenrede gefasst, intellektuell auf höchstem Niveau und sprachlich absolut exquisit. Im eigentlichen Sinne vertont ist die Vorlage nicht, die Musik schmiegt sich vielmehr zeichnend und kommentierend unter den Text – fast wie im Melodram. In der Zürcher Produktion ist das besonders stark zu erleben, weil die (an der Premiere noch etwas verwackelte) Philharmonia Zürich unter der Leitung von Tito Ceccherini, eines Kenners der neuen Musik, die ebenso traditionsverbundene wie moderne Sinnlichkeit des Orchesterparts explizit herausstellt. Die Würzung konsonanter Akkorde durch reibende Sekunden, die Terzlage von Akkorden in Momenten besonderer Emphase und erst recht die vielgestaltige, farbenreiche Instrumentation sorgen für eine Haptik ganz eigener Art.

Und für enorme Spannung in einem szenischen Verlauf, der als solcher beinahe unmerklich bleibt. In dem strengen, hochästhetischen, mit wenigen, aber effektvollen Zeichen arbeitenden Bühnenbild von Ben Baur (die in Farbe und Form sehr aussagekräftigen Kostüme stammen von Gideon Davey) sorgt die Regisseurin Jetske Mijnssen für Konkretisierungen des szenischen Moments, die ein ums andere Mal tiefe Betroffenheit auslösen. Einen ersten Höhepunkt bildet die Begegnung von Blanche mit Madame de Croissy, der alten, von schwerer Krankheit gezeichneten Priorin jenes Klosters, in dem die junge Frau unterkommt. Zuerst der Kontrast zwischen der tiefen Lebensweisheit des Alters und der scheuen, aber dringlichen Annäherung der Jugend, dann jedoch, und vor allem, der schreckliche, weil langsame, schmerzhafte Tod der Priorin in den Armen der Novizin. Evelyn Herzlitzius gibt diese beiden Szenen als eine hinreissende Tragödin, geradezu expressionistisch, ohne Schonung der Stimme, mit letztem Einsatz der Körpersprache. Mit der Ukrainerin Olga Kulchynska als Blanche steht ihr eine Darstellerin gegenüber, welch die Eigenheiten der französischen Deklamation mit bewundernswerter Geschmeidigkeit in ihre Stimmkunst integriert hat und ihre Präsenz in der Zurückhaltung findet.

Zugespitzt und feinsinnig zugleich das Finale, in dem die Köpfe rollen. Ganz einfach, sozusagen choreographisch zeigt es Jetske Mijnssen. Eine nach der anderen tritt zu den zischenden Geräuschen des Fallbeils ihren Weg an und löscht dabei ihren mit Kohle auf die raue Wand des Gefängnisses geschriebenen Namen aus, beobachtet von Blanche, die gleichsam aussen steht, dann jedoch als Letzte folgt. Weitergehende szenische Andeutungen, gar eine Guillotine in Aktion, braucht es da nicht, das Dünnerwerden, schliesslich das unvermittelte Abbrechen des «Salve regina» und das leise, trockene Pizziccato, zu dem der Blackout eintritt, sagen genug.

Es ist ein Abend der vertrauensvollen Hingabe an das Werk, verwirklicht durch ein stimmlich charakteristisch besetztes, mit letzter Sorgfalt geführtes Ensemble. Nicolas Cavallier, etwas heftig im Forte, aber vorbildlich in der Aussprache des Französischen, steht als der Vater von Blanche, als der in seinen Gewohnheiten erstarrte Marquis, für die alte Zeit – wie es die Bühne tut, die da einen Kronleuchter und ein höfisches Ballett (Choreographie: Lillian Stillwell) sehen lässt. Man siezt sich im Hause de La Force, auch der Chevalier (mühelos bewältigt Thomas Erlank die Höhen, die zum französischen Tenor gehören) hält es so. Eine andere Welt öffnet sich mit dem Kloster. Dort wird nach dem Tod der alten Priorin mit Madame Lidoine (Inga Kalna füllt die Rolle voll aus) eine etwas einfacher gestrickte, selbstgerechte Nachfolgerin eingesetzt, die von ihrer Stellvertreterin Mère Marie (Alice Coote als eine eindrucksvolle Erscheinung) allerdings sogleich an die Wand gespielt wird. Und dort findet sich auch Sœur Constance, wie Blanche eine Novizin, die von Sandra Hamaoui mit heller, klangvoller Stimme als ein lebenslustiges, aber auch von düsteren Ahnungen erfülltes Wesen vorgestellt wird.

Schönheit verbindet sich an diesem Abend mit Schärfe. Nicht in der direkten Unmittelbarkeit, da folgt Jetske Mijnssen dem Komponisten, der in einem Brief festhält, in den «Dialogues des Carmélites» solle die Revolution eher erahnt als gesehen werden. Sehr wohl aber in den Abgründen der menschlichen Existenz.

Mit Verdi, Brahms und Dvořák in neues Land

Amtsantritt von Gianandrea Noseda als Generalmusikdirektor am Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Vom Heer gefangengenommen, wird Azucena (Agnieszka Rehlis) dem Grafen Luna (Quinn Kelsey) überstellt. / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Der Neue sei da, verkündet das Opernhaus Zürich auf seinen Plakaten: der neue Generalmusikdirektor. Die Fanfaren haben ihre Berechtigung: Gianandrea Noseda hat einen fulminanten Start hingelegt – mit Giuseppe Verdis «Trovatore», einem Stück aus seinem Kernrepertoire, und einem Konzert, mit dem das Orchester der Oper Zürich und sein Chefdirigent gleich auf eine kleine Schweizer Tournee gegangen sind.

Schön laut klingt der Abend mit der jüngsten Produktion des Zürcher Hauses – nicht bloss laut nämlich, sondern auch schön (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 15.09.21). Verdi wird oft, und zwar vokal wie instrumental, muskulös realisiert, ebenso oft wirkt das simpel oder gar grobschlächtig. Nichts davon bei Noseda. An Kraft fehlt es zwar nicht, in ihrem kernigen Farbenreichtum ist sie vielmehr geradezu körperlich erlebbar, aber jederzeit bleiben die (zum Beispiel durch den Raum vorgegebenen) Proportionen respektiert und die Balance gewahrt. Zudem stellt sich neben das Extravertierte eine sorgsam gepflegte Kultur des Leisen, woran auch das vorzüglich zusammengestellte Ensemble partizipiert. Nicht zu vergessen ist der von Janko Kastelic vorbereitete Chor, der im neuen Zürcher «Troubadour» zum ersten Mal wieder ohne Einschränkung auf der Bühne agiert; er tut das mit beeindruckender Homogenität wie mit ausgelassener Spielfreude.

Das alles ermöglicht Noseda einen interpretatorischen Zugang zu «Il trovatore», der voll und ganz auf die dramatische Wirkung setzt, der die Kontraste zuspitzt und die Spannung durchgehend am Köcheln hält, dazwischen jedoch immer wieder mächtig anheizt. Adele Thomas, die junge britische Regisseurin, die hiermit ihre erste Produktion am Zürcher Opernhaus vorlegt, begegnet diesem Ansatz durch eine Lesart, die dem musikalischen Geschehen weiten Raum lässt. Eine gewissermassen neutrale, auf die reine Emotion reduzierte Bildersprache prägt die Szene. Das hat den Vorteil, dass die dramaturgisch wenig geschickte Anlage des Librettos in den Hintergrund tritt. Weitgehend ausgespart bleibt auch die heutzutage problematische «couleur locale»; dem entspricht, dass die »Zigeuner«, ohne die «Il trovatore» nicht denkbar wäre, in den Übertiteln und in den Publikationen des Zürcher Hauses politisch korrekt in Anführungsstriche gesetzt sind.

Beherrscht wird die Bühne der Ausstatterin Annemarie Woods durch eine raumfüllende, nach hinten hin ansteigende Treppe; auf ihr tummeln sich Gestalten, die, so erläutert die Regisseurin, aus dem 15. Jahrhundert stammen sollen, die in ihren erheiternden Kostümen aber eher an Asterix und Obelix erinnern. Wie der Herrscher endlich die Gelegenheit kommen sieht, seinen Rivalen um die Gunst der Dame einen Kopf kürzer schlagen zu lassen, erscheint hoch oben auf der Treppe als Schattenriss der Henker, der das übergrosse Beil nonchalant um den Hals trägt. Die Eruption der Gefühle in Verdis Oper wird durch solche Zeichen nicht ins Lächerliche gezogen, aber doch anregend relativiert – ganz ähnlich, wie es die spannungsvolle Beziehung zwischen der choreographierten Führung des Chors und der durch Tänzer dargestellten Kampfszenen tut. Der Witz an der Seite des Tragischen, das hat nicht nur Tradition, das schafft auch Distanz und Erleichterung.

So ist das Feld offen für scharf gezeichnete Rollenportraits. Mit seinem glänzenden Tenor und seiner stilistischen Versiertheit gibt Piotr Beczała einen Manrico, der furchtbar schwankt zwischen Sohnespflicht und dem stürmischen Begehren erster Liebe. Sie gilt einer Leonora, die von Marina Rebeka mit ihrem herrlich gerundeten Timbre und ihrer hinreissenden dynamischen Spannweite als eine schon reife, jedenfalls klar in sich ruhende, standfeste junge Frau vorgestellt wird. Die «Zigeunerin» Azucena dagegen, sie ist in dieser Produktion die reine, voll entbrannte, vielleicht auch verzweifelte Wut – woran Agnieszka Rehlis mit ihrem schäumenden, wenn auch jederzeit kontrollierten Temperament und ihrem sagenhaften Ambitus keinen Zweifel lässt. Besonders bemerkenswert Quinn Kelsey, der einen samtenen, lyrisch gefärbten Bariton einbringt und damit den Conte di Luna nicht ausschließlich als rasenden Bösewicht, sondern ebenso sehr als hoffnungslos Liebenden zeigt. Auch kleinere Partien wie die des Ferrando (Robert Pomakov) oder der Dienerin Ines (Bożena Bujnicka) sind hochstehend besetzt.

Und dann, eine Woche nach der Verdi-Premiere im Graben, der Einstand Gianandrea Nosedas auf dem Podium – so will es sein altertümlicher Titel als «Generalmusikdirektor», als musikalisch Verantwortlicher für die Oper wie für das Konzert. Der Auftritt erfolgte in Zürich, Basel und Bern; hier ist die Rede vom Besuch der Zürcher Philharmonia bei der Allgemeinen Musikgesellschaft Basel im wunderschön renovierten, stupend erweiterten Musiksaal der Rheinstadt. In schwerem Klang und sehr gemessenem Zeitmass hob das Klavierkonzert Nr. 1 von Johannes Brahms an, was aufs erste Hören hin einigermassen altväterisch wirkte, sind in jüngster Zeit doch – etwa von András Schiff als Solist wie als Dirigent des Orchestra of the Age of Enlightenment (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.06.21) – klanglich aufgelockerte, hellere Zugänge vorgestellt worden. Je weiter sich die Einleitung zum Kopfsatz entwickelte, desto plausibler erschien jedoch die packende, konsequent durchgestaltete und vom Orchester prachtvoll realisierte Anlage. Erst recht bestätigte es sich, als Daniil Trifonov mit seinen grossen, auffallend flach gehaltenen Händen in die Tasten zu greifen begann. Grüblerisch, hier mächtig auffahrend, dort in Introversion versinkend nahm er den ersten Satz, sehr innerlich das Adagio, brillant schliesslich das abschliessende Rondo. Und das Orchester stand ihm hellwach zur Seite.

Nach der Pause, zu der das anspielungsreiche, liebevoll detaillierte, geräumige Foyer von Herzog & de Meuron einlud, folgte Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 8, ein Paradestück erster Güte. Die Philharmonia Zürich und Gianandrea Noseda blieben dem Werk nichts schuldig. Das Orchester brillierte mit seinem kraftvollen, kompakten, zugleich aber in hohem Masse durchhörbaren Klang. Und der Dirigent, der jeden Einsatz gab und vielleicht ein bisschen à l’italienne anfeuerte, fand treffende Tempi und brachte die musikalischen Gesten zu überaus plastischer Formung. Ein Genuss, um es doch auch einmal so zu sagen. Und von den Orchestermitglieder, unter denen beste Laune herrschte, schien jeder und jede persönlich mit dem Dirigenten verbunden, so wie er mit allen Sinnen und mit voller Körperlichkeit den Musikerinnen und Musikern zugetan war. Die Zukunft, so der Eindruck, sieht vielversprechend aus. Und «Zukunft» heisst in diesem Fall: «Der Ring des Nibelungen».

Gianandrea Noseda at work / Bild Andrin Fretz, Opernhaus Zürich

Farbenfroh und beweglich

Die neue Orgel in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

© Fotograf Michael Reinhard, Zürich

So klingt sie also, die neue Orgel in der Tonhalle Zürich. Mit einer Aufführung der Sinfonie Nr. 3, der sogenannten Orgelsinfonie, von Camille Saint-Saëns und einer veritablen Orgelnacht mit nicht weniger als acht Rezitals wurde die neue Königin gekrönt. Ein grossartiges Instrument. In ihrer äusseren Erscheinung passt die von der Firma Kuhn in Männedorf erbaute Orgel optimal in die nach vierjähriger Renovation wiedereröffnete Grosse Tonhalle (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 22.09.21); der von Christoph Jedele entworfene Prospekt schliesst an die Vorbauten an und nimmt die wiederhergestellten Form- und Farbgebungen des Saals auf. Für das Klangliche gilt das erst recht, steht hier doch ein Instrument, wie es in seiner ästhetischen Grundausrichtung grosso modo 1895, im Eröffnungsjahr der Tonhalle am See, hätte entstehen können.

Das kann als Zeichen nicht hoch genug gewertet werden. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galten die Prinzipien der sogenannten Orgelbewegung, die sich, grob gesagt, zum Ziel gesetzt hatte, die Orgel im Geist und im Klangbild des 18. Jahrhunderts wiederaufleben zu lassen – will sagen: die Orgel nicht, wie es im späten 19. Jahrhundert üblich war, als eine Imitation des Orchesters zu sehen, sondern ihr ein eigenständiges Gesicht, eben jenes des Barockzeitalters, zurückzugeben. Manche spätromantische Orgel, gerade auch solche aus dem Hause Kuhn, ist darum geringgeschätzt, wenn nicht sogar abgebrochen worden. Und mancher Organist, etwa Rudolf Meyer, der an der Stadtkirche Winterthur wirkte, hat dagegen opponiert – teilweise mit Erfolg, obwohl auf einsamem Posten stehend. Heute ist die Orgelbewegung – die ihrerseits nicht unterschätzt werden sollte – überwunden, wird das Orgelideal des späteren 19. Jahrhunderts wieder wertgeschätzt; im Neubau der Luzerner Musikhochschule zum Beispiel steht als Lern- und Übungsinstrument auch eine kleine Orgel in spätromantischem Geist. Das ist gut so, denn nur auf Instrumenten dieser Art lässt sich das wertvolle Repertoire von Komponisten wie Franz Liszt oder Max Reger, von César Franck oder Charles-Marie Widor adäquat wiedergeben.

Davon abgesehen wurden mit dem Neubau der Orgel in der Tonhalle Zürich einige Nachteile behoben, die bisher im Raum standen. Die erste Orgel – sie kam 1872 in die alte Tonhalle auf dem Sechseläutenplatz, wurde 1895 in die neue Tonhalle am See transferiert und dort 1927 einem erweiternden Umbau unterzogen – stammte aus dem Hause Kuhn und tat lange Zeit gute Dienste. 1988 wurde in der Tonhalle ein neues Instrument von Kleuker und Steinmeyer eingeweiht. Das wenig geliebte Geschenk eines wenig geliebten Gönners erwies sich bald als fehl am Platz. Von Jean Guillou entworfen, spiegelte die Disposition den Geschmack eines solistisch tätigen Virtuosen, während für die Aufgaben, die eine Orgel im Konzertsaal auch zu erfüllen hat, nämlich für die Begleitung von Vokalsolisten und Chören, die nötigen Klangfarben fehlten. Nicht zuletzt war das Instrument in seiner Dimension zu gross geraten; es nahm Raum auf dem Orchesterpodium für sich in Anspruch und schuf damit auch akustische Probleme.

All das ist mit dem Neubau der Orgel gelöst. Einem Neubau, der auf die Initiative von Peter Solomon zurückgeht, dem langjährigen Tastenspieler des Tonhalle-Orchesters Zürich und Professor für Orchesterklavier, Kammermusik und Korrepetition an der Zürcher Hochschule der Künste. Die Tonhalle-Gesellschaft hatte zunächst abwartend auf die Initiative reagiert, doch als mit der Zürcher Baugarten-Stiftung ein Sponsor gefunden war, der die Hauptlast der Finanzierung übernahm, gab die Trägerschaft des Tonhalle-Orchesters grünes Licht. Eine Expertengruppe ging ans Werk; zu ihr gehörten Solomon, der Wiener Organist Martin Haselböck und Michael Schmitt, Hausorganist der Bamberger Symphoniker und vielgesuchter Solist. Schmitt entwarf eine erste Disposition, die dann in zahlreichen Schritten verfeinert wurde. Was des Organisten Herz begehrt, was die von ihm gespielten oder begleiteten Werke verlangen – es lässt sich mehr als befriedigend lösen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 20.05.20). Und das mit einem Instrument, das etwas kleiner ist als die Vorgängerorgel, also Raum freigibt auf dem Orchesterpodium und sogar die Orgelnische als solche wieder wahrnehmbar macht.

Und vor allem: das grandios klingt – was auch auf das Wirken des Intonateurs Gunter Böhme zurückgeht. Eine einzige Einschränkung gibt es. Sie betrifft das Generaltutti, das doch etwas brüllend klingt – ähnlich wie das Generaltutti der Cavaillé-Coll-Orgel in der Pariser Notre-Dame. Gute Gesellschaft ist das darum, weil auch das Fortissimo der Wiener Philharmoniker, anders als jenes der Berliner Philharmoniker, zur Schärfe neigen kann und weil auch Les Siècles, das von François-Xavier Roth geleitete Originalklang-Orchester, damit umzugehen hat. Mag sein, dass die Masse sehr charakteristischer Einzelfarben nicht von vornherein ein gerundetes Ganzes ergibt. Und an sehr charakteristischen Einzelfarben fehlt es der neuen Tonhalle-Orgel nun wirklich nicht, das haben die Konzerte des vergangenen Wochenendes in aller Eindrücklichkeit hörbar gemacht. Es gibt grundtönige Stimmen in reicher Farbigkeit und unterschiedlichsten Stärkegraden, aber auch tragende Bässe, die den Saal zart zum Vibrieren bringen. Es gibt Zungenregister in ausgeprägter Zeichnung, es gibt Aliquoten, also Register mit gemischten Teiltönen, es gibt die Klarinette, die dem Klang des Harmoniums ähnelt, und das runde Waldhorn, ganz zu schweigen von der neu erfundenen Nasenflöte und den reizenden Crotales, den wie ein Zimbelstern klingenden Klangplatten. Das alles gegliedert in ein Hauptwerk, ein deutsches Orchesterwerk, ein französisches Récit, beide in Schwellkästen, sowie natürlich ein auf festem Fundament stehendes Pedalwerk. Ach, ist das herrlich. Wer es genauer wissen will: https://www.orgelbau.ch/de/orgel-details/114680.html.

Nun also die Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns. Gewaltig der vollgriffige C-Dur-Akkord der Orgel, der das Maestoso einleitet, den zweiten Teil des zweiten Satzes. Gewaltig, aber in stilgerechter Registrierung mit mächtigem Pedal, starken Grundtönen, bestimmenden Zungenregistern, nur eben, wenn ich richtig gehört habe, ohne Mixturen. Dasselbe gilt angewandt für den lange liegenden Schlussakkord ebenfalls in C-Dur, zu dem die Pauke das majestätische, hier aber nicht pathetisch aufgeladene Ritardando durchführt. Sehr markant dagegen kurz zuvor jener Abstieg im Pedal, der in vielen Wiedergaben zu schwach gerät. Das war alles sehr überzeugend im Geist der spätromantischen Orgelpraxis gehalten. Nicht weniger packend gerieten jedoch die drei vorangehenden Teile der Sinfonie, in denen das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung seines Musikdirektors Paavo Järvi und Christian Schmitt an der Orgel die Farbenpracht und die Emotionalität des klanglich höchst abwechslungsreichen Werks in aller Pracht zur Geltung brachten. So war denn eins zu eins zu erleben, was das neue Instrument an Sinnlichkeit und, vor allem, an Beweglichkeit einzubringen vermag: die Orgel als das andere Orchester.

Oder: die Orgel als das weit in den Raum hinein vergrösserte Klavier. In der Orgelnacht war es zu erfahren, als Christan Schmitt in wahrhaft magistraler Darstellung Franz Listzs Fantasie und Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» aus Giacomo Meyerbeers Oper «Le Prophète» zum Klingen brachte. Das halbstündige Stück, in dem sich Horribilitäten sondergleichen auftürmen, existiert auch in einer von Ferruccio Busoni erstellten Fassung für Klavier; Igor Levit spielte sie im Herbst 2018 beim Lucerne Festival. Tatsächlich handelt es sich bei «Ad nos» um ein Klavierstück für die Orgel – allerdings für eine Orgel, die der Phantasie des Komponisten gerecht zu werden vermag. Die neue Zürcher Kuhn-Orgel vermag es in denkbar bester Weise. Nicht nur bietet die Disposition ausreichend farbliche und dynamische Möglichkeiten, mit seinem Spektrum an digitalen Steuerungen stellt das Instrument enorme technische Möglichkeiten zur Verfügung. Komponisten von heute wissen das zu nutzen. In seinem Präludium «Vision in Flames» bietet der Japaner Akiro Nishimura ein Feuerwerk an Effekten, dass man in Ah und Oh ausbricht – auch weil Marco Amherd, der 1988 geborene Musiker und Wirtschaftswissenschafter, der zurzeit das Davos Festival leitet, die Partitur so blendend umsetzte. Daneben gab es erheiterndes wie die Paganini-Variationen für Orgelpedal, die von der jungen deutschen Organistin Anna-Victoria Baltrusch nicht weniger brillant realisiert wurden. Oder Prélude, fugue et variations von César Franck nicht für Klavier, sondern in einer vom Komponisten stammenden Einrichtung für Orgel und Konzertflügel – mit Christian Schmitt und Peter Solomon.

Die Orgel ist nicht das, wofür wir sie halten. Sie ist weit mehr. In der Tonhalle Zürich kann es erkundet werden. Weiter geht es im Juni kommenden Jahres mit einem Internationalen Orgelfestival.

Die Orgel in der Tonhalle Zürich. Herausgegeben von Lion Galluser und Michael Meyer. Tonhalle-Gesellschaft Zürich und Orgelbau Kuhn Männedorf, Zürich 2021. 58 S., zahlreiche Abbildungen.

© Fotograf Michael Reinhard, Zürich

Der Augen Lust, der Ohren Freud

Wiedereröffnung der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Georg Aerni, Tonhalle-Gesellschaft Zürich

Es ist vollbracht. Die Tonhalle Zürich, 1895 eröffnet, 1939 und 1985 neu gefasst, strahlt und klingt wieder. Vier Jahre, unerwarteter Ereignisse wegen eines länger als gedacht, nahmen die Bauarbeiten in Anspruch – eine Periode, während der das Tonhalle-Orchester Zürich das in mancher Hinsicht einzigartige Provisorium der Tonhalle Maag bespielte. Dass diese Phase jetzt abgeschlossen ist, dass das Orchester in sein Stammhaus am See zurückkehren konnte, löst hüben wie drüben, im Publikum, Glücksgefühle aus. Bei dem Abend mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 3, mit dem 15. September 2021 die feierliche Wiedereröffnung der Tonhalle begangen wurde, war es auf Schritt und Tritt zu erleben.

Das heisst: Wer die Tonhalle über ihren Haupteingang an der Claridenstrasse betritt, bemerkt keine Neuerungen. Das Entrée präsentiert sich unverändert, mit der Kasse, den Garderoben, den Toiletten am angestammten Ort. Auch die Treppen hinauf ins obere Stockwerk weisen auf den schnellen Blick keine Veränderung auf – und schon steht man im Foyer. Auch das: im Grunde wie gehabt. Etwas aufgefrischt, in sorgsamer Arbeit, wie es der Denkmalschutz verlangt, und ein wenig neu möbliert. Ist das Foyer bevölkert, und das ist es an diesem kapitalen Abend dank Zertifikat und Maske, und spielt das Wetter nicht besonders mit, so fällt das Wichtigste gar nicht auf. Es sind die Fenstertüren an der Aussenwand. Die führen nämlich auf eine weiträumige Piazza mit Ausblick über den Zürichsee in die Glarner Alpen; die Zubauten, die diese Sicht bis anhin versperrten, sind entfernt worden. Neu erstellt worden ist dafür ein Restaurant mit dem trefflichen Namen «Lux», das sich zur Linken der Piazza erstreckt, sowie eine Freitreppe, die hinunter führt zu dem leider absolut ungastlichen General-Guisan-Quai.

Doch nun geht es stracks hinein in den Saal, in die neuerdings so benannte Grosse Tonhalle – und da kennt das Staunen kein Ende. Wunderbar, anders lässt es sich nicht in Worte fassen. Die Grosse Tonhalle ist ein Saal mit über hundertjähriger Geschichte, das ist zu sehen, denn es wird nach Massen gefeiert. Zugleich ist dieser musikalische Zentralort, wie die in diesem Projekt federführende Architektin Elisabeth Boesch unterstreicht, ein Raum von heute. Einer, der auf der Höhe der Jetztzeit steht, was die technischen Aspekte betrifft: von der Beleuchtung und der Belüftung über die Gestaltung des Orchesterpodiums und die Ausformung der Bestuhlung bis hin zu der neuen Orgel (von der in der kommenden Woche an dieser Stelle die Rede sein wird). In seiner überwältigenden optischen Anmutung freilich nähert er sich, soweit es möglich und sinnvoll war, dem Zustand von 1895 an – ein Akt historisch informierter Baukunst.

Das Grau in Grau, es ist im Zuge der Neugestaltung der Tonhalle im 20. Jahrhundert aufgetragen worden, ist abgekratzt worden, darunter sind die Farbschichten von damals zum Vorschein gekommen. Einer, der diese Entdeckungen von nahe verfolgt hat, ist Elmar Weingarten, Intendant des Tonhalle-Orchesters zwischen 2007 und 2014; mit Begeisterung berichtete er von diesen vorbereitenden Arbeiten. Jetzt sind wir es, die begeistert sein dürfen. In leuchtenden Farben glänzt, mit reichlich Gold prunkt die Grosse Tonhalle. Sie tut es nicht ganz so arg wie der Goldene Saal in Wien, aber doch in einem vergleichbaren Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins – nur dass es in der Schweiz kein Kaiserhaus gegeben hat, dem entgegengetreten werden sollte. Die Säulen strahlen jetzt in einem hellen Rosa, die Decke wird von einem mittleren Beige getragen, und in ihrer Mitte prangt das Gemälde mit dem hellblauen Himmel, den Engeln und den vergötterten Komponisten, unter ihnen Johannes Brahms, der 1895 den Saal mit dem von ihm komponierten und dirigierten «Triumphlied» eröffnet hat. Unerhört festlich, ja geradezu katholisch das Ganze. Und wenn man bedenkt, dass sich an die Tonhalle damals der Zürcher Trocadéro angeschlossen hat… Zürich darf fürwahr stolz sein auf sein neues altes Musik-Bijou, zumal das 170 Millionen Franken schwere Projekt durch eine Volksabstimmung legitimiert worden ist. Anderswo hat das nicht geklappt – Stichwort Genf und Cité de la Musique, doch das ist ein anderes Kapitel.

Nun ist das lustvolle Schauen das eine, das andere und letztlich wichtigere jedoch ist das gute Hören. Was kann der Saal? Was hat die Mitwirkung des hocherfahrenen Münchner Akustikers Karlheinz Müller bewirkt? Was die Wiederherstellung des schwingenden Fussbodens? Mit ihren exorbitanten Anforderungen war Mahlers Dritte genau das richtige Werk, diesen Fragen nachzugehen – wobei auf der Hand liegt, dass sich Orchester wie Dirigent, aber auch das Publikum jetzt erst in den Saal einleben müssen. Die Entscheidung für dieses Werk war aber auch insofern stimmig, als es für das Zürcher Tonhalle-Orchester gleichsam emblematischen Charakter trägt. Mit Mahlers Dritter, 1896 abgeschlossen, 1902 uraufgeführt, hat 1904 der damals 24-jährige Volkmar Andreae am Pult des Tonhalle-Orchesters für Aufsehen gesorgt; zwei Jahre später wurde er als Nachfolger Friedrich Hegars Chefdirigent des Orchesters. Hegar wie Andreae blieben je vier Jahrzehnte lang an der Spitze des Orchesters. Ihnen folgte 1995 David Zinman, der sein Amt, für diese Zeit ungewöhnlich, immerhin fast zwanzig Jahre lang ausübte. Für sein Antrittskonzert hatte er Mahlers Dritte ausgewählt.

Die Sinfonie verlangt alles, was ein Orchester aufzubieten vermag: stärkstes Tutti, hauchzartes Pianissimo, Agilität in allen Lagen, unterschiedlichste Intensitäten der Tongebung, ein Höchstmass an Transparenz selbst in dichten Klangballungen. All das ist zu bester Geltung gekommen. Das Tonhalle-Orchester Zürich, das sich mit einem Engagement sondergleichen seinen Stammsitz zurückgeholt hat, sah sich in ungewöhnlicher Aufstellung mit den Kontrabässen links oben und den acht Hörnern in einer Senke auf der rechten Seite. Kraftvoll und kompakt das Fortissimo, reichhaltig und griffig die Farbgebungen. Mag sein, dass der Klang etwas voller wirkt als im grauen Saal mit seinem versteiften Fussboden, dass die Bässe mit mehr Wärme auftragen und die Höhen der links und rechts vom Dirigenten sitzenden Geigen noch mehr Silberglanz annehmen – das sind erste Eindrücke, die sich noch bestätigen müssen. Wie Paavo Järvi das unbekannte Land des renovierten Saals erkundete, erheischt als Zeichen der Professionalität allen Respekt. Und wie das Orchester aus sich heraustrat, machte schlagartig klar, was man in der gewiss stimmungsvollen Tonhalle Maag entbehren musste. Leuchtend die Soli der Konzertmeisterin Julia Becker, wehmütig das Posthorn, das von hinten, aus dem Verbindungstrakt zwischen Grossem und Kleinem Saal, die Herzen rührte. Eindringlich im vierten Satz der Auftritt der Altistin Wiebke Lehmkuhl, die auch im Leisen äusserst präsent klang, und im fünften jener der Damen aus der Zürcher Sing-Akademie und der Zürcher Sängerknaben. Zum Höhepunkt geriet aber fraglos das Finale, das aus dem Pianissimo des Streichersatzes auf das Grandioso der von den beiden Paukern unterstrichenen Schlusstakte hin entfaltete. Es gab Stehapplaus.

Dieser 15. September 2021 markierte einen Einschnitt; er gab das Zeichen zum Aufbruch. Die klare Strukturierung des Konzertangebots, die Ilona Schmiel als Intendantin entwickelt hat, bleibt ebenso bestehen wie die Vielfalt in den ästhetischen Grundzügen. Aber sonst ist manches neu – zum Beispiel die Grafik, die einen Gewöhnungsprozess verlangt. Rechtzeitig zur Wiedereröffnung ist bei Bärenreiter ein anregend informierendes Buch zur Geschichte der Zürcher Tonhalle erschienen, dazu ist beim Label Alpha eine Box mit fünf Compact Discs herausgekommen, auf denen sich die sechs Sinfonien Peter Tschaikowskys finden. Jetzt geht es mit voller Kraft voran in die neue Saison und in die vertiefte Inbesitznahme des Saals. Als erstes fällt Licht auf die neue Orgel, ein vielversprechendes Instrument aus dem Hause Kuhn in Männedorf: mit der «Orgelsinfonie» von Camille Saint-Saëns und einer siebenstündigen Orgelnacht, die unsere neue Königin von allen Seiten zeigen dürfte.

Tonhalle Zürich 1895-2021. Bärenreiter, Kassel 2021. 190 S.
Peter Tschaikowsky: Sinfonien und andere Orchesterwerke. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 778 (5 CD).

 

Standing Ovation. Bild Gaetan Bally, Tonhalle-Gesellschaft Zürich