Aus ferner Zeit, ganz aktuell

Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion am Festival für Alte Musik in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Als am 7 April 1724 in Leipzig die Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs zum ersten Mal erklang, dürfte kaum jemandem bewusst geworden sein, was sich in jenem Moment ereignete, zu schwierig waren die Umstände rund um die Aufführung – in seiner grossartigen, 2016 auf Deutsch erschienenen Bach-Biographie schildert es der Dirigent John Eliot Gardiner in aller Nachdrücklichkeit. Dreihundert Jahre später, und zwar fast auf den Tag genau, war die Johannes-Passion, genauer: deren erste Fassung, im Zürcher Fraumünster zu erleben – dies im Rahmen des wie stets reichhaltigen, inzwischen zum vierzigsten Mal durchgeführten Festivals Alte Musik in Zürich. Wie in den zwei letzten Takten des Schlusschorals die Es-Dur-Kadenz von Chor und Orchester über dem Adjektiv «ewiglich» verklungen war, stand man einmal mehr fassungslos vor der Grösse dieses aus fernen Zeiten stammenden Kunstwerks – eines Monuments, das keineswegs steinern oder gar bedrohlich wirkt, das vielmehr ganz Gegenwart ist, das bewegt und berührt, nachdenklich macht und in gleichem Mass beglückt zurücklässt.

Dass dieser Eindruck im Zürcher Fraumünster aufkam, geht auf eine Aufführung zurück, die höchsten professionellen Massstäben genügte und zugleich von einer ganz besonderen Emotionalität war. Am Werk war La Cetra, die Formation aus dem Umkreis um die Schola Cantorum Basiliensis, dem 1933 gegründeten Lehr- und Forschungsinstitut für alte Musik an der Musikhochschule Basel. Von Andrea Marcon künstlerisch geleitet, umfasst sie ein Orchester, das klar hörbar der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet ist, also alte Instrumente (oder entsprechende Nachbauten) verwendet und die Erkenntnisse der Forschung in das Tun einbezieht, sie führt aber auch ein Vokalensemble mit professionell geschulten, ebenfalls spezialisierten Sängerinnen und Sängern, die zum Teil solistische Aufgaben übernehmen. Für die Zürcher Aufführung der Johannes-Passion war eine Besetzung vorgesehen, wie sie Bach gepflegt haben könnte. Das Klangbild wirkte daher hell und transparent, getragen von agilen Singstimmen, von milden Streichern, farbigen Bläsern und einem reichen Generalbass.

Wie der ausladende Eingangschor anhob, trat ein Moment des Erschreckens ein. Andrea Marcon setzte nicht nur auf ein flüssiges Tempo, er sorgte auch für markante Akzentsetzung, was die drängende Achtelbewegung im Instrumentalbass unterstrich. Ein dramatischer Zug trat da heraus, was das Passionsgeschehen mit Ecken und Kanten versah – nicht ganz einfach darum, weil die Juden in dieser Erzählung ausgesprochen schlecht wegkommen und man das in diesen Tagen weniger wegzustecken vermochte als gewöhnlich. Nicht geringen Anteil an der zugespitzten Dramatik hatte der vorzügliche Tenor Jakob Pilgram als Evangelist (und hier zugleich für die Einstudierung des Vokalensembles zuständig); äusserlich ganz ruhig, führte er mit agilem Ton, perfekter Diktion und packender Empathie durch die Geschichte. Neben ihm Christian Wagner, der mit seinem weichen Bass einen milden, ohne Aufhebens in sich ruhenden und gerade dadurch provozierenden Jesus gab, in den Bass-Arien allerdings zeigte, dass er auch anders kann. Eindrücklich auch Guglielmo Buonsanti aus den Reihen des Vokalensembles als Pilatus. Was Wahrheit sei, die Frage des römischen Prokurators stand beiläufig geäussert, aber in schneidender Schärfe im Raum – sie hätte nicht aktueller sein können als in diesen Tagen.

Jenseits dessen gab es musikalische Glanzlichter noch und noch. Das Vokalensemble, mit vier Mitgliedern pro Stimme besetzt, verströmte Homogenität und Beweglichkeit in einem. Bisweilen etwas beiläufig wirkten die Choräle. Natürlich bilden sie Ruhepunkte im aufgeladenen Geschehen, sie müssen deswegen jedoch nicht zwangsläufig so wenig phrasiert durchgezogen werden, wie es hier geschah; das mag allerdings auf das Konzept des Dirigenten zurückgehen, dem insgesamt weniger am Atmen als am steten Vorangehen lag. Sehr schön besetzt die vokalen Solopartien. Mit der wunderbaren, souveränen Altistin Sara Mingardo war eine Grande Dame verpflichtet, während ihr mit Shira Patchornik eine junge Sopranistin von zauberhafter stimmlicher Ausstrahlung gegenüberstand; überzeugend, wenn auch mit etwas viel Druck der Tenor Mirko Ludwig, der ebenfalls aus dem Vokalensemble kam.

Für besondere Effekte sorgten die Musikerinnen und Musiker in den Arien mit konzertierenden Instrumenten, etwa die Konzertmeisterin Eva Saladin und ihr Kollege Germán Echeverri Chamorro an den Violen d’amore oder Teodoro Baù an der Viola da gamba. Und fantasievoll der Basso continuo mit dem Cellisten Jonathan Pešek, dem Cembalisten Johannes Keller, dem Organisten Joan Bonat Sanz und der Lautenistin Maria Ferré. Auch als Ganzes, als Klangkörper insgesamt, liess La Cetra keinen Wunsch offen. An Barockorchestern herrscht ja kein Mangel; in diesem Kosmos kann sich die Basler Formation sehr wohl hören lassen. Jetzt geht diese formidable Johannes-Passion auf Reisen nach Spanien und Frankreich. Und das Forum für Alte Musik Zürich kann sich einen weiteren Grosserfolg ins Stammbuch schreiben.

Im Fruchtland des Kontrapunkts

Bachs Wohltemperiertes Klavier
mit dem Cembalisten Andreas Staier

 

Von Peter Hagmann

 

Zurückhaltend, ja bescheiden hebt das berühmte Präludium in C-Dur an; die Folge der gebrochenen Akkorde, die Johann Sebastian Bach wie in einem Rausch erfunden zu haben scheint, ist in das gedämpfte Licht des Lautenzugs getaucht. Andreas Staier ist nicht ein Mann der grossen Töne, auch hier nicht, bei seiner Beschäftigung mit dem Wohltemperierten Klavier. Begonnen hat Staier seine nun auf vier Compact Discs vorliegende Arbeit im Aufnahmestudio allerdings nicht mit dem ersten, sondern mit Band II der je vierundzwanzig Präludien und Fugen durch die zwölf Dur- und die zwölf Moll-Tonarten der hierzulande üblichen Tonleiter. 1740 entstanden, ist dieser zweite Band einer Schaffensphase zuzurechnen, in welcher der Komponist Bilanz zu ziehen suchte; anders als der knapp zwanzig Jahre zuvor entstandene Band I, in dem neben der einzigartigen kontrapunktischen Weisheit gerne auch Bachs konzertantes Temperament durchdringt, wirkt dieser zweite Durchgang ernster, intentionaler, daher etwas spröder, auch etwas anspruchsvoller, aber nicht weniger attraktiv. Diesen Stier hat Andreas Staier 2020 bei Teldex in Berlin für das Label Harmonia mundi bei den Hörnern gepackt; im Jahr darauf folgte dann der erste Band.

Anders als dort beginnt in Band II das Präludium in C-Dur – im Wohltemperierten Klavier folgen sich die Stücke ansteigend nach der Ordnung der Klaviertastatur – mit einem klaren Statement: mit einer Oktave auf c in der linken Hand. Bei Staier ist es Paukenschlag. Ans Licht tritt hier eine der Besonderheiten seiner Einspielung. Er verwendet ein grossartiges Instrument, das er grossartig bedient. Viel zu erfahren ist davon leider nicht. Die Booklets vermelden, dass es sich um die Kopie eines 1734 in Hamburg erbauten Cembalos von Hieronymus Albrecht Hass handle, die 2004 von Anthony Sidea und Frédéric Bal in Paris angefertigt worden sei – mehr nicht. Zu hören ist ein Cembalo, das offenkundig mit zwei Manualen und einer Dämpfung nach der Art des Lautenzugs, vor allem aber mit einer 16-Fuss- und einer 4-Fuss-Lage versehen ist, die angespielten die Töne mithin eine Oktave tiefer oder eine höher erklingen lassen kann. Von solchen Instrumenten hat sich die frühe Bewegung der alten Musik ebenso radikal abgewandt wie von der Spielweise etwa Karl Richters. Verächtliche Worte waren da an der Tagesordnung. Bevorzugt und als adäquat angesehen wurden weniger üppig ausgestattete, allerdings gleichwohl hervorragend klingende Cembali allein auf 8-Fuss-Basis.

Nun kommt ein Musiker wie Andreas Staier, der ja keineswegs von gestern, vielmehr klar in der Gegenwart der alten Musik verankert ist und auf dem Stand der aktuellen Erkenntnis agiert – und der effektvoll mit 16-Fuss und 4-Fuss, der Kopplung der Manuale und anderem arbeitet. Die Zeit der ideologischen Scheuklappen ist vorbei, neue Freiheit, die Lust am Spielerischen hat Raum gegriffen – das lässt auch, um nur dies eine Beispiel zu nennen, ein Dirigent wie René Jacobs hören. Basis von Staiers Tun bildet bei aller Freiheit jedoch ganz selbstverständlich die historisch informierte Spielweise mit all ihren Vorzügen. Dazu gehört die klare Unterscheidung zwischen gebundenem und gestossenem Spiel, und mehr noch: die vielfältige Differenzierung dieser Unterscheidung; die Länge des einzelnen Tons innerhalb eines Verlaufs ist auf dem Cembalo (wie auf der Orgel) von ganz besonderer Bedeutung für den musikalischen Ausdruck. Von prägender Wirkung sind ausserdem der ungleichzeitige Anschlag gleichzeitig notierter Töne sowie bisweilen die Abkehr vom regelmässig durchlaufenden Schlag – genauer: die momentane Anpassung der Zeitmasse an die musikalische Struktur oder das Ausdrucksbedürfnis des Interpreten.  Nicht zuletzt gilt das für den sorgsam phantasievollen Umgang mit Verzierungen.

Von all dem lebt die Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers Johann Sebastian Bachs durch Andreas Staier, und dies im Verein mit der phantastischen technischen Versatilität und der enorm ausgebauten Vorstellungskraft des Musikers. Pralles Leben in sinnlichen Klangwelten herrscht da, der kunstvoll gedrechselte Kontrapunkt wird, wie es Bach gewollt, zu unmitttelbar ausstrahlender Musik – wer sich auf diese Welt einlässt, mag nimmer davon lassen. Auf das zarte C-Dur-Präludium am Anfang des ersten Bandes folgt eine vierstimmige Fuge in fürwahr mächtigem Klang – das Cembalo ist in dieser Einspielung von sehr nahe aufgenommen, was der Realität in einem heutigen Konzertsaal wenig entspricht, die Wirkung des Instruments in den viel kleineren Räumen des 18. Jahrhunderts aber sehr wohl spiegelt. Noch majestätischer klingt es im darauffolgenden c-Moll-Präludium, dies durch den Einsatz des besagten 16-Fuss-Registers – und gern führt Staier die Schlussakkorde nicht nur zu deutlicher Kulmination, er lässt sie auch oft lange liegen, wie überhaupt das Nachklingen des Instruments nach dem Abheben der Finger von den Tasten hörbar bleibt.

Immer noch im ersten Band gibt es ein Präludium in Cis-Dur, bei dem zu erleben ist, wie mit Hilfe einer Technik, die den einzelnen Ton in den nächstfolgenden hineinklingen lässt, ein von opulentem Legato getragenes Klangbild entsteht. Etwas Schwierigkeiten mag das Präludium in cis-Moll auslösen; hier nötigt die Stimmung zu einigen Hörkompromissen. Das Wohltemperierte Klavier wird von Staier ja nicht in der heute üblichen Temperierung gespielt, wie es die Pianisten tun; der Stimmer Rainer Sprung hat vielmehr eine, wie es im Booklet heisst, «pragmatische» Mitteltönigkeit verwirklicht, die durch ihre minimalen «Verstimmungen» ein Gefühl dafür aufkommen lässt, welche Revolution das «Wohltemperierte» und somit das Spielen in allen möglichen Tonarten im 18. Jahrhundert bedeutet hat. Äusserst klar in der Folge die fünfstimmige Fuge in cis-Moll, bei deren Wiedergabe die pointierte Artikulation für Durchhörbarkeit sorgt, während zugleich die Arbeit mit dem Tempo für Spannung sorgt – fast möchte man an dieser Stelle von einer Art Steigerungsfuge sprechen. Ausserordentlich virtuos sodann das zweistimmige Präludium in G-Dur wie später das dreistimmige Präludium in A-Dur; Staier geht es frei von Angst vor den nach einem Wechsel in der Gestik eintretenden Sechzehntelketten, jedenfalls in mutig belebtem Tempo an.

Auch im zweiten Band folgt Entdeckung auf Entdeckung, abendfüllend liesse sich davon berichten. Die Rede wäre etwa von der vierstimmigen Fuge in c-Moll, die eine gewaltige Steigerung des Ausdrucks erfährt – dies notabene auf einem Instrument, bei dem man lange Zeit (und vielleicht zu Recht) genau das, die Möglichkeiten des Ausdrucks, als beschränkt moniert hat. Die dreistimmige Fuge in d-Moll: vital artikuliert, auch dort, wo leicht fliessende Triolen dazutreten. Die vierstimmige Fuge in Es-dur: eine Kathedrale in Klängen. Und ganz zum Schluss, ähnlich dem C-Dur-Präludium im ersten Band, die dreistimmige Fuge in h-Moll, die den riesigen Gang zwei Mal durch alle Tonarten ohne Pomp, ein wenig scheu, ja lapidar abschliesst. So ist Andreas Steier: nüchtern und glühend zugleich. Seine Auslegung von Bachs Wohltemperiertem Klavier öffnet ein neues Kapitel in der langen, reichen Interpretationsgeschichte der beiden Bände und stellt der Dominanz der Auslegungen auf dem Klavier ein fulminantes Plädoyer für das Cembalo entgegen.

Johann Sebastian Bach: Das wohltemperierte Klavier. Andreas Staier (Cembalo).
Band 1: Harmonia mundi 902680.81 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023).
Band 2: Harmonia mundi 902682.83 (2 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Im Tollhaus

Francesco Cavallis «Eliogabalo» in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Das Traumpaar Nerbulone (Daniel Giulianini) und Lenia (Mark Milhofer), im Hintergrund Eliogabalo (Yuriy Mynenko) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Er will sie, er will ihn, er will alle, und er will alles: So ist Eliogabalo, der ohne Zweifel verrückteste Kaiser im alten Rom. Als Vierzehnjähriger kam Varius Avitus Bassianus 218 nach Christus auf den Thron, trieb als Elagabal sein Wesen und tat dies äusserst heftig, wenn auch nur kurz: Vier Jahre nach der Thronbesteigung hauchte er, von der Hand eines Mörders getroffen, sein Leben aus. Richtiger Stoff für eine Oper also, weshalb Francesco Cavalli, eine Generation jünger als Claudio Monteverdi, zur Feder griff. Zum Jahreswechsel 1667/68 sollte das Stück in Venedig aus der Taufe gehoben werden – was aber aus welchen Gründen auch immer nicht geschah. Die Partitur verschwand in der Schublade des Komponisten, gelangte von dort in den Besitz einer Adelsfamilie und schliesslich in eine Bibliothek in Venedig. 1999 wurde sie wiederentdeckt und in der lombardischen Kleinstadt Crema zu später Uraufführung gebracht.

Richtiger Stoff auch für Calixto Bieito. Willkürliche Machtausübung, Gewaltanwendung, triebhaftes Begehren, dazu ein Durcheinander der Geschlechter – das reizt den katalanischen Regisseur, der Cavallis «Eliogabalo» im Opernhaus Zürich auf die Bühne gebracht hat. Wie sich der Vorhang hebt, sitzt der Kaiser (Yuriy Mynenko, der aus Odessa stammende, dank Sondergenehmigung nach Zürich gekommene Countertenor mit weichem, geschmeidigem Ton) hingeflätzt in einem Sessel, die Smokinghose windet sich noch um die Fussgelenke, denn eben hat er Eritea vergewaltigt, die Verlobte seines Ersten Offiziers.

Die vom Opfer eingeforderte Ehe als Wiedergutmachung interessiert ihn trotz dem fulminanten Einsatz der Sopranistin Siobhan Stagg kein bisschen, er hat vielmehr seine langjährige Vertraute Lenia losgeschickt, ihm neue Körper zu besorgen – der Tenor Mark Milhofer versieht diese umgekehrte Hosenrolle mit sprühendem Witz. Zu einer wirklichen Hosenrolle wird die Partie des Giuliano, des besagten Offiziers an der Seite des Kaisers, wird sie in Zürich doch nicht von einem Countertenor, sondern von der blendenden Mezzosopranistin Beth Taylor verkörpert. Umgekehrt wird sich später Eliogabalo selbst ins Deux-Pièce werfen – dann nämlich, wenn er den eigens von ihm eingerichteten Frauensenat besucht, um die im Bikini angetretenen Parlamentarierinnen in näheren Augenschein zu nehmen. Mann oder Frau, hoch oder tief: nach kurzer Zeit ist die Verwirrung vollkommen.

Die vom grossen Ensemble auf durchwegs hohem Niveau herbeigeführte Konfusion mag hintersinnig an die derzeit aufschäumende Genderdiskussion verweisen – die in neutraler Modernität gehaltene, ausgesprochen bewegliche Bühne von Anna-Sofia Kirsch und die dazu passenden Kostüme von Ingo Krügler, vor allem jedoch die Hinweise aus der Dramaturgie suchen das nahezulegen. Die Assoziation wirkt freilich erzwungen, geht die Dominanz der hohen Stimmen und damit die Verwischung der Grenzen zwischen den Geschlechtern doch auf das zur Entstehungszeit der Oper in voller Blüte stehende Kastratenwesen zurück. Schlagend in unsere Tage führt dagegen die Bemerkung Eliogabalos, der Respekt vor den Gesetzen erfülle sich in deren Verletzung – da darf ruhig an den abgewählten Präsidenten einer gewissen Weltmacht gedacht werden.

Zuviel des Guten bieten auch die Dauererregung und die explizite Körperlichkeit im ersten Teil des Abends. Da wird, so ist es eben bei Bieito, szenisch so viel Energie freigesetzt, dass die feinsinnige Musik Cavallis unter die Räder kommt – und das trotz dem fulminanten Einsatz des dem Opernhaus Zürich angegliederten Barockorchesters La Scintilla. Erst im dritten Akt findet die musikalische Seite der Produktion ihren Raum. Wird deutlich, was Cavalli in den klar sprechenden Rezitativen und den vielen Passacaglien an Ausdruck hervorbringt. Und tritt zutage, wie subtil hier interpretatorisch gearbeitet wurde. Zu verdanken ist das dem russischen Dirigenten, Geiger und Countertenor Dmitry Sinkovsky, der das Particell Cavallis farbenprächtig instrumentiert hat. Die von ihm eingestreuten Improvisationen auf der Geige wirkten an der Premiere beiläufig. Die musikalisch grandios gemeisterte, szenisch effektvoll dargebotene Arie des Sängers am Pult sorgte dagegen für ein veritables Glanzlicht.

Wenn sich Götter unter Menschen mischen

«Hippolyte et Aricie» von Jean-Philippe Rameau im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Abendessen chez Thésée / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Die ausladenden Reifröcke des Kostümbildners Gideon Davey und die turmhohen Perücken, sie erinnern in zweierlei Art an eine Vergangenheit. Zum einen an das Vorgestern vom 1. Oktober 1733, an dem «Hippolyte et Aricie», die erste Tragédie en musique des damals bereits fünfzig Jahre alten Komponisten Jean-Philippe Rameau, an der Königlichen Oper Paris aus der Taufe gehoben – und eine neue Seite in der Geschichte der französischen Musiktheaters aufgeschlagen wurde. Und zum anderen an das Gestern der Jahre nach 1975, als Nikolaus Harnoncourt in Zürich die Opern Claudio Monteverdis wieder ans Licht holte. Jean-Pierre Ponnelle, der ihm vom damaligen Opernhaus-Direktor Claus Helmut Drese an die Seite gestellte Bühnenkünstler, hatte in seinen Kostümentwürfen eine ähnliche Handschrift der barocken Adelsmode gepflegt. Dazu kamen, als ein weiteres hauseigenes Zitat, jene in der Zeit des Kerzenlichts üblichen Leuchter zum Einsatz, die Muscheln nachgebildet und am Bühnenrand aufgestellt sind. In Rameaus Oper beleuchteten sie eine aufwendig improvisierte Balletteinlage (Choreographie: Kinsun Chan), die mit zum dramatischen Umschlag des Geschehens beiträgt.

Dass sich die von Jetske Mijnssen geleitete Inszenierung von «Hippolyte et Aricie» solcher in die Vergangenheit weisender Zeichen bedient, hat seine Logik. Die Produktion steht so dazu, dass es sich bei der Oper Rameaus um einen Stoff handelt, der inhaltlich wie formal aus weit entlegener Vergangenheit stammt. Für sein Textbuch hat sich der kundige Librettist Simon-Joseph Pellegrin auf die Tragödie «Phèdre» von Jean Racine gestützt, der seinerseits Vorlagen von Euripides und Seneca beigezogen hat. Eine dem antiken Mythos entstammende Götter- und Menschengeschichte wird hier verhandelt – genau das nimmt die wunderschön klassizistische Säulenhalle auf, die der Bühnenbildner Ben Bauer auf die Drehbühne des Zürcher Opernhauses gestellt hat. In ihrer formvollendeten Strenge deutet sie auch an, worum es im Musiktheater Rameaus geht. Anders als sein grosser Vorgänger Jean-Baptiste Lully ging Rameau vom Text als dem Zentrum seines Bühnenschaffens aus. Das Wort bot ihm nicht Anlass für Musik, es bildete vielmehr ihren Kern – indem es durch die Vertonung zu einer Prägnanz eigener Art finden sollte.

Es tat das in einer Musik, die sich ihrerseits geradezu spartanisch gibt. Sie lebt eher vom rezitativischen Gesang und vom generalbassbegleiteten Streicherklang als von der brillanten Arie und den grossen Nummern in farbenprächtiger Instrumentalisierung. Hie und da treten die dunkel timbrierten, kehlig klingenden Traversflöten dazu, ganz selten, dann aber effektvoll, zudem Fagotte, Oboen und Hörner oder eine Trompete mit Pauken. Im Mittelpunkt steht jedoch die Prosodie, die Aussprache des Textes, an der sich die Formung der Gesangslinie zu orientieren hat. Wie mit all dem in dieser Produktion von «Hippolyte et Aricie» umgegangen wird, steht ganz auf der Höhe der Zeit; es zeugt von Bewusstsein, Wissen und Können. Kein Wunder, ist doch die von Nikolaus Harnoncourt begründete Tradition der Auseinandersetzung mit der Alten Oper im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis am Zürcher Haus über all die Jahrzehnte hinweg gepflegt und weiterentwickelt worden. In Emmanuelle Haïm, der Dirigentin des Abends, hat sie eine beredte Anwältin gefunden.

Und eine temperamentvolle dazu. Prachtvoll lässt sie das Potential des hauseigenen Barockorchesters La Scintilla zur Geltung kommen, und sie münzt es um eine musikalische Vitalität von geradezu berauschender Wirkung. Ausserdem in eine Gegenwärtigkeit sondergleichen – im Emotionalen ohnehin, aber auch im Stilistischen. Das noch von der ehemaligen Operndirektorin Sophie de Lint, der heutigen Intendantin der Niederländischen Oper Amsterdam, zusammengestellte Ensemble lässt in weiten Teilen erkennen, dass die historische Praxis längst auch im vokalen Bereich Fuss gefasst hat. Cyrille Dubois (Hippolyte) mit seinem hohen strahlkräftigen Tenor, Mélissa Petit (Aricie) mit ihrem leichten, glanzvollen Sopran, Stéphanie d’Oustrac (Phèdre) mit ihrer geschmeidig wandelbaren Stimme, ihrer grossartigen Diktion und ihrer unerhörten szenischen Präsenz – sie alle setzen das Vibrato in effektvoller Nuancierung ein, spitzen die Dissonanzen zu und meistern die geforderten Verzierungen virtuos. Zusammen mit dem zupackenden, auch agilen Spiel der Scintilla verschafft das der anspruchsvollen, weil harmonisch avancierten Musik Rameaus eine unmittelbare Sinnlichkeit. Umso eigenartiger, dass sich der Zürcher Opernchor auch unter seinem neuen Leiter Janko Kastelic der hier verfolgten stilistischen Ausrichtung verschliesst und mit dem starken Vibrieren in den Frauenstimmen an klanglicher Homogenität zu wünschen übrig lässt.

Ein altes Stück ist «Hippolyte et Aricie», ja, aber eines das von heute und für heute spricht. Auch und gerade im Szenischen. Es erweist sich schon in der Ouvertüre, wo die Wurzel des Konflikts, wie ihn Jetske Mijnssen in ihrer kreativen szenischen Interpretation sieht, freigelegt wird. Phèdre begehrt ihren Stiefsohn Hippolyte und bekämpft eifersüchtig dessen Geliebte Aricie, weil ihr Mann Thésée (Edwin Crossley-Mercer) sie vernachlässigt; er tut das, weil er einen Geliebten hat, den er der Gattin vorzieht, ja dem er sogar in den Hades folgt, von wo er jedoch zu allgemeiner Überraschung wieder zurückkehrt. Alle Figuren versuchen, in der starren Ordnung der höfischen Hierarchie ihren Gefühlen Raum zu verschaffen – nicht zuletzt Phèdre, die von ihrer Amme Œnone (Aurélia Legay) dazu angestachelt wird. Kontrolliert werden sie dabei von Göttern, die sich unter die Menschen gemischt haben, von Neptune (Wenwei Zhang) und Diane (Hamida Kristoffersen), vor allem aber von drei Parzen (hervorragend Nicholas Scott, Spencer Lang und Alexander Kiechle), die als schwarzgewandete Mönche die geltenden Regeln brutal durchsetzen. Die Sympathien der Regisseurin liegen eindeutig bei den beiden jungen Liebenden, bei ihrer Spontaneität und Aufrichtigkeit. Wie es mit ihnen nach dem glücklichen Ausgang weitergehen wird, weiss man allerdings nicht; die Inszenierung setzt dazu ein kleines Fragezeichen.

Das alles wird von der Personenführung her in grossartiger Unmittelbarkeit zur Darstellung gebracht – wie überhaupt die Emotionalität des Geschehens immer wieder direkt in szenische Aktionen umgesetzt wird. Dazu kommt nun aber jenes Wunderbare, le Merveilleux, das die Rationalität der Worte übersteigen und die Tragédie en musique vom Sprechtheater ihrer Zeit abheben soll. Es findet auf der Zürcher Bühne zu spektakulärer Verwirklichung. Wenn Thésée zu ewigem Aufenthalt in dem von Totenvögeln bewohnten Hades verurteilt wird, zieht Pluton wie ein Wotan avant la lettre einen Feuerkreis um sein Opfer. Kommt der solcherart Gefangene dank der Hilfe seines Vaters Neptune doch wieder nach Hause, findet er dort die Hölle in Form brennender Sitzgelegenheiten vor. Und gegen das Ende hin wird der arme Hippolyte nicht von einem Ungeheuer aufgefressen, sondern auf einem in Flammen aufgehenden Scheiterhaufen verbrannt. Auch musikalisch wird das Wunderbare gespiegelt, einerseits durch den prägnanten Einsatz der Blasinstrumente, andererseits durch die lustvolle Verwendung von Perkussion bis hin zu Kastagnetten – dies im Geiste William Christies, einem der Lehrmeister der Dirigentin Emmanuelle Haïm. Jean-Philippe Rameau, bis heute verkannt, wird an diesem beispielhaften Opernabend alle Ehre angetan.

Die Mezzosopranistin Stéphanie d’Oustrac ist nicht nur, wie sie in «Hippolyte et Aricie» beweist, eine Tragödin ersten Ranges, sie kennt sich auch in anderen Fächern aus. Davon zeugt eine CD, die sie 2018 unter dem Titel «Sirènes» für Harmonia mundi aufgenommen hat. Zusammen mit dem Pianisten Pascal Jourdan bringt sie dort Werke von Hector Berlioz (Les Nuits d’été), Franz Liszt, Richard Wagner (Wesendonck-Lieder) zum Leuchten.

 

Am Ende: Phèdre (Stéphanie d’Oustrac) und Thésée (Edwin Crossley-Mercer) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

«Metamorphosen»

Bachs Köthener Trauermusik beim Festival Alte Musik in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Manches klang bekannt, ja vertraut. Aber nicht die Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs stand auf dem Programm, sondern die Trauermusik, die der Leipziger Thomaskantor zum Gedenken an Leopold von Anhalt-Köthen zusammengestellt hat, seinen Dienstherrn in den Jahren vor dem Leipziger Amtsantritt 1723. Die offizielle Verabschiedung des 1728 im Alter von erst 33 Jahren verstorbenen Fürsten, mit dem Bach eine herzliche Freundschaft verbunden hatte, enthielt ein vierteiliges geistliches Werk, dessen Partitur verschollen ist; überliefert ist allein der Text. Allerdings ist schon den Bach-Forschern des frühen 20. Jahrhunderts die formale Verwandtschaft zwischen den Texten zur Matthäus-Passion und jenen zur Trauermusik aufgefallen. Doch erst ein Jahrhundert später, erst in unseren Tagen haben es Musiker und Musikforscher gewagt, die Köthener Trauermusik zu rekonstruieren und im Konzert brauchbare Spielfassungen herzustellen. Unter ihnen befindet sich Alexander Grychtolik. Der deutsche Cembalist und Dirigent legte eine Rekonstruktion vor, für die er zum einen auf originale Musik Bachs zurückgriff, für die er zum anderen neue Rezitative im Stile Bachs komponiert hat. Die Neutextierung eines bestehenden Stücks, die barocke Parodie, gehörte für Bach zum Alltag; von da her erscheint Grychtoliks Vorgehen als absolut legitim. Mehr Angriffsfläche bieten die von ihm nachkomponierten Rezitative – doch angesichts der handwerklichen Solidität dieser Ergänzungen lässt sich damit sehr gut leben.

Dass das grosse, würdige Werk – über die Zeitgebundenheit der Texte Picanders kann man leicht hinwegsehen – jetzt in Zürich zu hören war, ist die eine Sensation, die andere ergab sich aus der überragenden Qualität der Darbietung. Die Besonderheit bestand darin, dass sich die «Deutsche Hofmusik», das von Grychtolik gegründete Ensemble instrumentaler wie vokaler Ausrichtung an den Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis orientierte. Dass also eine Besetzung gewählt wurde, wie sie Bach zu seiner Köthener Zeit vorgefunden haben mag. Am fürstlichen Hof zu Köthen verkehrten die besten Musiker von damals, ein grosses Orchester gab es jedoch nicht; es herrschte weitgehend solistische Besetzung – was die Mitglieder der «Hofmusik» dadurch unterstrichen, dass sie sich, sofern möglich und sinnvoll, für ihre Auftritte erhoben. Dies und die füllige Akustik der Kirche St. Peter führten dazu, dass der hervorragend ausbalancierte Klang trotz der geringen Anzahl an Mitwirkenden zu grossartiger Wirkung kam. Und weil hier Musik vorgetragen wurde, die über weite Strecken aus der Matthäus-Passion stammt, aus einem musikalischen Bereich also, der eher mit grösseren Besetzungen verbunden wird, war das Klangliche von besonderem Reiz. Immer wieder gingen die Gedanken zurück an jene Basler Aufführung von Bachs Johannes-Passion mit Kräften der Schola Cantorum Basiliensis unter der Leitung von Joshua Rifkin, die im März 1986 erstmals in diesen Landen ein grosses Chorwerk Bachs in der quasi originalen Besetzung vorgestellt – und damit ziemlich Staub aufgewirbelt hat.

Im Einzelnen bot der Abend, was die musikalische Verlebendigung betrifft, Höhepunkt an Höhepunkt. Alexander Grychtolik leitete die «Deutsche Hofmusik» vom Cembalo aus, an der Orgel löste ihn bisweilen seine Gattin Aleksandra Grychtolik ab. Von farbenreicher Kraft die Bassgruppe, aus der die Gambistin Heidi Gröger heraustrat. Und packend die Übereinstimmung bei den hohen Streichern mit der Konzertmeisterin Mechthild Karkow. Schlechthin grandios die Bläser; Jan de Winne und Christie Debaisieux holten aus den Traversflöten einen Glanz, der staunen machte, während Marcel Ponseele, der in fast allen Ensembles der alten Musik mitwirkt, zusammen mit Lidewei De Sterck die Oboe prächtig ans Licht hob. Leicht erhöht hinter den Instrumentalisten eine Sängerin und drei Sänger: Chor und Solisten zugleich. Und hier war wieder zu erleben, in welchem Masse die historisch informierte Aufführungspraxis auch das Singen erreicht hat. Zuallererst bedeutet es den Verzicht auf das Vibrato als Grundlage der Tongebung. Der Ton entsteht in gerader Formung, das Vibrato wird wieder zur Verzierung – und wie effektvoll das klingen kann, hier war es zu erleben. Bewundernswert die Sopranistin Miriam Feuersinger mit ihrem strahlenden Ton und der Altist David Erler, der sich mit Kraft und Agilität zugleich einbrachte. Klar zeichnend auch der Tenor von Hans Jörg Mammel, während der Bass Wolf Matthias Friedrich seine Partie äusserst lebendig aus der Sprache heraus gestaltete.

Das Forum Alte Musik in Zürich hat sich mit dem Eröffnungskonzert zu seinem diesjährigen Frühlings-Festival eine grosse Kiste geleistet. Dass es geschah, ist wichtig genug, denn die Musik vor Mozart ist in Zürich zu wenig vertreten – viel weniger jedenfalls, als es die Fülle der Kompositionen verlangte und es der enorme Markt an Interpreten und Aufnahmen ermöglichte. Das Festival – seine dreissigste Ausgabe steht unter dem Thema «Metamorphosen» – geht am kommenden Wochenende weiter. Am Freitag bietet es Metamorphosen mit altgriechischer Musik, unter anderem mit Alkman, keinem Amerikaner, sondern einem Komponisten aus Sparta, der im siebten Jahrhundert vor Christus gewirkt haben soll. Tags darauf stellen Arianna Savall, die Tochter des berühmten Gambisten und Dirigenten Jordi Savall und seiner leider viel zu früh verstorbenen Gattin Montserrat Figueras, Liebeslieder aus dem Mittelalter vor. Und zum Schluss erklingt eine Vesper von Carlo Donato Cossoni, einem Komponisten, Organisten und Kapellmeisters aus Norditalien. Cossonis Musik liegt zu einem guten Teil handschriftlich in der Bibliothek des Klosters Einsiedeln; sie ist dort auch regelmässig aufgeführt worden. Grund genug, sie im Zwingli-Jahr ins reformierte Zürich zu bringen.

Feuerwerk mit Cembalo

Bachs Brandenburgische Konzerte mit La Scintilla im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Anfangs wollte nicht alles gelingen. Im ersten der sechs Brandenburgischen Konzerte Johann Sebastian Bachs, das diesen insgesamt hinreissenden Auftritt der Scintilla auf dem zugedeckten Orchestergraben im Opernhaus Zürich eröffnete, ging den beiden Hornisten manches daneben. Das Naturhorn zu bändigen ist anspruchsvoll, aber so viel Schräges muss nicht sein. Schief war auch die klangliche Balance, denn zusammen mit den drei sonoren Oboen dominierten die zwei Hörner den Gesamtklang restlos – der Violino piccolo und die so gut wie solistisch besetzte Streichergruppe hatten da nicht viel zu melden. Die Probleme setzten sich ins zweite Konzert fort, wo die äusserst engagiert gespielte Blockflöte durch die zwar historische, aber doch sehr präsente Trompete ins Hintertreffen versetzt wurde. Eine andere Welt tat sich im dritten, dem mit je drei Geigen, Bratschen, Celli und Continuo besetzten Konzert auf. Da konnte man sich voll einlassen – zum Beispiel auf die reichhaltig gestaltete Artikulation, die, wie es in der historisch informierten Aufführungspraxis inzwischen üblich ist, auch dem Legato wieder seinen Raum liess. Fragwürdig nur, dass das Adagio des zweiten Satzes, von dem bloss zwei Akkorde in halben Noten notiert sind, nicht durch eine improvisierte Kadenz bereichert wurde. Sie wäre an dieser Stelle zweifellos fällig gewesen – und ebenso zweifellos wäre der Geiger Riccardo Minasi, seit dieser Saison sozusagen als Chefdirigent des an der Zürcher Oper wirkenden Barockorchesters tätig, in der Lage gewesen, sie auszuführen. Etwas ernüchtert ging man die Pause.

Um danach gleich in der angenehmsten Weise aufgeweckt zu werden. Im vierten Konzert wirkten Minasi, nun an einer Violine in normaler Grösse, sowie die beiden wunderbaren Blockflötistinnen Martina Joos und Sibylle Kunz in animierter Spielfreude mit den Streichern und dem Continuo zusammen. Noch und noch gab es Überraschungen im Wechsel zwischen gestossenem und gebundenem Spiel, auch durch Verzögerungen und Beschleunigungen. Herrlich ausgeglichen zudem der Klang. Und was der Bassist Dariusz Mizera mit ebenso tragendem wie elegant springendem Untergrund betrug, war köstlich. Danach aber, im fünften Konzert, jenem im D-Dur für Traversflöte, Violine, Cembalo und Streicher, brach ein Feuerwerk aus, wie es nur alle Schaltjahre vorkommt. Sensibel trat Maria Goldschmidt mit ihrem gehauchten Flötenton in Erscheinung, als leitender Geiger brachte Riccardo Minasi sein lebendiges Temperament ein – und vor allem war da der Cembalist Mahan Esfahani. Artig, aber doch auch schon ziemlich besonders trug er zum Basso continuo bei, doch als er im Kopfsatz zu seiner wirbelnden, blitzenden Kadenz kam, legte er alle Zurückhaltung ab. In trockenem Non-Legato perlten die Läufe, sinnliches Über-Legato schuf Klangräume, als ob sein Cembalo ähnlich dem Klavier über ein Pedal verfügte, während der effektvolle Einsatz der beiden Manuale zu einer dynamischen Steigerung führte, die einer Orgel würdig schien. Fulminant schloss er ab – worauf wie im Jazzkonzert spontaner Zwischenapplaus ausbrach und es nach dem Satzende fast nicht weitergehen konnte. Sehr zart danach der Mittelsatz, der von geschmackvollem Jeu inégal getragen war – man konnte in diesem Brandenburgischen Konzert die ganze wiederauferstandene Kunst des Cembalospiels kennenlernen. Mit seinen zwei solistisch eingesetzten Bratschen brachte dann das sechste, wiederum von Streichern geprägte Konzert einen beschwingten Abschluss.

Zwanzig Jahre alt, scheint La Scintilla, eines der Alleinstellungsmerkmale des Opernhauses Zürich, bestens unterwegs. Beim Hinausgehen dachte ich, von denen würde ich mir sogar die «Vier Jahreszeiten» Antonio Vivaldi schenken lassen. Der Wunsch wird erfüllt, im nächsten Konzert gibt es vier Jahreszeiten: solche von Vivaldi und solche von – Verdi.

Schauerliches Thema, schönste Musik

«L’incoronazione di Poppea» von Claudio Monteverdi im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Über vierzig Jahre sind vergangen, seit Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Jean-Pierre Ponnelle auf der Bühne die Opern Claudio Monteverdis in Zürich wieder ans Licht gebracht haben. Sie taten es auf Anregung des damaligen Opernhaus-Direktors Claus Helmut Drese, und es darf mit Fug und Recht behauptet werden, dass damals in Gang kam, was heute selbstverständlich wirkt. «Orfeo», «Il ritorno d’Ulisse in patria» und «L’incoronazione di Poppea» gelten längst nicht mehr als Raritäten, die drei Stücke gehören in Europa vielmehr zum Standard-Repertoire. Allerdings ist die Aufführung der Opern Monteverdis noch immer mit besonderen Herausforderungen verbunden. Die Partituren enthalten nämlich nur ein Skelett, meist bloss Singstimme und Bass, alles andere darf und muss, das war im 17. Jahrhundert Tradition, von den Interpreten eigenhändig eingerichtet werden. So ist es auch bei «L’incoronazione di Poppea», der letzten Oper Monteverdis, die jetzt im Opernhaus Zürich Premiere gehabt hat – knapp fünfzehn Jahre nach einer zweiten Produktion des Werks mit Nikolaus Harnoncourt am Pult.

Fast vierhundert Jahre alt ist dieses Stück, und es wirkt, als stamme es von heute. Tatsächlich zeigt «L’incoronazione di Poppea», entstanden wohl 1642, eine Versammlung von Menschen, die nichts anderes kennen als: das Ich. Sei es im Rom Kaiser Neros einige Jahrzehnte nach Christi Geburt, sei es im mächtigen, übersatten Venedig des Komponisten Claudio Monteverdi, sei es heute, im Zeitalter der Willkürherrscher und des Selfiesticks – die Verhaltensmuster sind dieselben. Im Opernhaus Zürich legt Calixto Bieito den Finger nun genau darauf, und er tut das so unbarmherzig, wie es seine Art ist. Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat ihm einen ovalen Laufsteg der Eitelkeiten entworfen; er läuft aus der Bühne heraus über den Orchestergraben in den Zuschauerraum und von dort wieder zurück.  Das schafft eine ungewohnte Nähe – die noch dadurch unterstützt wird, dass die Video-Einrichtung von Sarah Derendinger das Geschehen scharf heranzoomt und auf zwei Mal sieben Bildschirmen links und rechts im Raum vergrössert. Die Bühne selbst ist dominiert von einem steil ansteigenden Podest mit zusätzlichen Sitzplätzen für Zuschauerinnen und Zuschauer sowie einer Mitteltreppe, über die auf- wie abgetreten werden kann.

Die Wirkungsmacht dieses vervielfachten Raumtheaters hat den Vorteil, dass das Egomane der Figuren in Monteverdis Oper krass zutage tritt. Mit seiner unerhört klangvollen Höhe zeigt der Sopranist David Hansen, der an die Stelle des erkrankten Valer Sabadus getreten ist, den Nerone als einen Nihilisten der ersten Stunde; für diesen wahrhaft zügellosen Machthaber zählt einzig das momentane Bauchgefühl, sei es Lust oder Wut. Zuckt es ihm zwischen den Beinen, nimmt er sich, was er braucht, und sei es der Erste Offizier seiner Garde (Thobela Ntshanyana), der nach vollzogenem Akt mit einem lautlosen Kopfschuss beseitigt wird. Wer ihm jedoch widerspricht, wie es der salbungsvolle Philosoph Seneca tut (und wie es Nahuel Di Pietro mit wohlklingender Tiefe hören lässt), dem versucht der Tyrann mitten unter den Zuschauern eigenhändig die Zunge auszureissen – ein einigermassen blutiges Unterfangen wie stets bei Bieito. Abhanden kommt dem Kaiser die Macht allein vor Poppea, die ihren Weg nach oben noch eine Spur kaltblütiger verfolgt; die Domina nimmt man der ausgezeichnet singenden Julie Fuchs allerdings nicht restlos ab. Da wirkt Deanna Breiwick mit ihrem hellen Sopran als die unverstellt mit ihren Reizen spielende Drusilla doch noch eine Spur packender.

Allein, so intensiv Monteverdis Oper über die Rampe gebracht wird, so rasch zeigt der Ansatz der Produktion seine Grenzen. In ihrer blinkenden Bilderflut geht die szenische Einrichtung über eine durchschnittliche Aufnahmekapazität hinaus; vor lauter Zuschauen gerät das Zuhören bald einmal ins Hintertreffen. Das wird noch dadurch verstärkt, dass die Bühnenarchitektur akustisch nicht eben zu überzeugen vermag. Delphine Galou, die den von Poppea verschmähten Liebhaber Ottone verkörpert, muss mit ihrer im Leisen verankerten Stimme merklich pressen, was bisweilen auch für Stéphanie d’Oustrac gilt, die als die von ihrem Gatten verstossene Kaiserin Ottavia einen ebenso majestätischen wie berührenden Auftritt hat. Noch schwieriger ist die Lage im Graben. Koordiniert von Ottavio Dantone, der die Partitur eingerichtet hat und den Abend vom Cembalo aus brillant leitet, bringt La Scintilla, das mit der Musik Monteverdis bestens vertraute Originalklangorchester der Oper Zürich, gewiss ein Optimum an instrumentalem Reiz ein, doch derart versenkt im Inneren des ovalen Laufstegs vermögen die Musikerinnen und Musiker ihre Vorzüge, gerade etwa im reich besetzten Generalbass, nicht wirklich zur Geltung zu bringen.

Dennoch herrscht trotz des grausigen Sujets fast durchwegs gute Laune. Das liegt an den komischen Einlagen und dem witzigen Spielen mit dem Genderismus. Die tragende Figur des Nerone wird von einem in hoher Kopfstimme singenden Mann verkörpert, während des Kaisers rasch abgehalfterter Nebenbuhler Ottone von einer tief klingenden Frau gespielt wird. Die beiden Ammen wiederum, tief liegende Frauenpartien, sind in Zürich Männern übertragen, die nicht als weibliche Vertraute, sondern als (wenigstens halb) männliche Berater erscheinen: Emiliano Gonzalez Toro als Arnalta an der Seite Poppeas, Manuel Nuñez Camelino als Nutrice an jener Ottavias. Dennoch bleibt unter dem Strich der Eindruck, dass die neue Zürcher «Poppea» nicht immer das erreicht, was sie erreichen könnte – weder in der Flexibilität der Prosodie noch in der instrumentalen Agilität, weder in der orchestralen Farbigkeit noch in vokalen Qualität. Die Erinnerung an die sensationelle halbszenische Aufführung, die John Eliot Gardiner letzten Sommer beim Lucerne Festival geboten hat, steht übermächtig im Raum. Auch an das Elementare der Zürcher Wiederentdeckung von 1977 kommt sie nicht heran. Angesichts der Tatsache, dass heute vertraut ist, was damals neu wirkte, ist das aber vielleicht kein Wunder.

Trauer und Trost – und was für eine Stimme

Eine CD mit der Mezzosopranistin Lucile Richardot

 

Von Peter Hagmann

 

Vorn auf dem Podium herrschen die denkbar fröhlichsten Hochzeitsvorbereitungen. Der Bräutigam tummelt sich mit seinen Freunden, in Chören wird das glückliche junge Paar gefeiert – da dringen mit einem Mal von weit hinten Klagelaute durch Mark und Bein. Sie stammen von einer Botin, die langsam, langsam, nur von einem Lautenisten begleitet, der Parkettgalerie entlang nach vorn schreitet – hin zum Podium, wo ihr Erscheinen alsbald lähmendes Entsetzen verbreitet. Euridice sei tot, berichtet die Botin, von einer Schlange gebissen und auf der Stelle verschieden. Orfeo, der Bräutigam, bricht zusammen, die Freudengesänge wandeln sich in Trauerchöre.

Was für ein Moment. Und was für eine Stimme. Es war im Sommer 2017 im KKL Luzern, wo der Dirigent John Eliot Gardiner und sein Team im Rahmen eines auf drei Abende verteilten Projekts des Lucerne Festival «L’Orfeo», die Oper Claudio Monteverdis, zu halbszenischer Aufführung brachten. Und es war die Stimme von Lucile Richardot, einer Sängerin mit einem aufsehenerregenden Stimmumfang und einem unerhört wandelbaren Timbre, einer Darstellerin zudem von schwindelerregender Expressivität. Hatte sie im «Orfeo» diesen kurzen Auftritt zu einem Höhepunkt gemacht, so sang sie später im «Ritorno d’Ulisse in patria» bezwingend die im Warten auf ihren Odysseus erstarrte, am Ende wieder zur Frau werdende Penelope, während sie in der «Incoronazione di Poppea» als Amme der ehrgeizigen Thronanwärterin mit ihrem nicht weniger ausgeprägten komischen Talent erheiterte.

Nun ist eine CD mit Lucile Richardot erschienen – natürlich bei Harmonia mundi, dem französischen Label, das heute an der Spitze der angeblich darniederliegenden CD-Branche steht und genau mit solchen Produktionen das Feld beherrscht. Die CD ist ein Muss für alle jene, die alte Musik lieben und wissen wollen, wie sie auf neue Art gesungen werden kann. Das Programm enthält Stücke aus dem England des  17. Jahrhunderts – Werke von Komponisten, die abgesehen von Henry Purcell und John Blow hierzulande nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Sie stehen allesamt im Zeichen des Nächtlichen, des Melancholischen. Zugleich aber bringen sie enorme Vielfalt ein – Vielfalt im musikalischen Satz, in der Realisierung des Generalbasses, in den Besetzungen. Getragen wird die Abfolge der zumeist vokalen Stücke durch das von Sébastien Daucé geleitete Ensemble Correspondances, das im Instrumentalen keinen Wunsch offen lässt, in den mehrstimmigen vokalen Beiträgen jedoch etwas unausgeglichen klingt.

Im Zentrum aber: Lucile Richardot. Wenn sie in ihr Brustregister absteigt, glaubt man einen Countertenor zu hören, allerdings einen der aussergewöhnlichen Art. Die Stimme wird da ungeheuer kräftig und fest, sie entwickelt eine Wandelbarkeit in Formung und Farbe, dass es einem förmlich den Atem raubt. Dabei bleibt der feminine Grundzug unangetastet, denn ebenso souverän setzt Lucile Richardot ihr Kopfregister ein – steigt sie in die Höhe, wird dort locker und leicht. Auf dieser Basis wendet sie die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis an, wie sie heute angesagt sind. Grundlage des Singens bildet hier der reine, gerade Ton, wie ihn ein Instrument hervorbringt. Das erlaubt der Sängerin, die harmonischen Verläufe zu schärfen, Dissonanzen etwa dergestalt zuzuspitzen, dass die Auflösung in die Konsonanz zu einem Naturereignis wird. Überhaupt erhält das Harmonische dank der immer wieder grossartig getroffenen Intonation eine Würzung, die man so nicht für möglich gehalten hätte. Dazu kommt nun, als höchst effektvoll eingesetzte Verzierung, das Vibrato, das im Rahmen dieser vokalen Ästhetik zu seiner ursprünglichen Funktion zurückfindet – ungemein packend ist das.

So stellt sich in den ebenso vertraut wie fremd klingenden Stücken, die auf der CD versammelt sind, ein Panoptikum an Stimmungen zwischen Trauer und Trost ein. Doch genug der Worte, ich will die CD gleich noch einmal einlegen.

Perpetual Night. 17th Century Ayres and Songs. Lucile Richardot, Ensemble Correspondances, Sébastien Daucé (Leitung). Harmonia mundi 902269, 1 CD, Aufnahme 2017, Publikation 2018).

Kein Ende der Geschichte

Bachs h-moll-Messe mit William Christie

 

Von Peter Hagmann

 

Als bei der Osterausgabe des Lucerne Festival 2015 – die entsprechende CD folgte wenig später – John Eliot Gardiner seinen Blick auf die Messe in h-moll von Johann Sebastian Bach vorstellte, konnte man sich an einen Endpunkt in der Kunst der musikalischen Interpretation versetzt fühlen. Derart kompakt und zugleich agil klang der Monteverdi Choir, derart ausdrücklich sprachen die English Baroque Soloists die Musik aus, dass sich ein non plus ultra nicht denken liess. Das Ende der Geschichte gibt es natürlich keineswegs, die klingende Kunst ist ein lebendig Ding, das sich als solches von Tag zu Tag verändert – und gerade darum weiterlebt. Nichts macht das besser greifbar als die jüngste CD mit William Christie und den Mitgliedern des von ihm gegründeten Ensembles «Les Arts Florissants». Sie gilt der h-moll-Messe Bachs und stellt interpretatorisch nicht weniger als eine Art Gegenentwurf zur Deutung Gardiners dar.

Einen nicht nur äusserst valablen, sondern auch einen sehr anregenden Gegenentwurf. Dass die h-moll-Messe als Kulmination in der vokalen Polyphonie Bachs, ja als Summe seines künstlerischen Lebens gesehen werden muss, steht auch für Christie fest; er lässt es in der bei Harmonia mundi erhältlichen CD durch einen fundierten Text des renommierten Bach-Forschers Christoph Wolff darlegen. Christie selbst fügt diesen Ausführungen indessen Gedanken an, die erkennen lassen, dass er die h-moll-Messe nicht nur als Vermächtnis, nicht nur als Denkmal wahrnimmt, dass er in ihr vielmehr auch hört, wie vital Bach auf seine musikalische Umwelt reagiert hat. Darum trägt die Messe bei Christie weniger den Charakter eines feierlichen Schlusspunkts. In seiner Auslegung klingt sie eher wie ein Moment fröhlich belebter Gegenwärtigkeit.

Das wird gleich im eröffnenden «Kyrie» hörbar. Während der Chor bei Gardiner gerade darum frappiert, weil er in seiner unglaublichen Homogenität wie mit einer einzigen Stimme zu sprechen scheint, gibt sich das etwas kleiner besetzte Vokalensemble der «Arts Florissants» bewusst als eine Gruppierung einzelner Stimmen. Nicht alles ist da auf Klangverbindung und Abmischung ausgerichtet, es sind durchaus stimmliche Individualitäten hörbar, auch ein die Homogenität brechendes Vibrato und ein fast laszives Portamento treten da und dort auf. Dafür herrscht eine unerhörte Beweglichkeit, die bis zur makellosen Ausführung von Verzierungen reicht, wie sie sonst nur in der solistisch besetzen Instrumentalmusik üblich sind.

In ähnlicher Weise leichtfüssig bewegt sich das stilistisch hochgradig versierte Instrumentalensemble, das im Generalbass neben der im sakralen Kontext obligaten Orgel ein Cembalo einsetzt. An ihm wirkt der Dirigent William Christie, der hier nicht nur als Dirigent agiert, sondern sich auch als Musiker zu den Musikern gesellt. So stellt sich denn auch ein Geist der Kammermusik ein, der den ins Grosse, ja Majestätische zielenden Tonfall vieler Aufführungen der h-moll-Messe, auch jener mit Gardiner, aus den Angeln hebt, ohne dass dadurch jedoch die Musik Bachs verkleinert würde. Interpretation, auch wenn sie ganz und gar dem Text verpflichtet bleibt, kann schon ausserordentlich wirksam werden.

Eindrucksvoll auch die Solisten. Mit ihrem hellen Sopran bildet Katherine Watson, die keineswegs aufs Vibrato verzichtet, es aber ebenso gekonnt wie lustvoll einsetzt, einen munteren Diskant. Während Tim Mead mit seinem klar zeichnenden Countertenor markante Kontraste einbringt und in seiner Arie «Qui sedes ad dextram patris» mit einem enorm weiten Atem auffällt. Grossartig in Timbre wie Stimmführung der Tenor Reinoud Van Mechelen, leuchtend der Bass von André Morsch, der die vom Jagdhorn und den beiden Fagotten konzertant belebten Arie «Quoniam tu solus sanctus» zu einem Höhepunkt macht. Aufnahmen, die in so reichem Masse zum Mitdenken anregen, wie sie Hörlust erzeugen, sind alles andere als alltäglich.

Johann Sebastian Bach: Messe in h-moll BWV 232. Katherine Watson (Sopran), Tim Mead (Countertenor), Reinoud Van Mechelen (Tenor), André Morsch (Bass), Les Arts Florissants, William Christie. Harmonia mundi 8905293.94 (2 CD). Die Edition erscheint am 9. März 2018.