«Siegfried» zur Fortsetzung im Zürcher «Ring»
Von Peter Hagmann
Mit keinem Werk der Operngeschichte, auch nicht mit Mozarts «Don Giovanni», ist eine derart komplexe, derart heftig diskutierte Wirkungsgeschichte verbunden wie mit dem «Ring des Nibelungen». Bis heute und in anhaltender Intensität fordert und irritiert Richard Wagners Tetralogie die Musiker, die Theatermacher, das Publikum. Die Leerräumung der Bühne und die Einführung der geneigten Scheibe als Spielort, von Wieland Wagner in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, der pointierte Einbezug gesellschaftspolitischer Allusionen durch Patrice Chéreau und die klangliche Auflichtung des Orchesterparts durch Pierre Boulez im Bayreuther «Jahrhundertring» von 1976, die Blüten des Regietheaters, die in den letzten Jahrzehnten einigen erhellenden und zahlreichen entstellenden Deutungsversuchen Raum geschaffen haben – das alles gehört ebenso zum «Ring» wie die Aufregungen, die aufschäumen, wenn Wotan den Aktenkoffer des Kapitalisten mit sich führt oder Alberich keinen richtigen Tarnhelm herzeigt. Im Opernhaus Zürich freilich herrscht einhellige Begeisterung: im neuen «Ring», genauer: bei «Siegfried», wo ein drolliger Bär über die Bretter eilt (Kompliment an Dominique Misteli), wo ein sehr zeitgemässer Drache, pardon: ein Dragon seine Nüstern bläht und dann sein Leben aushaucht (Gratulation an den «Tierpfleger» Marius Kob), wo in der Esse die Flammen machtvoll aufschiessen und danach das Schwert bedrohlich glüht (der nie um eine Lösung verlegenen technischen Abteilung unter der Leitung von Sebastian Bogatu gebührt endlich auch einmal ein Kranz).
Wenn somit alles vorhanden ist, was gemäss Textbuch vorhanden sein muss, und umgekehrt nichts von jenen Modifikationen zu erleiden ist, die eifrige Regisseure vorzunehmen lieben – wo stehen wir dann? Erliegen wir dann nicht dem Irrtum, man könne auch bei einem Grossentwurf wie dem «Ring des Nibelungen» sozusagen zum Punkt Null zurückkehren und das Nachleben, das zum Werk gehört wie seine Niederschrift, mir nichts, dir nichts ausblenden? Und mehr noch: Liegt diesem Irrtum nicht eine retrospektive Haltung zugrunde, ja gar eine Negierung der Notwendigkeit, ein Kunstwerk immer und immer wieder neu im Licht der jeweiligen Gegenwart zu lesen – die Werke also notfalls, wie es im Sprechtheater zum Leidwesen vieler Besucher geschieht, zu dekonstruieren und sie der Jetztzeit gemäss neu zusammenzusetzen? Je weiter der neue Zürcher «Ring» voranschreitet, desto deutlicher wird, dass von all dem nicht die Rede sein kann. Auch in «Siegfried» verzichtet der Zürcher Hausherr Andreas Homoki als Regisseur nämlich darauf, seine eigenen Ansichten zur Tetralogie in Szene zu setzen; er schaut vielmehr einfach mit aller Genauigkeit hin und zeigt, was er in Wagners Text liest und in seiner Musik hört. Lesen und hören tut er freilich mit hellwachem Geist. Und sichtbar werden lässt er die Ergebnisse dieses Wahrnehmungsprozesses mit genuinem Theatersinn, ausserdem mit verspielter Phantasie und erheiternder Ironie. Wie ein Märchen zieht «Siegfried» an einem vorüber; die vier Stunden reiner Aufführungsdauer gehen im Nu vorbei – vielleicht mit Ausnahme des dritten Aufzugs, gegen dessen Ausführlichkeit nun einmal kein Kraut gewachsen ist.
Ganz langsam hebt sich der Vorhang, wenn das düstere Vorspiel zum ersten Aufzug anhebt. Eindrücklich die Farbenspiele, die mit denen die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Gianandrea Noseda aufwartet; was der Solist an der Kontrabasstuba da an Pianissimo-Klängen herzaubert, ist von aussergewöhnlichem Format. Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung führt weiter, was in «Rheingold» und «Walküre» angelegt wurde. Die gründerzeitlichen Räume auf der Drehbühne wirken etwas enger als in den vorangehenden Teilen – oder erscheinen sie nur so, weil die Farben dunkel gehalten sind und das Mobiliar, inzwischen in herbe Unordnung geraten, gewachsen scheint? Tatsächlich befinden wir uns in einer Art Kinderstube. Siegfried, stürmisch zwar, trägt noch die Eierschalen hinter den Ohren, Klaus Florian Vogt zeigt das sehr schön. Er nimmt den Anfang ausgesprochen lyrisch, wird dabei vom Orchester jedoch mehr als einmal bedrängt. Überhaupt lässt Noseda gerne die Muskeln spielen, was bisweilen von umwerfender Wirkung ist, aber auch Fragen aufwirft; warum zum Beispiel die tiefen Bläser immer wieder so hässlich schnarrend dominieren, ist nicht zu verstehen. Siegfried jedenfalls ist da und dort kaum zu hören – nicht weil Vogt seinen wandelbaren Tenor mit Blick auf die Anforderungen der Partie schont, sondern weil er die unbekümmerte Naivität, auch die Verletzlichkeit des jungen Siegfried heraustreten lässt. So sehr er seinen Ziehvater verachtet, sucht er, wenn er vom Tod seiner Mutter erfährt, doch auch Schutz in dessen Armen.
Mime wiederum ist mehr als eine Karikatur, er ist ein Mensch, wie es heute nicht wenige gibt: zerfressen von der Gier nach dem Ring und nicht eben uneitel, seinem Vorhaben aber nicht wirklich gewachsen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, dessen Timbre gegenüber früheren Zeiten milder geworden ist, kennt sich in dieser Partie aus wie in seiner Hosentasche; virtuos bringt er sie über die Rampe. Besonders gelingt das in dem von betörenden Sequenzen getragenen Fragespiel, in das ihn der unbekannte und unerwünschte Wanderer verwickelt. Tomasz Konieczny glänzt hier erneut mit unerhörter stimmlicher Pracht und Lust am Auskosten jeder einzelnen Silbe, vor allem aber auch mit Schauspielkunst vom Feinsten. Am Ende finden sich die beiden ungleichen Kontrahenten in dem inzwischen etwas abgewrackten Prunksaal mit dem langen Besprechungstisch, in dem sich der Wanderer zu erkennen gibt, nur versteht es Mime nicht. Genau dort erlebt Wotan/Wanderer seinen endgültigen Niedergang: nach der packend gelingenden Begegnung mit dem ahnungslosen, aber umso selbstgewisseren Siegfried und dem Schlag von dessen Schwert auf den Speer des Göttervaters.
Vorangegangen waren Momente zauberhaften Theaters. Der Zwist zwischen Alberich (Christopher Purves) und Wotan, der Auftritt des zierlichen Waldvögeleins von Rebeca Olvera und der Kampf Siegfrieds mit dem in aller Körperfülle erscheinenden Drachen, dem dann mit David Leigh ein in der Produktion neuer, aber sehr valabler Fafner entsteigt, schliesslich auch die für Wotan ungut ausgehende Besprechung mit Erda (Anna Danik). Dann aber wechselt die Szenerie, verabschiedet sich die Drehbühne für einen Augenblick zugunsten einer vornehm getäferten Wand in edelstem Graugrün und dem Felsen mit der schlafenden Brünnhilde – auch ein diskreter Hinweis auf den Unterbruch in der Entstehungsgeschichte der Tetralogie. Seinen Abschied nimmt hier auch gleichsam der Regisseur, er überlässt das Feld dem Text und der Musik. Einmal mehr darf man staunen über das psychologische Einfühlungsvermögen Wagners lange vor Freud. Und darf man die Kunst bewundern, mit der Klaus Florian Vogt, noch immer frisch, und Camilla Nylund als die aus tiefem Schlaf erwachende Brünnhilde die schwierige Annäherung von Mann und Frau meistern. Wie Siegfried erschrickt ob dem Anblick der Frau ohne Brünne und dann in tiefer Angst nach der Mutter ruft, wie sich Brünnhilde vor der Berührung durch den Mann fürchtet, und das keineswegs nur aus Gründen des Statusverlusts, wie feurig die beiden endlich das wie zufällig bereitstehende Bett in Besitz nehmen – alles feinsinnig ausgearbeitet, hochspannend und tief berührend.