Eine Traumwelt, gross und klein

Wagners «Siegfried» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Besonders süss: das ziemlich gewachsene Waldvögelein von Álfheiður Erla Guðmundsdóttir. Rechts neben Siegfried (Rolf Romei) der Kröte gebliebene Alberich (Andrew Murphy) / Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Da sind sie wieder auf Natascha von Steigers Bühne, das mehrstöckige Haus, das als die Burg Walhall gelten mag, der kahle Baum, der sich vervielfältigt und zu einem mittleren Wald verdichtet hat, der ausladende Tisch, der die Küche Mimes ziert und später zum Brünnhilden-Felsen wird. «Siegfried», der zweite Tag und der dritte Teil in Richard Wagners «Ring des Nibelungen» am Theater Basel, bleibt den vom Regisseur Benedikt von Peter angesetzten Leisten treu. Die Tetralogie wird in einer Rückblende erzählt, als Erinnerung Brünnhildes, die wie alle Figuren des Geschehens in verschiedenen Lebensaltern, in diversen Stadien ihrer Existenz auf der Bühne erscheint: als Kind, als Mädchen, als junge Frau. Auch Siegfried ist in Person wie zugleich als Bub mit Hörnchen und Holzschwert anwesend. Der Ansatz des Regisseurs mag den Anspruch, den der «Ring» an den Zuschauer stellt, noch erhöhen; er übernimmt jedoch szenisch, was Wagner mit seinen immer wieder auftauchenden Rekapitulationen in seinem Text verwirklicht hat. Von den über sechzig Leitmotiven ganz zu schweigen.

Besonders ins Auge fällt die Präsenz der Opfer. Als überlebensgrosse Puppen aus der Wiener Werkstatt von Marianne Meinl stehen sie im Hintergrund der Bühne – stumm, aber nicht bewegungslos, denn zahlreiche Helfer hauchen ihnen eine Art Leben ein. Mächtig mit arg herabgezogenem Mund der Riese Fasolt, der um den Goldschatz aus dem temporären Besitze Alberichs erschlagen wurde. Der wiederum, der auf Rache sinnende Chef der Nibelungen (Andrew Murphy), kriecht als gefesselte Riesenkröte in Gold über die Bretter und weiss sich am Ende artig zu verbeugen. Siegmund und Sieglinde sind als Wolfspaar dabei, die drei Rheintöchter werden an Stangen durch die Lüfte geführt, wie es das alte Theaterlexikon zeigt. Das schafft enorm Atmosphäre. Wie einer Traumwelt kommt man sich vor oder wie in einem Märchen. Betont wird das durch den Auftritt des Waldvögeleins, das von der Kostümbildnerin Katrin Lea Tag als ein süsser roter Waldvogel mit Kirschkernbeisserschnabel und munter schlagenden Flügeln gezeigt wird – wunderbar, wie Álfheiður Erla Guðmundsdóttir immer wieder ihren Kopf dreht, um ganz so, wie es die Vögel tun, mit einem Auge auf den Boden zu blicken, und wie sie mit ihrem Schnabel den ahnungslosen Siegfried stupft. Und vor allem: Wie sie in ihrem kurzen Auftritt singt, mit heller Stimme und lieblichem Locken. Ein grosser Auftritt wie jener der Erda, für den sich die legendäre Hanna Schwarz hat verpflichten lassen – unerhört, was diese Grande Dame des Musiktheaters zustande bringt.

Zugleich ist mit dem szenischen Ansatz Benedikt von Peters jedoch ein bedeutendes Problem verbunden. Der Regisseur wünschte sich das Orchester nach der Art von Bayreuth versteckt. Die Mitglieder des übrigens blendend aufspielenden Sinfonieorchesters Basel sitzen unter der Bühne, im zugedeckten Orchestergraben und einem als «Garage» bezeichnet Raum unter den ersten Sitzreihen. In der Spielfläche selbst findet sich ein breiter Rost, aus dem der Klang des Orchesters nach oben dringt – aber eben nur nach oben und nicht wirklich in den Raum insgesamt. Die in grosser Besetzung angetretenen Musikerinnen und Musiker können darum geben, was sie zu geben haben, ohne dass sich jemand aus dem Vokalensemble bedrängt fühlen müsste. Nur ist es so, dass sich das szenische Geschehen weitgehend an der Rampe abspielt, was als Prinzip der Bühnendarstellung von vorgestern stammt – und was ausserdem dazu führt, dass das Vokale und das Instrumentale immer wieder spürbar auseinanderklaffen. Nicht dass das Orchester je zu laut oder zu leise wäre, es ist herrlich laut und subtil leise, doch die Stimmen stehen oft krass im Vordergrund und erhalten zu wenig Kontakt mit dem Instrumentalen. Das mag die zahlreichen Stimmfetischisten unter den Opernfreunden befriedigen, widerspricht aber der Intention Wagners, der das Orchester die Geschichte aktiv kommentieren, wenn nicht gar erzählen lässt.

Das ist keineswegs das Problem des Dirigenten Jonathan Nott, eines Wagner-Spezialisten der allerersten Garnitur. Wie weit die Interaktion zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen gehen und was sie, klar ausgeformt, bewirken kann, hat Nott anlässlich der konzertanten Aufführung der Tetralogie beim Lucerne Festival im Wagner-Jahr 2013 erleben lassen. Nott geht Wagners Musik mit jenem ausgebauten strukturellen Bewusstsein an, das etwa bei der von ihm ebenso kompetent gepflegten neuen Musik gefordert ist. Zugleich dirigiert er ganz aus dem Körper und aus seiner Sinnlichkeit heraus. Mit geschmeidigen Tempi und sorgsamen Phrasierungen hält er die musikalischen Verläufe in Fahrt, lässt er die rezitativischen Momente strömen und findet er zu einem Erzählfluss, der die vier Stunden Musik im Nun vergehen lässt. Dazu kommt eine kraftvolle, in einen enorm schönen Mischklang eingebundene Farbigkeit, die den Sängerinnen und Sängern ausgezeichnet zur Seite stehen könnte. Und von entschiedenem Interpretieren zeugt der wache Umgang mit den Leitmotiven, etwa mit dem Motiv der Riesen, das, wenn es im ersten Aufzug erklingt, gleichsam auf Samtpfoten daherkommt. Umso bedauerlicher, dass das alles das Ensemble nur bedingt erreicht.

Die Vokalsolisten hätten es mehr als verdient. In der Riesenpartie des Siegfried zeigt Rolf Romei mit seinem leuchtenden, ganz selbstverständlich sprechenden Tenor erstaunliches Profil. Als sein Gegenspieler Mime, der von vornherein zu den Verlierern gehört und zum Schluss seinen Kopf wie das Leben verliert, verbleibt Karl-Heinz Brandt etwas einförmig im Bereich des gellenden Ausdrucks. Einen durch und durch grossen Abend hat dagegen Nathan Berg mit seiner unerhörten Sonorität als der Wanderer – und als ein Chef des Familienclans, der auch nach der fatalen Begegnung mit seinem Enkel die Fäden in der Hand behält. Gewinnend auch Runi Brattaberg als Fafner, der liegt und besitzt, der zudem trinken wollte und zu seiner Überraschung auch Frass findet – nur ist leider die Empathie Siegfrieds gegenüber seinem Opfer völlig ausgeblendet. Schliesslich darf Trine Møller, die als Brünnhilde von Anfang an auf der Bühne stand, ihre tragende, aber nirgends übersteuernde Stimme erheben – in der demnächst folgenden «Götterdämmerung» wird mehr von ihr zu hören sein.

Ein Musiktheatermärchentraum

«Siegfried» zur Fortsetzung im Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Das Waldvögelein (Rebeca Olvera) und Siegfried (Klaus Florian Vogt) im Walde / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Mit keinem Werk der Operngeschichte, auch nicht mit Mozarts «Don Giovanni», ist eine derart komplexe, derart heftig diskutierte Wirkungsgeschichte verbunden wie mit dem «Ring des Nibelungen». Bis heute und in anhaltender Intensität fordert und irritiert Richard Wagners Tetralogie die Musiker, die Theatermacher, das Publikum. Die Leerräumung der Bühne und die Einführung der geneigten Scheibe als Spielort, von Wieland Wagner in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, der pointierte Einbezug gesellschaftspolitischer Allusionen durch Patrice Chéreau und die klangliche Auflichtung des Orchesterparts durch Pierre Boulez im Bayreuther «Jahrhundertring» von 1976, die Blüten des Regietheaters, die in den letzten Jahrzehnten einigen erhellenden und zahlreichen entstellenden Deutungsversuchen  Raum geschaffen haben – das alles gehört ebenso zum «Ring» wie die Aufregungen, die aufschäumen, wenn Wotan den Aktenkoffer des Kapitalisten mit sich führt oder Alberich keinen richtigen Tarnhelm herzeigt. Im Opernhaus Zürich freilich herrscht einhellige Begeisterung: im neuen «Ring», genauer: bei «Siegfried», wo ein drolliger Bär über die Bretter eilt (Kompliment an Dominique Misteli), wo ein sehr zeitgemässer Drache, pardon: ein Dragon seine Nüstern bläht und dann sein Leben aushaucht (Gratulation an den «Tierpfleger» Marius Kob), wo in der Esse die Flammen machtvoll aufschiessen und danach das Schwert bedrohlich glüht (der nie um eine Lösung verlegenen technischen Abteilung unter der Leitung von Sebastian Bogatu gebührt endlich auch einmal ein Kranz).

Wenn somit alles vorhanden ist, was gemäss Textbuch vorhanden sein muss, und umgekehrt nichts von jenen Modifikationen zu erleiden ist, die eifrige Regisseure vorzunehmen lieben – wo stehen wir dann? Erliegen wir dann nicht dem Irrtum, man könne auch bei einem Grossentwurf wie dem «Ring des Nibelungen» sozusagen zum Punkt Null zurückkehren und das Nachleben, das zum Werk gehört wie seine Niederschrift, mir nichts, dir nichts ausblenden? Und mehr noch: Liegt diesem Irrtum nicht eine retrospektive Haltung zugrunde, ja gar eine Negierung der Notwendigkeit, ein Kunstwerk immer und immer wieder neu im Licht der jeweiligen Gegenwart zu lesen – die Werke also notfalls, wie es im Sprechtheater zum Leidwesen vieler Besucher geschieht, zu dekonstruieren und sie der Jetztzeit gemäss neu zusammenzusetzen? Je weiter der neue Zürcher «Ring» voranschreitet, desto deutlicher wird, dass von all dem nicht die Rede sein kann. Auch in «Siegfried» verzichtet der Zürcher Hausherr Andreas Homoki als Regisseur nämlich darauf, seine eigenen Ansichten zur Tetralogie in Szene zu setzen; er schaut vielmehr einfach mit aller Genauigkeit hin und zeigt, was er in Wagners Text liest und in seiner Musik hört. Lesen und hören tut er freilich mit hellwachem Geist. Und sichtbar werden lässt er die Ergebnisse dieses Wahrnehmungsprozesses mit genuinem Theatersinn, ausserdem mit verspielter Phantasie und erheiternder Ironie. Wie ein Märchen zieht «Siegfried» an einem vorüber; die vier Stunden reiner Aufführungsdauer gehen im Nu vorbei – vielleicht mit Ausnahme des dritten Aufzugs, gegen dessen Ausführlichkeit nun einmal kein Kraut gewachsen ist.

Ganz langsam hebt sich der Vorhang, wenn das düstere Vorspiel zum ersten Aufzug anhebt. Eindrücklich die Farbenspiele, die mit denen die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Gianandrea Noseda aufwartet; was der Solist an der Kontrabasstuba da an Pianissimo-Klängen herzaubert, ist von aussergewöhnlichem Format. Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung führt weiter, was in «Rheingold» und «Walküre» angelegt wurde. Die gründerzeitlichen Räume auf der Drehbühne wirken etwas enger als in den vorangehenden Teilen – oder erscheinen sie nur so, weil die Farben dunkel gehalten sind und das Mobiliar, inzwischen in herbe Unordnung geraten, gewachsen scheint? Tatsächlich befinden wir uns in einer Art Kinderstube. Siegfried, stürmisch zwar, trägt noch die Eierschalen hinter den Ohren, Klaus Florian Vogt zeigt das sehr schön. Er nimmt den Anfang ausgesprochen lyrisch, wird dabei vom Orchester jedoch mehr als einmal bedrängt. Überhaupt lässt Noseda gerne die Muskeln spielen, was bisweilen von umwerfender Wirkung ist, aber auch Fragen aufwirft; warum zum Beispiel die tiefen Bläser immer wieder so hässlich schnarrend dominieren, ist nicht zu verstehen. Siegfried jedenfalls ist da und dort kaum zu hören – nicht weil Vogt seinen wandelbaren Tenor mit Blick auf die Anforderungen der Partie schont, sondern weil er die unbekümmerte Naivität, auch die Verletzlichkeit des jungen Siegfried heraustreten lässt. So sehr er seinen Ziehvater verachtet, sucht er, wenn er vom Tod seiner Mutter erfährt, doch auch Schutz in dessen Armen.

Mime wiederum ist mehr als eine Karikatur, er ist ein Mensch, wie es heute nicht wenige gibt: zerfressen von der Gier nach dem Ring und nicht eben uneitel, seinem Vorhaben aber nicht wirklich gewachsen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, dessen Timbre gegenüber früheren Zeiten milder geworden ist, kennt sich in dieser Partie aus wie in seiner Hosentasche; virtuos bringt er sie über die Rampe. Besonders gelingt das in dem von betörenden Sequenzen getragenen Fragespiel, in das ihn der unbekannte und unerwünschte Wanderer verwickelt. Tomasz Konieczny glänzt hier erneut mit unerhörter stimmlicher Pracht und Lust am Auskosten jeder einzelnen Silbe, vor allem aber auch mit Schauspielkunst vom Feinsten. Am Ende finden sich die beiden ungleichen Kontrahenten in dem inzwischen etwas abgewrackten Prunksaal mit dem langen Besprechungstisch, in dem sich der Wanderer zu erkennen gibt, nur versteht es Mime nicht. Genau dort erlebt Wotan/Wanderer seinen endgültigen Niedergang: nach der packend gelingenden Begegnung mit dem ahnungslosen, aber umso selbstgewisseren Siegfried und dem Schlag von dessen Schwert auf den Speer des Göttervaters.

Vorangegangen waren Momente zauberhaften Theaters. Der Zwist zwischen Alberich (Christopher Purves) und Wotan, der Auftritt des zierlichen Waldvögeleins von Rebeca Olvera und der Kampf Siegfrieds mit dem in aller Körperfülle erscheinenden Drachen, dem dann mit David Leigh ein in der Produktion neuer, aber sehr valabler Fafner entsteigt, schliesslich auch die für Wotan ungut ausgehende Besprechung mit Erda (Anna Danik). Dann aber wechselt die Szenerie, verabschiedet sich die Drehbühne für einen Augenblick zugunsten einer vornehm getäferten Wand in edelstem Graugrün und dem Felsen mit der schlafenden Brünnhilde – auch ein diskreter Hinweis auf den Unterbruch in der Entstehungsgeschichte der Tetralogie. Seinen Abschied nimmt hier auch gleichsam der Regisseur, er überlässt das Feld dem Text und der Musik. Einmal mehr darf man staunen über das psychologische Einfühlungsvermögen Wagners lange vor Freud. Und darf man die Kunst bewundern, mit der Klaus Florian Vogt, noch immer frisch, und Camilla Nylund als die aus tiefem Schlaf erwachende Brünnhilde die schwierige Annäherung von Mann und Frau meistern. Wie Siegfried erschrickt ob dem Anblick der Frau ohne Brünne und dann in tiefer Angst nach der Mutter ruft, wie sich Brünnhilde vor der Berührung durch den Mann fürchtet, und das keineswegs nur aus Gründen des Statusverlusts, wie feurig die beiden endlich das wie zufällig bereitstehende Bett in Besitz nehmen – alles feinsinnig ausgearbeitet, hochspannend und tief berührend.