Das Fordernde als Attraktion

Salzburger Festspiele:
Opern von Weinberg, Prokofjew und Offenbach

 

Von Peter Hagmann

 

Bogdan Volkov als Fürst Myschkin – als «Der Idiot» kurz vor seinem epileptischen Anfall / Bild Bend Uhlig, Salzburger Festspiele

Als einen Ort für die Reichen und die Schönen, ach ja, so sieht Volkes Mund hie und da die Salzburger Festspiele. Ganz falsch ist es nicht, wenn für einen Platz der besten Kategorie in, sagen wir «Don Giovanni», 465 Euro fällig sind (Taylor Swift kann hier ausgeklammert werden) und wenn sich auf das Ende der Vorstellungen hin die Limousinen der höchsten Preisklasse zusammen mit ihren Chauffeuren in Reih und Glied gestellt haben. Allein, das ist bloss die eine Seite; die andere Seite weiss, dass es auch, und gar nicht wenige, preisgünstigere Angebote gibt und dass sich mit einer Eintrittskarte ein grosses Zeitfenster lang vor und nach dem Anlass der Öffentliche Verkehr im Salzburger Verbund kostenlos benutzt werden kann.

Vor allem aber ist nicht zu vergessen, dass es bei den Salzburger Festspielen der Kunst gilt, der grossen Kunst. Unglaublich umfangreich, vielgestaltig in der Werkauswahl und höchststehend in den Interpretationen präsentiert sich das Konzertprogramm; es reicht von der Ouverture spirituelle des Beginns über die fünf bis zu dreifach geführten Sinfoniekonzerte der Wiener Philharmoniker und die thematischen Schwerpunkte (dieses Jahr wurde die «Zeit mit Schönberg» verbracht) bis hin zu den Kammerkonzerten, den Liederabenden und den solistischen Auftritten – und immer wieder ergeben sich Glücksmomente der besonderen Art (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.08.24).

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht jedoch die Oper. Sie trat diesen Sommer mit drei Neuinszenierungen, einer Wiederaufnahme sowie nicht weniger als fünf konzertanten Aufführungen in Erscheinung. Das späte «Capriccio» des Festival-Mitbegründers Richard Strauss eröffnete den Reigen der Opern auf dem Konzertpodium, worauf «Hamlet» von Ambroise Thomas erschien, hier mit Stéphane Degout, dem Grandseigneur des französischen Gesangs. Schliesslich gab es reichlich Zeitgenössisches: «Koma» von Georg Friedrich Haas, einen Doppelabend mit Luigi Dallapiccola und Luigi Nono, das «Begehren» von Beat Furrer, das Anfang September auch zum Lucerne Festival kommt.

«Der Idiot»

Auch im Kernbereich des Angebots herrscht alles andere als kulinarisches Wohlgefühl. Neben der überarbeiteten Wiederaufnahme des ebenso anregenden wie unbequemen «Don Giovanni» von 2021 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21) und «La clemenza di Tito», einer weiteren Mozart-Produktion als Übernahme von den Pfingstfestspielen, gab es überaus anspruchsvolle Kost. Den Höhepunkt bildete fraglos «Der Idiot» von Mieczysław Weinberg. Der polnische Komponist jüdischen Glaubens (1919-1996), der 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen nach Minsk und Taschkent flüchten musste und sich 1942 in Moskau niederliess, teilte anfangs das Schicksal seines engen Freundes Dmitri Schostakowitsch, schuf in den wechselvollen Jahren der Sowjetunion und später Russlands jedoch ein weit ausholendes Œuvre. Heute ist es so gut wie vergessen. Seine Oper «Der Idiot» nach dem Roman Fjodor Dostojewskis und auf ein Libretto Alexander Medwedews stellte er 1987 fertig. Uraufgeführt wurde sie 1991 in Moskau, dies jedoch in einer kammermusikalischen Fassung. In der vollen Orchesterbesetzung kam «Der Idiot» erst 2013 im Nationaltheater Mannheim zur Uraufführung; Initiant und Dirigent war damals Thomas Sanderling. Eine zweite Produktion gab es zehn Jahre später beim Theater an der Wien. Salzburg folgte nun mit der dritten und, so darf man wohl sagen, folgenreichsten Inszenierung.

Ein unerhört eindrucksvolles Werk, es steht auf Augenhöhe mit den grossen Opern des 20. Jahrhunderts – dass es bei den Salzburger Festspielen in einer so vorbildlichen Produktion gezeigt worden ist, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Allerdings, leicht macht es das vierstündige Stück weder dem Zuhörer noch der Zuschauerin. Dostojewskis Roman bildet hochkomplexe Verästelungen aus und spart nicht mit Personal, Medwedew hat geschickt eingedampft, kann die ziselierte Struktur aber nicht wirklich in dramatische Spannung überführen. Als operngewohnter Rezipient muss man sich auf langsam voranschreitende Prozesse einstellen; die Ankunft des als «Idioten», nämlich des hier als «Gutmenschen» gezeichneten Fürsten Myschkin in der degenerierten St. Petersburger Gesellschaft des mittleren 19. Jahrhunderts und die Wirkung auf sie kommt nur schleichend voran; sie gewinnt gerade daraus ihre Attraktivität. Genau gleich wie die musikalische Handschrift Weinbergs, die genaues Zuhören und ein offenes Herz einfordert, vor allem aber Geduld, denn nur so kann man sich in diesen Kosmos einleben. Ganz eigen klingt diese Musik, sie ist weder tonal noch atonal, lebt vielmehr in einem Zwischenreich. Sehr geholfen beim Eindringen in die Partitur haben die Wiener Philharmoniker, die sich mit ihrer vollen Kompetenz auf ihre Aufgaben eingelassen haben, aber auch die lettische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die zusammen mit dem russischen Geiger Gidon Kremer die Entdeckung Weinbergs vorantreibt und sich die Handschrift des Komponisten in hohem Mass zu eigen gemacht hat.

Blendend die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczęśniak spreizt das Geschehen über die ganze Breite der Bühne in der Salzburger Felsenreitschule auf; geradezu sensationell der Beginn des Werks, die Bahnreise des Fürsten Myschkin nach St. Petersburg, für die ein 1.-Klass-Coupé ganz langsam von rechts nach links bewegt wird, es dazu den Blick aus dem Fenster als Videoprojektion gibt und schliesslich die Einfahrt des Zuges in den Bahnhof vom Videokünstler Kamil Polak überblendet wird. Mit äusserster Sorgfalt sind die einzelnen Figuren ausgestaltet, und da bewährt sich ein osteuropäisch-russisch besetztes Ensemble – in Salzburg wird ja auf den verschiedensten Ebenen sehr genau zwischen Russland und Putin unterschieden. Grossartig im vokalen Laut wie im körperlichen Ausdruck Bogdan Volkov als Fürst Myschkin, Vladislav Sulimsky gibt den düsteren Gegenspieler Rogoschin mit schwarzen Stimmfarben, stupend verkörpert Ausrine Stundyte die undurchdringliche Emanze Nastassja, während Xenia Puskarz Thomas als die gutbürgerliche Aglaja mit einem hellen Sopran auf sich aufmerksam macht. Zahlreiche liebevoll und klug ausgedachte Details beleben die Szene. Und getragen wird sie von einem starken Ensemble. Mehr noch: von einer Identität stiftenden künstlerischen Familie, wie sie Markus Hinterhäuser als temporäres Mitglied der Truppe um Christoph Marthaler kennengelernt haben mag.

«Der Spieler»

Zur Familie gehört auch Peter Sellars. Der unkonventionell, auch witzig denkende Amerikaner meisterte in diesem Sommer, ebenfalls in der Felsenreitschule, als Regisseur die selten aufgeführte Oper «Der Spieler» von Sergej Prokofjew, ein scharf kritisierendes Werk. Er tat das in seiner Weise. Die Handlung, sie basiert wie «Der Idiot» auf einem Roman von Dostojewski und spielt in einer ähnlichen gesellschaftlichen Konstellation wie Weinbergs Oper, versetzte er in die Gegenwart – etwas zaghaft, doch durchaus erkennbar: Statt zu Briefen und zu Schuldscheinen wird zum Smartphone gegriffen, und wenn ein aus Deutschland angereister Gast im Spielcasino seine Werte zu verteidigen sucht, wird sein Anzug mit oranger Farbe bestrichen. Das kann man umso mehr hinnehmen, als Österreich derzeit von einem Finanzjongleur der ärgsten Sorte heimgesucht wird. Dass am Ende die etwas moralinsaure Erkenntnis im Raum steht, dass Geld allein weder heilt noch glücklich macht, so ist das freilich schon wieder ein Allgemeinplatz. Nur ist das nicht Sellars’ Schuld, sondern jene des Werks – einer Oper, die mitten im Ersten Weltkrieg auf der Basis eines von Prokofjew selbst eingerichteten Librettos entstand und 1929 musikalisch überarbeitet wurde, in der Sowjetunion jedoch erst 1970 vollgültig aufgeführt werden konnte.

Der temporeiche, darum kurzweilige Abend spielt auf einer ebenfalls ganz in die Breite gezogenen Bühne. George Tsypin hat sie mit riesigen, an Ufos erinnernden, nach der Art eines Balletts auf- und absteigenden Roulettetischen bestückt, und die Kostüme von Camille Assaf sorgen für Farbeffekte, die mit der frechen Musik Prokofjews durchaus etwas gemein haben. Die Partitur befindet sich bei dem noch jungen Russen Timur Zangiev und den Wiener Philharmonikern in besten Händen. Das Orchester agiert auf seinem bewundernswert hohen Niveau, und der Dirigent lässt den Farbeffekten den ihnen gebührenden Raum, behält die musikalischen Verläufe aber stets in ruhiger Hand. Gewinnend auch hier das riesige Ensemble, allen voran Sean Panikkar als der wirtschaftlich auf unsicheren Beinen stehende Hauslehrer, der am Spieltisch mehr als das benötigte Kleingeld erwirtschaftet und dafür seine Geliebte verliert – und diese Geliebte, Polina, ist Asmik Grigorian, die als eigenwillige Frau starke Akzente setzt, sich aber zugleich ganz selbstverständlich in ihr Umfeld integriert. Für ein Glanzlicht besonderer Art sorgt Violeta Urmana, der reichen, von allen Seiten in den Tod gewünschten Grossmutter, die sich aus ihrem Rollstuhl erhebt und im Casino all ihr Hab und Gut verliert.

«Hoffmanns Erzählungen»

Eine andere Art von Sucht herrscht in der dritten Neuinszenierung der Salzburger Festspiele dieses Sommers. Es ist der Alkoholrausch, der Ernst Theodor Wilhelm (später: Amadeus) Hoffmann seinen Brotberuf als Beamter aushalten und in nächtlichen Sitzungen in Gasthäusern das Dichten ermöglichte. Jacques Offenbach war von E. T. A. Hoffmann derart angezogen, dass er sich für «Les Contes d’Hoffmann», seine einzige ernste Oper, von Jules Barbier ein Libretto zusammenstellen liess, in dem der Dichter dreien der von ihm erfundenen Frauenfiguren begegnet – für den Tenor Benjamin Bernheim ergab sich hier eine Sternstunde. Nicht nur war er der agile Hauptdarsteller der im Salzburger Grossen Festspielhaus gezeigten Inszenierung, er sang sich auch buchstäblich von Höhepunkt zu Höhepunkt – wenn ihm denn der Dirigent Mark Minkowski am Pult der Wiener Philharmoniker den Raum dafür liess. Ihm zur Seite standen in dieser vokal exzellenten Produktion Kathryn Lewek, welche die vier Frauenfiguren bewältigte, und Christian Van Horn in den Partien der vier männlichen Gegenspieler, vor allem aber Kate Lindsey, die mit blühender Sonorität und packender Bühnenpräsenz als Hoffmanns guter Geist Nicklausse begeisterte. Szenisch hatte der Abend allerdings ein grosses Problem. Für die Regisseurin Mariame Clément war Hoffmann ein innerlich zerrissener Filmer, der die Fäden einer grossen Produktion in den Händen zu behalte, was die Ausstatterin Julia Hagen dazu bewog, die Bühne mit einer Vielzahl stummer, unablässig gestikulierender Techniker und Assistentinnen zu füllen, ja zu verstopfen. Durchaus plausibel erfundene Nebenhandlungen schoben sich in den Vordergrund, dies zu Lasten der Hauptsache, nicht zuletzt der herrlichen Musik Offenbachs. Auf hohem Niveau gescheitert. Doch ohne Scheitern keine Kunst.

Rausch und Absturz

«La rondine» von Giacomo Puccini in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ruggero (Benjamin Bernheim) und Magda (Ermonela Jaho) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Die Einleitung erinnert unüberhörbar an das zweite Bild von «La Bohème», an die rauschende Fröhlichkeit von Heiligabend in den Strassen des Quartier Latin. In «La rondine», dem Spätwerk Giacomo Puccinis, ist es fürs erste jedoch bald vorbei mit der Ausgelassenheit. Gehört die Bühne einer jungen Frau, die von der grossen, der wahren Liebe träumt. Es ist Magda de Civry, die von dem begüterten Rambaldo ausgehalten wird, jedoch dringend aus dem goldenen Käfig ausbrechen möchte. Und es ist Ermonela Jaho, die mit ihrer Kunst auf Anhieb in Bann schlägt. Mühelos steigt sie in höchste Höhen, in hauchzartem Pianissimo verharrt sie auf der emotional so aufgeladenen Terzlage, und dazu bebt sie am ganzen Körper – in restloser Identifikation mit dem Moment. Kein Wunder hören Rambaldos Gäste fassungslos zu, und jeder von ihnen tut das in seiner eigenen Weise, denn am Regiepult sass Christof Loy, der wie selten jemand die Kunst beherrscht, aus Sängern Schauspieler werden zu lassen und auch in kleinen Rollen ausgeprägte Charaktere zu schaffen. Die Lust im grossen, durchwegs ausgezeichneten Ensemble ist nicht zu verkennen.

So blicken wir denn, wenn sich im Opernhaus Zürich der rote Theatervorhang nach der Art der Wagner-Gardine angehoben hat, in einen edlen Salon mit doppelter Raumhöhe, gestylten Sitzgelegenheiten und, in einer Ecke, dem Flügel als Zeichen gehobener Bürgerlichkeit – der Bühnenbildner Etienne Pluss hat an diesem hochästhetischen Ort für Weite und ein angenehmes Zusammenspiel von Alt-Rosa und Grautönen gesorgt. Mit allem Raffinement hat die Kostümbildnerin Barbara Drosihn die Dezenz der Form und die Subtilität der Farbe aufgenommen. Viel zu singen hat Vladimir Stoyanov als der diskrete Hausherr und Gastgeber nicht, aber wenn Rambaldo in seinem vollendeten Dreiteiler leicht gelangweilt zur bereits durchgelesenen Tageszeitung greift, richten sich aller Augen auf ihn.

Erheiternd der unerhört selbstgewisse Dichter Prunier und seine Geliebte Lisette, ein Wirbelwind von Dienstmädchen – Juan Francisco Gatell und Sandra Hamoui sorgen für ein von liebevollem Geplänkel getragenes Vorspiel. Wie dann aber unverhofft der junge, ebenso naive wie stolze Ruggero in seiner Bankerkluft zu Besuch kommt, beginnt sich der Knoten zu schnüren. Erst nehmen sie nicht gross Notiz voneinander. Im Café Bullier, wo enorm Trubel herrscht und das Klischee von Paris als der Weltstadt des Flirts ausgelebt wird, verfallen sie einander hoffnungslos, knautscht sie aufgeregt ihr grünes Täschchen, während er nervös an seinem gleichermassen grünen Absinth nippt. Sie und Er, Magda und Ruggero, sie sind das Paar der Stunde, denn Ermonela Jaho mit ihrem dunklen Timbre und Benjamin Bernheim mit seinem obertonreich glänzenden, äusserst flexiblen Tenor sind füreinander geschaffen – wie einst, ebenfalls in der Zürcher Oper, Agnes Baltsa und José Carreras.

Seine allerschönsten Töne hat Puccini in die Notenlinien gezaubert: aufschwingende Melodiebögen und silberhellen Orchesterklang, gefärbt durch oktavierte Geigen, zarte Einwürfe der Holzbläser und, in Momenten der Kulmination, helle Glöckchen. Unter der ebenso inspirierenden wie kundigen Hand des Dirigenten Marco Armiliato blüht die Philharmonia Zürich förmlich auf; das Orchester schwelgt im Spiel der Farben und, vor allem, in den schimmernden Tönen des Leisen. Doch dann und sehr plötzlich steigt die Temperatur. Magdas Mimik spricht von ihren Zweifeln. Ruggero dagegen, nichts ahnend im Versuch, die feurige Beziehung zu festigen, erscheint mit einem Brief, in dem die Mutter in die Eheschliessung einwilligt. Da bricht es aus Magda heraus: Sie sei nicht, was er in ihr sehe, könne weder Gattin noch Mutter sein, sie habe sich für Geld hergegeben, sie könne sein Haus nicht betreten – mit einem Schrei aus der Tiefe ihrer Bruststimme entringt sich Ermonela Jaho dieser letzte Satz.

Benjamin Bernheim steht ihr, was seine lebensgefährliche Verzweiflung ob diesem Geständnis betrifft, in nichts nach. Und Marco Armiliato zeigt, wie grossartig er das Orchester aus dem Duft des Leisen in die volle Kraft zu führen weiss – dort übrigens ohne jede Störung der Balance. Rasch ist das Ende herbeigeführt; Puccini tat sich schwer damit, hat dank seinem Sinn für das Dramatische aber doch den rechten Weg gefunden. Und schon sehen sich die Protagonisten dem tosenden Beifall gegenüber, er mit zusammengebissenen Lippen, sie mit einer Träne, die sie keineswegs verstohlen weggewischt. «La rondine»: ein Meisterwerk, meisterlich dargeboten.

Gefühl, in Kunst verwandelt

«Roméo et Juliette» von Gounod in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Ball / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Der erste Blick auf die Bühne schockiert. Statt der erwarteten Szenerie für den prunkvollen Ball, mit dem «Roméo et Juliette» anhebt, öffnet sich im Opernhaus Zürich ein rechteckiger, weit in den Hintergrund gezogener Raum, lindgrün gehalten, leer, wären da nicht jene zwei einander gegenüberstehenden, parallel nach hinten verlaufenden Reihen von Tessinerstühlen. In die Seitenwände eingelassen hat der Bühnenbildner Andrew Lieberman raumhohe Türen; aus denen treten nach und nach, einzeln, sehr zeremoniell, die Gäste ein: Damen in gehobener Kleidung heutigen Schnitts, von Annemarie Woods entworfen, Herren in betont elegantem Dinner Jacket oder in Galauniform. Zu ihren Plätzen geführt werden sie von einem eifrigen Tanzmeister – nein, so stellt sich bald heraus, es ist der Hausherr selbst, das Oberhaupt der Familie Capulet (David Soar). Bald kommt es zu dem erst strengen, dann kultiviert ausartenden Eröffnungswalzer, den Pim Veulings choreographiert hat. Und erklingt «Je veux vivre», die Arie der Juliette, mit der sich Julie Fuchs als eine zweite Violetta Valéry in die Herzen des Publikums singt.

Wie unterm Brennglas lässt sich an diesem Anfang verfolgen, was die neue Zürcher Produktion von Charles Gounods Oper intendiert und was sie erfolgreich verwirklicht. An Schmelz fehlt es in keiner Hinsicht, wohl aber an Schmalz. Was dem stolzen Werk im Wege steht, ist die Rührseligkeit, die ihm durch zahllose Interpreten beigefügt worden ist; nichts davon ist an diesem formidablen Abend zu erleiden. Was hier rührt, und es ist nicht wenig, geht auf die Erfindung der Librettisten Jules Barbier und Michel Carré, auf die Musik Gounods und die unprätentiös sachgerechte Umsetzung in die szenisch-musikalische Wirklichkeit zurück. Der Regisseur Ted Huffman erzählt die Geschichte von der blitzschnell aufflammenden und unerbittlich in die Katastrophe führenden Liebe zwischen zwei jungen Menschen aus zwei verfeindeten Familien in einem neutralen Ambiente der Jetztzeit. Plüsch und Samt fehlen ebenso wie der Duck auf die Tränendrüse; an deren Stelle treten die Genauigkeit und die Empathie in der Ausgestaltung der handelnden Figuren – sie könnten Menschen von nebenan sein, gewinnende Erscheinungen, denen das Mitgefühl ihrer Umgebung sicher ist.

Genau gleich hält es der Dirigent Roberto Forés Veses. Hell und klar leuchtet in dem von ihm erzeugten Licht die Partitur Gounods, warm und pulsierend klingt sie, und zugleich gibt sie ihr ganzes Raffinement zu erkennen – im tief abgesenkten Graben des Opernhauses erbringt die Philharmonia Zürich eine erstklassige Leistung. Gounod war nicht nur ein genuiner Franzose, er war nicht nur zutiefst in den musikalischen Traditionen seines Landes verankert, wie es die Ouvertüre vorführt. Er hatte auch Sinn für das, was sich ihm durch die intensive Begegnung mit der deutschen Musik erschlossen hat. Für den Kontrapunkt beispielsweise, aber auch für Nebenstimmen in unterschiedlichen Farben. Ausdrucksvoll, im Geist des musikalischen Sprechens lässt Gounod die Holzbläser, das Horn oder ein konzertierendes Cello intervenieren – so fasslich, wie es in dieser Produktion geschieht, ist das selten zu hören.  Möglich wird es, weil der Dirigent zwar schon auf die Rundung und die Geschlossenheit des Klangs hinarbeitet, im selben Mass jedoch Freiräume offenlässt, in denen die instrumentalen Kommentare zur Geltung kommen. Unter dem Strich ergibt das eine Vitalität eigener Art.

Roméo (Benjamin Bernheim) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich
Juliette (Julie Fuchs) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Mag sein, dass das auf der Bühne Folgen zeitigt, jedenfalls findet die tragische Geschichte eine Authentizität, wie sie nicht alle Tage vorkommt. Benjamin Bernheim und Julie Fuchs sind das Traumpaar der Stunde – ähnlich wie es vor vielen Jahrzehnten Eva Lind und Francisco Araiza und später, in anderem Zusammenhang, Agnes Baltsa und José Carreras waren. Sie gehen förmlich auf im coup de foudre; sie spielen ihn nicht, sie leben ihn. Und sie singen auf Augenhöhe: beide gleichermassen sicher in der Performanz und stark in der Ausstrahlung, beide ausserdem mit ähnlich gelagerten Timbres, mit einem sagenhaften Reichtum an Obertönen und kaum je angestrengt wirkender Kraft. Und dann das Legato, das er einbringt, die Koloraturen, mit denen sie brilliert. Ganz ausgezeichnet auch das Ensemble, das die beiden Protagonisten trägt – etwa der ernsthafte Frère Laurent, der in einer schlichten Wortzeremonie die heimliche Trauung vollzieht und dann in ergreifender Solidarität das so fatal falsch wirkende Fläschchen bereithält. Einen besonderen Auftritt hat die junge Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova in der Hosenrolle des Stéphano, des Pagen des Titelhelden. In quirliger Natürlichkeit präsentiert sie ihre Arie – der Szenenapplaus ist ihr sicher.

Das alles ereignet sich in einer Inszenierung, die augenfällig macht, wie sich die Schlinge zuzieht. Diskret tut sie das, etwa mit einer Kampfszene, die, so schreckliche Folgen sie zeitigt, doch in jedem Augenblick attraktive Kunst bleibt. Intelligent auch die szenische Sprache, die sie spricht. Eine besondere Rolle spielen die Tessinerstühle. Versinnbildlichen sie anfangs in ihrem strengen Gegenüber die scharfe Konfrontation zwischen den Capulets und den Montagues, stehen sie während der Trauung, im Moment der nächsten Nähe zwischen den beiden Familien, in einer Reihe nebeneinander. Und erst gegen den Schluss hin fällt auf, dass die Rückwand des anfänglich so weiten Raums mehr und mehr nach vorne gerückt ist, sich der Blickwinkel zusehends verengt hat, bis für den Tod der beiden Liebenden nur mehr ein schmaler Streifen der Bühne übrigbleibt. Der einfache szenische Handgriff stellt die konzise Dramaturgie von «Roméo et Juliette» in hellstes Licht. Auch darum kann man nach diesem Abend seine Ansichten zu Gounods lange Zeit missachteter Oper neu sortieren.