Den Ring mag ich tragen

Anlässlich seines jüngsten Konzerts in Basel
erhielt Heinz Holliger den Alban-Berg-Ring

 

Von Peter Hagmann

 

Die Grössten unter den Schauspielern tragen den Iffland-Ring. Der Schweizer Bruno Ganz zum Beispiel, der ihn 2004 empfangen hat und ihn nach seinem Tod 2019 mittels testamentarischer Verfügung erst an Gerd Voss und nach dessen Ableben an Jens Harzer weitergeben liess. Denn so lautet die Regel: Der Iffland-Ring wird auf Lebenszeit verliehen, der Träger hat jedoch die Pflicht, einen Nachfolger zu bestimmen.

Ring-Übergabe: Maximilian Eiselsberg und Heinz Holliger / Bild Benno Hunziker, Alban-Berg-Stiftung Wien

Vergleichbares gibt es auch in der Musik. 2021, mitten in der Pandemie, schuf die 1969 gegründete Alban-Berg-Stiftung in Wien den Alban-Berg-Ring. Das Prozedere ist dasselbe wie beim Iffland-Ring. Auch der Alban-Berg-Ring wird auf Lebenszeit verliehen, und auch hier ist der Ausgezeichnete gehalten, innerhalb einer kurzen Frist für den Fall seines Todes einen Nachfolger zu benennen. Die Auszeichnung ist für Musiker bestimmt, die sich in besonderer Weise um das Schaffen Bergs verdient gemacht haben, die sich durch ihr Engagement für neue Musik hervorgetan oder besondere Verdienste um die Förderung des künstlerischen Nachwuchses erworben haben. Zum ersten Träger des Alban-Berg-Rings wurde 2021 der damals 95-jährige Friedrich Cerha gewählt. Das lag auf der Hand, hat sich Cerha durch die Ausarbeitung des Fragment gebliebenen dritten Akts von Bergs Oper «Lulu» bleibende Verdienste erworben.

Nach Cerhas Tod Anfang 2023 hatte Daniel Ender als Generalsekretär der Alban-Berg-Stiftung die Aufgabe, bei der Witwe Gertraud Cerha anzuklopfen und um die Rückgabe des Rings zu bitten. Zudem wurde der von Cerha hinterlegte und im Safe der Stiftung aufbewahrte Briefumschlag geöffnet, dem der Name des von Cerha erwählten Nachfolgers zu entnehmen war. Ein Moment der Spannung habe über der Sitzung des Kuratoriums gelegen, so Maximilian Eiselsberg, der Präsident der Alban-Berg-Stiftung, und Überraschung sei eingetreten, aber Cerhas Wahl habe auf Anhieb überzeugt. So ist der Alban-Berg-Ring jetzt an Heinz Holliger gegangen.

Ausgezeichnet. Stimmig. «Niemand unter den Lebenden reicht an den Namensgeber dieses Rings heran, aber der von mir Nominierte vereint als ernst zu nehmender Komponist und sehr engagierter ausübender Musiker Qualitäten, die ihn der Ehre würdig erscheinen lassen.» So schrieb es Friedrich Cerha. Tatsächlich ist Heinz Holliger, darin Cerha verwandt, ein universell tätiger Musiker: Oboist, Dirigent, Komponist, Dozent. Und wie Cerha liegt der Schwerpunkt seines Schaffens bei der neuen Musik – wobei Holliger als Interpret auch im Bereich der Barockmusik wie in jenem des klassisch-romantischen Repertoires Wesentliches gesagt und zu sagen hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 21.05.19).

Das erwies sich einmal mehr bei dem von ihm geleiteten Konzert des Kammerorchesters Basel im restlos ausverkauften Musiksaal des Basler Stadtcasinos (das sei immer so bei ihnen, sagt dazu Marcel Falk, der Geschäftsführer des Orchesters). Mit bewundernswerter Agilität besteigt er seinen Platz auf dem Podium, mit der für ihn bekannten Überzeugungskraft hat er die (auch hier wieder grossartige) Solistin Sol Gabetta und das Orchester für die Erarbeitung des so gut wie unbekannten Cellokonzerts Benjamin Brittens gewinnen können, mit seiner ausgeprägten Empathie hat er die «Hebriden»-Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Sinfonie Nr. 3, Es-Dur, von Robert Schumann zu intensiven Erlebnissen werden lassen. Dies nicht zuletzt dank seinem ausgeprägten Sensorium für die Instrumentation, das in der «Rheinischen» zu unerwarteter, fruchtbarer Präsenz der Bläser geführt hat.

Vor dem Konzertbeginn (und wenige Wochen vor seinem 85. Geburtstag) wurde Heinz Holliger nun also von Maximilian Eiselsberg nach einer Laudatio der Alban-Berg-Ring übergeben. Holliger bedankte sich gerührt. Was seine Verdienste um Bergs Musik angehe, käme er an Friedrich Cerha nie und nimmer heran; er dürfe aber gestehen, dass Berg zusammen mit Schumann, Schubert und Debussy zu seinen vier Lieblingskomponisten zähle. So sehen wir denn neugierig einem weiteren Blick Heinz Holligers auf ein Stück Alban Bergs entgegen.

Im Feuer, und wie

Rafael Payare beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Mit dem Konzert gehe es bergab, bald werde das immer ältere Publikum ausgestorben sein. Nach Diversität wird deshalb gerufen – nach Frauen, nach musikalischen Menschen mit anderer als weisser Hautfarbe. Auch nach geteilter Verantwortung und, vor allem, nach der Abkehr von Traditionen im Repertoire und den Darbietungsformen. Ein bisschen etwas davon verwirklichte das Gastspiel von Rafael Payare beim Tonhalle-Orchester Zürich. Der nicht mehr ganz so junge Dirigent, er ist heute 44 Jahre alt, stammt aus Venezuela und hat wie Gustavo Dudamel seine künstlerischen Wurzeln im sozial-musikalischen Projekt El Sistema von José Antonio Abreu. Sein Instrument ist das Horn, im Símon Bolívar Symphony Orchestra nahm er die Position des Solohornisten ein. Dort kam er auch in Kontakt mit Claudio Abbado, später assistierte er Daniel Barenboim an der Staatsoper Unter den Linden Berlin. Inzwischen hat er in der Landschaft der grossen Orchester hat er seinen Platz gefunden; seit der Saison 2022/23 ist er als Musikdirektor beim Orchestre Symphonique de Montréal tätig, dies als Nachfolger von Kent Nagano.

Da hat es also einer geschafft. Hat er es geschafft, weil er hierzulande postulierten Anforderungen an Diversität genügt, weil er Protektion von erster Stelle aus genossen hat? Vielleicht. Die Herkunft des Dirigenten aus Südamerika und seine exorbitante Haarpracht, sie mögen ihre Wirkung getan haben; dazu kam ein wundervolles Ohrwurm-Programm mit Peter Tschaikowskys erstem Klavierkonzert und der Tondichtung «Ein Heldenleben» von Richard Strauss – der Saal war jedenfalls ausgezeichnet besetzt, und das keineswegs nur mit den gerne geschmähten Vertretern des Silbersees, sondern auch mit Turnschuh-Publikum. Jenseits dessen wurde vor allem aber deutlich, dass Rafael Payare über eine immense Begabung verfügt und dass er sie in fruchtbarer, ja begeisternder Weise einzusetzen versteht. Mit einer Ausstrahlung sondergleichen nimmt er das Orchester mit, seine Blicke, seine Gesten sind für alle da, wenn es erforderlich ist. Und seine Einsicht in die Partituren, in deren Strukturen wie deren Emotionen, dringt noch und noch ans Licht.

So steigerte denn Payare die Brillanz, die in Tschaikowskys berühmtem b-Moll-Konzert angelegt ist, zu einem mit Ah und Oh aufgenommenen Feuerwerk. Es konnte das tun, weil er in Kirill Gerstein mit einem Solisten zusammenarbeitete, dem, so der Eindruck, keine Grenzen gesetzt sind. Enorm seine Fingerfertigkeit (die ihm ganz selbstverständlich erlaubte, immer wieder Blickkontakt zu konzertierenden Orchestermitgliedern aufzunehmen), überwältigend seine Kraft (die freilich den Steinway an seine Grenzen brachte), ja überhaupt seine Phantasie, mit der er das perkussiv angelegte Soloinstrument zum Singen und zum Jubeln in den allerschönsten Klangfarben brachte. Und unter der anfeuernden Zeichengebung Rafael Payares kostete das Tonhalle-Orchester Zürich seinen Part nach Massen aus. Glücklichstes Zusammenspiel und vollendetes Glück des Zuhörens.

Nicht weniger muskulös ging Payare das «Heldenleben» an. Selber ein Musiker, der mit ungeheurem Körpereinsatz dirigiert, dem Orchester aber nirgends den Atem nimmt, stellte er heraus, dass mit dieser ausladenden, überreich mit Ideen und Farbwirkungen genährten Tondichtung ein Komponist vors Publikum trat, der dem Ungestüm seiner Jugendlichkeit freien Lauf liess (und der unter anderem genau dafür von seinen Kritikern gescholten wurde). Das Orchester liess sich das nicht zweimal sagen und stürzte sich mit hörbarer Lust ins Getümmel – kraftvoll, doch jederzeit kontrolliert in Dynamik, Balance und Färbung. Mit seinen virtuos bewältigten solistischen Einlagen zeichnete der Konzertmeister Andreas Janke Madame Strauss als eine ebenso zänkisch aufbegehrende wie hingebungsvoll säuselnde Gattin, die Trompeter verliehen den Reden der Feinde, die den Komponisten verfolgen, alle Schärfe, und schliesslich öffnete sich der Raum für jene Behaglichkeit, die zu den musikalischen Kennzeichen von Richard Strauss gehören. Mag sein, dass in einem helleren, lockerer gefügten Klangbild, wie es etwa Lorin Maazel so blendend pflegte, der ironische Boden, auf dem das in Musik gegossene Selbstporträt ruht, noch besser spürbar wird. Davon ist Rafael Payare noch weit entfernt, und das darf so sein.

Wie auch immer: Diversität hin oder her – in der etwas aufgeheizten Debatte fällt gerne unter den Tisch, dass es beim Musizieren weder um Geschlecht noch um Hautfarbe noch um Herkunft geht, sondern einzig und allein: um die Qualität des Tuns.

Erstklassig

Philippe Jordan zu Gast
beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

So kräftig und zugleich so schön, so opulent und gleichzeitig so leuchtend transparent hat das Tonhalle-Orchester Zürich seit langem nicht geklungen. Angesagt waren drei Ausschnitte aus der «Götterdämmerung» Richard Wagners: «Siegfrieds Rheinfahrt», «Siegfrieds Tod und Trauermarsch» sowie «Brünnhildes Schlussgesang». Und mit Philippe Jordan, der mit diesem doppelt geführten Abend seit langem wieder einmal in der Tonhalle Zürich erschienen ist, stand ein exquisiter Experte für dieses Repertoire am Pult – das heisst: Pult brauchte er keines, er dirigierte den ganzen Abend über auswendig. Mit letztem Engagement bei der Sache, wuchs das in grösster Formation angetretene Orchester förmlich über sich hinaus. Am Ende gab es von den Musikerinnen und Musikern einhelligen Beifall für den Dirigenten. Und das Publikum war aus dem Häuschen.

Was war geschehen? Die Erfahrung des demnächst fünfzigjährigen Zürchers spielt gewiss eine zentrale Rolle. Seine Berufslaufbahn hob an mit der Assistenz in einer Produktion von Wagners «Ring des Nibelungen» am Théâtre de Châtelet in Paris. Seither hat ihn die Tetralogie nicht losgelassen. An der Pariser Nationaloper, an der Philippe Jordan zwischen 2009 und 2021 als Musikdirektor wirkte, leitete er in den Jahren 2010 und 2011 einen «Ring», der im Orchestralen neue Massstäbe setzte. Bald wird er Wagners Opus summum an der Berliner Lindenoper dirigieren, wo er in früher Zeit als Erster Gastdirigent tätig war – nicht aber diesen Sommer bei den Bayreuther Festspielen, wo er die musikalische Leitung in der umstrittenen Produktion von Valentin Schwarz übernommen hatte, sie jetzt aber wieder zurückgelegt hat. Kein Wunder…

Die Besonderheit beim Pariser «Ring» von 2010/11 bestand darin, dass die Opéra de la Bastille über eine ausserordentlich weite Kubatur verfügt, der Dirigent, was die instrumentale Seite betrifft, also aus dem Vollen schöpfen konnte – übrigens keineswegs zum Nachteil der Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, wusste Jordan doch schon damals sehr genau, wo und wie er die Pferde zu zügeln hat. So waren in diesem Zyklus, wie es nur selten möglich wird, der Farbenreichtum, die Tiefenstaffelung und die kontrapunktische Feinarbeit in einzigartiger Weise wahrzunehmen. Und das in einem Klangbild, das die Expansion keineswegs scheute, den lichten, ziselierten Momenten aber ebenso viel Sorgfalt angedeihen liess. Im Graben herrschte exzeptionelle Qualität; mit Philippe Jordan ist das Orchester der Pariser Oper zum besten Klangkörper Frankreichs herangewachsen – wovon auch ein Gastspiel beim Lucerne Festival 2014 mit einer umwerfenden Aufführung von Modest Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung» zeugte.

Und nun also dies Konzept in der Grossen Tonhalle Zürich, die doch um einiges kleiner ist als die Bastille, die dafür aber über die eindeutig bessere Raumakustik verfügt. Aus einem berückenden Leisen heraus hob «Siegfrieds Rheinfahrt» an, die tiefe Klarinette setzte da markante Tupfer – Philippe Jordan, als Sohn seines grossen Vaters Armin Jordan in der deutschen wie der romanischen Kultur aufgewachsen, versteht glänzend, mit den Instrumentalfarben umzugehen. Ganz gelöst, ruhig fliessend daraufhin die Naturseligkeit mit Siegfrieds Horn, das von aussen ins Geschehen hereinklang. Und dann der Schock des Trauermarschs, der mit messerscharfer Präzision einsetzte, darob jedoch keineswegs brutale Züge annahm. Schliesslich das wellenweise Aufbäumen in «Brünnhildes Schlussgesang», in dem sich Anja Kampe mit Applomb durchsetzte. Was gab es da nicht zu hören: die Hörner und die Tuben, die mächtige Basstrompete, die tiefen Blechbläser, die für das Fundament sorgten – ohne dass sich je etwas unstimmig in den Vordergrund gedrängt hätte. Die Balance war ja jederzeit aufs Feinste eingerichtet. Denn Philippe Jordan kennt die Partituren aus dem ff. Und überdies tummelt er sich in ihnen mit einer Begeisterung, die auf das Podium wie auf den Saal ausstrahlte.

Im ersten Teil des Abends gab es Robert Schumanns Sinfonie Nr. 3 in Es-dur, was nur auf den ersten Blick seltsam erscheinen mochte. Vom Rhein ist auch in diesem Stück die Rede, Schumann komponierte das Stück zu seinem Amtsantritt als Musikdirektorin Düsseldorf. Auch da trat eine Eigenheit im künstlerischen Wirken Philipp Jordans zutage: Bei der Gestaltung seiner Programme denkt er in thematisch Kreisen, in tonartlichen Zusammenhängen, in Verwandtschaften der Atmosphären – spricht er in Interwies zu solchen Fragen, ist es mit Händen zu greifen. Die Wiedergabe war nun aber doch etwas pompös angerichtet, in grosser Besetzung, ja in einer Art Tschaikowsky-Ton, der einen retrospektiven Zug nicht verhehlte. Indes war auch hier war alles zu hören, was man zu hören begehrt – das Leben der Nebenstimmen im Kopfsatz, das Springen und Singen im Scherzo, die attraktiven Tempomodifikationen im Finale. Was will man mehr?

Vielleicht das: ein nächstes Zürcher Engagement nicht erst in zehn Jahren.

Gipfelstürmer

Zwei Soloabende in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Mit einem tosend in die Tiefe stürzenden Lauf und gleich darauf einem heftigen, sich in erregte Tremoli auflösenden Akkord, so hebt Sergej Rachmaninows Klaviersonate Nr. 2 in b-moll an – ein stärkeres Ausrufezeichen ist kaum denkbar. Ohne die Spur eines Zweifels aufkommen zu lassen, nahm Francesco Piemontesi die Herausforderung an. Mit stählerner Kraft und staunenswerter Fingerfertigkeit stürzte sich der Tessiner an seinem Zürcher Klavierabend in den Kampf mit den Elementen. Liess er den Steinway, ein Instrument mit herrlichen Bässen, in aller denkbaren Kraft, aller vorstellbaren Farbenpracht aufrauschen – so als sässe nicht ein einsamer Solist auf dem Podium in der Grossen Tonhalle Zürich, sondern ein ganzes Orchester. Piemontesi, was Rachmaninow betrifft in den letzten Tagen beim Tonhalle-Orchester und bei der Philharmonia aus dem Opernhaus sehr beschäftigt, spielte die erste Fassung der Sonate von 1913 und machte vergessen, was der Komponist selbst an seinem in drei Teile gegliederten, im Grunde aber einsätzigen Werk bemängelte: zu viel der Noten. In einem grossartigen Bogen zog der Pianist durch die Partitur, und als er am Schluss die riesigen Akkordtürme in hellstes Licht stellte, war jeder Widerstand gebrochen. War wieder einmal deutlich, dass gegen die Verführungskünste Rachmaninows am Ende doch kein Kraut gewachsen ist.

Das war der Mittel- und Höhepunkt eines vom Tonhalle-Orchester Zürich gemeinsam mit der Genfer Konzertagentur Caecilia in ihrer Reihe Meisterinterpreten veranstalteten Klavierabends – der im Ganzen doch auch etwas Zweifel aufkommen liess. Und zwar in der Programmgestaltung wie den interpretatorischen Ansätzen. Nach der schweren Kost Rachmaninows kam es zwar zur Pause, doch dann folgte die nicht weniger schwierige, wenn auch ganz anders gelagerte Klaviersonate in B-dur, D 960, von Franz Schubert. Das war keine glückliche Wahl, Schuberts fragile Kunst hatte da zu wenig Chancen. Zumal Piemontesi die Charaktere dieser vielgestaltigen Musik eher pauschal formte. Im zweiten Satz zum Beispiel, einem Andante sostenuto, liess er den untergründig mitlaufenden Trauermarsch kaum zur Geltung kommen, weil er die Aufmerksamkeit einseitig auf die Melodielinien fokussierte. Und was diese Melodielinien betrifft, war an mancher Stelle zu beobachten, wie der Pianist die Bässe zurückhielt, um die Lineaturen der Oberstimmen singen zu lassen; so schön das geriet, gerade dank dem subtil eingesetzten Rubato, so sehr fehlte da doch bisweilen der Boden. Auch etwas wenig Biss hatte die Auswahl von sechs Stücken aus dem zweiten Band der Préludes von Claude Debussy. Gewiss, «Général Lavine – eccentric» geriet witzig, und das «Feu a’artifice» sparte nicht an glitzerndem Effekt. Doch andernorts, etwa bei den Farbenspielen in den «Brouillards» oder im «Clair de lune», mischten sich auch Züge gepflegter Beliebigkeit ins Spiel.

Solche Momente blieben bei Iveta Apkalna aus. Die lettische Organistin, in ihrer Art eine Gipfelstürmerin wie Francesco Piemontesi, leitete ihren Auftritt an der neuen Orgel in der Tonhalle Zürich mit einer «Evocation» des französischen Organisten und Komponisten Thierry Escaich ein – mit einem effektvollen Stück, in dem sich die tausendundeine Möglichkeiten des Instruments von Orgelbau Kuhn aus Männedorf schon gut erahnen liessen. Erst recht gilt das für die «Deux Visions de l’Apocalypse» von Lionel Rogg, einer Art aufgezeichneter Improvisation des Westschweizer Organisten und Komponisten, die im Ton Olivier Messiaens anhebt, in der Folge aber wilde, farbenreiche Kreise zieht. Schliesslich das Ricercar a sei aus dem «Musikalischen Opfer» Johann Sebastian Bachs. Sehr plausibel ging Iveta Apkalna das kontrapunktische Wunderwerk aus dem Geist des späteren 19. Jahrhunderts an, vermied sie den auf der Orgel in der Tonhalle gewiss auch möglichen Barockklang und formte stattdessen eine mächtige Steigerung hin zu einem Klang, der seine Verankerung im Wesen der Orchesterorgel behielt.

Dann aber die Kulmination: die Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» von Franz Liszt – einem Sturm, der einen während mehr als dreissig Minuten durchschüttelt. Heute wird das ins Riesenhafte auswachsende Stück, wenn überhaupt, dann eher auf dem Klavier als auf der Orgel gespielt (zum Beispiel von Igor Levit, der das Werk 2018 beim Lucerne Festival zu hinreissender Aufführung brachte). Erdacht und niedergeschrieben ist «Ad nos» jedoch ganz klar als eine auf der Spieltechnik der Klaviervirtuosen aus dem 19. Jahrhundert basierenden, klanglich jedoch genuin für die spätromantische Orgel konzipierte Schöpfung – Iveta Apkalna hat das in eindrucksvollster Weise erleben lassen. Untadelig ihre Fingertechnik wie ihr Pedalspiel, staunenswert ihre Körperbeherrschung im Umgang mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten der Registersteuerung, die das grosse Zürcher Instrument bietet – und dass all das nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen war, gehörte mit zu den Besonderheiten des Rezitals. Bezaubernd das flüsterleise Summen einer Flöte oder das kehlige Singen eines Zungenregisters, umwerfend aber vor allem die geschmeidigen, farblich vielfach abgestuften Steigerungen bis hin zu einem Fortissimo, das jenem eines Orchesters in keiner Weise nachsteht. Da blieb kein Wunsch offen.

Fazit, wieder einmal festgehalten: Beim Tonhalle-Orchester Zürich gibt es das Tonhalle-Orchester Zürich, aber eben nicht nur.

Wenn alles stimmt

Kammermusik – mit Isabelle Faust und ihren Freunden oder mit dem Chiaroscuro Quartet

 

Von Peter Hagmann

 

Von Robert Schumanns vergleichsweise selten gespieltem Klavierquartett in Es-Dur op. 47 gibt es eine Aufnahme, die längst Kultstatus erlangt hat. 1968 entstanden, brachte sie den Pianisten Glenn Gould mit dem Juilliard String Quartet aus New York zusammen. Von der Exzentrik Goulds ist hier nichts hören, wohl aber von seiner Genauigkeit in der Lektüre des Notentextes. Vor allem aber lebt die Aufnahme von einer musikalischen Erfüllung, wie sie nur ganz selten gelingt. Und da sie sich in der solistisch gebauten Besetzung der Kammermusik ereignet, kommt sie zu besonders intensiver Wirkung: als ein veritables Non-plus-ultra.

Inzwischen, mehr als ein halbes Jahrhundert später, hat diese Sternstunde im Zeichen Schumanns ein Geschwister bekommen. Im Fokus steht wiederum das Klavierquartett von 1842, hier nun aber vorgestellt von Isabelle Faust, Antoine Tamestit, Jean-Guihen Queyras und Alexander Melnikov. Wer sich an das sensationelle Konzert dieses aus hochkarätigen Solisten zusammengesetzten, durch den Hornisten Johannes Hinterholzer ergänzten Ensembles mit Musik von György Ligeti und Johannes Brahms bei den Salzburger Festspielen dieses Sommers erinnert (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 16.08.23), wird sogleich erahnen, von welchem künstlerischen Geist die neue Schumann-Aufnahme durchdrungen ist.

Geprägt wird dieser Geist nicht zuletzt durch die Tatsache, dass die vier Ensemblemitglieder allesamt adäquate Instrumente verwenden. Lange Zeit war das jenseits der Zirkel der historisch informierten Aufführungspraxis verpönt; inzwischen hat sogar der Pianist András Schiff, in dieser Hinsicht ursprünglich skeptisch eingestellt, eine Kehrtwende vollzogen und den Reiz der Instrumente aus der Entstehungszeit der Kompositionen für sich entdeckt. So spielt denn Isabelle Faust die «Sleeping Beauty», eine Geige aus dem Atelier Antonio Stradivaris von 1704, während Antoine Tamestit eine ebenfalls von Stradivari erbaute Bratsche von 1672 zur Verfügung steht; Jean-Guihen Queyras wiederum verwendet ein Cello von Gioffredo Cappa aus dem Jahre 1696, wogegen Alexander Melnikov einen aus Paris stammenden Pleyel-Flügel von 1851 bedient. Über die Bögen und die Saiten schweigt sich das Booklet leider aus. Wie auch immer: Alle vier Instrumente klingen fabelhaft.

Das ist nicht nur eine Frage der Bauart, sondern auch eine solche der Spielweise. Nirgends herrscht in dieser Aufnahme der Druck, der auch bei Kammermusik noch so oft gepflegt wird; Schumanns Stück kommt vielmehr in entspannter, ruhig ausschwingender Kantabilität und in einer geradezu selbstverständlich wirkenden Gemeinsamkeit des Musizierens daher. Die melodischen Verläufe zeigen Profil, weil die Streicher, anders als noch in der Einspielung mit dem Juilliard Quartet, ebenso differenziert wie unangestrengt mit dem Vibrato umgehen. Und der Gesamtklang lebt von farbenreicher Sonorität; in aller Sinnlichkeit hebt er den latenten Zug des Stücks hin zum Orchestralen ans Licht. Und natürlich wird auch hier das Andante cantabile des dritten Satzes zum Höhepunkt. Das alles gelingt in einem Miteinander, das einerseits letzte Feinabstimmung der Balance ermöglicht und ein beglückendes Mass an Transparenz erzeugt, das andererseits den vier Partnern aber auch den Freiraum für individuelles Ausgestalten eröffnet – für Randbemerkungen sozusagen. Daraus ergibt sich dann eben jenes «Gespräch unter vier vernünftigen Leuten», das die Kammermusik bietet – und eben nur die Kammermusik.

Dem «Gespräch unter vier vernünftigen Leuten» ist auch das Chiaroscuro Quartet auf der Spur – nur kommt es sozusagen von der anderen Seite her zu seinen Denkanstössen. Auch das echt europäisch zusammengesetzte Ensemble spielt auf alten Instrumenten: Alina Ibraginova auf einer Geige von Andrea Amati aus dem Jahre 1570, der Zweite Geiger Pablo Hernán Benedí auf einem Instrument von Nicolò Amati von 1675, Emilie Hörnlund auf einer Willems-Bratsche von zirka 1700 und Claire Thirion auf einem von Carlo Tononi 1720 erbauten Cello. Und mehr noch, konsequent und offen deklariert greift das Ensemble auf Darmsaiten und klassische Bögen zurück. Das allein führt zu einem ganz anderen, einem helleren, leichteren, etwas gläsernen Klang, der seine besondere Stärke im Leisen hat, ohne dass das Kraftvolle zahnlos wirkte. Für das versponnene, voller Haken und Fallen steckende «Harfenquartett», das Streichquartett Nr. 10 in Es-Dur op. 97 Ludwig van Beethovens, genau das Richtige.

Denn zu den Instrumenten kommt eine Spielweise, die sich klar an jenen in der alten Musik entwickelten Gepflogenheiten orientiert, die zur Zeit Beethovens noch gegenwärtig waren. Mit aller Sorgfalt steigt das Chiaroscuro Quartet in den Kopfsatz des «Harfenquartetts» ein. Das Poco Adagio der Einleitung nehmen die Vier mit dem Halbdunkel in ihrem Namen flüssig, für das Allegro des Hauptteils bleiben sie dann im Schlag – was dazu führt, dass Viertel und Achtel kein Problem machen, die Sechzehntel dagegen so schnell werden, dass sie sich bestenfalls als Diminutionen im Geist der Renaissance-Musik erkennen lassen. Das entspricht einer in der Interpretation der klassischen Musik derzeit wieder grassierenden Mode. «Noch schneller als möglich»: Igor Levit trieb es in seiner Auslegung der Klaviersonaten Beethovens auf die Spitze, der Pianist und Dirigent Kristian Bezuidenhout liebt es, und eben auch das Chiaroscuro Quartet. Virtuosität und interpretatorische Absicht in Ehren; wenn am Ende jedoch Defizite greifbar werden, ist ein Moment des Innehaltens vielleicht doch angebracht.

Angesichts des rasenden Presto des dritten Satzes mag man sich verwundert die Ohren reiben. Erst recht nach einer kurzen Begegnung mit einer Deutung nach hergebrachter Art, etwa einer des Alban Berg-Quartetts.  Wer dennoch offen bleibt, wird freilich bald feststellen, wie treffend das Tempo den Charakter des wunderlichen Satzes spiegelt. Sie gehen eben gern an die Grenzen, Alina Ibragimova, die auch hier eindeutig führt, und ihr Team, in dem Claire Thirion denen Gegenpart wahrnimmt. Ein so leises, dazu ohne jedes Vibrato verwirklichtes Pianopianissimo, wie es im Kopfsatz zur Reprise führt, verdient alle Achtung. Und so feingliedrige, gefühlvolle, unkitschige Dialoge, wie sie der zweite Satz exponiert, sie stehen für ganz grosse Kunst des Quartettspiels wie für dessen bedeutende Innovation. Luft nach oben gibt es beim Chiaroscuro Quartet im sprechenden Ausdruck, namentlich in der Differenzierung wiederholter Passagen. Das Potential wäre da, der Eingang zum Finale erweist es.

Wer das Klavierquartett Schumanns live hören möchte: Isabelle Faust, Anne Katharina Schreiber, Antoine Tamestit, Jean-Guihen Queyras und Alexander Melnikov kommen übermorgen Freitag, 3. November 2023, zur Neuen Konzertreihe Jürg Hochulis in die Grosse Tonhalle am See. Gespielt werden ausschliesslich Werke von Robert Schumann: neben dem Klavierquartett und dem Klavierquintett das Streichquartett Nr. 1 in a-Moll aus op. 41.

Robert Schumann: Klavierquartett in Es-Dur op. 47 und Klavierquintett in Es-Dur op. 44. Isabelle Faust und Anne Katharina Schreiber (Violinen), Antoine Tamestit (Viola), Jean-Guihen Queyras (Violoncello), Alexander Melnikov (Klavier). Harmonia mundi 902695 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023). Auf CD sind die Aufnahmen ab 24. November 2023 erhältlich.

Ludwig van Beethoven: Streichquartette Nr. 10 in Es-Dur op. 74 (Harfenquartett) und Nr. 13 in B-Dur op. 130. Chiaroscuro Quartet: Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola), Claire Thirion (Violoncello). BIS-2668 (SACD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).

Weiter, immer weiter

«Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss
mit dem Luzerner Sinfonieorchester

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind nicht aufzuhalten auf ihrem Weg nach oben. Soeben haben die Musikerinnen und Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters zusammen mit ihrem Chefdirigenten Michael Sanderling die Saison 2023/24 eröffnet – mit nicht weniger als der «Alpensinfonie» von Richard Strauss. Und dies auf jenem Podium, das sechs Wochen zuvor, im Rahmen des Lucerne Festival, der Sächsischen Staatskapelle Dresden und ihrem (Noch-)Chefdirigenten Christian Thielemann für einen geradezu sensationellen Auftritt mit genau dieser Tondichtung gedient hat. Nicht nur die zeitliche Nachbarschaft und damit die Möglichkeit des Vergleichs mochten als heikel erscheinen, das Unterfangen selbst liess staunen, ist zu dessen Verwirklichung doch eine Orchesterbesetzung im XXL-Format gefordert. Mit weniger als sechzehn Ersten Geigen und somit einer Gruppe von rund sechzig Streichern, weniger als vierfacher, bei den Hörnern gar achtfacher Besetzung bei den Bläsern sowie einer ganzen Reihe an Spezialinstrumenten geht es in der «Alpensinfonie» nicht.

Zu zeigen, dass ein Auftritt in solcher Grossformation dem Luzerner Sinfonieorchester möglich ist, das war, unter anderem, die Ambition dieses Abends im sehr gut besuchten KKL. Nicht bei der Auslastung insgesamt, jedoch bei der Zahl der gelösten Abonnements, sei der Status aus der Zeit vor der Pandemie wieder erreicht, betont Numa Bischof Ullmann, der seit nunmehr zwanzig Jahren erfolgreich und ohne Ermüdungserscheinung wirkende Intendant des Luzerner Orchesters. Entschieden weiter gehe auch die Entwicklung des Klangkörpers hin zu einem voll ausgebauten Sinfonieorchester mit knapp achtzig fest angestellten Mitgliedern. Bald werde dieses Ziel erreicht sein – dies auf der Basis der von Bischof eingerichteten Verbindung zwischen öffentlicher und privater Finanzierung. Der grössere Teil des Budgets, gegen zwei Drittel, wird getragen von der Stiftung für das Luzerner Sinfonieorchester mit dem Mäzen Michael Pieper im Zentrum und einer grossen Zahl an Stiftern, Gönnern und Freundeskreisen.

Ist diese Konstruktion schon bemerkenswert genug, so gilt das erst recht für den Einfallsreichtum im Bereich der Programmgestaltung. Das zeigt das Konzertangebot des Orchesters, im KKL wie in dem 2020 eröffneten Orchesterhaus am Stadtrand, das erweist aber auch «Le piano symphonique», das vom KKL ausgeschriebene und nach einem Wettbewerb an das Luzerner Sinfonieorchester vergebene Klavierfestival, welches das von heute auf morgen aufgegebene Klavierfestival des Lucerne Festival ersetzt. Da fehlt es denn nicht an Überraschungen. Die Eröffnung des Festivals bestreitet Maria João Pires, die sich im «2. Akt» des Abends für Schuberts vierhändige Fantasie in f-Moll mit Martha Argerich zusammentut und sich später gemeinsam mit Elisabeth Leonskaja den ebenfalls vierhändigen «Lebensstürmen» Schuberts widmet. Schliesslich folgt Kit Armstrong mit den Etudes d’exécution transcendantes von Franz Liszt, nachdem er am Abend zuvor dessen gewaltige Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» gespielt hat: an der Orgel notabene.

Dass die in Luzern verfolgte Richtung stimmt – die «Alpensinfonie» hat es in denkbar eindrucksvoller Weise bestätigt. Eine hinreissende Darbietung war das. Gelingen konnte sie, weil der Kern des Orchesters so sicher in sich ruht, dass die zahlreichen Zuzüger ihre Einsätze in einer stimmig eingerichteten Umgebung beitragen konnten. Mit zündender Energie ging die Konzertmeisterin Lisa Schatzman der Gruppe der Ersten Violinen voran, während sich Gregory Ahss, ihr gleichberechtigter Kollege aus dem Kreis um Claudio Abbado, mit Innbrunst den Kaskaden an Tremoli hingab. Phantasievoll ausgespielte Soli liessen die Holzbläser glänzen, während das massiv besetzte Blech in reicher Abschattierung einwirkte und majestätische Klangkronen bildete. Probleme mit der Lautstärke, mit der Balance? Nicht die Spur. Dazu ist Michel Sanderling, Sohn eines berühmten Dirigenten-Vaters, viel zu sehr Kapellmeister.

In dem guten Sinn nämlich, dass er den Notentext mit aller Genauigkeit liest und sich ihm vorbehaltlos in den Dienst stellt. Das Raunen, das Verschwimmen, der Dunst – das hat Christian Thielemann mit Wagners «Wunderharfe» aus Dresden bei seiner Luzerner Auslegung der «Alpensinfonie» auf die Spitze getrieben; gelernt und vervollkommnet hat er es bei den Wiener Philharmonikern, die sich gegen nichts mehr sträuben als gegen den präzisen Schlag. Michael Sanderlings Sache ist das nicht, er schlägt präzise und führt das Orchester mit sicherer Hand, ohne ihm den Atem und dem Stück die Atmosphäre zu nehmen. Der Ansatz erlaubt ihm, die Partitur in aller Helligkeit leuchten zu lassen, die einzelnen Instrumentalfarben in gebotener Klarheit herauszustellen und so die unerhört weitreichenden Verästelungen in dieser nur dem Schein nach auf den grossen Effekt zielenden Tondichtung zu zeigen. Symptomatisch dafür waren das auffallend präsente, mit viel Hall versehene Herdengeläut und der sehr zu Recht prägnante Auftritt der Orgel, deren Spieltisch ins Orchester integriert war. Und was die beiden Herren an den zwei Windmaschinen an schweisstreibender Kurbelbewegung leisteten, gab zu erkennen, dass man von Starkregen und Gewitterböen schon vor 108 Jahren überrascht werden konnte. Eine äusserst fassliche, bildhafte Interpretation ist hier gelungen. Dass sie sich unter einem schlüssig von A bis Z reichenden Spannungsbogen ereignete, machte das Besondere dieser erfrischenden Bergwanderung mit Richard Strauss aus.

Jenseits der Marktgesetze

Konzerte an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Durch das Gepränge der Gattung und den mit ihm verbundenen Aufwand, durch die mediale Aufmerksamkeit und die mit den Produktionen verbundenen Aufreger – durch Aspekte solcher Art gerät das Musiktheater bei den Salzburger Festspielen traditionellerweise in den Fokus der Wahrnehmung. Dies jedoch durchaus zu Unrecht. Das seit 2017 und noch bis diesen Sommer von der Schweizerin Bettina Hering geleitete Schauspiel dümpelt zwar vor sich hin, jedenfalls bildet es keineswegs mehr jenes Standbein, als das es bei der Gründung angelegt war. Aber jenseits dessen blüht ein Garten von seltener Vielfarbigkeit. Er bietet ein ausgebautes Kinder- und Jugendprogramm. Er wartet mit hochkarätig besetzten Nischen der der Reflexion auf, zum Teil kuratiert von Markus Hinterhäuser, dem Intendanten der Festspiele. Er lädt zum Besuch einer unter der Leitung der Festspiel-Dramaturgin Margarethe Lasinger entstandenen Ausstellung über Max Reinhardt, einen der Gründerväter der Festspiele – dies zum 150. Geburtstag des legendären Theaterkünstlers und -unternehmers. Vor allem aber, und in erster Linie, gibt es: das Konzert.

Unter erkennbarer Mitwirkung des Intendanten durch den Spartenleiter Florian Wiegand betreut, trägt das Salzburger Konzertprogramm ein sehr eigenes Gesicht und bezieht daraus seine Bedeutung – jedenfalls bietet es weitaus mehr als Füllmaterial zwischen den Opernabenden. Formal herrscht ein feststehendes Raster. Dazu gehören etwa die unter der Intendanz Alexander Pereiras eingeführte Ouverture spirituelle eine Woche vor dem eigentlichen Beginn der Festspiele, die fünf mehrfach geführten Auftritte der Wiener Philharmoniker zu der für dieses Orchester traditionellen Stunde vor Mittag, das doppelte Gastspiel der Berliner Philharmoniker zum Ende der Festspiele, bevor sie nach Luzern weiterziehen sowie die Mozart-Matineen des Salzburger Mozarteumsorchesters. Hinzu kommt ein weitgespanntes Angebot an Kammerkonzerten, an Liederabenden und Solistenkonzerten.

Quer durch die formale Ordnung ziehen sich thematische Linien. Die Ouverture spirituelle stand diesen Sommer im Zeichen von «Lux aeterna», dies als fühlbarer Kontrast zum Opernprogramm, das der aus den Fugen geratenen Welt nachging (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.08.23). Und hier ist auch der Ort, an dem Altes direkt auf Neues stösst; nach der Eröffnung mit den grossformatigen «Eclairs sur l’Au-delà» von Olivier Messiaen in der Felsenreitschule standen sich da zum Beispiel die «Prophetiae Sibyllarum», die Motetten Orlando di Lassos, dem einstündigen Entwurf «ET LUX» von Wolfgang Rihm gegenüber. Besonders bemerkenswert war in dieser Hinsicht die Reihe «Zeit mit…», die in jährlichem Wechsel einem bestimmten Komponisten gewidmet ist. Diesen Sommer galt die Aufmerksamkeit György Ligeti, an dessen Geburt vor 100 Jahren erinnert wurde. Eröffnet wurde die Reihe mit dem «Poème Symphonique» für 100 Metronome, dessen gleichsam vielstimmiges Ticken immer lauter wird, bevor es wieder erstirbt – Werden und Vergehen innerhalb eines Lebens.

Vergangen ist an Ligetis Musik freilich nicht das Geringste, in Salzburg erst recht nicht. 1993 ist der Komponist dort, auf Initiative des damaligen Finanz- und Konzertdirektors hin, zusammen mit György Kurtág in einem Doppel-Porträt präsentiert worden. Markus Hinterhäuser war dabei, denn damals hat er mit einer Aufführung von Luigis Nonos «Prometeo» in Salzburg ein erstes Zeichen gesetzt. Inzwischen ist Hinterhäuser Intendant und Ligeti ein Klassiker. So gedacht nicht bei den irrwitzigen Klavier-Etüden, die Pierre-Laurent Aimard auf dem Programm hatte, wohl aber bei der Sonate für Violoncello solo, die Jean-Guihen Queyras souverän bewältigt und wunderschön vorgetragen hat – vielleicht etwas zu schön?

Dass auch bei Ligetis Musik die Interpretation ihre Rolle spielt, erwiesen die Geigerin Isabelle Faust, der Hornist Johannes Hinterholzer und der Pianist Alexander Melnikov, die das ebenso klangschöne wie intrikate Horn-Trio Ligetis in ihrer Auslegung phantastisch zuspitzten. Erst recht verwirklichte sich das bei jenem Trio für dieselbe Besetzung aus der Feder von Johannes Brahms, das Ligeti zum Ausgangspunkt seines Werks genommen hat. Die Besonderheit lag darin, dass Johannes Hinterholzer nicht das zu Brahms’ Zeiten schon bekannte, heute übliche Ventilhorn an die Lippen setzte, sondern das damals im Verschwinden begriffene Naturhorn, bei dem die Töne nur auf der Basis der durch die Natur gegebene Obertonreihe, allein mit den Lippen und der einen Hand im Schallbecher, geformt werden. Brahms, dem das Instrument aus eigenem Tun heraus vertraut war, schrieb sein Trio explizit für das Naturhorn – und warum er das tat, war in dieser einzigartigen Aufführung klar zu hören, verleihen die gestopften Töne den Melodielinien doch ganz eigene Kontur. Zu hören war das auch, weil Isabelle Faust wie Alexander Melnikov Instrumente aus der Entstehungszeit des Werks benützten – Exemplare mit betörendem Klang (zu denen das Programmheft leider keine Angaben enthielt). Wie sich Geige und Horn gleichsam zu einer einzigen Stimme verbanden und wie sinnlich sich das Klavier daruntermischte, das machte gerade den langsamen Satz zu einem zutiefst berührenden Erlebnis.

So ist es in eben jener neuen Generation von Musikerinnen und Musikern, die nicht auf das klassisch-romantische Repertoire allein, auch nicht auf den schönen Ton und das gepflegte Legato, schon gar nicht auf die Position im Markt fixiert sind. Sie sind offener, berücksichtigen auch älteres wie neueres Repertoire und gehen dabei in derselben Leidenschaft wie auf der Höhe des aktuellen Kenntnisstandes zu Werk. Ein Beispiel dafür bieten der Dirigent François-Xavier Roth und das von ihm gegründete Orchester Les Siècles, die in Salzburg höchst erfolgreich debütiert haben. Und das mit einem allseits anspruchsvollen Doppel-Abend, dessen erster Teil György Ligeti galt. Klangschön im zweiten Satz, virtuos im dritten das Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten (und Instrumentalistinnen) – nicht zuletzt darum, weil nicht ein Synthesizer, sondern eine echte Hammond-Orgel zum Einsatz kam. Bestechend die Farbenspiele in den «Ramifications» für zwei Mal sechs Streicher(innen). Das Violinkonzert mit der unerhört identifizierten Solistin Isabelle Faust liess ungeahnte Welten des Flüsterns und die Sehnsuchtsklänge der aus dem wohltemperierten System ausbrechenden Okarina erleben. Schliesslich das «Concert Românesc» aus Ligetis früher Zeit in Budapest als Zeugnis eines Künstlertums, das der von oben herab herrschenden Kulturbürokratie die Stirn bot. Mehr davon bietet eine bei Harmonia mundi soeben erschienene CD.

Nach einem Moment der Erholung dann Wolfgang Amadeus Mozart. Erst das Klavierkonzert in A-Dur KV 488, für das sich Alexander Melnikov an einen wenig günstig, nämlich mitten im Orchester aufgestellten und darum klanglich oft bedrängten Hammerflügel setzte. Und zum Abschluss die C-Dur-Sinfonie KV 551, die «Jupiter». Bekanntlich verwendet das Orchester Les Siècles durchwegs Instrumente, die der Entstehungszeit der vorgetragenen Werke entsprechen. Ob dieses Alleinstellungsmerkmal auch für sein Salzburger Mozart-Programm galt, darf allerdings bezweifelt werden. Bei den Bläsern war es so, bei den Streichern klang es sehr nach hergebrachtem Instrumentarium – das Orchester hätte dafür ja einen vollständigen Satz an Streichinstrumenten mit Darmsaiten und den entsprechenden Bögen mitführen müssen. Ein kleiner Etikettenschwindel? Davon abgesehen war François-Xavier Roth bei Mozart allzu sehr auf forsche Attacke fokussiert. Knallende Pauken, schmetternde Trompeten, ein harsches Tutti, das ist noch nicht alles, eher Revolution von gestern. Bei Jordi Savall und dem von ihm gegründeten Orchester Le Concert des Nations herrschte jedenfalls ein ganz anderer Ton. Klar, Savall ist ein älterer Herr, der, auch wenn er sein Temperament keineswegs verloren hat, gestisch nicht mehr viel Aufhebens macht. Das Ergebnis, bei Ludwig van Beethovens Sinfonien Nr. 3 (in Es-Dur) und Nr. 5 (in c-Moll): warm opulente, elegant federnde, jederzeit durchhörbare Klanglichkeit. Sie bot enormen Reichtum, ohne dass das ungeheure Aufbäumen der sogenannten Schicksalssinfonie unterspielt worden wäre.

Ans Licht getreten

Das Luzerner Sinfonieorchester mit seinem Chefdirigenten Michael Sanderling

 

Von Peter Hagmann

 

Die neue Saison, 2023/24, setzt ein mit «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, kurze Zeit später folgt die Sinfonie Nr. 4 von Gustav Mahler; im Frühjahr stehen Ernest Chaussons Sinfonie In B-dur und die Sechste Anton Bruckners an. Dessen vierte Sinfonie steht heute Abend auf dem Programm, dies nach der Schweizer Erstaufführung eines Violinkonzerts des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa, einem Auftrag, der gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern erteilt wurde. Nicht weniger.

Das alles wäre vor einiger Zeit undenkbar gewesen. Das Luzerner Sinfonieorchester, gegründet 1805, galt lange als eine Formation der Kategorie B, die dafür bekannt war, ihre Dienste im Graben des kleinen Luzerner Stadttheaters zu verrichten und daneben Abonnementskonzerte zu geben. Seit der Eröffnung des Kultur- und Kongresszentrums Luzern, des KKL, im August 1998 und vor allem seit dem Amtsantritt von Numa Bischof Ullmann als Intendant sechs Jahre später ist indessen nichts mehr wie ehedem – hat das Luzerner Sinfonieorchester einen überaus eindrucksvollen Weg zurückgelegt und ist mit allem Aplomb aus dem Schatten hinaus ans Licht getreten.

Die Besetzung wurde kräftig vergrössert, und das auf der Basis einer Verbindung zwischen der öffentlichen Hand und einer privaten Stiftung; für ergänzende Mittel sorgt ein weit ausgreifender Freundeskreis. Das Konzertprogramm wurde aufgefrischt und erweitert, was auch darauf zurückgeht, dass sich der Intendant, von Haus aus Cellist, in den musikalischen Gefilden auskennt und zudem über Ideenreichtum und Mut verfügt. Bald mussten jedenfalls die im KKL abgehaltenen Sinfoniekonzerte doppelt geführt werden – und bekanntlich zieht nichts so sehr den Erfolg an wie der Erfolg selbst. Entwickelt und stark ausgebaut wurde auch ein breites Spektrum an Musikvermittlung; im Zentrum stand da ein origineller Musikwagens, mit dem das Orchester unter die Menschen ging, unter die jungen wie die alten. Inklusion ist ein Modewort; hier wird sie gelebt. Inzwischen nimmt das Luzerner Sinfonieorchester eine neue Position in der Schweizer musikalischen Landschaft ein: Das Orchestre de la Suisse Romande war in Luzern zu Gast, während umgekehrt die Luzerner in der Genfer Victoria Hall gastierten. Spitzenorchester unter sich.

Zwei ganz besondere Schritte erfolgten in jüngster Vergangenheit. 2020 wurde das Luzerner Orchesterhaus eröffnet. Zwar definiert sich das Luzerner Sinfonieorchester als Residenzorchester des KKL. Mit dem Neubau auf dem musikalischen Kampus Südpol verfügt es nun aber auch über einen eigenen Sitz, einen von weitem sichtbaren Kubus mit einem grossartigen hölzernen Saal für die Probenarbeit, für Kammerkonzerte und die Musikvermittlung, mit Übungsräumen für die Musikerinnen und Musiker und mit dem Notwendigen für die Administration. Ein Jahr später trat das Luzerner Sinfonieorchester mit einem Festival, einer Insel im Saisonprogramm, an die Öffentlichkeit. «Le Piano Symphonique» nennt es sich, und es versteht sich als Ersatz für die aus unklaren Gründen aufgegebene Klavierwoche des Lucerne Festival. «Le Piano Symphonique» prunkt mit grossen Namen, wartet aber auch mit manch unkonventioneller Programmidee auf.

Die grossen Namen haben durchaus ihren Platz in Luzern, nicht nur während des Festivals. So kommen Martha Argerich, Maria João Pires und Elisabeth Leonskaja fürs sinfonische Klavier nach Luzern – und setzen sich sogar zu zweit an die Tasten. Jean-Yves Thibaudet gibt zusammen mit Martha Argerich die «Petite Suite» für Klavier zu vier Händen von Claude Debussy, worauf sich Kit Armstrong – an der Orgel, notabene – der technisch wie musikalisch höchst anforderungsreichen Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» von Franz Liszt annimmt. Um sich am Tag darauf, nun wieder am Klavier, Liszts «Etudes d’exécution transcendante» zuzuwenden.

Sehr gut nimmt sich auch der Name von Michael Sanderling aus, der dem Luzerner Sinfonieorchester seit der Spielzeit 2021/22 verbunden ist. Erst recht kann sich der Dirigent aber hören lassen. Zum Beispiel auf jener fünf Compact Discs umfassenden Box von Warner Classics, auf der sich, neben dem Klavierquartett Nr. 1 in g-moll op. 25 in der Orchestration Arnold Schönbergs, die vier Sinfonien von Johannes Brahms finden: ein hervorragend gelungener Anschluss an den Faden, den Wolfgang Rihm vor gut zehn Jahren mit «Nähe fern», den nachsinnenden Fantasien zu diesen Sinfonien, ausgelegt hat. Brahms mit Sanderling und den Luzernern – das sorgt für hochstehendes Erleben. Das Orchester bietet einen herrlich austarierten, voluminösen, aber nirgends schweren Ton; er lebt von natürlicher Kantabilität und bewusster Phrasierung. Das erweist schon der Kopfsatz der Ersten, dessen langsame Einleitung alle Grösse zeigt – freilich eine Grösse, die auch strukturell begründet ist, wird das Tempo in der Folge doch streng im Schlag ins Allegro übergeführt.

Exzellent der Streicherkörper mit seinen schlanken Kontrabässen und, zumal im Finale, die Bläser: Flöte und Horn, später Posaune und, für einmal gut vernehmbar, Kontrafagott. Im Kopfsatz der Zweiten spielen die Violinen ihre ganze Zartheit aus, und die Posaunen fügen sich geschmeidig in deren Klang ein. Schade nur, dass die beiden Geigengruppen nebeneinander sitzen und nicht einander gegenüber nach hergebrachter deutscher Art – von Brahms intendierte Echowirkungen kommen in dieser Aufstellung nicht zur Geltung. Packend dagegen, wie sorgfältig in der Durchführung dieses Satzes mit dem Wechsel zwischen Gebundenem und Gestossenem gespielt wird. Und wie zwingend dann der Übergang in die Reprise gelingt.

Besonders plausibel das Finale der Vierten, die grosse Passacaglia über einen achttaktigen, immergleichen Bass, die sich in Aufführungen bisweilen etwas in die Länge ziehen kann. Keine Rede davon in der Luzerner Aufnahme. Würdig, in gemessenem Tempo und rundem Klang (wiederum mit hörbarem Kontrafagott) das von den Bläsern allein vorgetragene Thema. Schon in der ersten Variation fällt auf, wie der Dirigent das von Brahms vorgeschriebene Diminuendo etwas früher einsetzen lässt, um ausreichend Zeit für einen sorgfältigen Abschluss zu finden. Das langsame Tempo erlaubt ihm in der vierten Variation, in der die Streicher die Führung übernehmen, das «largamente» schön aussingen zu lassen und von dort aus dann eine beinah unmerkliche Steigerung auf die Variation sieben hin zu erzielen. Die Aufnahmetechnik trägt mit ihrer Tiefenstaffelung das Ihre dazu bei, dass die Instrumentation (und damit die Schönheit des Orchesterklangs) zu voller Geltung kommt.

Michael Sanderling stellt ohne Zweifel einen bedeutenden Gewinn für das Luzerner Sinfonieorchester dar. Mal sehen, welche Eindrücke nach der Sommerpause die gigantische «Alpensinfonie» interlassen wird.

Johannes Brahms: Die vier Sinfonien, Klavierquartett Nr. 1 in g-moll op. 25 (orchestriert von Arnold Schönberg). Luzerner Sinfonieorchester, Michael Sanderling (Leitung). Warner 5054197482373 (5 CD, Aufnahmen 2022, Produktion 2023).

Explizit – und schön

Ein Abend mit den Festival Strings Luzern

 

Von Peter Hagmann

 

Live ist in jedem Fall besser als aus dem Lautsprecher, aus dem Kopfhörer, jedem technischen Fortschritt zum Trotz. Hochauflösender Grossbildschirm, Dolby-Atmos, Lautsprecher mit fünfstelligen Kaufpreisen – alles in Ehren. Am Ende geht doch nichts über den Klang, der direkt vom Podium aus ins Ohr dringt, der sich aber auch mit optischen Informationen verbindet. Dies niedergeschrieben von einem eifrigen Konsumenten aufgezeichneter Musik, jedoch erneut gedacht in einem Konzert der Festival Strings Luzern. Die unerhört untereinander verschworenen, von ihrem feurigen Konzertmeister Daniel Dodds geleiteten, zugleich autonom und in enger Abstimmung miteinander wirkenden Musikerinnen und Musiker sorgten im gut besuchten KKL Luzern für ein Hörerlebnis der Extraklasse. Und für eine grandiose Überraschung – eine Überraschung darum, weil die Festival Strings in ihrem engeren Umfeld, aus welchen Gründen auch immer, nicht über das Image verfügen, das ihrer künstlerischen Erscheinung entspräche.

Aber da wäre etwa die CD mit Wolfgang Amadeus Mozarts «Haffner-Serenade» in D-dur KV 250 samt dem ihr zugehörigen, vorangehenden Marsch in der gleichen Tonart. Eine Freiluft-Musik in der Art damals gültiger Tradition, aber mit Einfall und Witz komponiert. Und genau das Richtige für die 1956 von Wolfgang Schneiderhan und Rudolf Baumgartner in Luzern gegründete Formation, die freilich längst über die damals gepflegte Einrichtung als reines Streichorchester hinausgewachsen, vielmehr zu einem Klangkörper in voller Besetzung geworden ist. Allerdings: Mit rund zwei Dutzend Streichern gegenüber den doppelt geführten, solistisch eingesetzten Bläsern nimmt der Klang eine andere Färbung an als im philharmonischen Bereich. Leicht und hell wirkt er. Den Marsch wie das zweiteilige Allegro der Eröffnung nehmen die Festival Strings pointiert im Rhythmus und getragen von elegant federnden Kontrabässen. Ausgezeichnet getroffen das Tempo im Andante des zweiten Satzes, nur herrscht hier doch wohl zu viel Vibrato: Süsses schiebt sich in den Vordergrund – vielleicht hatte sich der leitende Konzertmeister Daniel Dodd vorgenommen, die «Seillières»-Stradivari von 1680, die Wolfgang Schneiderhan seinerzeit gespielt hat und die jetzt dank einem mäzenatischen Akt von privater Seite den Festival Strings gehört, besonders herauszuheben. Berührend das Menuett in moll, witzig das Rondo, dessen verspieltes Geigensolo Dodd blendend meistert.

Gut gelungen ist das, doch das wirkliche Gesicht der Festival Strings von heute liess sich erst im letzten Luzerner Abonnementskonzert des Ensembles erkennen. Nach einer zuverlässigen Wiedergabe der vier Noveletten in F-dur von Niels Wilhelm Gade, einem hierzulande kaum beachteten Zeitgenossen von Mendelssohn und Schumann, gab es von Letzterem das Cellokonzert in a-moll op. 129 mit seinen drei ineinander übergehenden Sätzen. Auf einem kleinen Podest im Zentrum sass Kian Soltani, der junge, Vorarlberger Cellist mit persischen Wurzeln – ein enorm aufstrebender Musiker, der in der kommenden Saison beim Tonhalle-Orchester Zürich in Residenz sein wird. Er nahm seinen Part mit einer Schönheit des Tons, einer Natürlichkeit des Singens und einer Musikalität in der Gestaltung, die unmittelbar in den Bann schlugen. Geradezu sensationell wirkte jedoch die Begleitung durch die Festival Strings, denen Daniel Dodd vom Sitzplatz des Konzertmeisters aus hie und da ein Handzeichen gab, im übrigen aber ungeheuer entschieden voranging. Das war von derart animierender Kraft, dass die Orchestermitglieder als ein restlos geschlossenes, kammermusikalisch aufgewecktes Ensemble erschienen und dem Solisten in einer Vertrautheit und einer Intensität zur Seite standen, als wären sie Partner seit Jahren.

Noch einen Schritt weiter gingen die Festival Strings Luzern in Felix Mendelssohn Bartholdys Sinfonie Nr. 3 in a-moll, der Schottischen. Der federleichte Klang, der mit Mendelssohns Musik verbunden ist, die Helligkeit, die Durchhörbarkeit, die zugespitzten Zeitmasse, all das gelang wie von selbst. Gleichzeitig strahlte das Ensemble eine Körperlichkeit sondergleichen aus. Jede Musikerin, jeder Musiker spielte nicht nur mit letztem Einsatz, sondern gestaltete auch mit höchstem Engagement – bis hin zum Saitenriss, den der Stimmführer der Zweiten Geigen zu erleiden hatte und den er mit Hilfe seiner Nebensitzerin mühelos bewältigte. Und dann dieser Schwung, dieses gemeinsame Atmen. Dazu der Umgang mit Attacke, Artikulation, Vibrato – alles vom Feinsten ausgearbeitet. Kristallklar trat die Musik Mendelssohns auf den Plan, superb ausgearbeitet im Strukturellen und im selben Moment versehen mit hinreissender sinnlicher Ausstrahlung. Der Schritt hin zu Darmsaiten wäre möglicherweise nur ein kleiner.

Wolfgang Amadeus Mozart: «Haffner». Serenade Nr. 7 in D-dur KV 250, Marsch in D-dur KV 249. Festival Strings Luzern, Daniel Dodds. Sony 19658725062 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).