Im Land der versehrten Seelen

«Das grosse Feuer» von Beat Furrer,
Uraufführung im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

In seinem Kopf herrscht ein Riesen-Durcheinander. Seine Identität schwankt. Auf der einen Seite fühlt sich Eisejuaz verbunden mit jenem indigenen Stamm aus dem Norden Argentiniens, in dem er aufgewachsen ist, auf der anderen prägt ihn die Sozialisation durch eine Missionsstelle mit ihren strengen Geboten. So zieht es ihn einerseits immer wieder zu seiner schamanischen Tradition, kommuniziert er mit den Tieren und den Bäumen, die zu ihm sprechen. Während er andererseits ein Leben führt, in dem ihm Pastoren das Schreiben und Lesen beibringen, aber auch Gehorsam, ja Unterwerfung fordern. In diesem Gestrüpp dröhnen die Kettensägen und die Lastwagen, die Ladung um Ladung das Biotop des Waldes zerstören – Eisejuaz nimmt selbst daran teil, indem er zeitweise in einem Sägewerk arbeitet. Und dabei auf eine Vielzahl von Menschen stösst, die ihm mit den unterschiedlichsten Forderungen begegnen.

So schildert es die argentinische Schriftstellerin Sara Gallardo in «Eisejuaz», ihrem Roman von 1971. Er ist in einer ganz eigenartigen, bisweilen rohen, bisweilen zärtlichen Sprache gehalten, denn er basiert auf langen Gesprächen mit dem Menschen, der sich hinter dem Namen des Protagonisten verbirgt. Durch einen seiner Studenten ist Beat Furrer auf den Stoff und die Art seiner Präsentation aufmerksam geworden. Dass sich der siebzigjährige Komponist dadurch angezogen fühlte, ist kein Wunder. Seinem unprätentiösen Auftreten entsprechend, gehorcht seine Musik einer Ästhetik des Leisen; der bis ins Feinste aufgefächerte Klang bildet die Grundlage seines Tuns, auch wenn der Verdichtung, ja dem Ausbruch durchaus Raum bleibt – die Vielstimmigkeit von Sara Gallardos Roman fügte sich da nahtlos ein. Auf der anderen Seite macht Beat Furrer kein Hehl aus seiner Wachheit den Zeitläuften gegenüber. Was mit dem Regenwald geschieht und welche Folgen es bis hinein ins Individuelle es zeitigen kann, mag ihm alles andere als gleichgültig sein.

So machte er sich auf die Reise, als ihn vor fünf Jahren ein Kompositionsauftrag des Opernhauses Zürich erreichte. Jetzt ist «Das grosse Feuer», so der Titel von Furrers nunmehr achter Oper, zu einer intensiven, von einem hochstehenden Programmbuch begleiteten Uraufführung gekommen. Das Stimmengewirr der Vorlage hatte den Komponisten dazu angeregt, die Oper ganz aus dem Klang eines Chors heraus zu entwickeln, was umso näher lag, als mit Cantando Admont (Einstudierung Cordula Bürgi) ein hervorragendes, mit Furrers Handschrift seit langem vertrautes Vokalensemble zur Verfügung stand. So gibt es in dieser Oper nur zwei herausgehobene Partien, jene des Eisejuaz, in der Leigh Melrose grossartig zugespitzte Expressivität findet, und jene des Paqui, seines larmoyanten, egozentrischen Gegenspielers aus dem Lager der Weissen – Andrew Moore bringt das haarscharf auf den Punkt. Was hier geleistet wird, auch von der Philharmonia Zürich mit dem Komponisten am Pult, kann nicht genug gewürdigt werden.

Denn Beat Furrers Partitur hat es sich in sich. In ihren Grundzügen ist die Handschrift unverkennbar geblieben. Zu hören ist eine Musik, die über weite Strecken flüstert, die im Instrumentalen von einem hohen Raffinement an Klangfarben lebt, die auch, allerdings sehr diskret, das Geräusch einbezieht und mit all dem die Menschen im Zuschauerraum einlädt, die Ohren zu spitzen. «Das grosse Feuer», zwei ineinander übergehende Akte von insgesamt zwei Stunden Dauer, geht aber insofern einen Schritt weiter, als die Mikrotonalität stark verfeinert ist, was vor allem den Klang des Vokalensembles prägt. Das musikalische Geschehen erhält ausgeprägt glissierende Züge, wobei dieses Glissieren jedoch strukturell gemeint und vom Komponisten bis ins Einzelne gesteuert ist.

Mag sein, dass die blendende musikalische Anlage dem Dramatischen als dem Zentrum einer Oper im Weg steht. Der Schriftsteller Thomas Stangl hat den Roman von Sara Gallardo mit aller Sensibilität den Bedürfnissen eines musikalischen Dramas angepasst – dass die Handlung als solche eher im Hintergrund bleibt, daran hat er nichts ändern können. Natürlich, es gibt die Konfrontation zwischen dem eingeborenen Eisejuaz und dem sich aufdrängenden Kolonisator Paqui, es gibt die am Ende fatalen Annäherungsversuche der Frauen, es gibt den Zeigefinger des Missionars (Hugo Paulsson Stove), all das ändert wenig an dem rituellen Zug, den «Das grosse Feuer» ausprägt. Umso eindrucksvoller, was Tatjana Gürbaca, als Folge einer Erkrankung nur bedingt einsatzfähig, und Vivien Hohnholz (Inszenierung), Henrik Ahr (Bühnenbild) und Silke Willrett (Kostüme) an theatralem Effekt aus der anspruchsvollen Vorlage herausgeholt haben.

Die Bühne ist von einer dicken Mauer umschlossen. Im Inneren ragen verkohlte Stangen in die Höhe, Symbole für den niedergebrannten Regenwald wie für die durch die brutale Kolonisierung versehrten Seelen. Dabei lässt das szenische Team sehen, was die Oper von Beat Furrer und Thomas Stangl hörbar macht: dass eine Vielzahl an Menschen in die schwierigsten Lagen kommt, dass es in ihnen glüht, ja brodelt. Eine enorme Zahl an Mitwirkenden sind auf der Bühne versammelt, jeder Darstellerin, jedem Darsteller ist eine spezifische Funktion zugewiesen, worauf die Kostüme sinnreich aufmerksam machen. Dabei manifestieren sich durchaus auch kontrastierende Kräfte. Die Hauptfigur Eisejuaz beklagt den Verlust seiner seelischen Heimat im zerstörten Wald, das autoritäre Christentum der Weissen lehnt er als Möglichkeit einer neuen Heimat jedoch scharf ab, gibt sich ihm aber gleichwohl hin, wie es «der Herr» aus dem Abfluss einer Küchenspüle beim Reinigen von Gläsern von ihm verlangt hat. Findet «Das grosse Feuer» sein Ende, brummt einem der Kopf. So soll es sein, die Oper ist ja von Beat Furrer.

Eine schrecklich nette Familie

Spass mit Händels «Agrippina»
am Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Wer ist die Böseste im ganzen Land? Ist es Agrippina, die Gattin des für tot gehaltenen, doch alsbald wieder erscheinenden Kaisers Claudio – eine durchtriebene Person, die Nerone, ihren Sohn aus erster Ehe, auf den Thron zu bringen versucht und zu diesem Zweck alle gegen alle aufbringt? Oder ist es nicht doch nicht die junge, verführerische Poppea, die den Dingen, soweit sie ihren Interessen entsprechen, ihren Lauf lässt und am Ende gelassen triumphiert? Ob die eine oder die andere, darüber lässt sich trefflich sinnieren während der gut drei Stunden interessanter, aber nicht immer gleichermassen hinreissender Musik Georg Friedrich Händels und in einem Handlungsverlauf von (vermutlich) Vincenzo Kardinal Grimani, der die grauen Zellen kräftig in Anspruch nimmt. Dies im Opernhaus Zürich, welches das Stück des noch sehr jungen Komponisten jetzt in den Spielplan genommen hat.

Dass «Agrippina» zwar über dreihundert Jahre alt ist, aber eins zu eins von heute stammen könnte, machen die Videos von Kevin Graber deutlich. Sie zeigen nicht nur die Skyline von New York, sondern zoomen auch ins Innere der Türme, wo sich die oberste Schicht der Oberschicht in Robe und Smoking ihren Lustbarkeiten hingibt. Und ihren Kämpfen, wie eine im Programmbuch etwas auffällig abgedruckte Notiz zu den Verwerfungen in der Familie Murdoch andeutet. Claudio erscheint in Zürich nicht als der Kaiser Roms, sondern als Chef eines jener Familienclans, die dieser Tage nicht in allzu gutem Licht stehen. In grosser Aufmachung beginnt Agrippina ihr Netz zu spinnen, wie beiläufig beobachtet von Poppea, die als Krankenpflegerin mit Badge und Köfferchen – die Kostüme von Hannah Clark bringen es treffsicher auf den Punkt – das Geschehen beobachtet. Allein, bis hier ein gutes Tempo der Entwicklungen erreicht ist, vergeht bei Händel (und auch in der Zürcher Spielfassung) seine Zeit; der erste Teil des Abends ist nicht frei von Längen. Doch nach und nach verschieben sich die Gewichte, nimmt Poppea das Heft in die Hand und wird zur Gegenspielerin Agrippinas. Mehr noch: zur Siegerin. Und das ganz einfach, mit Hilfe einer…

Das ist im grossen Ganzen der Rahmen, innerhalb dessen sich die Inszenierung von Jetske Mijnssen entfaltet. Unspektakulär tut sie es, aber äusserst unterhaltsam, ja witzig. Das deutet schon die Bühne von Ben Baur an; sie zeigt schöne, praktikable Räume von gehobenster Gewöhnlichkeit, Salons mit Plüsch und Kronleuchtern, aber auch – und dort schnürt sich dann der Knoten – eine Küche aus dem Katalog. Äusserer Effekt ist Jetske Mijnssens Sache nicht, sie arbeitet mit den genuinen Mitteln des Theaters. Zielgerichtet und packend tut sie das; was die Regisseurin aus den Darstellerinnen und Darstellern herausholt, schafft auch hier wieder erstklassiges Vergnügen. Nero zum Beispiel, hier Nerone, der fils à maman, der angefeuert durch die Mutter auf den Chefposten lauert, er ist ein ausgesuchter Lümmel mit dem ewigen Kopfhörer um die Ohren, mit dem viel zu weit geöffnetem Hemdkragen, den viel zu breit gespreizten Beinen – ein Tier von einem Mann. Wenn er erscheint, geht freilich die Post ab.

Nun aber das Wunder des Abends. Auf der Bühne stehen drei Countertenöre – und drei Sänger ganz unterschiedlicher Couleur. Wer kann, mag an dieser Stelle an die fernen 1960er Jahre denken, da Alfred Deller und Paul Esswood als die einzigen Vertreter des seinerzeit noch belächelten vokalen Fachs in Erscheinung traten. Oder an die späten achtziger Jahre, da die Pariser Nationaloper für Händels «Giulio Cesare» nicht weniger als drei Countertenöre engagiert hatte, was damals für sensationelles Aufsehen sorgte. Heute versteht sich solches gleichsam von selbst. Begegnen wir in Christophe Dumaux einem Nerone von geradezu stählerner Kraft und einer schlechterdings atemberaubenden Agilität in den Koloraturen – da bleibt nur das reine Staunen. Ganz anders der Ottone von Jakub Józef Orliński; hier klingt ein samtweicher, geschmeidiger, farbenreicher und ganz aus der Artikulation heraus gestalteter Countertenor. Und schliesslich der unglücklich in die Dame des Hauses vernarrte Höfling Narciso, dem Alois Mühlbacher nicht nur mit herrlicher Aufgeregtheit, sondern auch mit einer schlanken, klar zeichnenden Stimme begegnet.

Als heimlicher Zwilling steht ihm Pallante zur Seite, ein in seiner Begierde ebenfalls kaum zu bremsender Höfling, dem José Coca Loza seinen sonoren Bass leiht. An Körpergrösse kommt er nicht gerade an Yannick Debus heran – muss er auch nicht, denn Lesbo ist der Türsteher vom Dienst, dessen entschiedenem Zugriff niemand entgeht. Personal casting vom Feinsten ist das – wie es auch in der Erscheinung des doch noch immer regierenden Oberhaupts Claudio sicht- und hörbar wird; mit seinem seidenen Timbre und seiner würdevollen Ausstrahlung lässt Nahuel Di Pierro nichts zu wünschen übrig. Und dann die beiden Primadonnen, Anna Bonitatibus als eine in jeder Hinsicht souverän ausdrucksvolle Agrippina und Lea Desandre als eine grazile, mit silberheller Stimme versehene, aber entschieden anordnende Poppea. Ein erneut ausgezeichnet zusammengestelltes Ensemble, das von La Scintilla, dem Barockorchester der Zürcher Oper, unter der Leitung von Harry Bicket mit aller Emphase getragen wird.

Haben oder nicht haben

«Manon Lescaut» von Puccini im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Eine todbringende Gesellschaft ist das, aber lustig anzusehen. Besondere Erheiterung schaffen die beiden Pferde, welche die Omnibus-Kutsche, eine Vorform des öffentlichen Verkehrs, auf die Bühne ziehen. Die Pferde – nun, es sind keine Pferde, sondern Theatertiere, gespielt von Statisten, die ihre Wartezeiten in eher gekrümmter Körperhaltung und mit gewiss nicht übermässig Sauerstoff durchstehen – und sich dabei in ihren liebevoll ausgestalteten Pferdekostümen die Beine vertreten, wie es ihre Vorbilder in natura auch tun. Wieder einmal gibt es in diesem Eröffnungsbild zu Giacomo Puccinis Oper «Manon Lescaut», die das Opernhaus Zürich jetzt ins Programm genommen hat, einen Moment zu erleben, wie es ihn in seiner Überraschungskraft nur live gibt. Am Werk waren dabei nicht nur Theaterpferde, sondern ein Theatertier im wörtlichen Sinn: Barrie Kosky.

Es ist wie immer bei diesem von sprühender szenischer Phantasie lebenden Künstler: Rein äusserlich mag das Bildhafte ausgreifend, vielleicht gar zu üppig erscheinen, zumal sich die Mitstreiter des Regisseurs, in dieser Produktion Rufus Didwiszus für das diskrete, im entscheidenden Moment aber schlagkräftige Bühnenbild und Klaus Bruns für die teils exquisiten, teils farbenprallen Kostüme, nicht zurückzuhalten hatten. Hinter der Unmittelbarkeit des Optischen wirkt aber jederzeit die ganz klar interpretierende Hand. Der von Ernst Raffelsberger tadellos vorbereitete Chor bildet die gesellschaftliche Folie, vor der sich das Drama von Manon Lescaut und ihrem Geliebten Des Grieux ereignet. Dabei geht es nicht so sehr, wie in der Grand-Opéra, um den Kontrast zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten als Zentrum der dramatischen Spannung, gezeigt wird vielmehr der scharfe Gegensatz zwischen dem Oben und dem Unten im Gesellschaftlichen.

Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Manon ist zwar verliebt in Des Grieux, giert aber auch nach jenem Reichtum, den ihr Geronte di Ravoir offeriert, der ältliche Grossbürger in seinem tadellos sitzenden Anzug und mit seiner furchteinflössenden Hornbrille auf der Nase – Shavleg Armasi nützt diese Kurzauftritte zu einem imponierenden Rollenporträt. Messerscharf herausgestellt wird die soziale Verlaufskurve von der Ankunft im Omnibus über das Austern-Frühstück vor der goldenen, überkitschig verzierten Luxus-Kutsche hin zu jenem klapprigen, nun nicht mehr von Pferden, sondern von schwacher Hand gezogenen Wagen mit den paar wenigen Habseligkeiten, mit dem sich Manon und Des Grieux durch die amerikanische Wüste schleppen. Haben oder nicht haben, das ist die Frage, die bei «Manon Lescaut» im Raum steht. Gestellt wurde sie von Giacomo Puccini im ausgehenden 19. Jahrhundert, der Zeit der wildgewordenen Geldbesessenheit. Und unterstrichen wird sie in Zürich von Barrie Kosky, der daran trotz der fürwahr erheiternden Oberfläche keinen Zweifel lässt.

Laut und deutlich wird sie gestellt, diese Frage. Herrlich laut. Der Dirigent Marco Armiliato, ein herausragender Spezialist des italienischen Repertoires, lässt die Philharmonia Zürich nach Massen aufrauschen. Kernig und körperhaft wirkt der Klang, ausserdem jederzeit vorzüglich ausbalanciert, zugleich aber auch so farbenreich, dass das Händchen für Effekte der Instrumentation, das der noch junge Puccini in seiner Partitur zu erkennen gibt, einen ins Staunen bringt. Davon in keinem Augenblick tangiert ist freilich das Verhältnis zwischen dem Instrumentalen und dem Vokalen; kunstvoll sind die Singstimmen in den Klang des Orchesters integriert: nicht als Teil eines symphonischen Gefüges, sondern mit jener selbstverständlichen Dominanz, die der italienischen Oper eigen ist.

Möglich wird das dank einer erneut erstklassigen Besetzung. In der Partie des unglücklichen Liebhabers Des Grieux geht Saimir Pirgu von Anfang an mit voller Kraft zu Werk, mühelos steigt er in die Höhe und verbreitet dort blendenden Glanz. In Elena Stikhina, der unvergesslichen Zürcher Salome von 2021, steht ihm als Manon Lescaut eine Partnerin zur Seite, die ihm was die Kraftreserven und die Schönheit des Timbres betrifft, in nichts nachsteht. Wie sie dann aber mit ganz und gar zurückgenommenem Ton, ohne jedes Vibrato, die entsetzliche Sterbeszene des vierten Aktes gestaltet, ist von zutiefst berührender Wirkung. Hocherfreulich auch die Wiederbegegnung mit Konstantin Shushakov, der als Manons Bruder Lescaut geschickt und grosszügig mit Bestechungsgeldern umgeht, das Unheil dann aber doch nicht verhindern kann.

So stirbt man. Nicht unter Palmen, sondern unter den Kakteen auf staubtrockenem Boden. Dass der Tod von allem Anfang mit dabei ist, davon spricht der geigende Rattenfänger, der zu Beginn die Menge verführt, davon zeugt aber auch der Kutscher, der auf seinem Hochsitz hinter dem Theaterpferd seinen grinsenden Schädel zur Schau stellt. Ein wenig pflegt Barrie Kosky auch die formale Seite seines Tuns.

Eine Gesellschaft im Endzustand

«Salome» von Richard Strauss
im Genfer Grand-Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Magali Dougados, Grand-Théâtre de Genève

Der Skandal bei der Dresdener Uraufführung von «Salome» am 9. Dezember 1905 war perfekt: Richard Strauss stand in hellstem Scheinwerferlicht, sein knapp zwei Stunden währender Einakter wurde rasch nachgespielt, die Tantièmen flossen reichlich. Oscar Wilde hatte das auf Französisch geschriebene Stück 1893 vollendet und es in Paris herausgebracht. Kurze Zeit später sah er sich in London einer homosexuellen Affäre wegen zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt; frisch entlassen verliess er 1897 England, drei Jahre später starb er völlig verarmt in Paris. 1901 brachte Max Reinhardt in Berlin «Salome» in der deutschen Übersetzung von Hedwig Lachmann mit denkbar grossem Erfolg auf die Bühne. Richard Strauss sass in einer der Vorstellungen und sah in «Salome» sein Stück; unverzüglich machte er sich an die Komposition. In der Londoner Covent Garden Opera freilich konnte «Salome» erst 1910 und auch dann nur mit argen, von der Zensur verlangten Kürzungen gezeigt werden.

Das waren noch Zeiten – nein: das sind Zeiten. «Salome» kann auch heute noch für Widerstand im Publikum gut sein. Kornél Mundruczó, in dem von Aviel Cahn geleiteten Genfer Haus ein gern gesehener Gast, hat den Einakter von Wilde und Strauss in einer Weise zugespitzt, dass der Stoff wieder die Haut zu ritzen vermag. Für ein Filmprojekt sei er, so berichtet es der ungarische Filmemacher im Programmbuch zur Produktion, einen Monat lang in einem New Yorker Luxushotel neben dem Central Park, dem «Standard», einquartiert gewesen. Dort habe er das Leben der Schönen und Reichen, nein: der Ultrareichen beobachten können – ein Leben, in dem scheinbar alles möglich ist, weil der Preis keine Rolle spielt. Das sei ihm als ein heutiges Abbild der Welt Salomes erschienen – der kleinen, psychisch etwas seltsam gestrickten Prinzessin, die, sollte sie einen Wunsch haben, nur mit den Fingern zu schnippen braucht.

So bringt Monika Korpa in ihrer grossartigen Ausstattung die zentrale Bar des «Standard», den «Boom Boom Room», in aller Genauigkeit der Ausformung auf die Bühne. Und selbstverständlich darf da einer nicht fehlen – einer, der glaubt, wer Geld habe, dürfe jeder Frau zwischen die Beine greifen. Schon bald tritt er auf in seinem blauen Anzug mit der überlangen Krawatte und der üppigen Frisur, doch Donald Trump, als der Herodes in Genf erscheint, ist hypernervös, denn durch die überhohen Fensterscheiben zu beiden Seiten dringt der Lärm eines draussen drängenden Mobs. Was John Daszak an diesem Abend bietet, ist als Leistung eines Sängerdarstellers schlechterdings umwerfend. Beständig eilt er vom einen zum anderen, streckt seinen Zeigefinger aus, wie es der Präsident zu tun beliebt, gestikuliert überhaupt unmissverständlich – und dazu singt er mit hellem Tenor und deklamiert er in trefflichem Deutsch so blendend, dass die Karikatur zu prallem Leben findet. Tanja Ariane Baumgartner, aufgemacht wie Trumps erste Frau Ivana, fällt demgegenüber ab; ihr schöner, warmer Mezzosopran bietet vielleicht doch nicht das geeignete Timbre für die Partie der Herodias, die ja eigentlich als eine zynische, zänkische, machtbewusste Person gezeichnet ist.

Und dann: Olesya Golovneva als Salome. Beiläufig betritt die zierliche Sängerin aus Russland die Bar, und sogleich bildet sich um sie ein Energiekreis, der alles dominiert. Nur einer leistet Widerstand. Es ist der Prophet Jochanaan, der in einer im Bühnenhintergrund liegenden Telefonzelle gefangen gehalten wird. Salome dringt auf eine persönliche Begegnung mit dem Propheten, die Wachen verweigern sie ihr, der heimlich in die Prinzessin verliebte Offizier Narraboth (Matthew Newlin) gibt dann aber grünes Licht. In aller Intensität singt und spielt die Salome von Olesya Golovneva gegen den Gottesmann an, doch der bleibt vollkommen ungerührt – Gábor Bretz versieht seine Verwünschungen erst gegen Herodias, dann gegen Salome in mächtiges, doch stets gepflegtes Volumen. Die nicht ganz folgenlose Begegnung gelingt eindrucksvoll, könnte aber noch zu stärkerer Wirkung finden, wenn das Orchester die Differenz zwischen den Sirenengesängen und den Hasstiraden Salomes entschiedener mittrüge. Unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste ergeht sich das Orchestre de la Suisse Romande in musikalischer hochstehender Begleitung; was aber fehlt, ist eine über Gelassenheit und Diskretion hinausgehende Schärfung des Instrumentalen – dies bei einer Partitur, die nicht wenig expressionistischen Pfeffer in sich trägt.

Schliesslich das als Theatermoment immer wieder überwältigende Finale. Die sieben Schleier sind sieben Doubles von Salome, die sich an der Bar ergehen, da gibt es nichts zu entschleiernd. Tatsächlich ist bei Salomes Performance vor dem notgeilen Herodes kein einziges Stückchen nackter Haut zu sehen, dafür die atemberaubende körperliche Agilität einer Sängerin, die man für eine Tänzerin halten möchte (die Choreografie stammt von Csaba Molnár). An einem gewissen Moment zeichnet sich Salome die Konturen ihrer Brüste und ihrer Scham mit Filzstift auf ein T-Shirt unter dem Kostüm – und dann geschieht es: greift Trump/Herodes hart nach der jungen Frau, schleppt sie in die ehedem von Jochanaan bewohnte Telefonzelle und entjungfert sie dort. Wie Herodes mit offener Hose herauskommt und ihm Salome mit blutverschmierten Schenkeln folgt, schallt ein entrüsteter Buhruf durchs Auditorium. Repräsentativ ist er nicht, aber er erinnert daran, dass «Salome» auch heute noch für einen Skandal sorgen kann.

Vor allem dann, wenn das Stück so explizit gezeigt wird, wie es in Genf geschieht. Wenn Salome von Herodes den Kopf des Jochanaan verlangt, kniet der Prophet bereits am Bühnenrand, den Kopf auf ein Teetischchen gebettet. Dort wird er von Salome kahlrasiert – schrecklich ist das und spannend zugleich, denn im Raum steht natürlich die Frage, wie dieser rasierte Kopf vom Leib getrennt wird. Es bleibt zum Glück offen. Jochanaan erhebt sich und zieht sich ins Dunkel des Bühnenhintergrunds zurück (exquisit die Beleuchtung von Felice Ross), aus dem alsbald der abgetrennte Kopf des Propheten in bühnenraumfüllender Grösse erscheint; er erinnert an die darniederliegenden Statuen gestürzter Herrscher in befreiten Diktaturen. Aus den Öffnungen des Kopfs schlingen sich Salome und ihre sieben Gefährtinnen. Das letzte Wort behält jedoch Herodes; er ruft seinen Befehl, die vollends zerstörte Stieftochter zu töten, aus der Ohrmuschel des Propheten Jochanaan – ein Sinnbild für den Zustand einer Gesellschaft am Ende.

In der piccola Scala

Zürich zeigt Verdis «Ballo in maschera»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

In Zürich, so befand seinerzeit ein in der Limmatstadt umtriebiger Intendant, stehe die am nördlichsten gelegene Oper südlicher Ausrichtung. Ganz falsch war die als Selbstrechtfertigung gedachte Feststellung nicht – in gewisser Weise gilt sie auch heute. Nicht ohne Stolz verweist Andreas Homoki auf den Umstand, dass in den zwölf Jahren seiner Intendanz sechzehn Opern von Giuseppe Verdi auf die Bühne gekommen seien. Tatsächlich? Vielleicht fiel es darum nicht auf, weil die Spielpläne am Hause Homokis immer von ausgesuchter Vielfalt waren und weil sich die szenischen Handschriften doch deutlich voneinander abhoben. Jetzt finden wir uns wieder in einem Moment, da die Vielseitigkeit im Angebot des Zürcher Hauses zu fruchtbaren ästhetischen Weiterungen führt.

Auf die alles andere als unumstritten Produktion von Alfred Schnittkes «Leben mit einem Idioten» in der zugespitzt subjektiven szenischen Lesart von Kirill Serebrennikov (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.11.24) folgte mit «Il ballo in maschera» von Giuseppe Verdi keineswegs harmlose Kost, insgesamt aber doch ein Genuss, dem selbst eingefleischte Verdi-Verächter erliegen dürften. Das geht zuallererst auf die Philharmonia Zürich und den von Janko Kastelic vorbereiteten Chor der Oper Zürich zurück; sie tragen beide gleichermassen eine kraftvoll muskulöse Partitur und stellen die Stärken von Verdis Musik in helles Licht. Angefeuert werden sie wie die Solisten auf der Bühne vom Zürcher Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda, der in diesem Repertoire fürwahr zuhause ist und darum aus dem Vollen schöpft. Knackig das Forte, sorgsam ausgearbeitet die Reize der Instrumentation wie die kontrapunktischen Momente – und vor allem: höchst präzis das Rhythmische, zumal die zahlreichen Punktierten, in denen der Abend seine zentrale Energiequelle findet.

Das gilt auch für die auf der Bühne vorgeführte Gesangskunst. Nichts ist da verschliffen, die Töne sitzen exakt auf dem Punkt, der ihnen von Verdi zugedacht war. Und sie verbinden sich mit den denkbar schönsten Timbres und einem Zusammenspiel der Stimmfarben, das Spannung erzeugt und sie bis zum spektakulären, fatalen Schuss am Ende der Oper aufrechterhält. In der Titelpartie des Grafen Riccardo präsentiert sich Charles Castronovo als ein genuiner italienischer Tenor mit Glanz und Schmelz, dazu mit ausgebauter Fähigkeit zu nuancierter Gestaltung. Ihm zur Seite und später, wenn er sich vom treuen zum getäuschten Freund gewandelt hat, als Feind gegenüber steht George Petean als ein mit schwarzem Bariton versehener Renato, der den Umschlag von Vertrauen in Wut packend darstellt. Mit Erika Grimaldi wird Renatos Gattin Amelia durch eine Sängerin mit heller Tongebung verkörpert, während die Wahrsagerin Ulrica bei Agnieszka Rehlis und ihrem herrlich tiefen Alt bestens aufgehoben ist. Für die raschen Umbrüche im Atmosphärischen sorgt souverän Katharina Konradi mit ihrer hohen Beweglichkeit.

Ihre Verwirklichung auf der Bühne finden all diese Auftritte in einer Inszenierung, die nichts anderes möchte, als die Geschichte zu erzählen. Das leuchtet umso mehr ein, als die Spannung, die Verdis Stück innewohnt, im Ansatz der Regisseurin Adele Thomas uneingeschränkt zur Geltung kommt; man spürt auf der Haut, wie sich im zweiten Akt der Knoten schürzt, man atmet mit der Verdichtung im dritten Akt und erschrickt dann angesichts des zwar angekündigten, aber doch überraschend und krass vollzogenen Mords auf der Bühne. Dass sich dieses Attentat inmitten festlichen Gepränges ereignet, gehört zu den Besonderheiten von «Un ballo in maschera». Unverbunden stehen in diesem Werk die Stimmungen nebeneinander, unvermittelt kippen sie – es zu zeigen ermöglicht die Drehbühne der Ausstatterin Hannah Clark. Dass der Schauplatz der Oper der Zensur wegen von Schweden, wo ein König mitten in einem Maskenball ermordet wurde, nach Amerika verlegt werden musste, deutet die Inszenierung subtil an, naheliegendem Gegenwartsbezug geht sie jedoch aus dem Weg. Wichtiger erscheint die Personenführung – und tatsächlich agieren die Darstellerinnen und Darsteller in einer Dringlichkeit, die das Stück aus der durch die Kostüme angedeutete Vergangenheit ins Hier und Jetzt versetzt. Braucht es mehr?

Une soirée parisienne

«Fortunio» von André Messager
in der Opéra de Lausanne

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Carole Parodi / Opéra de Lausanne

Man kennt ihn aus dem Lexikon, nicht aus gelebter Erfahrung. Dabei war André Messager (1853 bis 1929) Lichtgestalt wie Zentralfigur im Musikleben der Belle Epoque, jener Ära zwischen dem für Frankreich schmählichen Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 und dem Ausbruch der Ersten Weltkriegs 1914. Ausbildet an der Ecole Niedermeyer in Paris und von da her in gutem Einvernehmen mit Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré, trat er von der kleinen Orgel in der Pariser Madeleine aus den Gang durch die Institutionen an; er führte ihn als Musikdirektor an die Opéra-Comique, als künstlerischer Leiter zur Covent Garden Opera London und schliesslich als Direktor an die Pariser Opéra. Am Ende sah er sich geehrt als Commandeur in der Légion d’Honneur. Das Dirigieren nahm einen wichtigen Platz ein; dass er bei der Uraufführung von Claude Debussys «Pelléas et Mélisande» am Pult der Opéra-Comique stand, hat ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert. Auch komponiert hat er, und nicht wenig, doch das ist heute so gut wie vergessen.

Leider – das darf sagen, wer in der Opéra de Lausanne «Fortunio» gesehen und gehört hat, eine comédie-lyrique André Messagers, die auf einer Komödie von Alfred de Musset basiert. Als Messager als Dirigent der Uraufführung seines Werks 1907 ans Pult trat, soll ihn das Orchester der Opéra-Comique mit Ovationen begrüsst haben – so ist es der Rezension zu entnehmen, die Gabriel Fauré für «Le Figaro» verfasst hat. Tatsächlich hat es die Partitur in sich; sie klingt ausgeprägt französisch, ohne jeden Anklang an den Wagnerismus von César Franck, an die schwere Süsse von Jules Massenet oder den Klassizismus von Saint-Saëns – ganz eigen eben, aber durchaus eingebettet in die musikalische Umgebung ihrer Zeit. Leichtfüssig, aber nie seicht erzählt sie die Geschichte der jungen, schönen, biestigen Jacqueline, die mit dem in die Jahre gekommenen Notar Maître André verheiratet ist, daneben aber gerne auf Nebengeleisen fährt, etwa mit dem smarten Hauptmann Clavaroche oder dem Unschuldslamm Fortunio, das es freilich faustdick hinter den Ohren hat.

Nach der Uraufführung wurde «Fortunio» bis 1953 gegen achtzig Mal gespielt, in Frankreich hielt sich das Stück bis ins frühe 21. Jahrhundert auf den Bühnen, im deutschsprachigen Kulturbereich dagegen scheint es bloss verächtliches Schulterzucken erzeugt zu haben. Claude Cortese, der neue Direktor der Opéra de Lausanne, sieht gerade darin seine Chance. Er will in seinem Haus vornehmlich Stücke zeigen, die in Lausanne bisher nicht zu sehen waren. Und er will, so jedenfalls der implizite Tenor, die gar nicht so kleine Oper von Lausanne mit ihren drei Rängen und ihrem modernen Anbau als Stätte der Produktion zu einem Hafen für die französische Oper in der mehrsprachigen Schweiz etablieren. Das ist im besten Fall eine klare Ansage und schafft ein interessantes Gegengewicht zu dem ungleich grösseren, mächtig ausstrahlenden Grand Théâtre de Genève, das mit seinem Intendanten Aviel Cahn entschieden den Anschluss an das internationale Opernbusiness gesucht und gefunden hat.

In Lausanne hat sich Claude Cortese, ein mit allen Wassern gewaschener Theaterpraktiker, daran erinnert, dass es 2009 an der Pariser Opéra-Comique zu einer Produktion von André Messagers «Fortunio» gekommen ist, die gute Resonanz erzeugt und sogar auf das Medium der DVD gefunden hat. Die Produktion, nicht selbstverständlich, war noch zu haben – und so hat sie Cortese eingekauft: eine ausgezeichnete Tat. Die Inszenierung von Denis Podalydès, einem Sociétaire der Comédie-Française, hält sich denkbar weit entfernt von Ideen des Regietheaters, sie zeigt das Stück als Stück, was allerdings nicht eben wenig ist. Sie tut es mit schauspielerischer Energie und Spielwitz, schlägt den Zuschauer wie die Zuschauerin in Bann und schafft echtes Theatervergnügen. Das Bühnenbild von Eric Ruf spielt geschickt mit den Situationen und den mit ihnen verbundenen Klischees, die Kostüme von Christian Lacroix verorten das Stück amüsant lavierend zwischen der Entstehungszeit des Textes von Musset und jener der Musik. Und die Akteure auf der Bühne geraten in Fahrt, dass es eine Freude ist.

Wesentlich getragen wird das Vergnügen durch die Tatsache, dass in Lausanne ein Ensemble versammelt ist, dessen Mitglieder allesamt französischer Muttersprache zu sein scheinen. Das ist darum von Belang, weil sich die Musik André Messagers elegant dem Sprachduktus des Französischen anschmiegt. Gepflegte Diktion herrscht hier, eine geradezu lustvolle Sorgfalt etwa in der Färbung der Vokale und im Umgang mit Hebung und Senkung. So ist der bisweilen von Ironie geprägte Text über weite Strecken gut verständlich, auch bei den Stimmen in hoher Lage. Nicht zuletzt ist das dem Orchester Sinfonietta de Genève zu verdanken, das unter der Leitung von Marc Leroy-Calatayud einen schlanken, allerdings etwas unpersönlichen, die Farbigkeit der Musik unterspielenden Ton hören lässt.

Umso prachtvoller kommt dank Sandrine Buendia die Sinnlichkeit der im Zentrum der männlichen Begehrlichkeiten stehenden Jacqueline zur Geltung, wogegen der in der Partie des Fortunio sehr authentische Pierre Derhet als zuletzt lachender Vierter im Bunde bisweilen etwas viel Druck aufsetzt. Umwerfend Marc Barrard als der alte Notar und mehrfach gehörnte Ehemann, ein Schüler des grossen Gabriel Bacquier und sein würdiger Nachfahre. Während Christophe Gay als der mehr als wendige Hauptmann Clavaroche nicht nur durch einen höhensicheren Tenor, sondern auch durch akrobatische Beweglichkeit in Erinnerung bleibt. Während in Zürich und München die Pimmel hüpfen, blickt Lausanne auf die Sache, auf die Kunst. Zum Glück.

Das Hohelied der Freiheit

«Leben mit einem Idioten» von Alfred Schnittke
im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Nicht Kirill Serebrennikov, sondern Matthew Newlin als Idiot / Bild Frol Podlesnyi, Opernhaus Zürich

Skandal! In grossen Lettern stand das Wort im Raum, seit eine Zürcher Sonntagszeitung ans Licht gebracht hatte, dass am Opernhaus Zürich vor der Premiere von Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten» massiv in Libretto und Partitur des Stücks eingegriffen worden sei. Der Schuldige war rasch ausgemacht, es war der Regisseur Kirill Serebrennikov, der dafür bekannt ist, die von ihm inszenierten Stücke seinen interpretatorischen Intentionen einigermassen rücksichtlos anzupassen. Unterstrichen hat Serebrennikov seine Haltung als Interpret durch einen im Programmbuch abgedruckten Satz, der vielsagender nicht sein könnte. Häufig, so meinte er, empfinde er die Musik in der Oper als einengend, sie setze Grenzen, und er als Regisseur müsse das musikalische Narrativ bedienen – was hier, bei «Leben mit einem Idioten», glücklicherweise eben nicht der Fall sei. In der Folge gingen die Wogen hoch; die Vorstellung verlief dann trotz der durch die ausgelösten Provokationen störungsfrei und wurde bejubelt.

Was war geschehen? 1992, als «Leben mit einem Idioten» durch die damals von Pierre Audi zu neuen Horizonten geführte Niederländische Oper Amsterdam zur Uraufführung gebracht wurde, lag die UdSSR in Trümmern, eine erste frische Brise war hinter den Eisernen Vorhang eingedrungen. In diesem Licht steht «Leben mit einem Idioten», eine Erzählung von Viktor Jerofejew, die unpubliziert bleiben musste und die der Autor für Alfred Schnittke zum Operntext umgeformt hat. Das Sujet war scharf gewürzt, die Amsterdamer Uraufführung geriet zu einem Fest – zu einem Fest der befreiten russischen Kunst. Neben Schnittke und Jerofejew war Mstislaw Rostropowitsch mit von der Partie; er dirigierte, zeigte seine Künste als Tango-Spieler am Klavier und brachte mit seinen Kantilenen auf dem Cello Süssstoff ein. Für die schonungslose Inszenierung hatte der legendäre Boris Pokrowski von der Moskauer Kammeroper gesorgt, für die Ausstattung der berühmte Konzeptkünstler Ilja Kabakov. Und wer mit dem Idioten gemeint war, liess die Lenin-Maske des Wowa, Wladimir, genannten Ungeistes leicht erraten. Dem zusammengebrochenen System der Menschenverachtung wurde hier, auch dank der nicht nur polystilistischen, sondern auch anspielungsreichen Musik Schnittkes, ein Abgesang der denkbar grotesken Zuspitzung gesungen.

Von all dem wollte Kirill Serebrennikov nichts mehr wissen. Wer sich heute noch mit Lenin befassen wolle, fragte er rhetorisch? Und Jerofejew doppelte nach mit der Bemerkung, als Opernfigur sei Putin absolut uninteressant. So wurde denn Hand angelegt und eliminiert, was an den implodierten sowjetischen Alltag von damals erinnert. Wowa, das personifizierte Böse, das genuin Zerstörerische, das in eine Ehe eindringt und dort alles kapital durcheinanderbringt, wurde zu «Schätzchen» umbenannt, der Text da und dort neu gefasst. Nicht das Besondere der Lebenssituation von 1992 sollte aufscheinen, sondern das allgemeine Menschliche; der Idiot in jedem von uns sollte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelangen. Als deutender Ansatz lässt sich das nachvollziehen, zumal vor dem Hintergrund dessen, was Serebrennikov im Reiche Putins widerfahren ist. Zugleich gab die Aufführung im Opernhaus Zürich zu erkennen, in welchem Mass der Oper Schnittkes und Jerofejews dadurch die Zähne gezogen werden. Aus der bitterbösen Satire wurde ein dadaistisches Spektakel. Und aus Schnittkes so eigener, eigenartiger Musik eine etwas gewöhnliche moderne Oper.

Gewöhnlich? Nein, vielleicht doch nicht. Insofern nicht, als «Leben mit einem Idioten» in Zürich nicht als Oper erscheint, sondern als Interpretation. Gewiss, die Aufführung einer Oper ohne Interpretation ist unmöglich; als Möglichkeit gezeigt wird hier dagegen die Aufführung einer Interpretation ohne Oper. Uninteressant ist das nicht, wird das Stück doch aus seiner ursprünglichen Befindlichkeit klar in die Jetztzeit verlagert – und auf eine ganz private Ebene, jenes des Regisseurs. Kirill Serebrennikov ist ein Berserker, der die ihm vorliegenden Stoffe gnadenlos in die Hand nimmt. In Zürich ist der Idiot der Regisseur selbst, Matthew Newlin, der seine ungeheuer anspruchsvolle Partie über der Silbe «Äch» mit fulminanter Geschmeidigkeit singt, erscheint im Outfit Serebrennikovs, mithin als Alter Ego des Bühnenkünstlers. Ihm zur Seite steht in einer stummen Rolle und einer hinreissenden Performance der splitternackte Campbell Caspary, der an einem Höhepunkt des Abends in einem Strahlenkranz erscheint. Um Sexualität als Zentrum des Lebens geht es hier, das ungeschminkt denken und offen zeigen zu können, scheint für Serebrennikov, der inzwischen in Berlin lebt, der Inbegriff seiner persönlichen neuen Freiheit darzustellen.

Ort des Geschehens ist ein kahler, weisser Raum, im Hintergrund durch ein ansteigendes Podest begrenzt, von dem aus der ebenfalls ganz in Weiss gekleidete Chor des Opernhauses Zürich, von Janko Kastelic, Johannes Knecht und Ernst Raffelsberger einstudiert, die Vorgänge auf der Spielfläche wie im antiken Drama kommentiert, ja vorantreibt. Viel zu schauen gibt es auf dieser Spielfläche – so viel, dass das Wirken der Philharmonia Zürich im Graben merklich in den Hintergrund gerät. Untadlig agiert wird unter der Leitung des im Bereich der neuen Musik hocherfahrenen Dirigenten Jonathan Stockhammer, doch der klangliche Biss, der als Gegenpol zur szenischen Bildermacht vonnöten wäre, will sich nicht einstellen. Gesungen und, vor allem, gespielt wird jedoch meisterhaft. Dass für die Partie des Ich kein Geringerer als Bo Skovhus gewonnen werden konnte, erweist sich als Glücksfall; der Sänger, der ebenso sehr als Schauspieler geliebt wird, zieht hier alle Register seines Könnens. Ihrem Bühnengatten in keiner Weise nachstehend Susanne Elmark in der Partie der Frau: hochdramatisch ausgestaltet und in jedem Moment packend verkörpert. Mehr als solide bewältigt werden auch die kleineren Aufgaben des Wärters (Magnus Piontek) und des von der Frau innigst verehrten Dichters Marcel Proust (Birger Radde).

Ist am Ende doch etwas viel verpackt in den Abend? Bleibt ausreichend Raum, im Verfolgen der Produktion der Frage nachzugehen, ob sich das Kopf ab mit der Gartenschere nicht schon vor dem ersten Ton ereignet habe, ob das Bühnengeschehen nicht als rückblickende Horrovision des Ich zu lesen wäre? Wie dem auch sei, wer sich über die Dominanz des szenischen Narrativs beschweren möchte, sieht sich am Ende eines Besseren belehrt. Da erklingt nämlich der ergreifende Chor «Herbst» aus Alfred Schnittkes Musik zum Film «Agonie» von Elem Klimov, die, 1982 vollendet, von den russischen Behörden zerstört wurde, später aber rekonstruiert werden konnte. Womit sich der Kreis in eigener Weise geschlossen hätte.

Wenn der Berg mehr als grollt

«Derborance» von Daniel Andres
als Uraufführung in Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Samy Camps als Antoine in Biel / Bild Joel Schweizer, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Antoine ist düster; ahnt der junge Mann etwas? Er ist mit seinem Schwiegeronkel, der sich bei seiner Schwester wortgewaltig für die Erlaubnis zur Ehe mit deren Tochter Thérèse ausgesprochen hatte, mit den Tieren vom heimatlichen Dorf auf die Alp Derborence gestiegen. Bald legen sich der Alte und der Junge auf ihren Strohsäcken in der einfachen Alphütte schlafen – da geschieht es, donnert ein Felssturz auf die Alp herab und begräbt alles Lebendige unter Steinmassen. Ein Einziger überlebt: Es ist Antoine, der sich mit Geschick und Hartnäckigkeit aus seinem Felsenverliess befreit und, wie weiland Siegfried geleitet von einem Vögelchen, ins Dorf hinuntereilt. Dort wird er nicht eben freundlich empfangen; die Dorfgemeinschaft hält ihn für einen Wiedergänger. Thérèse aber, in Erwartung, erkennt ihren Mann und folgt ihm in ein neues Leben, wo immer sich das abspiele.

Erzählt wird das in dem sehr persönlichen, spannenden Roman des viel zu wenig geschätzten Schriftstellers Charles Ferdinand Ramuz aus der französischen Schweiz. Kein Wunder, hat er Daniel Andres in den Bann geschlagen. 1937 in Biel geboren und dort verwurzelt, ist Andres Komponist, aber überdies ein auf denkbar unterschiedlichen Ebenen aktiver Künstler. Neben dem Komponieren hat er dirigiert, hat er die Orgel geschlagen, das regelmässig und mit einem eindrücklichen Repertoire, hat er eine Buchhandlung geführt und selber geschrieben, als Journalist wie als Buchautor. So erstaunt nicht, dass sich Daniel Andres durch die Sprache des Romans angesprochen fühlte – durch ihre herbe Kargheit wie ihre pulsierende Empathie. Seinen Ausgang nimmt der 1934 erschienene Roman ja bei zwei schweren Bergstürzen von 1714 und 1749 an einem der schönsten Orte im Wallis, an den Flanken von Les Diablerets. Das ist zwar Jahrhunderte her, aber Bergsturz ist Bergsturz, man denke nur an den kürzlich erfolgten Abbruch von Felsen beim glarnerischen Martinsloch.

Geschickt hat der Komponist als sein eigener Librettist den Roman zum Opernstoff umgewandelt. Manches musste in diesem Prozess herausfallen, etwa die bedrohliche Stille nach dem Getöse, die von Ramuz grossartig eingefangen ist. Was durch die Transformation an Genauigkeit in der Beschreibung der Gefühlslagen der durch den Bergsturz traumatisierten Menschen verlorengeht, wird kompensiert durch die fürwahr eigenwillige Partitur aus dem Jahre 2021. Die Folgen der Naturkatastrophe spiegeln sich in der äusserst zurückgenommenen Ausstattung des musikalischen Materials; über weite Strecken sind es ein- oder zweistimmige Lineaturen, die den im originalen Französisch gehaltenen Text begleiten. Eine eigene Art Freiheit manifestiert sich da – überhaupt gibt sich die Musik von Daniel Andres frei, sie klingt tonal, geht aber weit über die Grenzen des Tonalen hinaus. Und sie erzählt «Derborence» in ihrer Weise: Kommt Bedrohliches, Schmerzhaftes ins Spiel, erklingen dissonante Ballungen, wenn Antoine in seinem Felsenverliess die Wassertropfen entdeckt, die ihm das Überleben sichern, lässt sich das Schlagzeug vernehmen. Alles ist da in eng gestecktem Rahmen gehalten, es findet aber gerade darum seine Wirkung.

In hohem Mass geht das auch auf die Uraufführungsproduktion im Stadttheater Biel zurück. Der Hausherr Dieter Kaegi hat die Inszenierung selbst übernommen, und er hat den Chefdirigenten Yannis Pouspourikas ins Boot geholt. Würdig dieses Engagement – so würdig wie das Verhalten Kaegis als Patron, der den etwas scheuen alten Komponisten zum Geniessen des Beifalls an die Rampe führte. Pouspourikas hielt den von Valentin Vassilev betreuten Chor des Theaters und das Sinfonieorchester Biel-Solothurn sorgsam bei der Stange und erzeugte eine Spannung ohne Unterbruch. Und zusammen mit dem Ausstatter Francis O’Connor und dem Lichtgestalter Mario Bösemann gelang Dieter Kaegi eine szenische Auslegung, die mit wenigen, klaren Zeichen die für die Geschichte treffenden Konturen schuf. Wenn die Dorfgemeinschaft auf dem Höhepunkt der Erregung nach dem Curé ruft, erscheint der Priester in voller Montur, um dem vermeintlichen Wiedergänger ein Gebetsbuch entgegenzuhalten und ihn nach seinen christlichen Wurzeln zu befragen – Konstantin Nazlamov tut das mit aller stimmlichen Eindringlichkeit. Wenig später meldet sich der einflussreiche Bauer Nendaz zu Wort: mit seinem prachtvollen Bariton lässt Flurin Caduff keinen Zweifel an der Prominenz dieses Mitbürgers. Eindrücklich auch Samy Camps in der Partie des Antoine, der einen tiefgreifenden Wandel zurück in die Dorfgemeinschaft und von ihr wieder weg durchmacht. Gefolgt von Julia Deit-Ferrand als seine Gattin Thérèse, die als Einzige an die Wiederkehr ihres Antoine glaubt – in jeder Faser berührend bringt das die junge Mezzosopranistin aus Lausanne zur Geltung.

Eine Stunde dauert «Derborence», eine aufwühlende Stunde. Nach «Eiger» (vgl. Mittwochs um zwölf vom 26.01.22) bietet das Theater-Orchester Biel-Solothurn hier eine weitere Hommage an Schweizer Alpen. Eine, wie sie in keinem Opernhaus sonst zu erleben ist.

Vorstellungen in Solothurn ab 31. Oktober, in Biel noch ab 13. November 2024.

Was ewig währt

Wagners «Götterdämmerung» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Walhall brennt, Wotan ist der Brandstifter / Bild Ingo Hoehn, Theater Basel

Manches lief und läuft eigenartig bei jener «Götterdämmerung», mit der die Basler Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» schliesst. Befremdlich schon die Ansetzung einer Vorstellung, der zweiten nach der Premiere, unter der Woche und mitten in den Ferien. Man mag Wagner lieben, aber die Möglichkeit, an einem Donnerstag um fünf im Theater zu sein, hat nicht jeder. Und dass die Herbstferien der Schulen die Auslastung drücken, ist bekannt. Das Basler Stadttheater war jedenfalls, so der Eindruck, knapp zur Hälfte besetzt, die Balkone wurden geschlossen, die Besucher von dort ins Parkett gebeten – ein trauriger Anblick. Dort, im Parkett, wurde freilich so enthusiastisch applaudiert, dass man sich in einem ausverkauften Haus wähnte.

Besonders seltsam nimmt sich der Eingriff in die Partitur aus, für den sich der Regisseur Benedikt von Peter entschieden hat. Nach dem Schluss des ersten Aufzugs gibt es eine kurze Pause, worauf das Vorspiel zum zweiten Aufzug einsetzt und ihm die erste Szene mit der Begegnung zwischen Alberich (Andrew Murphy) und seinem Sohn Hagen folgt. Bekanntlich verweigert sich der Junge dem Alten; Ruhe soll er geben, ruft Hagen dem Vater zu, der wiederum fordert vom Sohn unbedingte Gefolgschaft, dann versinkt die Musik ins Leise. In Basel wird die Stille dieses Moments durch das Kreischen einer Kettensäge zerstört, mit deren Hilfe sich zwei Arbeiter an den Bäumen im Einheitsbühnenbild Natascha von Steigers zu schaffen machen. Zugleich geht das Licht im Auditorium an, denn es folgt die erste, die grosse Pause.

Das ist Unsinn. Dass an dieser Stelle etwas Neues beginnt, nämlich die dramatische, um nicht zu sagen: opernhaft erzählte Geschichte von Siegfrieds Besuch bei den Gibichungen und dessen Folgen, liegt auf der Hand. Nur ist dieses neue Geschehen nahtlos verknüpft mit dem alten, gemäss dem Prinzip der Unendlichkeit, das sich Wagner auf die Fahne geschrieben hat. Die Nahtlosigkeit wird hier gebrochen von einem Regisseur, der nicht in der Lage oder nicht willens ist, der Musik zuzuhören. Einer ganz wesentlich vom Orchester getragenen Musik, die vom Sinfonieorchester Basel und dem genuinen Wagner-Dirigenten Jonathan Nott in denkbar packender Weise aus dem Keller unter der Bühne an die Oberfläche getragen wird (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.10.24). Von der Partitur aus gesehen geht der Eingriff in die Abfolge der Szenen vollkommen daneben; er steht für eine Vorstellung von Regietheater, die in ihrer Dominanz der szenischen gegenüber der musikalischen Interpretation als überholt gelten darf.

Dramaturgisch lässt er sich allerdings sehr wohl rechtfertigen. Denn mit der Fortsetzung im zweiten Aufzug gerät «Der Ring des Nibelungen» auf eine neue Ebene. Die Welt der Götter hat sich so gut wie ganz verabschiedet; allein Waltraute (die stimmgewaltige Jasmin Etezadzadeh), die ihre zur Menschenfrau gewordene Schwester Brünnhilde besucht und an ihr abprallt, lässt die im Untergang befindliche Gesellschaft der Lichtalben noch einmal präsent werden. Beherrscht wird die Szenerie inzwischen jedoch durch die Gibichungen, eine ziemlich gewöhnliche Familie, in welcher der tatendurstige Siegfried grausam in die Falle tappt. Und hier darf nun vom hohen vokalen Niveau der Basler «Ring»-Produktion die Rede sein. Von Heather Engebretson beispielsweise, die mit ihrer stimmlichen Wandelbarkeit und ihrer szenischen Präsenz die Partie der Gutrune entschieden aus der Ecke der Nebenrollen herausholt. Oder von Günter Papendell, der als Gunther den perfekten Mitläufer gibt, dabei von der Stimme her jedoch alles andere als ein Pappkamerad ist. Auch von Patrick Zielke, der als Hagen, von der Kostümbildnerin Katrin Lea Tag wie alle Gibichungen ganz in Weiss gekleidet, eine rabenschwarze Donnerstimme erklingen lässt. Ob Trine Møller wirklich die Richtige ist für die Riesenpartie der Brünnhilde, muss hier und jetzt dahingestellt bleiben; ihre Sonorität wirkt äusserst gepflegt, doch die dramatische Zuspitzung und die Schärfung des Profils gelingen noch nicht wirklich. Überragend dagegen Rolf Romei als Siegfried, stimmlich ohnehin, aber auch darstellerisch auf seinem Weg, auf dem er nicht weiss, wie ihm geschieht. Sogar reiten kann er: auf dem Ross Grane, das als gutmütiger echter Schimmel mit von der Partie ist. Viel kann auch der Chor, zumal der Männerchor, des Theater Basel; seine Einstudierung lag in den Händen von Michael Clark.

Der dritte Aufzug der Basler «Götterdämmerung» wartet mit einigen Überraschungen auf. Dass zu Beginn die drei Rheintöchter – Puppen aus der Wiener Werkstatt von Marianne Meinl, die auf Stangen von Helfern getragen und bewegt werden –, dass die drei Rheintöchter aufgeregt schwänzelnd über die Bühne jagen, bildet einen ärgerlichen Gegensatz zu ihrer fliessenden Musik. Sie sind vielleicht aufgeregt, weil sie wissen, dass sie den Ring nicht zurückbekommen werden – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ja gleichzeitig präsent in der Inszenierung Benedikt von Peters. Tatsächlich gelangt der Ring am Ende nicht zu ihnen, vielmehr ist es der inzwischen stumm die Vorgänge steuernde Wotan (Nathan Berg), der ihn nach erneutem Gerangel mit Alberich an sich nimmt – soll dieses Ende als Wiederkehr des Beginns verstanden werden?

Zum Schluss – und der geht voll zu Lasten der grandiosen Musik Wagners, die von Jonathan Nott und dem versenkten Orchester empathisch ausgeformt wird – stellt Wotan als die Zentralfigur ein Modell der linkerhand ragenden Burg Walhall auf den Tisch, um es alsbald eigenhändig in Brand zu setzen. Und kommt es zum grossen Stechen: wird Siegfried mehrmals durchstochen und gibt sich schliesslich selbst den Rest, beseitigt Hagen seinen Halbbruder Gunther, befördert Alberich seinen zu wenig treuen Sohn Hagen ins Jenseits. Das radikale Ende einer weit ausholenden Familiengeschichte, wie es Brünnhilde als Marionette ihres Vaters Wotan hat herbeiwünschen müssen. Ist es verfehlt, für einen Augenblick an Thomas Mann zu denken? Nicht an die erotisch aufgeladene Erzählung «Wälsungenblut», wohl aber an die «Buddenbrocks»?