Eine Traumwelt, gross und klein

Wagners «Siegfried» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Besonders süss: das ziemlich gewachsene Waldvögelein von Álfheiður Erla Guðmundsdóttir. Rechts neben Siegfried (Rolf Romei) der Kröte gebliebene Alberich (Andrew Murphy) / Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Da sind sie wieder auf Natascha von Steigers Bühne, das mehrstöckige Haus, das als die Burg Walhall gelten mag, der kahle Baum, der sich vervielfältigt und zu einem mittleren Wald verdichtet hat, der ausladende Tisch, der die Küche Mimes ziert und später zum Brünnhilden-Felsen wird. «Siegfried», der zweite Tag und der dritte Teil in Richard Wagners «Ring des Nibelungen» am Theater Basel, bleibt den vom Regisseur Benedikt von Peter angesetzten Leisten treu. Die Tetralogie wird in einer Rückblende erzählt, als Erinnerung Brünnhildes, die wie alle Figuren des Geschehens in verschiedenen Lebensaltern, in diversen Stadien ihrer Existenz auf der Bühne erscheint: als Kind, als Mädchen, als junge Frau. Auch Siegfried ist in Person wie zugleich als Bub mit Hörnchen und Holzschwert anwesend. Der Ansatz des Regisseurs mag den Anspruch, den der «Ring» an den Zuschauer stellt, noch erhöhen; er übernimmt jedoch szenisch, was Wagner mit seinen immer wieder auftauchenden Rekapitulationen in seinem Text verwirklicht hat. Von den über sechzig Leitmotiven ganz zu schweigen.

Besonders ins Auge fällt die Präsenz der Opfer. Als überlebensgrosse Puppen aus der Wiener Werkstatt von Marianne Meinl stehen sie im Hintergrund der Bühne – stumm, aber nicht bewegungslos, denn zahlreiche Helfer hauchen ihnen eine Art Leben ein. Mächtig mit arg herabgezogenem Mund der Riese Fasolt, der um den Goldschatz aus dem temporären Besitze Alberichs erschlagen wurde. Der wiederum, der auf Rache sinnende Chef der Nibelungen (Andrew Murphy), kriecht als gefesselte Riesenkröte in Gold über die Bretter und weiss sich am Ende artig zu verbeugen. Siegmund und Sieglinde sind als Wolfspaar dabei, die drei Rheintöchter werden an Stangen durch die Lüfte geführt, wie es das alte Theaterlexikon zeigt. Das schafft enorm Atmosphäre. Wie einer Traumwelt kommt man sich vor oder wie in einem Märchen. Betont wird das durch den Auftritt des Waldvögeleins, das von der Kostümbildnerin Katrin Lea Tag als ein süsser roter Waldvogel mit Kirschkernbeisserschnabel und munter schlagenden Flügeln gezeigt wird – wunderbar, wie Álfheiður Erla Guðmundsdóttir immer wieder ihren Kopf dreht, um ganz so, wie es die Vögel tun, mit einem Auge auf den Boden zu blicken, und wie sie mit ihrem Schnabel den ahnungslosen Siegfried stupft. Und vor allem: Wie sie in ihrem kurzen Auftritt singt, mit heller Stimme und lieblichem Locken. Ein grosser Auftritt wie jener der Erda, für den sich die legendäre Hanna Schwarz hat verpflichten lassen – unerhört, was diese Grande Dame des Musiktheaters zustande bringt.

Zugleich ist mit dem szenischen Ansatz Benedikt von Peters jedoch ein bedeutendes Problem verbunden. Der Regisseur wünschte sich das Orchester nach der Art von Bayreuth versteckt. Die Mitglieder des übrigens blendend aufspielenden Sinfonieorchesters Basel sitzen unter der Bühne, im zugedeckten Orchestergraben und einem als «Garage» bezeichnet Raum unter den ersten Sitzreihen. In der Spielfläche selbst findet sich ein breiter Rost, aus dem der Klang des Orchesters nach oben dringt – aber eben nur nach oben und nicht wirklich in den Raum insgesamt. Die in grosser Besetzung angetretenen Musikerinnen und Musiker können darum geben, was sie zu geben haben, ohne dass sich jemand aus dem Vokalensemble bedrängt fühlen müsste. Nur ist es so, dass sich das szenische Geschehen weitgehend an der Rampe abspielt, was als Prinzip der Bühnendarstellung von vorgestern stammt – und was ausserdem dazu führt, dass das Vokale und das Instrumentale immer wieder spürbar auseinanderklaffen. Nicht dass das Orchester je zu laut oder zu leise wäre, es ist herrlich laut und subtil leise, doch die Stimmen stehen oft krass im Vordergrund und erhalten zu wenig Kontakt mit dem Instrumentalen. Das mag die zahlreichen Stimmfetischisten unter den Opernfreunden befriedigen, widerspricht aber der Intention Wagners, der das Orchester die Geschichte aktiv kommentieren, wenn nicht gar erzählen lässt.

Das ist keineswegs das Problem des Dirigenten Jonathan Nott, eines Wagner-Spezialisten der allerersten Garnitur. Wie weit die Interaktion zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen gehen und was sie, klar ausgeformt, bewirken kann, hat Nott anlässlich der konzertanten Aufführung der Tetralogie beim Lucerne Festival im Wagner-Jahr 2013 erleben lassen. Nott geht Wagners Musik mit jenem ausgebauten strukturellen Bewusstsein an, das etwa bei der von ihm ebenso kompetent gepflegten neuen Musik gefordert ist. Zugleich dirigiert er ganz aus dem Körper und aus seiner Sinnlichkeit heraus. Mit geschmeidigen Tempi und sorgsamen Phrasierungen hält er die musikalischen Verläufe in Fahrt, lässt er die rezitativischen Momente strömen und findet er zu einem Erzählfluss, der die vier Stunden Musik im Nun vergehen lässt. Dazu kommt eine kraftvolle, in einen enorm schönen Mischklang eingebundene Farbigkeit, die den Sängerinnen und Sängern ausgezeichnet zur Seite stehen könnte. Und von entschiedenem Interpretieren zeugt der wache Umgang mit den Leitmotiven, etwa mit dem Motiv der Riesen, das, wenn es im ersten Aufzug erklingt, gleichsam auf Samtpfoten daherkommt. Umso bedauerlicher, dass das alles das Ensemble nur bedingt erreicht.

Die Vokalsolisten hätten es mehr als verdient. In der Riesenpartie des Siegfried zeigt Rolf Romei mit seinem leuchtenden, ganz selbstverständlich sprechenden Tenor erstaunliches Profil. Als sein Gegenspieler Mime, der von vornherein zu den Verlierern gehört und zum Schluss seinen Kopf wie das Leben verliert, verbleibt Karl-Heinz Brandt etwas einförmig im Bereich des gellenden Ausdrucks. Einen durch und durch grossen Abend hat dagegen Nathan Berg mit seiner unerhörten Sonorität als der Wanderer – und als ein Chef des Familienclans, der auch nach der fatalen Begegnung mit seinem Enkel die Fäden in der Hand behält. Gewinnend auch Runi Brattaberg als Fafner, der liegt und besitzt, der zudem trinken wollte und zu seiner Überraschung auch Frass findet – nur ist leider die Empathie Siegfrieds gegenüber seinem Opfer völlig ausgeblendet. Schliesslich darf Trine Møller, die als Brünnhilde von Anfang an auf der Bühne stand, ihre tragende, aber nirgends übersteuernde Stimme erheben – in der demnächst folgenden «Götterdämmerung» wird mehr von ihr zu hören sein.

Ungleiche Paare

«Ariadne auf Naxos» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Komponist (Lauren Fagan), hingerissen und mitgerissen von Zerbinetta (Ziyi Dai) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Viel ist es nicht, was aus den langen Jahren der Intendanz Alexander Pereiras am Opernhaus Zürich in Erinnerung geblieben ist. Sicher gehört dazu «Ariadne auf Naxos» von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, eine Produktion aus dem Jahre 2006. Erinnern Sie sich? In dem der Seria-Oper vorgelagerten Buffa-Vorspiel trat der Intendant höchstselbst als jener überhebliche Haushofmeister, der namens seines gnädigen Herrn das Sagen zu haben glaubt, in Erscheinung; etwas laienhaft geriet der Auftritt, aber er hat Spass gemacht. Noch mehr Spass machte das Hauptstück der Seria-Oper, für das der Regisseur Claus Guth seinen Bühnenbildner Christian Schmidt dazu gebracht hat, den zentralen Raum der «Kronenhalle» am Zürcher Bellevue eins zu eins nachzubilden; die wüste Insel, die sich Hofmannsthal gedacht hatte, wurde hier zu einem äusserst gehobenen Ort, an dem sich Zürcher Prominenz, darunter wiederum der Intendant in Person, zum Soupieren versammelte, dabei aber einige Zwischenfälle hinzunehmen hatte und schliesslich das Feld räumte. «Keine Sorge», sagte Andreas Homoki, der zur Eröffnung seiner letzten Spielzeit als Intendant des Opernhauses Zürich «Ariadne auf Naxos» inszeniert hat – «keine Sorge» sprach er ins Mikrophon, als er nach der Pause vor den Vorhang trat: «ich spiele nicht mit». Es gebe nur eine Indisposition anzukündigen. Die Pointe sass.

Sie war nicht die einzige an diesem ebenso erheiternden wie berührenden Abend. Mit einem mitten in den noch erleuchteten Zuschauerraum einfahrenden Schlag des Orchesters hebt das Vorspiel an. Es bietet einen Blick in das turbulente Theater-Leben hinter dem Vorhang – dem wunderschönen, tiefroten, mit goldenen Bordüren versehenen Hauptvorhang, der kräftig am Spiel mitwirkt. Temporeich und in expliziter Körpersprache, allerdings ohne Grenzüberschreitung zur Charge, entwickeln sich die Vorbereitungen für die Soirée im Palais des reichsten Mannes von Wien. Spielleiter, von Hannah Clark in das theatergemässe Schwarz gekleidet und mit Funkgerät versehen, ist der Haushofmeister, der jeden in den Senkel stellt – der grosse Kurt Rydl, der das Singen aufgegeben, sich von der Bühne jedoch nicht verabschiedet hat, macht das herrlich. Zu seinen Opfern zählt der Komponist, der «Ariadne auf Naxos» geschaffen hat und jetzt gespannt der Aufführung entgegensieht, vom Haushofmeister aber ultraschlechte Nachrichten entgegenzunehmen hat – was Lauren Fagan in dieser Hosenrolle an vokalem Ausdruck wie an Körpersprache bietet, setzt hohe Massstäbe. Den Ärger des Künstlers vermag auch sein Lehrer nicht abzumildern, doch immerhin erreicht Martin Gantner mit seiner souveränen Präsenz, dass die Sache nicht implodiert. Keine einfache Aufgabe angesichts der Forderung des Mäzens, dass «Ariadne auf Naxos» nicht nur eine Ergänzung durch eine Opera buffa erhalten soll, sondern dass beide Stücke zur gleichen Zeit gespielt werden sollen.

Ein Riesen-Tohuwabohu ergibt sich da über die anfangs leere, sich aber zusehends füllende Bühne von Michael Levine. Techniker, auch sie alle in Schwarz, arrangieren raumhohe Wände, rollen einen Teppich aus, fahren Wagen mit Möbeln und Kleiderständer heran. Dazu gibt es Eifersüchteleien, Zusammenstösse, Überraschungen aus dem Bühnenhimmel, dass es eine Art hat. Im Zentrum die grosse, von Homoki sorgsam als eine Versammlung von Individuen ausgestaltete Truppe rund um die kecke Zerbinetta; was hier an wohlorganisiertem Durcheinander zu sehen ist, entspricht durchaus dem Gewusel der Instrumentalstimmen in der Musik von Richard Strauss. Zusammengehalten wird das alles durch Markus Poschner am Pult der klein, aber speziell besetzten Philharmonia Zürich. Poschners Strauss-Ton neigt klar zum Muskulösen, bisweilen gar Handfesten, was die kammermusikalische Anlage der Partitur unterspielt. Zugleich ist aber doch sehr viel zu hören – von den speziellen Farbeffekten bis hin zu den witzigen Anspielungen und Zitaten. Hinreissend ist aber vor allem das Temperament, mit dem Poschner das Vorspiel durchzieht und es in seiner ganzen Verrücktheit zeigt. Er tut es so eindringlich, wie Homoki in seiner szenischen Zubereitung eine grosse Liebeserklärung an das Theater abgibt. Ausgesprochen gut gelaunt begibt man sich in die Pause – sehr wohl in der Annahme, dass man mit dem Vorspiel die heimliche Hauptsache kennengelernt hat.

Dabei: Hauptsache ist der Operneinakter «Ariadne auf Naxos», ist die von Hofmannsthal etwas breit ausgelegte Reflexion über Verlust, Verwandlung und Neubeginn. Die wüste Insel ist hier ein in der schwarzen Leere stehendes Ehebett, auf dem die trauernde Ariadne liegt, wenn sie nicht zu ihren Medikamenten greift. Doch zuerst dringt noch die Zerbinetta-Truppe ins Geschehen – mit ihrem Versuch, die Trauernde über den Verlust des geliebten Theseus hinwegzutrösten (und die Verbindung zum Vorspiel herzustellen). Da schlägt denn die Stunde der Chinesin Ziyi Dai, die nicht nur die halsbrecherischen Koloraturen der Zerbinetta fabulös meistert, sondern dazu noch akrobatisches Geschick zeigt. Dann aber der Auftritt von Daniela Köhler als Ariadne, eine junge Sängerin mit grosser, allerdings auch zu berückendem Piano fähiger Stimme, mit hervorragender Diktion und bestechender szenischer Präsenz. Ihr begegnet in John Matthew Myers als der erlösende Halbgott Bacchus ein Tenor mit Kraft und Glanz. Klar, der Hauptteil wirkt weniger sexy als das Vorspiel, darin liegt ein Problem des Stücks, das auch die virtuose Zürcher Produktion nicht zu lösen vermag, zumal sich der orchestrale Ton von jenem des Vorspiels kaum abhebt. Und das Thema der Verwandlung, es bleibt abstrakt. Dass sich zwei Menschen begegnen und durch die Begegnung mit dem Gegenüber bei gewahrter Individualität zu etwas anderem werden, das ereignet sich jeden Tag. Was die Verwandlung jedoch genau bedeutet, wie sie zu schaffen wäre, das lässt Hofmannsthal nicht nur Ariadne fragen, sondern auch sein Publikum bedenken. Vielleicht sogar über den pathetischen Schluss und jenen Moment hinaus, da der Haushofmeister/Spielleiter in einer letzten Erinnerung ans Vorspiel nochmals auf der Bühne erscheint und mit einem Fingerschnippen den Blackout auslöst.

Leidenschaft des Leisen

Lucerne Festival:
Beat Furrer, «composer in residence»

 

Von Peter Hagmann

 

Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Beat Furrer beim Lucerne Festival zum ersten Mal als «composer in residence» in Erscheinung trat. Gab es schon damals eine reiche Auswahl an Werken zu hören, so ist das Œuvre des bald siebzigjährigen Schweizers in Wien inzwischen kräftig gewachsen. Was es an Besetzungen und Gattungen gibt, findet sich in seinem kontinuierlich aufgebauten Werkverzeichnis. Eines ist jedoch geblieben: Es ist eine klar erkennbare, wenn auch nach vielen Richtungen erkundete und erweiterte Handschrift. Ihr zentrales Kennzeichen ist das Leise, das der Komponist ähnlich wie Helmut Lachenmann oder Salvatore Sciarrino mit besonderer Zuwendung pflegt.

So erstaunt denn nicht, dass Beat Furrer seinen Kollegen Salvatore Sciarrino mit einer kleinen Assonanz grüsst. In «Begehren», einem Beitrag Furrers zum Musiktheater, der 2003 in Graz, in der damals neuen Helmut-List-Halle, szenisch aus der Taufe gehoben worden ist – in «Begehren» scheinen für einen kurzen Moment jene kleinen, absteigenden, vom Leisen aus im Nichts verschwindenden Gesten auf, die Sciarrinos Musik so unverkennbar machen. «Begehren» ist auch diesen Sommer beim Lucerne Festival erschienen, nicht szenisch, sondern konzertant, aber doch auf der Bühne des Luzerner Theaters. In jenem Haus also, in dem Furrer, übrigens in denkbar eindrucksvoller Weise, Sciarrinos Oper «Luci mie traditrici» dirigiert hat – dies im Herbst 1999, zwei Jahre vor der konzertanten Uraufführung von «Begehren» im Schauspielhaus Graz.

Das Leise, Kleinräumige und gerade darin scharf Profilierte übt eben seine ganz eigene Anziehungskraft aus. Am Beispiel von «Begehren» ist es in besonderem Mass zu erleben. Und in besonderer Plausibilität. Auf einer Collage von Texten Cesare Paveses, Günter Eichs, Vergils und Hermann Brochs geht Beat Furrers Stück dem Orpheus-Mythos nach, genauer: dem verbotenen, fatalerweise aber gleichwohl ausgeführten Blick des Sängers nach hinten zu seiner aus dem Totenreich befreiten Gattin. Alles ist hier schattenhaft, die vom Komponisten selbst geleitete Aufführung liess es eindringlich erleben. Das von Furrer selbst gegründete Klangforum Wien (warum blieben im Programmheft die Namen der Streicher neben der Konzertmeisterin ungenannt?) flüsterte, zischte, raschelte, und das von Cordula Bürgi vorbereitete Vokalensemble Cantando Admont tat es ihm gleich – alles in komplexer Rhythmik und reichster Farbgebung. Hervorragend auch die Sopranistin Sarah Aristidou und der über weite Strecken als Sprecher fungierende Bass Christoph Brunner; beide werden auch an der für März 2025 vorgesehenen Uraufführung von Beat Furrers neuer Oper «Das grosse Feuer» am Opernhaus Zürich mitwirken.

ER und SIE, so sind Orpheus und Eurydike in «Begehren» abstrahierend benannt, begegnen sich im Dunklen. Das erinnert an Furrers erste, tief beeindruckende Oper «Die Blinden» von 1989. Anders als dieses Stück trägt «Begehren» jedoch das Problem in sich, eingeschlossen zu sein in seiner Abstraktion und sich dem Publikum nicht wirklich mitzuteilen. Trotz der subtilen Klangregie von Markus Wallner blieben im Luzerner Theater die gewisperten Texte unverständlich. Das mag seinen Sinn haben; die Begegnung zwischen Orpheus und Eurydike bleibt ja unmöglich, sie endet mit dem Tod der Protagonisten. Der Klang müsse sprechen, etwas in Bewegung setzen, sagt der Komponist zu seinem Schaffen. Wenn aber die Menschen im Auditorium derart im Dunklen tappen, wie es hier zu geschehen hat, dann läuft Furrers grossartige Musik Gefahr, ins Leere zu laufen. In eine Unverbindlichkeit, die dem hochstehenden künstlerischen Entwurf nicht entspricht.

Nicht weniger zwiespältig die Eindrücke bei Beat Furrers Orchesterstück «Lichtung» im Konzertsaal des Luzerner KKL. Gross angelegt war die Uraufführung dieses Kompositionsauftrags von Roche; mit seinem Engagement im Bereich der neuen Musik beim Lucerne Festival führt der Basler Chemiekonzern in verdienstvoller Weise eine von Maja und Paul Sacher begründete mäzenatische Tradition weiter. Das vom Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung des Komponisten engagiert vorgestellte Stück erzählt ebenfalls keine Geschichte, kennt aber doch einen fassbaren formalen Verlauf. Er führt von einem zarten Flimmern in einen Bereich muskulöserer Klanggebung und nimmt dann den Beginn wieder auf. An langjähriger Erfahrung gereifte Imagination und meisterliches Handwerk zeigen sich da. Am Ende bleibt jedoch die Frage, ob die Partitur nicht doch Zeichen einer gewissen ästhetischen Verfestigung aufweise.

Bei dem Trompetenkonzert «Meduse» von Lisa Streich, ebenfalls «composer in residence» dieses Luzerner Sommers, kann davon keine Rede sein. Die 1985 geborene Schwedin scheint lebhaft mit dem Suchen nach ihrem Eigenen beschäftigt. Lustvoll tummelt sie sich im Garten dessen, was Spätromantik und Moderne im Bereich der Kunstmusik ausgelegt haben – alles freilich in indirekter Präsenz, beschädigt, gesehen durch ein Fenster mit Sprüngen. Immer wieder und in immer anderen Konstellationen taucht das Element der Quart auf, folgen sich Kadenzen in Moll und kommt es zu rauschhaften Steigerungen im Geiste Tschaikowskys, dazu schwingen die Schlagzeuger ihre bunten Schläuche und muss der Solist an der Trompete – es ist der gefeierte Simon Höfele, der jedoch kaum je wirklich zu hören ist – sein Instrument durch einen Wasserschlauch ersetzen. Einige Augenblick lang hat das seine erheiternden Seiten, doch bald nutzen sich die Ideen ab, beginnt das Material verbraucht zu wirken und gerät man ins Grübeln über «Elle est belle et elle rit», den Untertitel des Stücks. Medusa einmal anders als mit kullernden Augen und züngelnden Schlangen. Nun ja, vielleicht ist da nicht alles so ernst gemeint.

Drama aus dem Geist der Musik

Lucerne Festival:
Wagners «Walküre» historisch informiert

 

Von Peter Hagmann

 

Per Stierhorn ruft Hunding (Patrick Zielke) seinen Kontrahenten Siegmund zum Kampf / Bild Patrick Hürlimann Lucerne Festival

Bühne? Braucht es nicht, stört bloss – denn: Die Musik sagt alles. So gedacht schon bei der konzertanten Aufführung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» beim Lucerne Festival im Wagner-Jahr 2013. Äusserst fasslich und in hinreissender Tonschönheit erzählten die Bamberger Symphoniker unter der Leitung von Jonathan Nott, was es in der Tetralogie zu erzählen gibt. Und die Vokalsolisten verliehen ihren Rollen scharf gezeichnete, hochgradig energiegeladene Profile, welche die gewaltige Ausdehnung von Wagners opus summum vergessen liessen – man erinnere sich nur der ehelichen Streitgespräche zwischen Wotan und Fricka, die von Albert Dohmen und Elisabeth Kulman zu unvergesslichen Szenen einer Ehe ausgeformt wurden. Ja, «unvergesslich» ist das richtige Wort.

Doch jetzt geht das von Michael Haefliger geleitete Lucerne Festival einen Schritt weiter. Seit dem letzten Sommer wird in Zusammenarbeit mit den Dresdner Musikfestspielen, und dort mit dem Cellisten Jan Vogler als deren Intendant und dem seit je für aufsehenerregende Projekte einstehenden Dirigenten Kent Nagano, über vier Jahre hinweg Wagners «Ring» in historisch informierter Aufführungspraxis auf das Konzertpodium gehoben. «Historisch informiert» heisst nicht: so wie die Tetralogie bei ihrer Uraufführung geklungen hat; der Versuch einer Rekonstruktion wäre sinnlos, denn was sich 1876 musikalisch ereignet hat, kann niemand wissen. Möglich ist jedoch, die aufführungspraktischen Dokumente zur Bayreuther Arbeit am «Ring» zu erforschen, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis der Gegenwart zu übertragen und auf dieser Basis zu einem neuen Wagner-Bild zu gelangen.

Die Idee geht auf das Barockensemble Concerto Köln zurück, mit dem Kent Nagano seit langem zusammenarbeitet und dem er als Ehrendirigent verbunden ist. Warum sie nicht einmal ein Stück aus seinem, aus des Dirigenten Repertoire erarbeiteten, soll Nagano von einem Ensemblemitglied gefragt worden sein. Gefragt, getan. Nach vier Jahren der Vorarbeit kam im November 2021 «Das Rheingold» in der Kölner Philharmonie zum ersten Mal historisch informiert zur Aufführung. Der Abend war eine Sensation (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21). Die Fortsetzung des Projekts war dringend erwünscht, überstieg jedoch die organisatorischen Kapazitäten des Concerto Köln, weshalb eine neue Partnerschaft eingerichtet wurde, nun eben mit den Dresdner Musikfestspielen, die seit 2012 über ein voll ausgebautes Originalklangorchester verfügen. Das Concerto Köln integrierte sich in diesen Klangkörper, Nagano blieb als künstlerischer Leiter im Boot, die finanzielle, organisatorische und wissenschaftliche Basis wurde verstärkt. So läuft jetzt seit 2023 dieses «Ring»-Projekt, das auch ins Luzerner KKL gekommen ist (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.08.23 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.08.23)) und ohne Zweifel weiterhin kommen wird.

Jetzt also «Die Walküre». Der erste Aufzug: grandios in jeder Hinsicht. Das Orchester liess eine gegenüber dem «Rheingold» merklich erhöhte Qualität des Zusammenwirkens erkennen; der Gewittersturm des Beginns tobte heftig, wenn auch ohne jene Mängel in der Balance, welche die orchestrale Seite des neuen Zürcher «Rings» so sehr störten, und versiegte dann in vibrierendem Pianissimo. Sarah Wegener, die überragende Sieglinde, konnte mit «Ein fremder Mann» flüsternd ins Geschehen eintreten. Wie sie dem Fremden das Trinkhorn mit Wasser reicht und dazu, ganz nach der Art Wagners, das Geschwisterliebe-Motiv erklingt, treten die hier tragenden Celli ohne jedes Vibrato in den Vordergrund. Rasch erholt sich Siegmund, und wie Maximilian Schmitt, derzeit einer der führenden Vertreter dieser Partie, der sich aber ohne Vorbehalt ins Konzept eingefügt hat, von der ihm neu lachenden Sonne singt, tut er das in einem Ton offener Werbung.

Doch bald erklingt das Hunding-Motiv, hier erstmals durch trockene Holzschläge unterstrichen – und schon erscheint er: Patrick Zielke, ein Felsbrocken von Mann und einer mit Donnerstimme. «Du labtest ihn?» fragt der düstere Kerl drohend die von ihm unterworfene Frau, und er meistert den dort geforderten Quintsprung ohne jeden Schleifer, dafür blickt er schon gleich zwischen der «Gattin» und dem Gast hin und her, die Ähnlichkeit der Gesichter erkennend. Es sind die kleinen Zeichen der Körpersprache, die diese konzertante Aufführung mit zu einer veritablen Oper machen – auch zum Beispiel die Art, in der Sarah Wegener den Kopf in den Nacken legt, wenn das Liebes-Motiv erklingt. Verlangt Hunding, dass des Gastes Name genannt werde, so formt Patrick Zielke die beiden «a» ganz offen, in jener Offenheit, die er von seinem Gast einfordert; das entfaltet ungeheure Wirkung, ähnlich wie immer wieder das spitze «i» von «Liebe» – sinnvoll, hat doch Wagner auf Diktion und Textverständlichkeit besonderen Wert gelegt.

Hinreissend grausig, wie Hunding seine «Gemahlin» in die Küche und später ins «eheliche» Schlafgemach kommandiert, wo er selbst alsbald in schweren Schlaf sinkt. Und zum Weinen schön das Liebe- und Lenz-Lied, das Maximilian Schmitt mit Emphase und zugleich frei von Kitsch anstimmt. Rasch erkennt Sieglinde, Sarah Wegener erklimmt hier einen Höhepunkt an vokaler Durchdringung, ihren Bruder und zieht der das Schwert Nothung aus dem Stamm, worauf die Schwester einen markdurchdringenden Schrei ausstösst. Sogleich brausender Beifall; begeisterter als hier ist wohl nie ein Inzest gefeiert worden.

Genau daran, am Inzest, hängt im zweiten Aufzug Fricka den Göttervater auf. Ohne mit der Miene zu zucken, exponiert Claude Eichenberger ihre Argumente, gegenüber denen Simon Bailey als Wotan mit Augenbinde rasch zusammensackt. Auch wenn Fricka aufbraust, bleibt die Sängerin bei ausnehmend schönem Ton und dem verächtlichen Blick von oben herab. In kürzester Zeit – das will bei Wagner etwas heissen – ist der Oberste der Götterwelt gefällt, schwört er den verlangten Eid, worauf sich zum Vertrags-Motiv das Unmuts-Motiv gesellt. Dass solches so klar wahrzunehmen ist, gehört zu den entscheidenden Vorteilen der Aufführung. Oft genug wird das Erkennen der Leitmotive als Ausdruck bildungsbürgerlicher Haltung verachtet, dabei liegt in Wagners Arbeit mit den Motiven das musikalisch Zukunftsträchtige der Tetralogie. Im lichten Klang der Kölner und Dresdner Kräfte, der von Kent Nagano dynamisch sehr im Zaum und gleichzeitig farblich zugespitzt wird, ist das auf das Herrlichste zu erleben.

Es gilt auch für die Begegnung Wotans mit Brünnhilde. «Götternoth» ruft er aus – da fällt Simon Bailey so plötzlich zu Boden, dass man einen Schlaganfall befürchtet. Eindrucksvoll, wie Bayley aus dem Monolog ins Flüstern und dann, wenn die Rede auf Wotans Vertragswerk kommt, ins Sprechen übergeht – eine Art des Ausdrucks, die Wagner explizit wünschte, die aber in Vergessenheit geraten ist. Auch Åsa Jäger, die als Brünnhilde vielversprechendes Profil erkennen lässt, geht in den Sprechgesang über, etwa dort, wo sie Siegmund den baldigen Tod voraussagt. Schon darf man das auf der Empore erscheinende Stierhorn bewundern und den edlen Speer Wotans; die beiden ebenfalls in der Höhe postierten Kontrahenten neigen zum Zeichen ihres Ablebens aber schlicht den Kopf, mehr braucht es nicht. Später, im dritten Aufzug, gab es noch Flüstertüten zu sehen, doch der Beginn mit den acht Walküren geriet konventionell laut. Bewegend dagegen Wotans Abschied von Brünnhilde – und zum Schluss konnte das Orchester noch einmal zeigen, was ein Fortissimo in historisch informierter Aufführungspraxis sein kann. Schade nur, dass die Namen der Orchestermitglieder im Programmheft ebenso wenig aufgeführt sind wie jener des doch gewiss vorhandenen Regisseurs.

Der innovative Ansatz der Dresdner Tetralogie ist von höchstem Interesse; dass er seine Kreise ziehen wird, lässt sich leicht voraussagen. Für das Lucerne Festival öffnet sich zudem eine weitere, wichtige Tür. Eine Bühne für grosse Oper wie in Salzburg gibt es in Luzern nun einmal nicht. Die Möglichkeit, der Gattung paradigmatisch neue Wege aufzuzeigen, kann jedoch, wie dieses Projekt erweist, sehr wohl fruchtbringend weiterverfolgt werden.

Das Fordernde als Attraktion

Salzburger Festspiele:
Opern von Weinberg, Prokofjew und Offenbach

 

Von Peter Hagmann

 

Bogdan Volkov als Fürst Myschkin – als «Der Idiot» kurz vor seinem epileptischen Anfall / Bild Bend Uhlig, Salzburger Festspiele

Als einen Ort für die Reichen und die Schönen, ach ja, so sieht Volkes Mund hie und da die Salzburger Festspiele. Ganz falsch ist es nicht, wenn für einen Platz der besten Kategorie in, sagen wir «Don Giovanni», 465 Euro fällig sind (Taylor Swift kann hier ausgeklammert werden) und wenn sich auf das Ende der Vorstellungen hin die Limousinen der höchsten Preisklasse zusammen mit ihren Chauffeuren in Reih und Glied gestellt haben. Allein, das ist bloss die eine Seite; die andere Seite weiss, dass es auch, und gar nicht wenige, preisgünstigere Angebote gibt und dass sich mit einer Eintrittskarte ein grosses Zeitfenster lang vor und nach dem Anlass der Öffentliche Verkehr im Salzburger Verbund kostenlos benutzt werden kann.

Vor allem aber ist nicht zu vergessen, dass es bei den Salzburger Festspielen der Kunst gilt, der grossen Kunst. Unglaublich umfangreich, vielgestaltig in der Werkauswahl und höchststehend in den Interpretationen präsentiert sich das Konzertprogramm; es reicht von der Ouverture spirituelle des Beginns über die fünf bis zu dreifach geführten Sinfoniekonzerte der Wiener Philharmoniker und die thematischen Schwerpunkte (dieses Jahr wurde die «Zeit mit Schönberg» verbracht) bis hin zu den Kammerkonzerten, den Liederabenden und den solistischen Auftritten – und immer wieder ergeben sich Glücksmomente der besonderen Art (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.08.24).

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht jedoch die Oper. Sie trat diesen Sommer mit drei Neuinszenierungen, einer Wiederaufnahme sowie nicht weniger als fünf konzertanten Aufführungen in Erscheinung. Das späte «Capriccio» des Festival-Mitbegründers Richard Strauss eröffnete den Reigen der Opern auf dem Konzertpodium, worauf «Hamlet» von Ambroise Thomas erschien, hier mit Stéphane Degout, dem Grandseigneur des französischen Gesangs. Schliesslich gab es reichlich Zeitgenössisches: «Koma» von Georg Friedrich Haas, einen Doppelabend mit Luigi Dallapiccola und Luigi Nono, das «Begehren» von Beat Furrer, das Anfang September auch zum Lucerne Festival kommt.

«Der Idiot»

Auch im Kernbereich des Angebots herrscht alles andere als kulinarisches Wohlgefühl. Neben der überarbeiteten Wiederaufnahme des ebenso anregenden wie unbequemen «Don Giovanni» von 2021 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21) und «La clemenza di Tito», einer weiteren Mozart-Produktion als Übernahme von den Pfingstfestspielen, gab es überaus anspruchsvolle Kost. Den Höhepunkt bildete fraglos «Der Idiot» von Mieczysław Weinberg. Der polnische Komponist jüdischen Glaubens (1919-1996), der 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen nach Minsk und Taschkent flüchten musste und sich 1942 in Moskau niederliess, teilte anfangs das Schicksal seines engen Freundes Dmitri Schostakowitsch, schuf in den wechselvollen Jahren der Sowjetunion und später Russlands jedoch ein weit ausholendes Œuvre. Heute ist es so gut wie vergessen. Seine Oper «Der Idiot» nach dem Roman Fjodor Dostojewskis und auf ein Libretto Alexander Medwedews stellte er 1987 fertig. Uraufgeführt wurde sie 1991 in Moskau, dies jedoch in einer kammermusikalischen Fassung. In der vollen Orchesterbesetzung kam «Der Idiot» erst 2013 im Nationaltheater Mannheim zur Uraufführung; Initiant und Dirigent war damals Thomas Sanderling. Eine zweite Produktion gab es zehn Jahre später beim Theater an der Wien. Salzburg folgte nun mit der dritten und, so darf man wohl sagen, folgenreichsten Inszenierung.

Ein unerhört eindrucksvolles Werk, es steht auf Augenhöhe mit den grossen Opern des 20. Jahrhunderts – dass es bei den Salzburger Festspielen in einer so vorbildlichen Produktion gezeigt worden ist, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Allerdings, leicht macht es das vierstündige Stück weder dem Zuhörer noch der Zuschauerin. Dostojewskis Roman bildet hochkomplexe Verästelungen aus und spart nicht mit Personal, Medwedew hat geschickt eingedampft, kann die ziselierte Struktur aber nicht wirklich in dramatische Spannung überführen. Als operngewohnter Rezipient muss man sich auf langsam voranschreitende Prozesse einstellen; die Ankunft des als «Idioten», nämlich des hier als «Gutmenschen» gezeichneten Fürsten Myschkin in der degenerierten St. Petersburger Gesellschaft des mittleren 19. Jahrhunderts und die Wirkung auf sie kommt nur schleichend voran; sie gewinnt gerade daraus ihre Attraktivität. Genau gleich wie die musikalische Handschrift Weinbergs, die genaues Zuhören und ein offenes Herz einfordert, vor allem aber Geduld, denn nur so kann man sich in diesen Kosmos einleben. Ganz eigen klingt diese Musik, sie ist weder tonal noch atonal, lebt vielmehr in einem Zwischenreich. Sehr geholfen beim Eindringen in die Partitur haben die Wiener Philharmoniker, die sich mit ihrer vollen Kompetenz auf ihre Aufgaben eingelassen haben, aber auch die lettische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die zusammen mit dem russischen Geiger Gidon Kremer die Entdeckung Weinbergs vorantreibt und sich die Handschrift des Komponisten in hohem Mass zu eigen gemacht hat.

Blendend die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczęśniak spreizt das Geschehen über die ganze Breite der Bühne in der Salzburger Felsenreitschule auf; geradezu sensationell der Beginn des Werks, die Bahnreise des Fürsten Myschkin nach St. Petersburg, für die ein 1.-Klass-Coupé ganz langsam von rechts nach links bewegt wird, es dazu den Blick aus dem Fenster als Videoprojektion gibt und schliesslich die Einfahrt des Zuges in den Bahnhof vom Videokünstler Kamil Polak überblendet wird. Mit äusserster Sorgfalt sind die einzelnen Figuren ausgestaltet, und da bewährt sich ein osteuropäisch-russisch besetztes Ensemble – in Salzburg wird ja auf den verschiedensten Ebenen sehr genau zwischen Russland und Putin unterschieden. Grossartig im vokalen Laut wie im körperlichen Ausdruck Bogdan Volkov als Fürst Myschkin, Vladislav Sulimsky gibt den düsteren Gegenspieler Rogoschin mit schwarzen Stimmfarben, stupend verkörpert Ausrine Stundyte die undurchdringliche Emanze Nastassja, während Xenia Puskarz Thomas als die gutbürgerliche Aglaja mit einem hellen Sopran auf sich aufmerksam macht. Zahlreiche liebevoll und klug ausgedachte Details beleben die Szene. Und getragen wird sie von einem starken Ensemble. Mehr noch: von einer Identität stiftenden künstlerischen Familie, wie sie Markus Hinterhäuser als temporäres Mitglied der Truppe um Christoph Marthaler kennengelernt haben mag.

«Der Spieler»

Zur Familie gehört auch Peter Sellars. Der unkonventionell, auch witzig denkende Amerikaner meisterte in diesem Sommer, ebenfalls in der Felsenreitschule, als Regisseur die selten aufgeführte Oper «Der Spieler» von Sergej Prokofjew, ein scharf kritisierendes Werk. Er tat das in seiner Weise. Die Handlung, sie basiert wie «Der Idiot» auf einem Roman von Dostojewski und spielt in einer ähnlichen gesellschaftlichen Konstellation wie Weinbergs Oper, versetzte er in die Gegenwart – etwas zaghaft, doch durchaus erkennbar: Statt zu Briefen und zu Schuldscheinen wird zum Smartphone gegriffen, und wenn ein aus Deutschland angereister Gast im Spielcasino seine Werte zu verteidigen sucht, wird sein Anzug mit oranger Farbe bestrichen. Das kann man umso mehr hinnehmen, als Österreich derzeit von einem Finanzjongleur der ärgsten Sorte heimgesucht wird. Dass am Ende die etwas moralinsaure Erkenntnis im Raum steht, dass Geld allein weder heilt noch glücklich macht, so ist das freilich schon wieder ein Allgemeinplatz. Nur ist das nicht Sellars’ Schuld, sondern jene des Werks – einer Oper, die mitten im Ersten Weltkrieg auf der Basis eines von Prokofjew selbst eingerichteten Librettos entstand und 1929 musikalisch überarbeitet wurde, in der Sowjetunion jedoch erst 1970 vollgültig aufgeführt werden konnte.

Der temporeiche, darum kurzweilige Abend spielt auf einer ebenfalls ganz in die Breite gezogenen Bühne. George Tsypin hat sie mit riesigen, an Ufos erinnernden, nach der Art eines Balletts auf- und absteigenden Roulettetischen bestückt, und die Kostüme von Camille Assaf sorgen für Farbeffekte, die mit der frechen Musik Prokofjews durchaus etwas gemein haben. Die Partitur befindet sich bei dem noch jungen Russen Timur Zangiev und den Wiener Philharmonikern in besten Händen. Das Orchester agiert auf seinem bewundernswert hohen Niveau, und der Dirigent lässt den Farbeffekten den ihnen gebührenden Raum, behält die musikalischen Verläufe aber stets in ruhiger Hand. Gewinnend auch hier das riesige Ensemble, allen voran Sean Panikkar als der wirtschaftlich auf unsicheren Beinen stehende Hauslehrer, der am Spieltisch mehr als das benötigte Kleingeld erwirtschaftet und dafür seine Geliebte verliert – und diese Geliebte, Polina, ist Asmik Grigorian, die als eigenwillige Frau starke Akzente setzt, sich aber zugleich ganz selbstverständlich in ihr Umfeld integriert. Für ein Glanzlicht besonderer Art sorgt Violeta Urmana, der reichen, von allen Seiten in den Tod gewünschten Grossmutter, die sich aus ihrem Rollstuhl erhebt und im Casino all ihr Hab und Gut verliert.

«Hoffmanns Erzählungen»

Eine andere Art von Sucht herrscht in der dritten Neuinszenierung der Salzburger Festspiele dieses Sommers. Es ist der Alkoholrausch, der Ernst Theodor Wilhelm (später: Amadeus) Hoffmann seinen Brotberuf als Beamter aushalten und in nächtlichen Sitzungen in Gasthäusern das Dichten ermöglichte. Jacques Offenbach war von E. T. A. Hoffmann derart angezogen, dass er sich für «Les Contes d’Hoffmann», seine einzige ernste Oper, von Jules Barbier ein Libretto zusammenstellen liess, in dem der Dichter dreien der von ihm erfundenen Frauenfiguren begegnet – für den Tenor Benjamin Bernheim ergab sich hier eine Sternstunde. Nicht nur war er der agile Hauptdarsteller der im Salzburger Grossen Festspielhaus gezeigten Inszenierung, er sang sich auch buchstäblich von Höhepunkt zu Höhepunkt – wenn ihm denn der Dirigent Mark Minkowski am Pult der Wiener Philharmoniker den Raum dafür liess. Ihm zur Seite standen in dieser vokal exzellenten Produktion Kathryn Lewek, welche die vier Frauenfiguren bewältigte, und Christian Van Horn in den Partien der vier männlichen Gegenspieler, vor allem aber Kate Lindsey, die mit blühender Sonorität und packender Bühnenpräsenz als Hoffmanns guter Geist Nicklausse begeisterte. Szenisch hatte der Abend allerdings ein grosses Problem. Für die Regisseurin Mariame Clément war Hoffmann ein innerlich zerrissener Filmer, der die Fäden einer grossen Produktion in den Händen zu behalte, was die Ausstatterin Julia Hagen dazu bewog, die Bühne mit einer Vielzahl stummer, unablässig gestikulierender Techniker und Assistentinnen zu füllen, ja zu verstopfen. Durchaus plausibel erfundene Nebenhandlungen schoben sich in den Vordergrund, dies zu Lasten der Hauptsache, nicht zuletzt der herrlichen Musik Offenbachs. Auf hohem Niveau gescheitert. Doch ohne Scheitern keine Kunst.

Verdi für Dummies

«I vespri siciliani» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

Soll man das Stück tatsächlich spielen? Mehr noch: Soll man «I vespri siciliani» so aufführen, wie es jetzt im Opernhaus Zürich geschieht? Die Antwort lautet, subjektiv grundiert, aber von ganzem Herzen: Nein. Nein danke. «Les Vêpres siciliennes» – als Versuch Giuseppe Verdis, die Oper von Paris zu erobern, an die Hand genommen, darum auch als Grand opéra mit fünf Akten und ausgedehnten Balletteinlagen komponiert, später dann in eine italienische Fassung gegossen – ist eine gründlich misslungene Schöpfung. Langfädig zieht sich das Libretto Eugène Scribes vor allem durch die zwei letzten Akte. Und musikalisch bleibt Verdis Partitur weit hinter «Rigoletto» und «La traviata» zurück; vor allem fehlt es an zündender melodischer Erfindung. Das tritt vor allem dann zutage, wenn Verdis Oper so einseitig auf grobschlächtige Kraftmeierei reduziert wird, wie es Ivan Repušic am Pult der Philharmonia Zürich und des verstärkten, von Janko Kastelic vorbereiteten Chors der Oper Zürich zu tun beliebt. Ein Hau-Ruck-Verdi von vorgestern.

Die Vokalsolisten auf der Bühne halten wacker mit; hätten sie das nicht getan, sie wären hoffnungslos untergegangen. In der Partie der zwischen der Loyalität gegenüber dem sizilianischen Vaterland und der Liebe zu einem Vertreter der französischen Besatzungsmacht schwankenden Gräfin Elena zeigt Maria Agresta stählernen Schmelz, aber auch wenig Substanz in der Tiefe und an der Premiere einige Mängel in der Intonation. Als ihr Liebhaber Arrigo hält Sergey Romanovsky nicht dieselbe stimmliche Präsenz, szenisch jedoch, in seinem Kampf gegen den berüchtigten Anführer der Franzosen, der sich als sein Vater herausstellt, bringt er unerhörte Agilität ins Spiel. Dieser Anführer, Guido de Monforte, wird von Quinn Kelsey mit der ganzen Wucht seines Baritons eingeführt – um später dann den Wandel zu dem um Liebe bettelnden Vater mit Respekt zu meistern. Die Krone des Kraftgesangs gebührt jedoch Alexander Vinogradov in der Partie des Procida, des aus dem Exil heimgekehrten Chefs der sizilianischen Widerstandsbewegung; Lautstärken dieses Ausmasses zu erleben, mag Erstaunen hervorrufen, künstlerischen Gewinn bringen sie nicht ein.

Und dann, ach, die Inszenierung von Calixto Bieito. Sie wirkt wie ein Produkt von der Stange, die szenische Durchführung entwickelt manchen Ansatz der Interpretation, bleibt in deren Entwicklung aber gerne auf halber Strecke stehen. Aida Leonor Guardia stellt ein in edlem Hellweiss gestrichenes, da und dort Zeichen der Zerstörung aufweisendes Containerdorf auf die Bühne: einen Unort, der in diesen Tagen nur zu rasch ganz konkrete Assoziationen an die Lage im Nahen Osten weckt – und da beginnen die Probleme. Warum, zum Beispiel, erscheint Arrigo, eine vergleichsweise blasse Figur, als Selenski, so eingekleidet vom Kostümbildner Ingo Krügler? Sollte das als politisches Statement des Regisseurs zu nehmen sein, müsste es als inhaltlich verfehlt und in der formalen Ausführung als gescheitert abgelehnt werden. Und dann die vier Grobiane aus dem Umfeld des Tyrannen Monforte, in edles Tuch gehüllt und stets bereit, die schützenden Lederhandschuhe überzustreifen, sie haben nichts anderes im Sinn als sich der sizilianischen Frauen zu bemächtigen. Das mag so gewesen sein, das mag von Scribe und Verdi auch so gemeint sein – nur: Muss man sich die Vergewaltigungen hier und jetzt, mit den Bildern und Berichten aus den Medien im Hinterkopf, so konkret und so drastisch vorgeführt bekommen, wie es Calixto Bieito tut? Die Untaten sind verabscheuungswürdig genug, auf der Opernbühne und selbst bei «I vespri siciliani» brauchen sie nicht nachgestellt zu werden. Ein bisschen Grips, ein wenig Phantasie darf auch beim Opernpublikum vorausgesetzt werden.

Reduziert – und umso schärfer

«Liebesgesang», eine neue Oper von Georg Friedrich Haas auf ein Libretto von Händl Klaus, an den Bühnen Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Robin Adams (Er) und Claude Eicheberger (Sie) im Liebesgesang / Bild Tanja Dorendorf, Bühnen Bern

Er ist einer, der die Welt der Kunstmusik gerne auf den Kopf stellt. Der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas tut das immer wieder – immer wieder überraschend und immer wieder fruchtbar. Als im Jahre 2000 die FPÖ in die Regierung des ÖVP-Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel eintrat, komponierte er das mittlerweile legendäre Ensemblestück «In vain», das über längere Strecken in völliger Dunkelheit gespielt werden muss. Ein Jahrzehnt später trat er bei den Donaueschinger Musiktagen mit dem Konzert «Limited Approximations» in Erscheinung, bei dem sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere nach der Art von Streichern zu glissandieren schienen, während das Orchester in den Tonhöhen so festgefügt wirkte wie ein Klavier. Seine jüngste Grenzbegehung nun trägt den Titel «Liebesgesang» und ist eine Oper, von der nicht feststeht, ob es sich dabei um eine Oper handelt.

Das von den Bühnen Bern in Auftrag gegebene und jetzt aus der Taufe gehobene Stück, wie «Bluthaus» von 2011, «Thomas» von 2013 und «Koma» von 2016 in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Händl Klaus entstanden, sieht zwei Partien vor, Sie und Er, mehr nicht. Mutterseelenallein steht das Paar über die neunzig Minuten Spieldauer im Rampenlicht, ein Orchester gibt es nicht und darum auch keinen Dirigenten, wie überhaupt jede instrumentale Mitwirkung ausgespart bleibt. Auch eine Bühne im eigentlichen Sinn fehlt. Im Stadttheater Bern, einem Logentheater nach italienischem Vorbild, hat der Ausstatter Rainer Sellmaier den Orchestergraben zugedeckt mit einer blendend weiss ausgestrichenen Wanne, in der das Paar von den Regisseuren Tobias Kratzer und Matthias Piro geführt wird – um nicht zu sagen: gehalten wird wie die Tiere im nahegelegenen Bärengraben. Das Parkett ist geschlossen, nur die höher gelegenen Sitzreihen stehen dem Publikum offen, denn nur von dort hat man Einblick in die weisse Wanne. Dafür ist auf der Bühne eine Empore mit zusätzlichen Sitzplätzen aufgebaut. Dort nimmt unter anderen Zuschauern eine Dame Platz, die einem nicht ganz unbekannt vorkommt.

Tatsächlich erhebt sich besagte Dame bald nach Beginn des Abends von ihrem Platz – es handelt sich bei ihr um Claude Eichenberger in der Partie der Sie. Über Treppenstufen und eine Leiter steigt sie hinab in die Wanne, wo Robin Adams als Er, ebenfalls ganz schwarz gekleidet, am Boden liegend mit entsetzlichen Lauten des Schmerzes und Verzweiflung auf sich aufmerksam gemacht hat. Schritt für Schritt erhellt sich die Lage – einen Zeitverlauf im eigentlichen Sinn ergibt sich im Werk von Händl Klaus und Georg Friedrich Haas nicht. «Liebesgesang» öffnet vielmehr einen in seiner Intimität und seiner Intensität erschreckenden, ja erschütternden Blick in eine Beziehung, die denkbar schweren Strapazen ausgesetzt ist. Sie habe ihm ein besonders schönes Zimmer zuteilen lassen, sie bringe ihm sein Lieblingsbrot mit, ausserdem ein Buch mit den schönsten seiner Tierbilder – Christian, sein Name kommt ganz beiläufig ins Spiel, ist ein Tierphotograph, der an einer Psychose leidet und in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt ist; Luz, so ruft Er seine Frau, ist zu Besuch gekommen.

Zu einem Besuch, der rasch implodiert. Sie wird von Ihm als eine Architektin vorgestellt, die ein Haus für die gemeinsame Zukunft oder eher für sich selbst gebaut hat. Und als eine selbstbewusste, doch keineswegs egozentrische Frau, deren Kinderwunsch einer Krebserkrankung zufolge nicht in Erfüllung gegangen ist. Er hingegen leidet an Verfolgungsängsten und Versagensgefühlen, die er geheimzuhalten versuchte, und so türmen sich die Vorwürfe bis zur Katastrophe auf. Die Katastrophe freilich ist, so nennen es das Libretto wie die Partitur, eine «rauschhafte Begegnung», in der sich das Paar in der Erinnerung an die vibrierende Körperlichkeit ihrer Anfänge findet. Danach löst sich alles auf, verlässt sie über Leitern und hinweg durch den Zuschauerraum das Krankenzimmer. Wohl für immer. Und stösst er am Ende einen markerschütternden Schrei aus.

Das alles wird in einer Drastik sondergleichen und zugleich einer ausgefeilten Künstlichkeit vorgeführt. Die von Händl Klaus im Libretto gepflegte Sprache lebt von einer kunstvollen, in ganz eigener Weise poetischen Verfremdung. Und Georg Friedrich Haas schöpft bei der Gestaltung der beiden Vokalpartien aus dem Vollen seiner mikrotonalen Erfahrung wie aus dem mutigen Ausgreifen in stimmliche Extrembereiche. Der Blick in die Partitur lässt die Frage aufkommen, wie denn all diese Töne, die um einen Sechstel- oder einen Achtelton modifiziert sind, wie auch die Momente an reinen Terzen und Quinten realisiert werden können. Der Komponist schreibt dazu im Vorwort: «Kein Dirigat. Freiheit. Selbstverantwortung». Claudia Chan, welche die musikalische Leitung des Abends versieht, war an der Vorbereitung der Produktion beteiligt, während der Vorstellung beschränkt sich ihre Aufgabe jedoch darauf, einem Inspizienten gleich jene Lichtsignale zu steuern, die für ein Minimum an Koordination sorgen. Alles andere ist der Darstellerin, dem Darsteller überlassen. Explizit weist die Partitur immer wieder darauf hin, Sie und Er sollten die Freiräume im Rahmen des ihnen Möglichen nutzen, das aber stets in enger Abstimmung aufeinander tun.

Das ist, so der Eindruck nach der Uraufführung, in der glücklichsten Weise gelungen. Entstanden ist ein Stück Musiktheater, das einen schwer trifft und nicht so rasch wieder loslässt. Der Verzicht auf das Gepränge, das die Oper zur Oper macht, und die Fokussierung auf die vokale Linie, zu der die Sprache des Librettos geworden ist, führen in ihrer Reinheit zu einer Verdichtung der Wahrnehmung, wie sie in dieser appellativen Art äusserst selten auftritt. Nicht zuletzt geht das auf die stupenden Leistungen von Claude Eichenberger und Robin Adams zurück, die singend, keuchend, stammelnd, schreiend ihr Letztes hergeben, die zudem über eine szenische Präsenz der Extraklasse verfügen und den ja nicht unbeträchtlichen Kubus des Berner Zuschauerraums bis in die hinterste Ritze mit Spannung erfüllen. Dass sich Georg Friedrich Haas in der von Ricordi verlegten Partitur immer wieder deutlich von Händl Klaus distanziert, dass zum Jubel des Schlussbeifalls nur der Komponist, nicht aber der Librettist vor den Vorhang trat, darf zum Menschlichen, Allzumenschlichen dieser singulären Produktion gezählt werden.

Vom Leben, vom Tod

Monteverdis «L’Orfeo» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Orfeo (Krystian Adam) und La Speranza (Simone McIntosh) an der Pforte zur Unterwelt / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Die Toccata zu Beginn des Stücks, sie erklang als ein regelrechter Weckruf – und als solcher wirkte und wirkt sie bis heute. Fast fünfzig Jahre sind vergangen, seit das von Claus Helmut Drese geführte Opernhaus Zürich mit der Produktion von «L’Orfeo» unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle den entscheidenden Anstoss zur Wiederentdeckung Claudio Monteverdis, ja eines ganzen Teils der Musikgeschichte gegeben hat. Die alte Musik hat sich zu einem eigenen Sektor im musikalischen Leben entwickelt, mit eigenen, spezialisierten Interpreten, eigenen Festivals, eigenen Labels und vor allem mit einer eigenen, ebenso in die Tiefe wie in die Breite gewachsenen Stilistik. Obwohl Harnoncourt, rasch zur Galionsfigur der Bewegung geworden, von allem Anfang an betont hatte, es gehe nicht um musikalische Archäologie, sondern um die Wiedergewinnung einer vergessenen Kunst für das Hier und Jetzt, musste doch einige Zeit vergehen, bis die historisch informierte Aufführungspraxis diesen Aspekt zuzulassen und zu verinnerlichen in der Lage war. Heute hat das Spektrum der Interpretation alter Musik ungeahnte Vielfalt erlangt.

Zu erleben ist das in der neuen Produktion von Monteverdis «L’Orfeo», die das Opernhaus Zürich in seinen Spielplan aufgenommen hat. Geradezu verhalten, zurückgenommen wirkt die eröffnende Toccata; sie wird erst von den Zinken und den Posaunen allein, dann von den Streichern mit dem Basso continuo, schliesslich vom gesamten Orchester dargeboten. Der Weckruf war gestern, heute gilt es der Interpretation. In der feinfühligen, gescheiten Sichtweise des Regisseurs Evgeny Titov setzt sie auf eine Dramaturgie des Rückblicks, und das nimmt des hauseigene Barockorchester La Scintilla mit Ottavio Dantone als Dirigenten am Cembalo in beeindruckender Weise auf. Das Leise herrscht vor, man muss die Ohren spitzen, kann dann aber eintauchen in eine musikalische Welt voller Farben – dies nicht zuletzt dank dem reich besetzten, geschmeidig agierenden Basso continuo. Ist die Toccata vorbei und hat auch die allegorische Einleitung durch La Musica, die in der Darstellung der wunderbaren Sopranistin Josè Maria Lo Monaco Trost und Kraft verspricht, ihr Ende gefunden, sieht man Orfeo auf einem Steinbrocken sitzen und mit einer Pistole spielen, neben sich den blütenweissen Sarg mit der toten Euridice drin.

Es ist das Gegenteil dessen, was Monteverdis Partitur vorgibt. Die ausgelassene Hochzeit zwischen Orfeo und Euridice, der fatale Schlangenbiss, Orfeos Gang in die Unterwelt, der endgültige Verlust Euridices, das hat alles schon stattgefunden. Was den neuen Zürcher «Orfeo» bestimmt, ist der Blick zurück in die unmittelbare Vergangenheit mit den Momenten des allerhöchsten Glücks und der allertiefsten Verzweiflung. Ist das Eintauchen in die seelische Verfasstheit eines Menschen, in der es nichts als Wunden gibt. Das Bühnenbild von Chloe Lamford und Naomi Daboczi spricht davon. Es zeigt zwei riesige verkohlte Baumstämme oder, wenn man will, zwei enorme dunkelgraue Lavabrocken. Der Eingang zur Unterwelt wird angedeutet durch eine frei im Raum stehende, zweiflüglige Tür in barocker Formensprache; ihr Medaillon über dem Türrahmen zeigt das Gesicht des Schiffers Caronte, das mit einem Mal zu singen beginnt. Dem prachtvollen Bariton von Mirco Palazzi, dem man wenig später in der Partie des Totengottes Plutone wieder begegnet, hält Orfeo all seine Kunst entgegen – Krystian Adam gestaltet seine Partie aus ungeheurer Empathie und einer Emotionalität heraus, die ganz direkt berührt. Jedenfalls erliegt ihr nicht nur der Fährmann am Flusse Styx, sondern auch Proserpina; was Simone McIntosh mit ihrem lieblichen Timbre an Wärme in das ganz in kalter Sachlichkeit gehaltene Intérieur der Chefetage im Totenreich einbringt, ist von ergreifender Wirkung.

Eine Schrecksekunde nur dauert die Grenzüberschreitung, der von Plutone ausdrücklich verbotene Blick, den Orfeo seiner Euridice schenkt und sie dadurch endgültig verliert. Miriam Kurowatz, von der Kostümbildnerin Annemarie Woods ganz in Weiss gekleidet, gibt die Euridice als Lichtgestalt, Orfeo dagegen versinkt in schwere Depression. Ottavio Dantone nimmt den Ansatz des Regisseurs subtil auf; zart und weich klingt dieser «Orfeo», darin liegt auch ein Moment jenes Trostes, den La Musica zu Beginn angesprochen hat. Orfeo hilft es nicht. Wenn zum Schluss sein Vater Apollon auftritt, kommt durch das sternenglitzernde Kostüm des Gottes und die glänzenden Lineaturen seines Darstellers Mark Milhofer ein helles Licht in das düstere Geschehen. Und noch einmal zeigt die von Marco Amherd vorbereitete Zürcher Sing-Akademie, in welch entscheidender Weise sie die Produktion belebt – diesmal aus hoch gelegenen Logen im halb erleuchteten Zuschauerraum. Dann: Blackout, ein Schuss im Dunkeln, eine letzte Kadenz – von lieto fine keine Spur. Ein Abend geistreich interpretierenden Musiktheaters.

Von der Kraft des Widerstands

«Guillaume Tell» von Rossini in St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Guillaume Tell in Aktion / Bild Edyta Dufaj, Theater St. Gallen

Gerade häufig erscheint «Guillaume Tell» nicht auf der Bühne. Die letzte Oper Gioachino Rossinis leidet, so wird rapportiert, an zwei bis drei Nachteilen. Zum einen soll sie in vollständiger Version rund sechs Stunden dauern, sehr lang also, länger noch als die Hauptteile von Wagners «Ring». So muss denn eine gekürzte Fassung erstellt werden, was manche Erleichterung schafft, was ausserdem insofern Legitimität geniesst, als der Komponist selbst bei der von ihm dirigierten Pariser Uraufführung von 1829 zum Rotstift gegriffen hat. Zum anderen aber ist «Guillaume Tell» nicht eben einfach zu besetzen. Die zentrale Partie des Arnold von Melchtal liegt extrem hoch, um sie rankt sich die Legende vom «do di petto», dem viergestrichenen c (in Ausnahmefällen sogar dem viergestrichenen cis), das von dem französischen Tenor Gillbert Duprez kurze Zeit nach der Uraufführung von «Guillaume Tell» zum ersten Mal ohne Wechsel in die Kopfstimme, sondern in der Bruststimme gesungen wurde – was seither üblich, in der Realisierung aber nicht einfacher geworden ist. Vor allem fordert «Guillaume Tell» die Opernhäuser jedoch durch die Massenszenen der Grand Opéra mit ihren Chören, Balletten, Tableaus und Kostümfesten, mithin enormem Aufwand.

Nun erscheint «Guillaume Tell» wieder einmal auf der Bühne: im Theater St. Gallen, einem Mehrspartenhaus, das für ein solches Unternehmen nicht eben prädestiniert erscheint. Möglich geworden ist das Projekt, weil in St. Gallen auf die raumgreifende Geste der Grand Opéra weitgehend verzichtet und weil kräftig gekürzt worden ist. Die Aufführungsdauer beläuft sich noch auf knapp dreieinhalb Stunden, eine Pause eingeschlossen. Und szenischer Effekt ist reduziert, «Guillaume Tell» ist von der Ausschmückung weitgehend befreit, vielmehr auf die reine Geschichte zurückgeführt, und das ist spannend genug – zumal der gedankliche Weg von den Ur-Schweizern, die sich mit individuellem Mut gegen die Besatzung durch die Habsburger zu wehren wussten, hin zu einem wehrhaften Volk dieser Tage nicht eben weit ist.

In der Inszenierung von Julien Chavaz, dem Bühnenbild Jamie Vartan und den Kostümen von Severine Besson bleibt der in hellem Beige gehaltene Bühnenraum leer. Für Bewegung sorgen mobile Wände und Neonschienen, die hier Blitze, dort Häuser andeuten, ausserdem der erweiterte, von Filip Paluchowski seriös vorbereitete Chor des Theaters St. Gallen und die von Nicole Morel erdachte Choreographie. Dass die Ouvertüre, ein fulminantes Konzertstück, das vom Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung des Gastdirigenten Michael Balke fabulös gemeistert wird, von vier Tänzerinnen bereichert wird, wirkt allerdings reichlich altbacken; Rossinis Musik ist doch so packend, dass man sie sich sehr gerne einfach nur anhört – in der St. Galler musikalischen Auslegung, die von zündenden Rhythmen und heller Farbigkeit lebt, gilt das erst recht. Und die vier von den Tänzerinnen dargestellten Schafe, die in entscheidenden Momenten die Bühne queren, bringen etwas von jenem Postkarten-Kitsch ein, der sich bei diesem Stoff vielleicht doch nicht vermeiden lässt.

Ganz so abwegig ist der Einsatz der süssen Tiere jedoch nicht. Julien Chavaz sieht das Schweizervolk als eine Versammlung von Menschen, die in direkter, ungebrochener Verbindung mit der Natur leben – in einer Naivität, die, wenn sie von aussen gestört wird, ungeheure Kraft entwickeln kann. Dieser Kraft begegnen die ganz in Rot gewandeten Bösewichte Gessler (der sonore Hüne Kristián Jóhannesson) und sein Assistent Rudolf (Christopher Sokolowski) mit seinen Mannen. Ihnen gegenüber steht der von einem genuinen Selbstbehauptungswillen geprägte, im Moment des Apfelschusses aber auch seine verletzliche Seite zeigende Tell – Theodore Platt verkörpert seine Partie überaus eindrucksvoll. An seiner Seite steht zum Beispiel, und nun kommt die Rede auf das «do di petto», der junge Arnold von Melchtal, der mit seinem hellen, zugleich körperreichen Tenor die Höhen mühelos meistert, auch seine Not und die Befreiung daraus glaubwürdig darstellt. Die Not heisst Mathilde. Sie ist eine Prinzessin aus dem Hause Habsburg, die Gessler in die Schranken weist und schliesslich unter Verzicht auf ihren sozialen Status zu den Schweizern überläuft – Athanasia Zöhrer schafft da, auch mit ihrer Sicherheit in den Koloraturen, ein prachtvolles Rollenporträt. Lustig zudem Tells Sohn, der bei Rossini Jemmy heisst; Kali Hardwick gibt diese Hosenrolle vital und brillant. Nicht zuletzt bleibt anzumerken, dass die Diktion – Rossinis Oper wird in der französischsprachigen Originalfassung geboten – nichts zu wünschen übrig lässt.

Die dreieinhalb Stunden sind jedenfalls im Nu vorüber.