«Guillaume Tell» von Gioachino Rossini
an der Opéra de Lausanne
Von Peter Hagmann
«Guillaume Tell», die neununddreissigste und letzte Oper Gioachino Rossinis, ist in jeder Hinsicht übermässig: in ihrer Aufführungsdauer, in den Aufzügen der Chöre, in den Spitzentönen, die dem primo tenore abverlangt werden, nicht zuletzt in der heiss geliebten Ouvertüre mit ihren irrwitzigen Anforderungen an die Kantabilität wie die Virtuosität des Orchesters. Wie soll ein solcher Koloss in der nicht besonders ausladenden Opéra de Lausanne Platz finden? Tatsächlich ist «Guillaume Tell», ohnehin vergleichsweise selten gespielt, in Lausanne noch nie gegeben worden. Wir können das, sagte sich jedoch Claude Cortese, der neue Direktor des Hauses, der sich beim Publikum nicht mit einer eingekauften, sondern einer an Ort und Stelle neu erstellten Produktion einführen wollte. Cortese konnte das Risiko abschätzen, verfügt er doch über reiche Erfahrung im Metier. So wagte er es – und hat Recht behalten. Die Produktion ist in hohem Mass gelungen und lässt für die Zukunft einiges erwarten.
Hinreissend schon die Ouvertüre mit dem elegischen, von solistisch eingesetzten Celli getragenen Beginn und dem wirbelnden Ende. Das Orchestre de Chambre de Lausanne war schon hier ausgesprochen guter Laune; überhaupt zeigte es sich äusserst agil und geschmeidig – was nicht zuletzt auf den Dirigenten Francesco Lanzillotta zurückgeht. Mit acht Ersten Geigen spielte das Orchester gleichsam in einer Kammerbesetzung; wahrzunehmen war es jedoch nicht wirklich, das Instrumentale entwickelte ausreichend Präsenz, und die Balance, jene zwischen den Bläsern und den Streichern wie jene zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen, blieb jederzeit gewahrt. Eine imposante Leistung bot an der Premiere auch der von Alessandro Zuppardo vorbereitete Chor der Oper Lausanne; schöner, homogener, klar gezeichneter Klang war da zu hören – die grossen Aufzüge liessen nichts zu wünschen übrig.
Wie das Spiel in Lausanne anhebt, erstrahlt auf der Bühne von Alex Eales ein bekanntes Bildnis Ferdinand Hodlers, vielleicht «Landschaft am Genfersee»; dazu kommen die Herren im Chor, die gerne die Bewegungen des ebenfalls von Hodler so markig abgebildeten Holzfällers andeuten. Der Regisseur Bruno Ravella verortet die von Schiller in seinem Schauspiel erzählte Geschichte vom Kampf eines Volkes um seine Freiheit eindeutig in der Schweiz und im mythologischen Gewand. Am Ende jedenfalls fährt der Felsbrocken, auf dem Wilhelm Tell mit seiner Armbrust steht, dergestalt in die Höhe, dass der siegreiche Held wie die berühmte Helvetia auf der gegenwärtig im Umlauf befindlichen Ein-Franken-Münze erscheint. Dass es in diesen Tagen noch ein anderes Volk gibt, das um seine Freiheit kämpft, zeigt sich allein in zwei Bändern mit den ukrainischen Landesfarben, die in der Feier zur Hochzeit von drei jungen Paaren zu Beginn des Eröffnungsaktes verwendet werden. Das ist gut so; jede konkrete Anspielung an das Geschehen unserer Tage, so nahe es läge, käme einer Plattitüde gleich.
Die Besetzung der Urschweiz durch die Habsburger wird in der Inszenierung allerdings in schauerlicher Genauigkeit vorgeführt. Mit seinem kernigen Timbre gibt Luigi De Donato einen zynisch brutalen Gessler, der mit einer Fingerbewegung über Leben und Tod entscheidet. Und die von Sussie Juhlin-Wallén weinrot gekleidete Soldateska geht mit ihren Knüppeln schonungslos gegen Mann wie Frau vor. Das bildet den Hintergrund. Im Zentrum des Geschehens, so will es die Grand Opéra, steht aber das private Drama. Die Eindringlichkeit, mit der die zwischenmenschliche Interaktion szenisch wie musikalisch realisiert wird, ist von zutiefst berührender Wirkung. Wenn Tell von Gessler in der nicht enden wollenden Szene vor dem Apfelschuss erniedrigt wird, gibt Jean-Sébastien Bou das Letzte an darstellerischer Intensität und vokaler Expression. Ihm zur Seite steht Jemmy, der von von der kleinen, ebenfalls ausdrucksstarken und stimmlich erstaunlichen Elisabeth Boudreault als der mutige Sohn seines Vaters gezeigt wird. Die Dritte im Bunde ist die Gattin und Mutter Hedwige, die von Géraldine Chauvet mit würdigem Profil versehen wird.
Und dann eben die liaison dangereuse zwischen dem jungen Arnold von Melchtal und Mathilde, der habsburgischen Prinzessin im Gefolge Gesslers. Im entscheidenden Moment des (übrigens leicht, aber geschickt gekürzten) Stücks nimmt die junge Frau aus dem gegnerischen Lager den von Gessler bedrohten Sohn Tells unter ihren Schutz stellt und wechselt damit die Seiten – schade nur, dass sie dann nicht ihre weinrote Schärpe von der Schulter nimmt und nicht auch im Gewand als eine Gleiche unter Gleichen von der Bühne geht. Wie die Ukrainerin Olga Kulchynska, neben Luigi De Donato das zweite Ensemblemitglied nichtfranzösischer Zunge, ihre Partie zum Leben erweckt, wie hoch ihre nur ganz leicht gefärbte Diktion steht, wie tadellos ihr die Koloraturen gelingen, wie treffend sie ihre Gefühle mit ihrer wunderschönen Stimme zur Geltung bringt, es verdient alle Bewunderung. In nichts steht ihr Julien Dran nach, der als einer der hohen französischen Tenöre den Ritt über den Genfersee prächtig meistert; souverän erklimmt er die Spitzen in der Partie des Arnold, und ohne Einbusse lässt er auf den stimmlichen Gipfeln seiner Partie Glanz und fassbaren Klang erstrahlen – das alles in Verbindung mit vorbildlicher Diktion.
Wer wissen möchte, worin die Kunst des französischen Gesangs bestehen kann, an diesem Abend kann er es erfahren. In der Akzentsetzung auf dem Frankophonen, die der Spielplan der Saison 2024/25 andeutet, findet die Opéra de Lausanne anregenden Kontrast zu dem eher international ausgerichteten Programm des Grand Théâtre de Genève. Wenn ab der Spielzeit 2026/27 Alain Perroux, bis vor kurzem der Chef von Claude Cortese, als Nachfolger Aviel Cahns von Strassburg nach Genf kommt, könnte die bekanntlich nicht ganz konfliktreiche Beziehung zwischen beiden Kantonshauptstädten auch auf dem Gebiet des Musiktheaters richtig spannend werden.