Auf der Höhe der Zeit

Isabelle Faust und Philippe Herreweghe
zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Auffallend herzlich umarmte am Schluss die Geigerin Isabelle Faust den Konzertmeister Klaidi Sahatçi: ein Zeichen der kollegialen Wertschätzung, aber auch eines der Dankbarkeit. Gemeinsam und mit deutlich sichtbarem Körpereinsatz hatten die Solistin und der Mann am ersten Geigenpult das Tonhalle-Orchester Zürich durch das Violinkonzert von Johannes Brahms geführt. Nicht dass es Unstimmigkeiten irgendwelcher Art gegeben hätte, aber auf dem Dirigentenpodest stand Philippe Herreweghe, ein grossartiger Musiker und ein innovativ denkender, anregend interpretierender Dirigent – aber: kein Taktschläger. Er lässt die Musiker spielen; Einsätze gibt er nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit den Augen. Seine Zeichengebung ist weich, sie kommt ganz aus dem Gefühl für die musikalischen Verläufe und die Wegmarken des Ausdrucks heraus, die Koordination im Orchester überlässt er gern den Musikern selbst. Das geht nicht auf Überheblichkeit zurück, es zeugt vielmehr vom Geist Claudio Abbados, für den das Musizieren im Orchester im Idealfall eine Art vergrösserter Kammermusik darstellte – Kammermusik verstanden als Momente bewussten Aufeinanderhörens.

Wirklich verstanden und in Freiheit umgesetzt werden kann das, was Herreweghe mit den Händen und dem Körper ausdrückt, wohl nur von den Mitgliedern seiner Familie, der diversen von ihm ins Leben gerufenen Formationen. Was für bewegende (und übrigens technisch ausgefeilte) Aufführungen vom Kreis um Herreweghe geboten wurden, kann anhand zahlloser, in vielen Fällen beispielhafter Tondokumente nachvollzogen werden. Es war auch in Zürich zu erleben, wo Herreweghe seit dem späten 20. Jahrhundert bei der Neuen Konzertreihe in schöner Regelmässigkeit Johann Sebastian Bachs «Matthäus-Passion» präsentiert hat – und das in einer Fasslichkeit, welche die Härte der Sitzbänke im Fraumünster glatt vergessen machte. Auch das jüngste Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich – ich hörte den ersten der beiden Auftritte – wurde zu einem Ereignis, das in jedem Augenblich packte und danach lange nachhallte, eben gerade weil alle Beteiligten in gesteigerter Achtsamkeit füreinander zusammenwirkten. Der Reaktion im Publikum war enorm; sie drückte die Anteilnahme an einem Abend aus, der, wie es in den Konzerten des Tonhalle-Orchesters immer häufiger geschieht, keine Pause aufwies und darum als geschlossenes Ganzes wirkte.

Übrigens auch auf der Ebene der Tonarten. Denn auf Brahms’ Violinkonzert in D-dur folgte nach einem Schritt in die Dominante die Sinfonie Nr. 7 in A-dur von Ludwig van Beethoven, dem von Brahms zutiefst verehrten Vorbild. Hier konnte das Orchester wieder einmal sein Eigentliches herzeigen: die Strahlkraft der Streicher, die dank der intensiven Kommunikation der Stimmführer untereinander zu besonderer Wirkung kam, das dunkle Fundament der Bässe, welche die Orgelpunkte in der Sinfonie Beethovens zu ungeheurer Spannung steigerten, die Wärme der Holzbläser im Verbund mit den Hörnern, die den Beginn des zweiten Satzes im Violinkonzert von Brahms zum Höhepunkt des Werks machte. All das geschah ohne Zwang, auch ohne jeden Exzess – gleichsam von selbst. Und ganz natürlich, als ob es anderes nicht gäbe, stellte Herreweghe die A-dur-Sinfonie Beethovens ins Licht heutiger Erkenntnisse zu Fragen der Aufführungspraxis. Die Besetzung war klein gehalten, der von nuanciertem Vibrato der Streicher geprägte Ton blieb beweglich, und die beiden Geigengruppen, die nicht nebeneinander, sondern einander gegenüber sassen, liessen die Motive hin- und hergehen. Spürbar frisch waren die Tempi, sie hatten darin jedoch nichts Demonstratives. Eigenartig nur, dass die Artikulation des Hauptthemas im zweiten Satz so beliebig blieb, so wenig Unterschied zwischen Hebung und Senkung aufwies. Aber die Flüsterfuge in diesem Allegretto gelang vorzüglich – wie überhaupt das Piano immer wieder seinen Namen verdiente.

In derselben Gelassenheit erschien das Geigenkonzert von Brahms – und das will etwas heissen bei einem Werk, in dem oft und gerne gedrückt und gekratzt wird. Isabelle Faust meisterte ihren Part – natürlich technisch perfekt, mit makellos intonierten Mehrfachgriffen und ohne ein einziges Glissando. Aber auch interpretatorisch verfolgte sie heutige Auffassungen, nämlich eine Reinheit und eine Einfachheit, wie sie Joseph Joachim, dem Widmungsträger und Uraufführungsinterpreten, zugeschrieben wurden. Virtuoses Auftrumpfen oder ein Kampf mit den Elementen, will sagen: mit der oder gegen die Geige, davon konnte in keinem Augenblick die Rede sein. Hell und klar, auch leuchtend blieb der Ton im ausladenden Kopfsatz – bis hin zu der hier über weite Strecken von der Pauke begleiteten Kadenz. Und sparsam das Vibrato, das sie dann im Adagio ausgeprägter einsetzte, dies in Verbindung mit subtilen Modifikationen des Tempos. Äusserst temperamentvoll, doch gleichzeitig elegant schliesslich das Finale. Was Understatement auszulösen vermag, hier war es zu erleben.

Beethoven mit Currentzis  – und etwas viel Wind

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist weitgehend stillgelegt, Oper und Konzert sind so gut wie ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Die Fünfte mit dem Dirigenten Teodor Currentzis und seinem Orchester MusicAeterna als Auftakt zu einer neuen Gesamteinspielung der neun Sinfonien Ludwig van Beethovens – das hatte das Zeug zu einem Hype. Das Virus hat ihn gebodigt, die physische Publikation der CD wurde hinausgeschoben und ist jetzt, da sie erfolgt ist, im allgemeinen Marktbetrieb untergegangen. Für Sony Classical ist das bedauerlich, von der Sache her erscheint es dagegen als angemessen.

In einem Booklet-Beitrag zu seiner Interpretation schlägt Teodor Currentzis grosse Töne an – das ist seine Art, auf dem Glatteis der Beethoven-Interpretation aber nicht ganz ungefährlich. Dezidiert abheben möchte er sich von der spätromantisch geprägten Tradition, die im grossen Geschäft bis heute dominiert. Das kann man sogleich unterschreiben, die Einspielungen neueren Datums mit Dirigenten wie Andris Nelsons, Christian Thielemann oder Daniel Barenboim zerreissen wahrhaft keine Stricke. Was Currentzis im Gegensatz dazu vorschwebt, ist, wie er schreibt, ein neues Hören, ein neues Erleben, ja kathartische, grundlegend reinigende Wirkung im Zuhörer. Inwieweit die Ambition durch die klingende Realität der CD eingelöst wird, ist eine andere Frage.

MusicAeterna, von Teodor Currentzis 2004 gegründet, von ihm bis heute geleitet und betrieben, agiert bei Beethoven als ein Orchester aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis. Der Stimmton ist leicht abgesenkt, die Artikulation äusserst agil und elegant federnd. Dazu kommt eine technische Fertigkeit, die keinerlei Wünsche offen lässt. Abgesehen vom zweiten Satz halten sich die Tempi ganz selbstverständlich, jedenfalls ohne jede Verkrampfung an die Metronomzahlen, die der Komponist ab 1817 publizieren liess. Das gelingt auch im Kopfsatz, wo das eröffnende Signal keine Spur von Hast zeigt. Allein, die Zeitmasse sind straff durchgezogen, sie bleiben in einem strengen Gleichmass, das wenig Atem lässt und die Musik kaum zum Sprechen bringt – jene kleinen Zäsuren, jene fast unmerklichen Akzente, die Leben schaffen, fehlen so gut wie ganz. Das kleidet den revolutionären Duktus, den Currentzis herauszuarbeiten sucht, in ein Musizieren von stromlinienförmigem Gepräge.

Dazu kommt der auffallende Mischklang. Schön ist er, ganz ausserordentlich schön – man könnte fast an Herbert von Karajan denken. Doch dieser schöne Klang zeigt mässig Relief. Das Scherzo verspricht einiges. Dank der ausgeprägten Kultur des Leisen, die MusicAeterna zu pflegen vermag, entsteht eine Atmosphäre von verschwörerischer Spannung, die Fuge des Trios, in dem von Beethoven gedachten Tempo genommen, lässt die kurz vor der Eruption stehenden Energien spüren – und wie dräuend der Schluss des Satzes ins Finale überleitet, ist grosse Klasse.

Das Finale selbst enttäuscht dann aber. Zum ersten Mal in der Geschichte der Sinfonie werden hier Posaunen eingesetzt, Instrumente aus dem Bereich der französischen Revolutionsmusik etwa von Luigi Cherubini, wie sie auf einer anregenden CD mit dem Orchester der Mailänder Scala und dem dortigen Musikdirektor Riccardo Chailly zu hören ist. Auch Piccolo und Kontrafagott erscheinen erstmals im sinfonischen Kontext. Bei Currentzis ist das kaum zu hören; das Kontrafagott knurrt bisweilen vernehmlich, das Piccolo dagegen tritt kaum heraus, die Posaunen bleiben ins Tutti integriert und machen sich erst gegen Ende des Satzes bemerkbar. Der Schluss freilich mit seinen unendlichen Ausrufezeichen ist grossartig ausgeformt.

Das neue Kapitel in der Interpretation von Beethovens Fünfter wird von Currentzis nicht aufgeschlagen, das taten andere. Auswege aus der spätromantischen Interpretationsästhetik haben avantgardistisch denkende Dirigenten von Arturo Toscanini bis zu Michael Gielen gezeigt, im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis haben seit dem Orchester des 18. Jahrhunderts mit Frans Brüggen – vor immerhin bald vierzig Jahren – zahlreiche Ensembles bemerkenswerte Perspektiven eröffnet. In seinen späten Jahren hat Nikolaus Harnoncourt noch einmal kraftvoll in die Diskussion eingegriffen, und mit seinem Dirigenten Giovanni Antonini hat das Kammerorchester Basel eine Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens vorgelegt, welche die Latte ausgesprochen hoch gelegt hat. Warten wir ab, wie es bei Teodor Currentzis weitergeht.

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5 in c-moll op. 67. MusicAeterna, Teodor Currentzis (Leitung). Sony Classical 19075 884972 (CD, Aufnahme 2018, Produktion 2020).

Mit voller Kraft voraus

Ein zweiter Abend des Tonhalle-Orchesters Zürich mit seinem designierten Chefdirigenten Paavo Järvi

Von Peter Hagmann

 

Für ihren jüngsten Auftritt haben sie noch einen Zacken zugelegt, die Mitglieder des Tonhalle-Orchesters Zürich und ihr designierter Chefdirigent Paavo Järvi. Verständlich, ging es doch ans Eingemachte, an die Sinfonien Ludwig van Beethovens, mit denen das Orchester und sein damaliger Chefdirigent David Zinman vor zwanzig Jahren einen bedeutenden Schritt nach vorn getan haben. Järvi geht dieses Repertoire ganz anders an. Anders als Frans Brüggen, der Zinman den Weg gewiesen hat, auch anders als Giovanni Antonini, der mit dem Kammerorchester Basel kurz nach der Jahrhundertwende mit seinem vorbildlichen Beethoven-Zyklus begonnen hat. In der gleichen Zeitspanne hat Järvi die Sinfonien Beethovens für eine Gesamtaufnahme in den Blick genommen – dies allerdings in Bremen, wo die Deutsche Kammerphilharmonie ihren Sitz hat.

Das Temperament, mit dem Järvi in Zürich der Sinfonie Nr. 1 in C-dur (op. 21) begegnet, ist jenem Antoninis absolut verwandt. Beide Dirigenten verankern ihre Auslegung in der unerhörten Überraschung, mit der Beethoven sein Debüt als Sinfoniker einleitet: in dem Dominantseptakkord, mit dem die langsame Einleitung anhebt. Er lässt die Tonika gar nicht erst aufkommen, umspielt sie vielmehr ausführlich, bis sie dann im Allegro con brio umso entschiedener ihr Recht einfordert. Ein unglaublich frecher Einfall, ein Verstoss gegen Regel und Konvention, den sich der frisch in Wien etablierte Komponist hier geleistet hat. Er mokiert sich über seine Zuhörer, und ganz gleich tut er es in der langsamen Einleitung zum letzten Satz, wo er sechs nach oben strebende Anläufe nimmt, bis er im Allegro molto e vivace die Tonika erreicht und er dem Finale seinen Lauf lassen kann.

Während Brüggen – zu erkennen am Mitschnitt von 1997 in der CD-Box zum 150-jährigen Jubiläum des Tonhalle-Orchesters – und mit ihm Zinman die Regelverstösse Beethovens zum Anlass nehmen, den Witz seiner Ersten in kristalliner Feingliedrigkeit und einem geschärften, zugleich jedoch eleganten, von den Zehenspitzen aus entwickelten Rhythmusgefühl zur Wirkung zu bringen, legen sich Antonini und Järvi bei diesem Stück gewaltig ins Zeug. Sie peitschen ihre Orchester regelrecht auf – wobei es dann mit der Gemeinsamkeit sein Ende hat. Denn Antonini arbeitet mit historischem Instrumentarium und der entsprechenden Spielweise, Järvi dagegen mit weitgehend konventionell ausgerichteten Orchestern, in Bremen wie in Zürich. Gross war die Besetzung in der Tonhalle Maag, da gab es beträchtlich Fleisch am Knochen, und dass Järvi diesen Apparat zu derart behendem Tanzen gebracht hat, war ein Meisterstück ganz eigener Art. Die von Beethoven selbst vorgegebenen Tempi, immer wieder erstaunlich rasch und darum lange Zeit umstritten, erschienen als geradezu selbstverständlich. Der Abend hat wenigstens gezeigt, dass sie sich auch mit einem grosso modo philharmonisch ausgerichteten Klangkörper realisieren lassen.

Das Tonhalle-Orchester konfrontierte das mit einem Paradigmenwechsel, den es mit sicht- wie hörbarer Lust vollzog. Recht so; nichts birgt mehr Gefahr als der Stillstand. Allein, der neue Horizont, der hier skizziert wurde, hat seinen Preis. Järvi markiert deutlich Präsenz vor dem Orchester, er lässt auch seine Muskeln spielen und gibt im Finale mit seiner ans Publikum gerichteten Gestik gar den Entertainer – was zu klanglicher Vergröberung und zu Verlusten auf der Ebene von Phrasierung und Artikulation einher geht. Die trocken gespielten Passagen im Kopfsatz etwa entbehrten der Geschmeidigkeit, sie wirkten kantig, bisweilen hart. Eher gleichförmig auch die vielen Ton- und Akkordwiederholungen – wo die Musik spricht, ist dem nicht so, wo sie ruft, bleibt vielleicht nichts anderes. Schliesslich trat dank der deutschen Aufstellung des Orchesters mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten der dialogische, um nicht zu sagen: der kontrapunktische Charakter der Partitur zwar deutlich heraus, dennoch blieben, was die Transparenz des Klangbilds betrifft, durchaus Wünsche offen. Über all das liesse sich fruchtbar nachdenken – übrigens ohne jeden Nostalgieverdacht.

Ebenfalls zugespitzt, aber in einer etwas anders gelagerten Richtung, das Violinkonzert Nr. 5 in A-dur von Wolfgang Amadeus Mozart – mit Janine Jansen, der «artist in residence» dieser Saison. Lang ist ‘s her, dass ich die gerade 41 Jahre alt gewordene Niederländerin das letzte Mal gehört habe. Und gross war das Erstaunen, an diesem Abend von der unglaublichen Entwicklung zu erfahren, welche die Künstlerin durchlaufen hat. Es ist eine Entwicklung weg vom angepassten Geigenmädchen hin zu einer ferventen Ausdruckskünstlerin – zu einer Musikerin fast ein wenig im Geiste Patricia Kopatchinskajas. Jedenfalls erkundete sie in dem oft genug harmlos gegebenen Mozart-Konzert ein enorm weit gespanntes Ausdrucksspektrum – dies jedoch ohne die stilistischen Grenzen zu verletzen. Im Hauptthema des Kopfsatzes hob sie die schweren Taktteile kräftig heraus, beliess diesen Schwerpunkten aber jenes minimale Ausschwingen, das den Akzenten die Schärfe nimmt. Im langsamen Mittelsatz fanden die meist in Zweiergruppen zusammengefassten Sechzehntelketten zu attraktivem Schwingen – wie überhaupt die Geigerin sich sorgfältig um klare Artikulation bemühte. Das Orchester folgte ihr hier zumindest auf halbem Weg.

Ganz und gar eigenständig agierte es dagegen in den beiden sehr frühen, sehr selten gespielten Tondichtungen, die Olivier Messiaen unmittelbar nach dem Abschluss seiner Studien am Pariser Konservatorium komponiert hat – und sowohl «Les Offrandes oubliées» als auch «Le Tombeau resplendissant» wurden im Hinblick auf eine für Herbst 2020 vorgesehen CD-Publikation live aufgenommen. Viel von dem, was Messiaen späterhin zur Blüte brachte, ist da in Ansätzen zu hören. Vogelstimmen zwar noch nicht wirklich, dafür aber die Terrassendynamik der Orgel (letztlich auch der sinfonische gedachten französischen Orgel des ausgehenden 19. Jahrhunderts) und vor allem die spirituelle Grundlegung. Auch da hätte etwas weniger Kraftaufwand nicht geschadet. Die eruptive Jugendlichkeit dieser Musik und ihre schon in hohem Mass entwickelten Reize im Klangfarblichen brachten das Tonhalle-Orchester Zürich und sein von allen Seiten heftig akklamierter Chefdirigent in spe aber prachtvoll zur Geltung.

«Die Fünfte» mit Harnoncourt

 

Peter Hagmann

Noch einmal – und ganz anders

Der Concentus Musicus Wien spielt Sinfonien Beethovens

 

Aufgewühlt, zerzaust, ja erschrocken sassen die Zuhörer im Grossen Saal der Tonhalle Zürich. So hatten sie «die Fünfte», Ludwig van Beethovens berühmte c-moll-Sinfonie, op. 67, noch nie gehört – so wie sie Nikolaus Harnoncourt anlässlich eines Gedenkkonzerts für den verstorbenen Zürcher Operndirektor Claus Helmut Drese am 26. November 2011 präsentiert hat. Eine radikal eigenwillige Sicht war das, ein Akt der Interpretation im besten Sinn des Wortes. Zur geplanten Publikation des Mitschnitts auf CD ist es allerdings nicht gekommen; statt dessen sind jetzt bei Sony Beethovens Sinfonien vier und fünf als Aufzeichnung einer Konzertserie vom Mai 2015 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins erschienen. Sie war als Auftakt einer neuen Edition der neun Sinfonien Beethovens mit dem Concentus Musicus Wien gedacht; nach dem vor kurzem verkündeten Abschied Harnoncourts muss sie wohl oder übel als Schwanengesang angesehen werden.

Die Musik und ihre Botschaft

Nach einer Produktion von Beethovens Oper «Fidelio» 2013 im Theater an der Wien, so lässt sich Harnoncourt im Booklet zitieren, hätten sich seine Freunde vom Concentus und er gedacht, dass jetzt der Moment gekommen sei, die Sinfonien Beethovens in den Blick zu nehmen. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn sollte Harnoncourt diese Werke mit einem sogenannten Originalklang-Ensemble erarbeiten. Denn wohlverstanden, bei jenem Beethoven-Zyklus, mit dem Harnoncourt vor einem Vierteljahrhundert in Graz Aufsehen erregt hatte, war mit dem Chamber Orchestra of Europe ein konventionell besetztes Orchester beteiligt. Die Verwendung alter Instrumente oder entsprechender Kopien und die entsprechenden Spielweisen machen indessen noch keineswegs die Besonderheit der neuen Aufnahme aus. Es ist gerade umgekehrt; erst die Mittel der historischen Aufführungspraxis ermöglichen Harnoncourt, seinen Intentionen als Interpret tatsächlich nahe zu kommen.

Was das heisst, ist zu erkennen, wenn man von der neuen Aufnahme von Beethovens Fünfter zur Einspielung von 1990 zurückkehrt. Vieles ist dort angelegt, aber bei weitem nicht so radikal verwirklicht – das verunmöglichte etwa das Instrumentarium. Gewiss prägen die Hörner des Chamber Orchestra of Europe das Geschehen mit scharf leuchtendem Klang, aber es sind doch Ventilhörner, bei denen jeder Ton in seiner Farbe mit dem vorangehenden oder dem nächsten klar verwandt ist. Beim Concentus Musicus Wien werden dagegen Naturhörner verwendet, bei denen jene Töne, die ausserhalb der Naturtonreihe liegen, durch Stopfen erzielt werden müssen – was erhebliche Klangveränderungen zur Folge hat. Das Näseln, das die Instrumente in solchen Fällen annehmen (und das manchenorts als hässlich empfunden wird), unterstreicht die Schärfe einer Stelle, aber eben nicht durch Lautstärke, sondern durch Klangfarbe.

Und scharf klingt Beethovens Fünfte bei Harnoncourt in der Tat. Seit er in seinen Forschungen zur Frage, wie Musik früherer Epochen zu ihrer Entstehungszeit gespielt worden ist, auf die barocke Rhetorik gestossen ist und dabei erkannt hat, dass viele musikalische Gestalten mit konkreten Bedeutungsinhalten verbunden sind, hat jede Musik für ihn ihre Botschaft. Auch und gerade Beethovens Fünfte. Für Harnoncourt spricht dieses Werk aber nicht von dem mit dumpfem Klang an die Pforte schlagenden Schicksal, es trägt für ihn vielmehr einen emanzipatorischen, mithin hochgradig politischen Charakter. Da dringe nicht etwas von aussen herein, es strebe im Gegenteil etwas von innen nach aussen, vom Eingeschlossenen ins Freie, von c-moll nach C-dur. Im Booklet erläutert er das in farbiger Rede, wie er es vor den Konzerten zu tun pflegte, doch braucht es die Erläuterung nicht wirklich, die musikalische Auslegung spart nicht mit Deutlichkeit.

Indes ist das keine Frage der Lautstärke oder der Wucht. In konsequenter Abkehr von dem überkommenen Beethoven-Bild, wie es etwa noch Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin in ihrer Gesamtaufnahme der Sinfonien von 1999 pflegten, findet Harnoncourt das Zeichenhafte seiner Interpretation in einer äusserst differenzierten, agilen Phrasierung, die in erster Linie durch Nuancierungen des Tempos erzielt wird. Wie bei der Grazer Aufnahme von 1990, von der sich die Zeitdauern in der neuen Aufnahme von 2015 praktisch nicht unterscheiden, ist für ihn die Einhaltung der von Beethoven 1817 mit Hilfe des Metronoms festgelegten Tempi nicht das Mass aller Dinge. Er bleibt in der Regel leicht unter den Vorgaben. Viel wichtiger ist ihm – und das ist im Zuhören nun wirklich gewöhnungsbedürftig – die stete Anpassung der Zeitmasse an den jeweiligen musikalischen Verlauf. Und das unter Verzicht auf jenen durchgehenden Puls, der sich im 20. Jahrhundert als Norm durchgesetzt hat.

Das neue alte Espressivo

Der dritte Satz zum Beispiel. Er hebt mit einem geflüsterten Pianissimo der Celli und der Bässe an, in welches das Sforzato, das wenige Takte nach Beginn notiert ist, als regelrechter Schock einfährt – als ein Blitzschlag vor dem scharfen Weckruf des ersten Horns mit den drei Vierteln und der punktierten Halben, die als das Zentralmotiv vom Anfang der Sinfonie her bekannt sind. Beginnt dann aber der bewegte, nach der Art einer Fuge gestaltete Binnenteil, wird das Grundzeitmass abrupt gesenkt. Das Viertel, das diesen Teil als Auftakt einleitet, wird verlängert, die mit dem ersten vollen Takt einsetzende, nach oben strebende Achtelbewegung wird durch ein Accelerando unterstrichen, die Pausen, die diesen Verlauf noch und noch unterbrechen, werden gedehnt. Das ist irritierend und wirkt aufs erste, oberflächliche Hören übertrieben, wenn nicht manieriert. Wer aber zum Ende des Satzes gelangt, wer dort die mit unglaublicher Spannung erfüllte Überleitung in das ohne Pause folgende Finale und schliesslich die Explosion in C-dur erlebt, begreift das, was vorausgegangen, als eine unablässige Folge von Versuchen, aufzustehen und ins Freie zu gelangen. Von da her ist nur logisch, dass Harnoncourt die grosse Wiederholung in diesem Satz ausführt. Und selbstverständlich kommt die kräftig erweiterte Instrumentation des Finales mit ihrem präsenten, aber nirgends grellen Piccolo nach solcher Vorbereitung zu besonderer Geltung.

Interessant ist dabei, wie nahe Harnoncourt mit dieser Lesart von Beethovens Fünfter der romantischen Tradition der musikalischen Interpretation kommt. Auch dort, etwa in der Aufnahme der Sinfonie mit Arthur Nikisch und den Berliner Philharmonikern von 1913, herrscht eine Freiheit in der Tempogestaltung, die heutigen Ohren wenig verständlich, ja willkürlich erscheint. Den Interpreten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts galt der durchgehende Puls als unkünstlerisch – davon sprechen die Tondokumente aus jener Zeit, aber auch die auf Papierrollen festgehaltenen Interpretationen für das Welte-Mignon-Klavier; und thematisiert wird es in den Schriften zur Ästhetik der musikalischen Interpretation. Erst die rabiat gegen diese Art Espressivo gerichtete Neue Sachlichkeit etablierte den regelmässig durchgehenden Puls als Dogma. Ein Leben lang – und je weiter die Jahre voranschritten, desto deutlicher – opponierte Harnoncourt gegen dieses nach dem Zweiten Weltkrieg mit besonderer Insistenz durchgesetzte Gleichmass. Allerdings basiert sein Espressivo nicht auf jener Subjektivität des Empfindens, die den romantisch ausgerichteten Interpreten heilig war, sondern auf dem Verstehen von Musik als Sprache. Was das heisst, kann in der neu erschienenen Aufnahme von Beethovens Fünfter erlebt werden.