Mit dem Saxophon im Konzertsaal

Ein Abend des Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Valentine Michaud (rot) und Gabriel Michaud (blau) in Harrison Birtwistles «Panic» / Bild Magali DOugados, Orchestre de la Suisse Romande

So schnell findet sich ein Abonnementskonzert wie dieses nicht wieder. Das Programm: durchkomponiert von A bis Z, und das mit Werken ausschliesslich aus dem 20. Und 21. Jahrhundert. Die Ausführung: erstklassig in jeder Hinsicht, obwohl höchste Anforderungen gestellt waren. Der Saal: so gut wie ausverkauft – und besetzt mit einem altersmässig gut durchmischten Publikum. So ist es eben beim Orchestre de la Suisse Romande und seinem Musikdirektor Jonathan Nott. Und so ist es, wenn in der ehrwürdigen Genfer Victoria Hall eine so unkonventionelle Musikerin wie Valentine Michaud ihren Auftritt hat.

Seit sie 2020 den Credit Suisse Young Artist Award gewonnen hat und im Rahmen dessen als erste Vertreterin ihres Instruments mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen beim Lucerne Festival in Erscheinung getreten ist, steht die 1993 geborene Saxophonistin im Begriff, die Konzertsäle zu erobern. Sie tut es in Zusammenarbeit mit Orchestern oder im Duo mit der Pianistin Akvilé Šileikaité, aber auch mit ihrem Bruder, dem Schlagzeuger Gabriel Michaud. Und nicht nur das. Zusammen mit Emmanuel Michaud, einem weiteren Bruder, hat sie mit Sibja, einem transdisziplinären Kollektiv, eine Initiative gestartet, die neue, auf verschiedenen Ebenen basierende Konzertformate entwickelt. Was das für das Repertoire der Musikerin und ihr Erscheinungsbild bedeutet, veranschaulicht ihre neue CD unter dem Titel «Oiseaux de paradis», die einen Bogen von François Couperin zu John Lennon schlägt.

Bei Jonathan Nott ist Valentine Michaud mit ihrem im Konzertsaal noch nicht wirklich etablierten Instrument und ihrer künstlerischen Neugier auf offene Ohren gestossen. Für ihren ersten grossen Auftritt als Residenzkünstlerin des Orchestre de la Suisse Romande hat der Dirigent ein Programm zusammengestellt, das in der Vielfalt seiner inhaltlichen Bezüge von einzigartiger Attraktion war. Wie der Abend mit den Trois Danses pour orchestre op. 6 von Maurice Duruflé anhob, mischte sich bald, aber sehr diskret ein Saxophon in den Klang des gross besetzten Orchesters. Und kaum hatte man das wahrgenommen, gesellte sich für einen Augenblick der Bolero-Rhythmus der Trommel dazu. Wegweiser in Richtung dessen, was sich weiter ereignen sollte.

Die viel zu selten gespielten Tänze des Organisten-Komponisten Maurice Duruflé glänzen mit eigener, sehr schöner Musik unschwer zu erkennender französischer Tradition aus dem Jahre 1932. In der romantischen Tradition verankert, entfalten sie einen breiten Fächer an Stimmungen und sinnlichen Wirkungen – wie das Jonathan Nott mit dem Genfer Orchester erlebbar machte, liess keinen Wunsch offen. Das gilt auch für die «Escapades», eine Musik von John Williams zu dem Film «Catch me if you can», und das umso mehr, als hier das Alt-Saxophon von Valentine Michaud hören liess, zu welch sirenenartiger Lieblichkeit das gewöhnlich ganz anders konnotierte Instrument in der Lage ist.

Dann freilich wurde kräftig umgebaut. Das Orchester war nur mit seinen Bläsern präsent; sie sassen im Hintergrund des Podiums vor der Orgel. In Vordergrund wurde Platz geschaffen für zwei Inseln mit einer Fülle an Schlaginstrumenten und Raum für die Solistin. «Panic» von Harrison Birtwistle war angesagt, ein wildes, wüstes, horribel schweres Stück aus dem Jahre 1995, dessen Uraufführung bei den BBC Proms in London einen Skandal auslöste. In der Tat nimmt Birtwistle (auch) hier kein Blatt vor den Mund. Es geht um das Treiben des Gottes Pan auf Erden, und da bleibt bekanntlich kein Stein auf dem anderen. So auch in der Victoria Hall, wo zuerst der Dirigent allein auftrat und damit das Feld offen liess für Valentine Michaud und ihren Bruder Gabriel Michaud – beide mit nach allen Seiten zerzaustem Kopfputz aus der Manufaktur der Saxophonistin, die auch ihre Kostüme selber schneidert. Ein zwanzigminütiger Tonsturm kam da auf, Schrei folgte auf Schrei, Schlag auf Schlag – alles in denkbar brillanter Weise gemeistert vom Solistenpaar wie vom Orchester. Grosser Jubel.

Daraufhin und zum Schluss ein erneutes «ballet des techniciens», die innert weniger Minuten das Podium wieder herrichteten – für «Boléro», ein Kernstück aus dem Repertoire des Orchestre de la Suisse Romande, und bekanntlich fehlt auch hier das Saxophon nicht. Wunderbar, wie zart Jonathan Nott den Anfang aufsteigen, wie sorgfältig er die Farben aufscheinen liess. Und grossartig, wie es ihm gelang, das Repetitive des Stücks Schritt für Schritt mit innerer, vibrierender Spannung aufzuladen – bis zu jenem Punkt, da die Harmonie wechselt und neues Licht angeht. Und einmal mehr erwies sich, auf welch brillantem Niveau das Orchestre de la Suisse Romande mit Jonathan Nott Musik macht.

Genf honoriert das. Eben konnte das Orchester mit Hilfe eines Mäzens ein Gebäude, das an die Victoria Hall anschliesst, mieten und für seine Zwecke einrichten. Und die Zahl der Abonnemente, so der Intendant Steve Roger, sei klar im Steigen begriffen; seien 2019/20, in der letzten Spielzeit vor der Pandemie, rund 2000 Abonnemente verkauft worden, so zähle das Orchester in der Saison 2023/24 deren 4000. Eine Verdopplung auch in der Kasse – und dies zu einer Zeit, da allerorten über Publikumsschwund und insbesondere den Bedeutungsverlust des Abonnements geklagt wird. Es kann es auch anders gehen.

Oiseaux de Paradis. Valentine Michaud (Saxophone), Gabriel Michaud (Schlagzeug), Kurt Rosenwinkel (Gitarre). Mirare 716 (CD, Aufnahme 2023, Publikation 2024).

Im Zeichen der Freundschaft

Die Berliner Philharmoniker und Seiji Ozawa

 

Von Peter Hagmann

 

Es war im Herbst 2007. Unvergessen der Abend in der Wiener Staatsoper mit Tschaikowskys «Pique Dame» – und mit Seiji Ozawa am Pult des Staatsopernorchesters. Eine ganz und gar eigenartige Musikalität durchzog die Aufführung, eine stark spürbare Empathie, ja eine unerklärliche Art Vibrieren. Obwohl er ab 1973 fast dreissig Jahre lang mit grossem Erfolg an der Spitze des Boston Symphony Orchestra gestanden hatte, war er besonders stolz darauf, 2002 das Amt des Musikdirektors an der Wiener Staatsoper anzutreten. Er erfüllte es bis 2010, bis ihm ein Speiseröhrenkrebs seinen Beruf verunmöglichte. Mit den Wiener Philharmonikern, die sich bekanntlich aus dem Wiener Staatsopernorchester rekrutieren, scheint er sich jedenfalls bestens verstanden zu haben.

Seine eigentliche Heimat waren jedoch die Berliner Philharmoniker. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass Ozawa ein Schüler, ja vielleicht sogar der Lieblingsschüler Herbert von Karajans war. Zu seinem Lehrer blickte er in tiefer Ehrfurcht auf. Weitherum bekannt geworden ist eine Photographie, die ihn zu Füssen Karajans am Boden sitzend zeigt. Karajan sprach er immer als «Meister» und per Sie an, auch wenn ihn Karajan dann jeweils mit dem fast flehenden Ausruf «Herbert» korrigierte; das Du-Wort, so Ozawa, habe er beim besten Willen nicht über die Lippen gebracht.

Nette Kleinigkeiten solcher Art (und natürlich noch manches mehr) erfährt man in dem luxuriösen Buch aus dem orchestereigenen Label, mit dem die Berliner Philharmoniker im Zeichen der Freundschaft an Seiji Ozawa erinnern. Das Buch enthält sechs Compact Discs mit Konzertaufnahmen, die in den Jahren 1979 bis 2016 in der Berliner Philharmonie entstanden sind. Dazu eine Reihe zum Teil sehr berührender Photographien, weiter ein Grusswort von Seira Ozawa, der Tochter des Dirigenten, eine ausgesprochen schöne, persönliche Erinnerung des Schriftstellers Haruki Murakami an seinen Freund Ozawa und ein Porträt von Frederik Hansen. Das alles ist nicht ganz gratis, aber die Aufnahmen sind zum allerdings kleineren Teil auch über die entsprechenden Internet-Portale greifbar.

Und die Aufnahmen, die lassen nachvollziehen, was Seiji Ozawa auf dem Konzertpodium zu erzeugen vermochte. Gut, die C-dur-Symphonie Joseph Haydns, die Nummer 60 mit der Bezeichnung «Il distratto», 1987 aufgenommen, ist serös gemacht, ästhetisch aber von gestern. Kein einziges Staubkorn findet sich dagegen auf der 1988 entstandenen Auslegung der Symphonie Nr. 7, E-dur, von Anton Bruckner. Feurig durchpulst geht es hier zu, wovon auch das Mitkrähen des Dirigenten zeugt. Zugleich aber kann festgehalten werden, dass zu Beginn des Kopfsatzes der Anschluss der Hörner an den Aufstieg der Streicher so perfekt gelungen ist, wie es selten zu hören ist – und das im Rahmen eines Konzerts. Wunderbar gelassen «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, aufgezeichnet 1996, herrlich ausgesungen auch Vorspiel und Liebestod aus Richard Wagners «Tristan und Isolde» von 1979. Er müsse nicht viel erklären, sagte Ozawa, das Orchester reagiere spontan auf seine Körpersprache. So wird es gewesen sein. So ist es zu hören.

Die Berliner Philharmoniker und Seiji Ozawa – eine Hommage. Aufnahmen aus den Jahren 1979 bis 2016. BPHR 240431 (6 CD, 1 Blu-ray Disc)

Hohe Kunst – live

Víkingur Ólafsson und Paavo Järvi eröffnen die Saison des Tonhalle-Orchesters Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Eiligen Schrittes, sichtbar tatendurstig, strebt Víkingur Ólafsson seinem Platz am Steinway zu – der Mann hat etwas vor. Ólafsson gehört nicht zu den Pianisten, die den Betrieb am Laufen halten, er sucht und pflegt das Besondere. Die vergangene Saison, 2023/24, widmete er einem einzigen, allerdings schwergewichtigen Werk: den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs, die er auf einer Reise über den gesamten Globus an insgesamt 88 Abenden aufgeführt hat. Ein Projekt solcher Art ist ihm möglich, weil er tief in die Musik eintaucht, ihr Inneres erkundet und ihren Kontext ausleuchtet; das verleiht ihm die Kraft, seine Interpretationen nicht nur stetig zu verfeinern, sondern sie auch am Leben zu erhalten. An einem Leben notabene, das dem wachen Zuhören auch bei angeblich bekannten Stücken neue Dimensionen erschliesst.

So war es auch beim Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll von Johannes Brahms op. 15, mit dem er die Saison 2024/25 des Tonhalle-Orchesters Zürich und zugleich seine Präsenz als Künstler im Fokus eröffnete. Sehr getragen ging Paavo Järvi den Kopfsatz an: maestoso, wie Brahms es verlangt, aber nicht basslastig, nicht schwer im Klang, wie es so oft geschieht. Dies erkennbar in Absprache mit dem Solisten, dem es nicht um Kraft und Geläufigkeit ging – beides ist bei Ólafsson in mehr als ausreichendem Mass vorhanden –, sondern um das Singen und das Artikulieren. Herrlich schwangen die Bögen aus, und zugleich waren sie durch Satzzeichen gegliedert, woraus sich eine spezifische Vitalität ergab. Besonders eindringlich geriet das Adagio des Mittelsatzes: erfüllt von Emotionalität und getragen durch eine ausgeprägte Gemeinsamkeit des Musizierens zwischen dem Solisten und dem Tonhalle-Orchester, das mit letzter Aufmerksamkeit und allem Erfolg bei der Sache war. Auch im abschliessenden Rondo dominierte das «non troppo», mit dem Brahms die Ausführungsbezeichnung «Allegro» ergänzt hat – vielgestaltiges Konzertieren stellte sich hier ein. Der Einstieg in die Zürcher Residenz Víkingur Ólafssons geriet fulminant; er machte neugierig auf die Fortsetzung.

Zu Wort kam am Eröffnungsabend in der Grossen Tonhalle Zürich auch Anna Thorvaldsdottir, Jahrgang 1977, aus Island stammend wie Víkingur Ólafsson. Sie nimmt in dieser Saison die Funktion des Creative Chair ein. Seit Paavo Järvi an der Seite von Ilona Schmiel das künstlerische Sagen hat, treten Regionen in Erscheinung, die hierzulande unterbeleuchtet sind, und mit ihnen weniger vertraute ästhetische Ansätze. «Archora», das Orchesterstück von 2022, bot Musik, die ganz aus der Tiefe kommt und aus ihr eine Fülle an Farbwirkungen gewinnt. Strukturelles Denken scheint hier weniger im Vordergrund zu stehen, der Gegensatz etwa zur Neuen Komplexität Brian Ferneyhoughs könnte grösser nicht sein. Auch die Arbeit an Entwicklungsverläufen, wie sie die zentraleuropäische Musik so entscheidend geprägt hat, ist offenbar nicht von Bedeutung; das Stück, mit dem sich Anna Thorvaldsdottir vorstellte, erscheint mir eher wie Magma, das sich unablässig verändert und gerade dadurch Interesse weckt. Auch hier blickt man weiteren Begegnungen mit Spannung entgegen.

Schliesslich, als orchestrales Prunkstück, «L’Oiseau de feu», die erste Ballettmusik, die Igor Strawinsky 1910 für Serge Diaghilev geschrieben hat; an diesem Abend wurde sie in Form der Konzertsuite von 1919 gespielt. Ein Fest für das Tonhalle-Orchester Zürich, es zeigte sich in Bestform. Das geht auch auf Paavo Järvi zurück, der die Fäden sehr geschickt in der Hand hielt. Mit kleinen, nur das Nötigste, das jedoch klar anzeigenden Bewegungen steuerte er das Orchester, das darum nicht zu früh in Ekstase geriet. Die dynamischen Werte waren auf das Sorgfältigste kontrolliert, die Farben der raffinierten Instrumentation Strawinskys funkelten um die Wette. Und als es dann in im Finale ums Ganze ging, stand der Klang grossmächtig im Raum, freilich ohne je die Grenzen der akustischen Kapazität zu tangieren. Grandios. Und ein Erlebnis, wie es sich eben nur live, nur im Konzertsaal einstellt.

Aussergewöhnliches nebst Alltäglichem

Lucerne Festival:
Die Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann

 

Von Peter Hagmann

 

Nun also, eine Woche vor dem Gran Finale beim Lucerne Festival mit den wunderbaren spätromantischen «Gurre-Liedern» von Arnold Schönberg, nun also die Wiener Philharmoniker mit ihrem derzeitigen Lieblingsdirigenten Christian Thielemann. Das war darum von Interesse, als das Programm des zweiteiligen Luzerner Gastspiels die erste Sinfonie Anton Bruckners enthielt. Allerdings nicht in der doch wesentlich spannenderen Originalversion von 1865/66 – Bruckner war damals etwas über zwanzig Jahre alt und äusserst mutig –, sondern in der 1890/91 zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Wien geschaffenen Zweitfassung. In dieser Gestalt haben die Wiener Philharmoniker, die sich in jenen Jahren lange gegen die Musik Bruckners gesträubt hatten, die c-Moll-Sinfonie aus der Taufe gehoben, und so erscheint sie auch in der vorzüglichen Gesamtaufnahme der Sinfonien Bruckners, die das Orchester zusammen mit Thielemann 2023 bei Sony vorgelegt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 26.06.24).

Allein, die Aufführung im Konzertsaal des Luzerner KKL vermochte nicht zu überzeugen. Grob im Klang, hart in der Artikulation und über weite Strecken viel zu laut wirkte sie – jedenfalls für den Zuhörer, der auf einem für diese Musik wenig geeigneten Platz in der fünften Reihe des Parketts sass, sozusagen zu Füssen des Dirigenten. Von der federnden Eleganz, von der strukturbetonten Transparenz, die der Lautsprecher in Aussicht gestellt hatte, nicht die Spur – schade für die Gelegenheit, ein im Konzertbetrieb zu Unrecht übergangenes Werk zu entdecken. Wie sich Bruckners Erste mit Gewinn anhören lässt, macht eine neue Aufnahme mit dem Gürzenich-Orchester Köln und seinem damaligen, bekanntlich nicht ganz unumstrittenen, als Interpret jedoch fabelhaften Chefdirigenten François-Xavier Roth deutlich (Myrios 035). Hier geht es um die Erstfassung aus Linz, hier wird mit jugendlich frischen Tempi zugegriffen, und der Klang ist so geformt, dass die Hauptsachen klar in den Vordergrund treten und nicht im Gewühl des Gesamtbilds untergehen.

Ganz anders am Abend zuvor «Ein Heldenleben» von Richard Strauss, verfolgt auf einem Platz auf dem zweiten Balkon. Eine Riesenbesetzung war auf dem Podium versammelt, erklungen ist aber reinste Kammermusik – so licht und duftig gelang das von Thielemann subtil gesteuerte Klangbild. Nicht dass der kräftige Ton keinen Platz gehabt hätte, keineswegs, aber er war eingebettet in ein dicht gewobenes Spinnennetz von Klängen und Motiven. Die Wiener Philharmoniker führten vor, dass sie wie kaum ein Orchester sonst in der Lage sind, dergestalt ziselierten Klanggewebe herzustellen. Ob «Ein Heldenleben» tatsächlich ein Selbstporträt des Komponisten mit Gattin und Feinden darstelle, wie viele Gramm Ironie, wenn überhaupt, in der Partitur stecke, ob darin nicht, wie man im Gefolge Theodor W. Adornos denken musste, ein Zuviel an Eitelkeit stecke – diese Fragen stellten sich nicht. Mit seinem nicht nur akkuraten, sondern auch pointierten Zugriff lieferte der Konzertmeister Rainer Honeck in den ausführlichen Einwürfen der konzertierenden Geige, dem Werben, dem Tuscheln, dem Schimpfen der Gattin, in seiner Weise die Antworten dazu.

Bei den Wiener Philharmonikern, das ist bekannt, kann Aussergewöhnliches direkt neben Alltäglichem stehen. So am ersten Abend bei der Sinfonie Nr. 3, der «Schottischen» in a-Moll, von Felix Mendelssohn Bartholdi. Sie kam in philharmonischer Routine daher – solide und gepflegt, doch in keinem Augenblick weltbewegend. Muss das denn sein? Bei einem Orchester dieses Rangs schon, angesichts der Bewegung auf der Ebene der Mendelssohn-Interpretation erst recht. Etwas aktiver zeigten sich die Wiener Philharmoniker am zweiten Abend, dies gegenüber der jungen Cellistin Julia Hagen, die mit dem Orchester und in Luzern debütierte, weil sie den Young Artist Award gewonnen hat. Im Jahre 2000 von Michael Haefliger, dem Intendanten des Lucerne Festival, im Verein mit der Credit Suisse eingerichtet und inzwischen von der UBS übernommen, hat der alle zwei Jahre ausgerichtete Preis, der von einer fünfköpfigen Jury im Berufungsverfahren vergeben wird, einige der besten Musikerinnen und Musiker der jüngeren Generation gefördert. Unter ihnen eben Julia Hagen, die sich mit Robert Schumann und seinem Cellokonzert in a-Moll vorstellte. Sehr kantabel, sehr poetisch, dabei durchaus temperamentvoll nahm die junge Salzburgerin aus einer bekannten musikalischen Familie ihren eher konzertierenden als solistischen Part, im zweiten Satz trefflich sekundiert vom Solocellisten Peter Somodari. Der Solidarität des Orchesters konnte sich die Solistin jederzeit sicher sein.

Jedes Orchester verfügt über eine eigene Persönlichkeit, bei den Wiener Philharmonikern tritt sie besonders heraus. Dass infolge der Internationalisierung des Musikbetriebs alle Orchester gleich klängen – nichts ist falscher als diese oberflächliche Aussage des aus Estland stammenden, weitgereisten Dirigenten Neeme Järvi. Beim Lucerne Festival, bei dem neben der kräftig erweiterten Vertretung der neuen Musik und der intensiven Erkundung alternativer Darbietungsformen die Orchestergastspiele das Rückgrat des Programms bilden, lässt es sich überprüfen. Natürlich kommen alle diese Orchester von irgendwoher und haben sie an ihren angestammten Sälen die nach Luzern gebrachten Programme erprobt. In einer derart engen Abfolge der Auftritte, wie sie am Vierwaldstättersee geboten wird, erschliesst sich dem Konzertbesucher die Vielfalt der Orchesterlandschaft jedoch in einer Weise, deren Einzigartigkeit nirgendwo sonst erreicht wird – vom Eigengewächs des Lucerne Festival Orchestra und des Lucerne Festival Contemporary Orchestra ganz zu schweigen. Nach Luzern brauche man nicht zu fahren, dort werde bloss wiederholt, was schon anderswo erklungen sei – die saloppe Bemerkung, die gerade aus Deutschland nicht selten zu vernehmen ist, hat sich auch diesen Sommer wieder als peinliches Vorurteil entpuppt.

Jugendsturm? Altersweisheit?

Lucerne Festival:
Das BR-Symphonieorchester mit Simon Rattle,
das Orchestre de Paris mit Klaus Mäkelä

 

Von Peter Hagmann

 

Das Lucerne Festival ist zwar noch keineswegs vorbei. Dennoch lässt sich annehmen, dass das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München und sein neuer Chefdirigent Simon Rattle für den Höhepunkt in der diesjährigen Sommerausgabe gesorgt haben. Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 6 stand auf dem Programm des Münchner Gastspiels im Konzertsaal des KKL Luzern – eine Schicksalssinfonie für den Komponisten und ein Zentralwerk für den Dirigenten. Mahler hat die Partitur 1903 bis 1906 unter dem Eindruck endzeitlicher Gefühle geschaffen – in eigenartiger Vorausahnung dreier schwerer Schicksalsschläge. 1907 starb, noch nicht fünf Jahre alt, seine erste Tochter Maria Anna, im selben Jahr verlor er seine Position als Direktor der Wiener Hofoper, und zugleich empfing er die Diagnose jener unheilbaren Herzkrankheit, die 1911 zu seinem Tod führte.

Bei Simon Rattle wiederum, so berichtet es die Ankündigung im Gesamtprogramm des Festivals, habe die frühe Begegnung mit Mahlers Sechster zur Entscheidung für eine Laufbahn als Dirigent geführt. Als er 1987, 32 Jahre alt, bei den Berliner Philharmonikern debütierte, tat er es mit Mahlers Sechster, mit demselben Werk verabschiedete er sich von diesem Orchester, und nun, zum Auftakt der verheissungsvollen Partnerschaft in München: Mahlers Sechste, sie ist inzwischen auch schon auf CD erschienen. Verheissungsvoll ist die neue Partnerschaft, weil die Orchestermitglieder und ihr Chefdirigent intensiv am Aufbau einer gemeinsamen Basis arbeiten. Das war in Luzern zu sehen, vor allem aber zu hören. Mit seiner detailreichen Zeichensprache ging Rattle sehr konkret auf das Orchester zu, die Musikerinnen und Musiker antworteten ihm mit Einsatz und Spiellust. Ganz besonders jedoch mit emotionaler Resonanz. Über die langen Jahre seines Wirkens ist Simon Rattle zu einem Ausdrucksmusiker erster Güte geworden; bei den BR-Symphonikern mit ihrer ausgeprägten Orchesterkultur ist er damit bestens aufgehoben – weshalb die neue Konstellation zu einer glücklichen Ära werden könnte wie weiland jene mit Lorin Maazel oder Mariss Jansons.

Die Luzerner Aufführung von Mahlers Sechster wurde jedenfalls zu einem tief berührenden, ja aufwühlenden Ereignis. Unerhört heftig, angespannt bis zur letzten Faser, klanglich zugespitzt nahm Rattle den Anfang, das zweite, liebliche Thema kam dagegen ganz ruhig und still daher, wie die ebene Fläche eines Sees – nicht Kunst war das, sondern Leben, eins zu eins. Welche Weiterungen der Beginn nehmen würde, war in diesem Augenblick noch nicht zu ahnen, zu hören bekam man es dann im Finale. Beängstigend, wie die Spannung in einem düsteren Kontinuum anzog, bis sie sich im ersten Hammerschlag löste. Drei dieser Schläge hatte Mahler vorgesehen, nach der von ihm 1906 dirigierten Uraufführung ersetzte er den dritten durch einen Beckenschlag. Rattle reagierte auf des Komponisten Eingriff, indem er für diesen dritten Schlag nicht weniger als drei Perkussionisten aufbot: ein Effekt der Sonderklasse, aaber eben klar in des Komponisten Biographie verankert. Für die beiden Binnensätze wählte Rattle die spätere Reihenfolge mit dem Andante vor dem Scherzo. Farbenreich entwickelte sich der langsame Satz aus einem prononcierten Pianissimo heraus – nicht nur hier, hier aber ganz besonders konnte man an Leonard Bernsteins Mahlers-Bild denken. Im Scherzo frappierte vor allem das Trio mit seiner markigen Artikulation und den krass ausgestellten Farben, etwa jene der Klarinette.

Jede Spur von Wohlanständigkeit war in dieser Auslegung getilgt, Rattle ging aufs Ganze, wie es Nikolaus Harnoncourt bei Beethovens Fünfter 2011 zu seinem Abschied von Zürich getan hatte. Das öffnete Türen zum Werk, es schuf Einsichten und Empfindungen, die sich einem tief ins Gedächtnis eingruben. Genau das ist Klaus Mäkelä am Pult des von ihm als Chef geleiteten Orchestre de Paris nicht gelungen. Kein Wunder, Mäkelä ist 27 Jahre alt und noch ganz und gar mit sich, mit seiner Wirkung vor dem Orchester und dem Publikum beschäftigt – der heisse Wirbel, der von den Agenturen und den Medien um den jungen Mann veranstaltet wird, ändert nicht das Geringste daran. Gewiss, Mäkelä ist ein genuin begabter Dirigent, vielleicht sogar einer, der dem Orchester zuhört, sein Profil als Interpret kennt indes noch reichlich Luft nach oben. Zugegeben, die Gesamtaufnahme der Sinfonien von Jean Sibelius, die er mit dem Oslo Philharmonic erarbeitet hat, erlaubt jede Menge Hoffnung, sein Luzerner Auftritt mit dem Orchestre de Paris jedoch blieb definitiv im Rahmen des Ordentlichen.

Zum Beispiel im Violinkonzert von Peter Tschaikowsky, dessen Solopart Lisa Batiashvili, in die Farben der Ukraine gekleidet und auf diesem Weg ein Zeichen der Solidarität mit dem Nachbarland ihrer ebenfalls bedrohten Heimat Georgien setzend, mit aller Brillanz gemeistert wurde – fabelhaft war das. Das Orchester war jederzeit zur Stelle, was nicht wenig ist, wenn auch nicht genug. Bei der Symphonie fantastique von Hector Berlioz hatte das schwere Folgen. In Klaus Mäkeläs Auslegung zeigte das Stück seine effektvollen Seiten, Zeichen eines persönlichen Zugangs zu dem ebenso anregenden wie umstrittenen Werk liess sie jedoch vermissen. Dafür sah man Sprünge des Dirigenten auf das Orchester zu, als gälte es Schar Schlafwandler aufzuwecken – was keineswegs der Fall war, gab sich das Orchestre de Paris seine Dirigenten doch lustvoll hin. Und dreifahrende Schläge mit dem Taktstock gab es, wie wenn der Dirigent den Hammer aus Mahlers Sechster zu betätigen hätte: vielleicht ein Ausdruck des Temperaments, in der Sache aber unnötig. Nötig gewesen wäre die Arbeit an den Instrumentalfarben, etwa an der so herrlich schnarrenden Schwärze der tiefen Blechbläser im finalen «Dies irae» – sie blieb beiläufig und unterspielt. Ein wenig Nachdenken, über sich, über die Stücke, über das Verhältnis zwischen dem Werk und dem Interpreten, wäre gewiss von Vorteil.

Leidenschaft des Leisen

Lucerne Festival:
Beat Furrer, «composer in residence»

 

Von Peter Hagmann

 

Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Beat Furrer beim Lucerne Festival zum ersten Mal als «composer in residence» in Erscheinung trat. Gab es schon damals eine reiche Auswahl an Werken zu hören, so ist das Œuvre des bald siebzigjährigen Schweizers in Wien inzwischen kräftig gewachsen. Was es an Besetzungen und Gattungen gibt, findet sich in seinem kontinuierlich aufgebauten Werkverzeichnis. Eines ist jedoch geblieben: Es ist eine klar erkennbare, wenn auch nach vielen Richtungen erkundete und erweiterte Handschrift. Ihr zentrales Kennzeichen ist das Leise, das der Komponist ähnlich wie Helmut Lachenmann oder Salvatore Sciarrino mit besonderer Zuwendung pflegt.

So erstaunt denn nicht, dass Beat Furrer seinen Kollegen Salvatore Sciarrino mit einer kleinen Assonanz grüsst. In «Begehren», einem Beitrag Furrers zum Musiktheater, der 2003 in Graz, in der damals neuen Helmut-List-Halle, szenisch aus der Taufe gehoben worden ist – in «Begehren» scheinen für einen kurzen Moment jene kleinen, absteigenden, vom Leisen aus im Nichts verschwindenden Gesten auf, die Sciarrinos Musik so unverkennbar machen. «Begehren» ist auch diesen Sommer beim Lucerne Festival erschienen, nicht szenisch, sondern konzertant, aber doch auf der Bühne des Luzerner Theaters. In jenem Haus also, in dem Furrer, übrigens in denkbar eindrucksvoller Weise, Sciarrinos Oper «Luci mie traditrici» dirigiert hat – dies im Herbst 1999, zwei Jahre vor der konzertanten Uraufführung von «Begehren» im Schauspielhaus Graz.

Das Leise, Kleinräumige und gerade darin scharf Profilierte übt eben seine ganz eigene Anziehungskraft aus. Am Beispiel von «Begehren» ist es in besonderem Mass zu erleben. Und in besonderer Plausibilität. Auf einer Collage von Texten Cesare Paveses, Günter Eichs, Vergils und Hermann Brochs geht Beat Furrers Stück dem Orpheus-Mythos nach, genauer: dem verbotenen, fatalerweise aber gleichwohl ausgeführten Blick des Sängers nach hinten zu seiner aus dem Totenreich befreiten Gattin. Alles ist hier schattenhaft, die vom Komponisten selbst geleitete Aufführung liess es eindringlich erleben. Das von Furrer selbst gegründete Klangforum Wien (warum blieben im Programmheft die Namen der Streicher neben der Konzertmeisterin ungenannt?) flüsterte, zischte, raschelte, und das von Cordula Bürgi vorbereitete Vokalensemble Cantando Admont tat es ihm gleich – alles in komplexer Rhythmik und reichster Farbgebung. Hervorragend auch die Sopranistin Sarah Aristidou und der über weite Strecken als Sprecher fungierende Bass Christoph Brunner; beide werden auch an der für März 2025 vorgesehenen Uraufführung von Beat Furrers neuer Oper «Das grosse Feuer» am Opernhaus Zürich mitwirken.

ER und SIE, so sind Orpheus und Eurydike in «Begehren» abstrahierend benannt, begegnen sich im Dunklen. Das erinnert an Furrers erste, tief beeindruckende Oper «Die Blinden» von 1989. Anders als dieses Stück trägt «Begehren» jedoch das Problem in sich, eingeschlossen zu sein in seiner Abstraktion und sich dem Publikum nicht wirklich mitzuteilen. Trotz der subtilen Klangregie von Markus Wallner blieben im Luzerner Theater die gewisperten Texte unverständlich. Das mag seinen Sinn haben; die Begegnung zwischen Orpheus und Eurydike bleibt ja unmöglich, sie endet mit dem Tod der Protagonisten. Der Klang müsse sprechen, etwas in Bewegung setzen, sagt der Komponist zu seinem Schaffen. Wenn aber die Menschen im Auditorium derart im Dunklen tappen, wie es hier zu geschehen hat, dann läuft Furrers grossartige Musik Gefahr, ins Leere zu laufen. In eine Unverbindlichkeit, die dem hochstehenden künstlerischen Entwurf nicht entspricht.

Nicht weniger zwiespältig die Eindrücke bei Beat Furrers Orchesterstück «Lichtung» im Konzertsaal des Luzerner KKL. Gross angelegt war die Uraufführung dieses Kompositionsauftrags von Roche; mit seinem Engagement im Bereich der neuen Musik beim Lucerne Festival führt der Basler Chemiekonzern in verdienstvoller Weise eine von Maja und Paul Sacher begründete mäzenatische Tradition weiter. Das vom Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung des Komponisten engagiert vorgestellte Stück erzählt ebenfalls keine Geschichte, kennt aber doch einen fassbaren formalen Verlauf. Er führt von einem zarten Flimmern in einen Bereich muskulöserer Klanggebung und nimmt dann den Beginn wieder auf. An langjähriger Erfahrung gereifte Imagination und meisterliches Handwerk zeigen sich da. Am Ende bleibt jedoch die Frage, ob die Partitur nicht doch Zeichen einer gewissen ästhetischen Verfestigung aufweise.

Bei dem Trompetenkonzert «Meduse» von Lisa Streich, ebenfalls «composer in residence» dieses Luzerner Sommers, kann davon keine Rede sein. Die 1985 geborene Schwedin scheint lebhaft mit dem Suchen nach ihrem Eigenen beschäftigt. Lustvoll tummelt sie sich im Garten dessen, was Spätromantik und Moderne im Bereich der Kunstmusik ausgelegt haben – alles freilich in indirekter Präsenz, beschädigt, gesehen durch ein Fenster mit Sprüngen. Immer wieder und in immer anderen Konstellationen taucht das Element der Quart auf, folgen sich Kadenzen in Moll und kommt es zu rauschhaften Steigerungen im Geiste Tschaikowskys, dazu schwingen die Schlagzeuger ihre bunten Schläuche und muss der Solist an der Trompete – es ist der gefeierte Simon Höfele, der jedoch kaum je wirklich zu hören ist – sein Instrument durch einen Wasserschlauch ersetzen. Einige Augenblick lang hat das seine erheiternden Seiten, doch bald nutzen sich die Ideen ab, beginnt das Material verbraucht zu wirken und gerät man ins Grübeln über «Elle est belle et elle rit», den Untertitel des Stücks. Medusa einmal anders als mit kullernden Augen und züngelnden Schlangen. Nun ja, vielleicht ist da nicht alles so ernst gemeint.

Im Prunksaal

Lucerne Festival:
Die Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind noch immer, was sie waren: ein exzellentes Orchester, und eines der besonderen Art. Gebildet aus lauter Persönlichkeiten, in den solistischen Positionen ohnehin, aber auch in den Kollektiven, wo bis in die letzten Positionen vibrierendes Engagement herrscht, fügen sich die Herren und die nach wie vor nicht besonders zahlreichen Damen der Berliner Philharmoniker zu einem Klangkörper im besten Sinn des Wortes. Das war schon so bei Herbert von Karajan als Chefdirigenten, das blieb bei seinen Nachfolgern Claudio Abbado und Simon Rattle in je eigener Weise gültig – jetzt, mit Kirill Petrenko erreicht es ungeahnte Dimensionen. Der noch immer jungenhaft wirkende, aber doch schon 52 Jahre alte Österreicher mit russischen Wurzeln lässt das Orchester neue Seiten zeigen. Brillant beherrschen die Berliner Philharmoniker das Ultraleise wie das prachtvoll Laute. Ersteres haben sie Abbado gelernt und bei Rattle weiterentwickelt, Letzteres finden sie jetzt mit Petrenko, ihrem Chefdirigenten seit fünf Jahren. Welch herrliches Fortissimo gelingt diesem Orchester: kraftvoll ohne Gefahr der schmerzerzeugenden Grenzüberschreitung, kompakt und zugleich durchhörbar bis in die Einzelheiten.

So kam Anton Bruckners Sinfonie Nr. 5 in B-Dur ganz anders daher als gewohnt. Für weihevolles Pathos war hier kein Platz, es ging um die grosse Kunst des Komponierens: um die Erfindung von Motiven und Themen und um deren Verarbeitung in übergreifenden Formen, im Finale schliesslich explizit um den Kontrapunkt – und das alles in hellstem Licht und in prononcierter Klarheit. Ein, um es plakativ auszudrücken, Deutungsansatz im Geist der Moderne offenbarte sich hier; er verwirklichte sich in straffen, wenn auch feinfühlig nuancierten Tempi und einer Farbenpracht sondergleichen. Flüssig durchgezogen, doch fern jeder Hast der Kopfsatz, das Adagio mit seinem den Beginn der Sinfonie aufnehmenden Eingang nur scheinbar langsamer, jedoch stets in grosser Ruhe durchgeatmet. Wild das Scherzo mit seinem im Tempo wunderbar getroffenen Scherzo – und dann das Finale mit seinen komplexen Verästelungen, seinen immer wieder aufs Neue ansetzenden Verläufen, seinem majestätischen Choral: spannend bis zum brausenden Schluss.

Ähnliches Erleben löste der zweite Abend aus; er galt dem «Vaterland», der sechsteiligen Sinfonischen Dichtung «Ma vlast» von Bedřich Smetana. Natürlich konnte, ja musste man sich hier seine Geschichten machen, seine bildlichen Vorstellungen entwickeln. Gleichwohl legten die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko unablässig nahe, dass es sich auch bei diesem aus tiefstem Herzen heraus geschriebenen Zyklus um Kunst handelt, um grossartige musikalische Kunst. Alles war hier an seinem Ort, jeder Übergang sorgfältigst ausgestaltet, jede Farbwirkung stimmig gesetzt. Obwohl «Vltava», «Die Moldau», auch hier den zugkräftigsten Teil darstellte, entstand doch ein äusserst plastischer Bilderbogen zwischen der ragenden Burg Vyšehrad über «Böhmens Hain und Flur», «Z českých luhů a hájů», bis zu den weniger bekannten Endteilen «Tábor» und «Blanik».

Allein, wie bei allem hienieden ist auch hier ein Preis gefordert. Die orchestrale Brillanz drohte immer wieder, sich zu verselbständigen, zur Hauptsache zu werden, wo sie doch dienend die Anliegen der Komponisten nach aussen tragen müsste. Vor allem aber bestand die Gefahr, dass die festgefügte, von Kirill Petrenko mit starker Hand kontrollierte Klanglichkeit der Berliner Philharmoniker der Musik bisweilen die Luft zu nehmen schien. So entbehrte «Ma vlast» ein wenig der Emotionalität wie der Ausgelassenheit des Volkstümlichen. Während die Sinfonie Bruckners jenes Durchscheinenlassen, das Interpretationen neueren Datums, namentlich jene von Nikolaus Harnoncourt und Christian Thielemann mit den Wiener Philharmonikern entdecken lassen. Schliesst das eine das andere aus?

Reines Glück

Die Sinfonien Anton Bruckners mit den Wiener
Philharmonikern und Christian Thielemann

 

Von Peter Hagmann

 

Nun liegt sie vor, die majestätische Box mit den Sinfonien Anton Bruckners, welche die Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann am Pult zwischen 2019 und 2022 zur Hauptsache im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins, in drei Fällen auch im Grossen Festspielhaus Salzburg aufgenommen haben. Es ist das erste Mal, dass die Wiener Philharmoniker, die mit der Musik Bruckners seit ihrem Entstehen genuin verbunden sind, diesen Werkkomplex als Zyklus mit ein und demselben Dirigenten erarbeitet haben. Und es ist eine der eher wenigen Ausgaben, die nicht nur die acht vollendeten Sinfonien Bruckners und die unvollendete neunte, sondern auch die vor der Ersten entstandene «Studiensinfonie» sowie die sogenannte Nullte aus den Jahren vor der Zweiten enthält.

Das Projekt bildet einen Markstein in der reichhaltigen, ausserordentlich vielschichtigen Rezeptionsgeschichte der Sinfonien Bruckners. Es reiht sich ein in den Korpus der Gesamtaufnahmen, der von den herben, spätromantisch geprägten Arbeiten des Schweizers Volkmar Andreae am Pult der Wiener Symphoniker aus dem Jahre 1953 über die Phase des perfekt austarierten Schönklangs bei Herbert von Karajan in den sechziger und siebziger Jahren und die extreme Verlangsamung der Tempi bei Sergiu Celibidache ab 1987 hinführt zu einem strafferen Bruckner-Bild bei Michael Gielen und Günter Wand an der Wende zum 21. Jahrhundert und zu der neuen Emotionalität von Bernard Haitink und Nikolaus Harnoncourt in der jüngsten Vergangenheit.

In diesem Kosmos nimmt der bei Sony erschienene Wiener Bruckner-Zyklus einen ganz besonderen Platz ein. Zunächst aufgrund der engen Verbindung der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann, die der Dirigent uneingeschränkt als freundschaftlich bezeichnet – und das will etwas heissen bei einem Orchester, das seine Dirigenten in hohem Masse selbst bestimmt und dabei, um es mild auszudrücken, sehr wählerisch sein kann. Tatsächlich erhalten die Wiener von Thielemann, was sie sich als erstes zu erhalten wünschen: die Freiheit zu musizieren. Der doch auch unpreussische Preusse aus Berlin zwingt den Musikern nichts auf, er lässt ihnen das nicht immer messerscharf genaue Einsetzen, auch ihr Vibrato und das bisweilen knappe Fassen der Pausen. Ja, er toleriert auch, im Falle der Vierten, der Siebten wie der Achten, die Verwendung der unsäglichen Mischfassungen, die Robert Haas, der ehemalige Leiter der Musiksammlung in der Österreichischen Nationalbibliothek, in krasser Grenzüberschreitung erstellt hat. Umgekehrt ist von Orchestermitgliedern immer wieder zu hören, sie bekämen in der sparsamen Zeichengebung des Dirigenten genau das, was sie benötigten.

Das Ergebnis, wenn man all das in Rechnung stellt: reines Glück. Bruckner-Glück. Grösse und Kraft gibt es fürwahr, aber nirgends ist die Balance gestört, selbst bei vollem Blech bleiben die von Streichern formulierten Harmonien zu hören – auch in der Vierten, wo das Horn-Signal so rasch im Getöse untergehen kann. Auf der anderen Seite herrscht in diesem Bruckner-Bild eine Kultur des Leisen – und in Verbindung damit ein überwältigendes Fest der Farben. Da ist zu hören, was die Wiener Philharmoniker zu bieten haben, wenn sie es bieten wollen, und es geschieht nicht um seiner selbst willen, sondern zum Gewinn der Musik Anton Bruckners. Dabei ist alles eingebettet in weiche Konturen, ohne dass das Geschehen verflösse – Welten liegen zwischen dem Klangbild Thielemanns und jenem Eugen Jochums, bei dem der grosse Bruckner-Dirigent Bernard Haitink gelernt und von dem er sich später so gründlich emanzipiert hat. Und dann, vor allem: die Übergänge. Ganz organisch wirkt die Musik Bruckners hier, obwohl sie ja in manchem Moment parataktisch gedacht ist, Dinge unvermittelt nebeneinanderstellt. Das muss erst einmal gelingen.

Anton Bruckner: Die 11 Sinfonien. Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung). Sony 19658760172 811 CD).

«Erinnerung an Ernst» – an wen, bitte?

Ein Scherz von Johann Strauss Vater

 

Von Peter Hagmann

 

Recht pompös, dieser Marsch zur Eröffnung: zwei Eckteile im Tutti und ein von den hohen Holzbläsern bestimmter Binnenteil. Aber er ist bloss ein Versprechen, denn er endet auf der Dominante und führt ins Nichts einer Generalpause – eine Frage ohne Antwort? Nein, ein Doppelpunkt vor dem duftigen Walzer, der jetzt anhebt. Seine Melodie kommt einem nicht ganz unbekannt vor – doch, ja, es handelt sich um «Mein Hut, der hat die Ecken». Erste Zeichen amüsierter Unruhe im Publikum; «wollen Sie mitsingen?», fragt der Dirigent halblaut in den Saal, worauf sich ins Gelächter einige zaghafte Stimmen mischen. «Nochmal, von Anfang an» und «coraggio», aber auch lakonisch: «zu spät» – so ist es nun einmal, wenn Dirigenten am Werk sind.

Doch das ist nur das Vorspiel, denn jetzt beginnt der Reigen der von den Orchestermitgliedern in erheiterndem Wettstreit vorgetragenen Variationen über das Volkslied. Die Oboe nimmt all ihren Mut zusammen und fügt einige Verzierungen in den melodischen Verlauf ein, was zu ersten Komplimenten führt. Die beiden Flöten lassen es sich nicht nehmen und steuern terzenselig perlende Läufe bei, was schon auf mehr Bewunderung stösst. Die Streicher geben sich als Riesengitarre und machen der Orchesterharfe Konkurrenz, doch dann schlägt die Stunde des gerne etwas am Rand sitzenden und deshalb wenig beachteten Piccolospielers, der mit einer Kaskade atemberaubender Läufe von zuoberst nach zuunterst und zurück kugelt – was einen Ausbruch an Jubel erzeugt. Die Atmosphäre nimmt Formen an, wie sie bei einem Jazzkonzert üblich sind, wo jedes Solo über dem stets gleichbleibenden Bass mit Beifall kommentiert wird. So folgt eine spassige Einlage der anderen, bis es schliesslich zum tosenden Kehraus kommt. Wer Not an guter Laune hat – in diesen sieben Minuten kann er tanken.

Was heisst hier «Jazzkonzert»: Die Rede ist vom Mitschnitt eines Orchesterkonzerts aus dem Goldenen Saal des Wiener Musikvereins, genauer: des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker von 2007, als Zubin Mehta ans Pult gebeten war – Zubin Mehta, der damals noch voll in Form war und genau die passende Ruhe fand, um den Solisten aus dem Orchester den Boden für ihre Kapriolen zu bereiten. Zu hören ist es auf CD, zu sehen ist es auf DVD, zu erleben ist aber auch ganz einfach auf Youtube unter «Erinnerung an Ernst» (Audio: https://www.youtube.com/watch?v=RNswe9Taye8 / Video: https://www.bilibili.com/video/BV1Pp4y1i7WY/?uid=425631507034793169375759). Die Aufnahmen von 2007 unterscheiden sich geringfügig voneinander; mag sein, dass sie nicht aus der gleichen Aufführung stammen. Was auf CD zu hören ist, erscheint musikalisch und vom Witz her subtiler, auf DVD ist dafür zu sehen, was die Wiener Philharmoniker und Zubin Mehta an optischem Effekt beisteuern. Zum Beispiel in jener Passage, da der Geiger neben dem Konzertmeister eine horrible Passage blendend hinlegt, den Schlusston jedoch dem Konzertmeister überlassen muss, der sich nach seinem einzigen Ton erhebt, um sich zu verbeugen. Und dann gleich noch etwas stehenzubleiben, bis ihm der Dirigent auf die Schulter klopft und darauf hinweist, dass er sich wieder hinsetzen könnte. Was er dann auch tut.

Bleibt die Frage, wer jener Ernst sei, an den die «Erinnerung an Ernst» erinnert. Das dergestalt betitelte Stück stammt von Johann Strauss Vater, dem Schöpfer des «Radetzky-Marsches». Bekannt ist es auch unter der Opuszahl 126 und unter dem Titel «Der Carneval in Venedig». Und das darum, weil Strauss der Ältere (1804 bis 1849, Vater von vierzehn Kindern) anschloss an «Le Carnaval de Venise», op. 18, ein Thema mit fünfundzwanzig Variationen über die Canzonetta «Cara mamma mia» von Heinrich Wilhelm Ernst (1814 bis 1865). Ernst war einer der berühmtesten Geiger seiner Zeit, sein Vorbild war kein Geringerer als Niccolò Paganini (1782 bis 1840). Gleich gut wie der Teufelsgeiger wollte Ernst werden, ja besser als der, und die Voraussetzungen waren gegeben, denn Ernst, aus einer Schenke in Brünn stammend, war ein Wunderkind, wie es im Buche steht; zahllos sind die Legenden um sein Können. Sein Ende dagegen war tragisch; krank und verarmt starb er in Nizza.

Ernsts Komposition entstand 1837 und erschien 1844 im Druck, die Verneigung von Strauss Vater kam wohl 1841 bei Tobias Haslinger in Wien heraus – und zwar als Klavierstück. Ob es Strauss selbst orchestriert hat, ist nicht bekannt, handschriftliches Material fehlt, nicht einmal eine Partitur ist vorhanden, es gibt lediglich eine Abschrift von Orchesterstimmen. Auf dieser Basis hat Michael Rot das Stück herausgegeben. Zum Glück für uns. Von wem genau die diversen Scherze stammen, vom Komponisten, vom Herausgeber, vom Dirigenten, von den Orchestermitgliedern, es darf offenbleiben.