Kreative Eruptionen

Matinee mit La Scintilla im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Dass ein Konzert mehr als angenehme Unterhaltung, ja mehr als erhabenen Genuss bieten kann, dass es auch wahre Sprengkraft zu entwickeln vermag – der jüngste Auftritt von La Scintilla, der «Barockformation» aus dem Orchester der Oper Zürich, hat es erneut bestätigt. Auf dem hochgefahrenen Orchestergraben und der Bühne sassen Musikerinnen und Musiker, die Instrumente bedienten, wie sie zur Entstehungszeit der vorgetragenen Werke üblich waren – eine Praxis, die im Opernhaus auf die frühe Zeit mit Nikolaus Harnoncourt zurückgeht, der dieses nach 1970 Feuer entzündet hat. Besonders die Rede war vor dem Sonntags-Konzert der Scintilla zum Beispiel von einer Oboe aus dem Bestand der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, die um 1850 unter der Leitung Richard Wagners gespielt worden ist. Sie ist nachgebaut und in diesem Konzert verwendet worden – recherchieren und ausprobieren gehören in diesem Feld der Musikpraxis unbedingt dazu. Und der Gewinn lässt nicht auf sich warten.

Am Pult der Scintilla stand Riccardo Minasi, der künstlerische Leiter des Orchesters: von Haus aus Geiger und längst ein erprobter Spezialist der historischen Aufführungspraxis, vor allem aber ein Temperamentsbündel erster Güte. Als Dirigent der italienischen Tradition schlägt er gerne kleinteilig und führt er das Orchester straff, was nicht immer letzte Präzision ergeben hat. Doch die Intensität, mit der Minasi seine klar erkennbaren Ansätze der Interpretation an das Orchester weitergab, wurde von den Musikerinnen und Musikern mit hoher Aufmerksamkeit aufgenommen und mit blendender Kompetenz in Klang gebracht. Eine anregende, aufregende Reise wurde das, und am Ende liess La Scintilla ihren Maestro ebenso hochleben, wie es das Publikum im gut besetzten Opernhaus tat.

Den Anfang machte die Ouvertüre zu Richard Wagners «Tannhäuser», dies als Beitrag zum Wagner-Schwerpunkt der Zürcher Oper mit ihrem mittlerweile vollendeten «Ring des Nibelungen» und überdies als Erinnerung an die Jahre fruchtbaren Wirkens, die Wagner zwischen 1849 und 1858 in Zürich verbrachte. Die «Tannhäuser»-Ouvertüre ist ja ein Stück von ausgesuchter Schönheit; in aller Pracht trat das in der Aufführung ans Licht. Anders als es heute üblich ist, leben die Instrumente des 19. Jahrhunderts von ihrem Spektrum an den Obertönen, was ihre Individualität unterstreicht. Im Zusammenwirken ergibt das weniger den heute geschätzten Mischklang, sondern eher einen Spaltklang, der genau darum in vielerlei Farben schillert. Weich und getragen der Anfang. Die Balance gelang schlechterdings perfekt, nichts trat störend in den Vordergrund, und wenn die Streicher ihre Leittöne mit wenig oder gar keinem Vibrato auf das Ziel hin zogen, stieg die Temperatur schon merklich an. Sobald das Tempo anzog, brach der reine Enthusiasmus aus – durchsetzt mit Inseln der Ruhe, in denen etwa der Klarinettist sein Solo in aller Freiheit ausformen konnte. Stürmisch, aber klanglich agil ging es auf den Schlusspunkt zu – und dann musste erst einmal durchgeatmet werden.

Mit dem Violinkonzert in e-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy nahm das Staunen weitere Dimensionen an. An seiner mit (wohl umsponnenen) Darmsaiten bespannten Geige von Ferdinando Gagliano aus dem späteren 18. Jahrhundert setzte Ilya Gringolts von Anfang auf deutlich ausgespielte Expressivität. Nicht zuletzt manifestierte sich das im reichen Einsatz des Portamentos, jenes Gleitens vom einen Ton zum anderen, das man heute vielleicht nicht mehr so mag, das jedoch in den aufführungspraktischen Schriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts, etwa der Geigenschule von Joseph Joachim, ausführlich thematisiert wird. Jedenfalls geriet Gringolts eine sehr persönliche, Virtuosität und Kantabilität überzeugend verbindende Lesart. Nach einem etwas unverbindlich geratenen Einstieg baute sich im Kopfsatz eine drängende Spannung auf; ihre Lösung fand sie in der ganz entspannten Einleitung des Mittelsatzes. Belebend wirkten hier die Gewichtsetzungen, welche die Musik zum Sprechen bringen, grossartig auch die Vielgestaltigkeit der Artikulation. Und dann das Finale: ein Hexentanz in atemberaubendem Tempo, aber einer mit zirzensischer Lust. La Scintilla hielt sehr wacker mit.

Schliesslich die «Eroica», die Sinfonie in Es-Dur Ludwig van Beethovens. Hier war die Ausgangslage eine andere. In die Sinfonien Beethovens hat die historische Praxis vor langem schon Einzug gehalten, die der Fülle der ganz unterschiedlichen Auffassungen in dieser Stilrichtung bezeugt eine reiche Auswahl an CD-Aufnahmen. Dazu kommt, dass das Tonhalle-Orchester Zürich in seiner grossen Zeit mit David Zinman ein ganz neues Beethoven-Erlebnis in die Stadt gebracht hat. Die Hürden waren also hoch – für La Scintilla und Riccardo Minasi kein Problem, sondern Ansporn. Die von Beethoven mit Hilfe seines Metronoms vorgegebenen Tempi führten sie als plausibel vor, vor allem im Trauermarsch des zweiten Satzes, der kein dumpfes Dröhnen hören liess, der vielmehr eine Atmosphäre berührender Trauer schuf und das in flüssigem Voranschreiten tat. Ausgeprägt lebte die Aufführung auch vom Instrumentarium – insofern nämlich, als in dieser Art der Besetzung die Akzente zugespitzt werden konnten und dementsprechend in die Knochen fuhren, ohne dass das Gehör strapaziert wurde. An der Verwandtschaft zwischen dem Finale der Sinfonie und dem Klang der Befreiung in der Oper «Fidelio» war hier kein Zweifel.

Erstklassig

Philippe Jordan zu Gast
beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

So kräftig und zugleich so schön, so opulent und gleichzeitig so leuchtend transparent hat das Tonhalle-Orchester Zürich seit langem nicht geklungen. Angesagt waren drei Ausschnitte aus der «Götterdämmerung» Richard Wagners: «Siegfrieds Rheinfahrt», «Siegfrieds Tod und Trauermarsch» sowie «Brünnhildes Schlussgesang». Und mit Philippe Jordan, der mit diesem doppelt geführten Abend seit langem wieder einmal in der Tonhalle Zürich erschienen ist, stand ein exquisiter Experte für dieses Repertoire am Pult – das heisst: Pult brauchte er keines, er dirigierte den ganzen Abend über auswendig. Mit letztem Engagement bei der Sache, wuchs das in grösster Formation angetretene Orchester förmlich über sich hinaus. Am Ende gab es von den Musikerinnen und Musikern einhelligen Beifall für den Dirigenten. Und das Publikum war aus dem Häuschen.

Was war geschehen? Die Erfahrung des demnächst fünfzigjährigen Zürchers spielt gewiss eine zentrale Rolle. Seine Berufslaufbahn hob an mit der Assistenz in einer Produktion von Wagners «Ring des Nibelungen» am Théâtre de Châtelet in Paris. Seither hat ihn die Tetralogie nicht losgelassen. An der Pariser Nationaloper, an der Philippe Jordan zwischen 2009 und 2021 als Musikdirektor wirkte, leitete er in den Jahren 2010 und 2011 einen «Ring», der im Orchestralen neue Massstäbe setzte. Bald wird er Wagners Opus summum an der Berliner Lindenoper dirigieren, wo er in früher Zeit als Erster Gastdirigent tätig war – nicht aber diesen Sommer bei den Bayreuther Festspielen, wo er die musikalische Leitung in der umstrittenen Produktion von Valentin Schwarz übernommen hatte, sie jetzt aber wieder zurückgelegt hat. Kein Wunder…

Die Besonderheit beim Pariser «Ring» von 2010/11 bestand darin, dass die Opéra de la Bastille über eine ausserordentlich weite Kubatur verfügt, der Dirigent, was die instrumentale Seite betrifft, also aus dem Vollen schöpfen konnte – übrigens keineswegs zum Nachteil der Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, wusste Jordan doch schon damals sehr genau, wo und wie er die Pferde zu zügeln hat. So waren in diesem Zyklus, wie es nur selten möglich wird, der Farbenreichtum, die Tiefenstaffelung und die kontrapunktische Feinarbeit in einzigartiger Weise wahrzunehmen. Und das in einem Klangbild, das die Expansion keineswegs scheute, den lichten, ziselierten Momenten aber ebenso viel Sorgfalt angedeihen liess. Im Graben herrschte exzeptionelle Qualität; mit Philippe Jordan ist das Orchester der Pariser Oper zum besten Klangkörper Frankreichs herangewachsen – wovon auch ein Gastspiel beim Lucerne Festival 2014 mit einer umwerfenden Aufführung von Modest Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung» zeugte.

Und nun also dies Konzept in der Grossen Tonhalle Zürich, die doch um einiges kleiner ist als die Bastille, die dafür aber über die eindeutig bessere Raumakustik verfügt. Aus einem berückenden Leisen heraus hob «Siegfrieds Rheinfahrt» an, die tiefe Klarinette setzte da markante Tupfer – Philippe Jordan, als Sohn seines grossen Vaters Armin Jordan in der deutschen wie der romanischen Kultur aufgewachsen, versteht glänzend, mit den Instrumentalfarben umzugehen. Ganz gelöst, ruhig fliessend daraufhin die Naturseligkeit mit Siegfrieds Horn, das von aussen ins Geschehen hereinklang. Und dann der Schock des Trauermarschs, der mit messerscharfer Präzision einsetzte, darob jedoch keineswegs brutale Züge annahm. Schliesslich das wellenweise Aufbäumen in «Brünnhildes Schlussgesang», in dem sich Anja Kampe mit Applomb durchsetzte. Was gab es da nicht zu hören: die Hörner und die Tuben, die mächtige Basstrompete, die tiefen Blechbläser, die für das Fundament sorgten – ohne dass sich je etwas unstimmig in den Vordergrund gedrängt hätte. Die Balance war ja jederzeit aufs Feinste eingerichtet. Denn Philippe Jordan kennt die Partituren aus dem ff. Und überdies tummelt er sich in ihnen mit einer Begeisterung, die auf das Podium wie auf den Saal ausstrahlte.

Im ersten Teil des Abends gab es Robert Schumanns Sinfonie Nr. 3 in Es-dur, was nur auf den ersten Blick seltsam erscheinen mochte. Vom Rhein ist auch in diesem Stück die Rede, Schumann komponierte das Stück zu seinem Amtsantritt als Musikdirektorin Düsseldorf. Auch da trat eine Eigenheit im künstlerischen Wirken Philipp Jordans zutage: Bei der Gestaltung seiner Programme denkt er in thematisch Kreisen, in tonartlichen Zusammenhängen, in Verwandtschaften der Atmosphären – spricht er in Interwies zu solchen Fragen, ist es mit Händen zu greifen. Die Wiedergabe war nun aber doch etwas pompös angerichtet, in grosser Besetzung, ja in einer Art Tschaikowsky-Ton, der einen retrospektiven Zug nicht verhehlte. Indes war auch hier war alles zu hören, was man zu hören begehrt – das Leben der Nebenstimmen im Kopfsatz, das Springen und Singen im Scherzo, die attraktiven Tempomodifikationen im Finale. Was will man mehr?

Vielleicht das: ein nächstes Zürcher Engagement nicht erst in zehn Jahren.

Oper ohne Gesang

«Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy als Sinfonische Dichtung in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Als Ende Februar 2020 Covid-19 um sich zu greifen begann, mussten die kulturellen Institutionen ihre Häuser schliessen. Zur Untätigkeit gezwungen war auch Jonathan Nott – doch der britische Dirigent aus der Schweiz, seines Zeichens musikalischer und künstlerischer Direktor des Orchestre de la Suisse Romande in Genf, liess sich dadurch nicht in die Enge treiben. Er zog sich zurück auf die Musik an sich und versenkte sich in sein Herzensstück seit früher Zeit, in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy. Warum nicht, das war seine Frage.

Genauer: Warum nicht das Drame lyrique von 1902 für den Konzertsaal gewinnen? Natürlich nicht auf dem Weg der konzertanten Aufführung, sondern vielmehr in der Form eines eigenen Werks: als eine zusammenhängende Folge von Abschnitten aus der durchkomponierten Oper. Einrichtungen solcher Art waren in den Jahren vor und nach 1900 an der Tagesordnung, man denke etwa an das Ballett «Daphnis et Chloé» von Maurice Ravel, aus dem der Komponist selbst zwei Suiten zum Gebrauch im Konzertsaal zog. Auch zu «Pelléas et Mélisande» gibt es derlei Einrichtungen, die berühmteste unter ihnen stammt von dem österreichischen Dirigenten Erich Leinsdorf. Die Bearbeitungen dieser Art gehen von den zahlreichen instrumentalen Teilen in Debussys Partitur aus. Jonatan Nott hatte jedoch etwas anderes im Sinn.

Er wollte die Oper als eigenen, vollgültigen Kosmos auf dem Konzertpodium verankern, und dies in rein instrumentaler Ausführung. Kürzung auf eine in der Praxis vertretbare Konzertlänge war also angesagt – und zugleich eine Erweiterung der Orchesterpartitur durch all das an Ausgesprochenem, Angedeutetem und vor allem leitmotivisch Notwenigem, was inneren Zusammenhang schafft. Trotz der Kürzungen sollte die Oper in ihrer Ganzheit, in ihrer immanenten Spannung, auch dramaturgischen Logik erlebbar werden. In welchem Masse das gelungen ist, erwies eine noch im November 2020 entstandene Aufnahme, deren besonderer Reiz ausserdem darin besteht, dass das kondensierte und intensivierte Werk Debussys mit dem fast zu gleicher Zeit entstandenen Poem «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönbergs kombiniert ist – was zu spannenden Vergleichen einlädt.

Auf dem Markt fand das zwei Compact Discs umfassende Projekt aus dem Hause Pentatone gute Resonanz. Es kam sogar auf die Vierteljahresliste im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Und auch im Netz ist die Aufnahme greifbar, selbst, was offenbar noch nicht bis zur Administration des Orchesters durchgedrungen ist, auf dem französischen Portal Qobuz und bei dem bedeutenden, auf klassische Musik spezialisierten Anbieter Idagio. Inzwischen jedoch, beinahe drei Jahre nach der Aufnahme, ist «Pelléas et Mélisande» in der von Jonathan Nott stammenden Einrichtung als Sinfonische Dichtung auch im Konzert vorgestellt worden – als Uraufführung notabene in der Genfer Victoria Hall. Ein grosser, mit lebendiger Zustimmung aufgenommener Moment.

Die Live-Aufführung stellt den Effekt, den die rein orchestrale Erzählung der Oper Debussys intendiert, in besonders helles Licht. Zumal sich das Orchestre de la Suisse Romande und sein Musikdirektor in Bestform präsentiert haben. Jonathan Nott hat die Musik Debussys in der Tiefe seines Inneren verankert; die Verdichtung erlaubt ihm, innerhalb einer knappen Stunde sehr nah an den Kern des Werks heranzukommen. Und die seine Musikalität prägende Neigung zum Dramatischen tut in einem solchen Moment das Ihre. In geschmeidigen Tempi und natürlichem Zug entfaltete sich die schauerliche Geschichte; die Seelenzustände, die der alte, verzweifelte Golaud, die ganz junge, scheue Mélisande und der naiv feurige Pelléas exponieren, sie waren förmlich mit Händen zu greifen – und dies in einem Wechselbad zwischen aufschäumender Liebe, bedrohlichem Misstrauen und Tod. Unerhört spannend geriet das, geradewegs zum Anhalten des Atems. Allerdings, je besser man die Oper Debussys kennt, desto mehr kann man in der Sinfonischen Dichtung erleben.

So ausgezeichnet gelungen ist die Aufführung, weil das Orchester und sein Dirigent auf der gesicherten Basis einer deutlich hörbaren Gemeinsamkeit agieren. Alle atmen sie gemeinsam, alle streben nach Identifikation, alle geben ihr Bestes. In einem warmen, geradezu üppigen Gesamtklang finden die einzelnen Farben zu leuchtender Präsenz; reich ist das Ausdrucksspektrum zwischen der Sensibilität der klanglichen Feinzeichnung und der dramatischen Eruption – wobei auch in den Momenten der Kraft Balance und Schönheit gewahrt bleiben. Bekanntlich versteht sich das gerade keineswegs von selbst.

Vorzüge solcher Art bestätigten sich, nun in ganz anderer Sprache, bei Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. In Kit Armstrong war hier sehr kurzfristig ein geradezu sensationeller Einspringer für die aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Maria João Pires gefunden worden. Der sagenhaft begabte, auch stilistisch in hohem Ausmass versierte Pianist überraschte mit sorgfältiger Lesart der Partitur und manch überraschender Artikulation, ausserdem mit einem leichten, hellen Ton am Steinway. Während Orchester wie Dirigent ihm in berührender Weise nahe blieben.

Allein, genau jetzt, da das Orchestre de la Suisse Romande und Jonathan Nott definitiv in die gleiche Strasse eingebogen sind und die Fruktifizierung ihren Lauf genommen hat, wird von der Trägerschaft des Orchesters mitgeteilt, dass der 2017 als unbefristet geschlossene Vertrag zwischen den beiden Partnern auf den 1. Januar 2026 beendet werden soll. Im März 2026 soll noch eine Tournee folgen, Jonathan Nott wird sie dann aber als «chef invité» leiten. Fast ein Jahrzehnt an der Spitze eines Orchesters sind genau das Richtige, am besten geht man, wenn es am schönsten ist – derlei lässt sich dazu sogleich anführen. Nur: Die Trennung von Jonathan Nott erfolgt in einem nicht unproblematischen Klima.

Vor eineinhalb Jahren trug ein regionaler Fernsehsender die (gewiss hohe, aber keineswegs unübliche) Gage des Dirigenten an die Öffentlichkeit getragen, was eine lebhafte, wenn auch wenig produktive Debatte auslöste – ist hier etwa ein Kesseltreiben in Gang gesetzt worden? Der Verdacht liegt darum nahe, weil sich beim Orchestre de la Suisse Romande in den vergangenen zwei Jahrzehnten eigenartige Personalbewegungen gehäuft haben – vom missglückten Versuch, dem Orchester einen seinem Niveau nicht entsprechenden Dirigenten aufzudrängen über die zahllosen, raschen Wechsel in der Geschäftsführung bis hin zu dem kostspieligen Abgang eines Orchesterdirektors schon nach wenigen Monaten der Tätigkeit. Welcher Art die Gründe hinter der jüngsten Personalie seien, ob der Wechsel am Grand Théâtre auf die Saison 2026/27 eine Rolle spiele, es muss offen bleiben. Klar ist nur, dass ein künstlerisches Projekt abgebrochen wird, das dem Orchester eine neue Perspektive wie kaum mehr seit der Ära mit Armin Jordan verschafft hat.

«Champagne!»

Das Concerto Copenhagen erinnert an
Hans Christian Lumbye

 

Von Peter Hagmann

 

Lumbye? Wer bitte? Heute ist nicht einmal mehr sein Name bekannt, von seiner Musik ganz zu schweigen. Zu seinen Lebzeiten jedoch war der dänische Geiger, Trompeter, Komponist und Dirigent Hans Christian Lumbye (1810-1870) ein Pop-Star. Und dies keineswegs nur in Kopenhagen, dem Zentrum seines Wirkens, sondern auch in musikalischen Metropolen wie Wien, Paris, Berlin, St. Petersburg. Sohn eines Militärmusikers und als ausserordentlich begabt erkannt, lernte Lumbye Geige und Trompete, später nahm er Stunden in Musiktheorie. Um des Lebensunterhalts willen verdingte er sich als Trompeter in einer Regimentskapelle. In seiner Freizeit spielte er mit Kollegen zum Tanz auf, und nicht selten lagen dabei Stücke aus eigener Feder auf den Pulten, deren Aufführung er von der Geige aus leitete.

Wie es der Zufall wollte, besuchte Lumbye 1839 ein Konzert im Hotel d’Angleterre in Kopenhagen. Angesagt war dort der Auftritt eines Ensembles aus der Steiermark, geleitet von einem Musiker aus Wien, und auf dem Programm standen Werke von Johann Strauss Vater (1804-1849) und Joseph Lanner (1801-1843). Lumbye war auf der Stelle Feuer und Flamme für diese Art Walzer und Polkas; er beschloss, was er als Gastspiel gehört hatte, in Kopenhagen als feste Einrichtung zu verankern und gründete zu diesem Zweck gleich ein Orchester. Im Tivoli, dem 1843 eröffneten Vergnügungspark am Stadtrand von Kopenhagen, fand er zusammen mit seinen Musikern das passende Podium. Rasch wurde Lumbye zum Idol, das Publikum strömte herbei – allerdings nur im Sommer. Im Winter, wenn es im Tivoli nichts zu tun gab, ging das Orchester auf Tournee. Zum Beispiel nach Wien, wo sich Johann Strauss Vater und seine Kumpanen vorgenommen hatten, Lumbye auszubuhen. Als die Kumpanen sahen, wie begeistert Strauss seinem dänischen Kollegen applaudierte, fiel der Widerstand in sich zusammen. Man schloss Freundschaft.

Und hier kommt der zweite Zufall ins Spiel. In den Jahren der Pandemie sahen sich das Concerto Copenhagen und sein Leiter Lars Ulrik Mortensen, ein angesagtes dänisches Barockorchester, aller Möglichkeiten des Auftritts beraubt. Zugleich hatte das Ensemble Besuch bekommen von Henrik Engelbrecht, der an einem Buch über Kopenhagens Tivoli und damit über Hans Christian Lumbye arbeitete. Der dänische Musikologe wollte wissen, wie Lumbyes Musik zur Zeit ihrer Entstehung geklungen haben mochte. Auch da sprang der Funke. Man konsultierte die originalen Notentexte, man machte sich auf die Suche nach den adäquaten Instrumenten – was besonders bei den Bläsern und dem reichlichen Schlagzeug, das Lumbye einzusetzen pflegte, mit besonderem Aufwand verbunden war. Schliesslich stand das geforderte Ensemble mit elf Streichern und dreizehn Bläsern, auch mit Pauken und Becken, mit Xylophon und Glockenspiel – alles so originalgetreu wie möglich.

Was es nun in den neun Nummern der bei Dacapo Records erschienenen CD zu hören gibt, macht sensationellen Effekt: Wiener Walzer, um es mit diesem Oberbegriff zu umschreiben, im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Der Klang hat nichts von der heute üblichen Weichzeichnung, er lebt nicht von Homogenität, sondern vielmehr von der Aufspaltung der Farben, was angesichts der Dominanz der Bläser von besonderer Wirkung ist. Frech klingt Lumbyes Musik, bisweilen schräg, immer von zündender Energie getragen, auch von pointierter Artikulation und sehr schönen Tempi. So wird deutlich, dass Lumbye einen würdigen Platz neben den Königen und dem Kaiser des Wiener Walzers für sich beanspruchen darf. Seine Partituren sind von geistreichem Witz und vielschichtiger Erfindung.

Den Auftakt der CD macht der Champagner-Galopp von 1845, das bekannteste Stück von Meister Lumbye. Frisch und knackig kommt es daher, und der von einer eigens zu diesem Zweck erbauten Maschine an genau richtiger Stelle zum Knallen gebrachte Korken sorgt für besonderen Spass. Wenig später im Programm die Verbeugung Lumbyes vor den Ahnen: mit «Die Mozartisten», einem erheiternden Verschnitt aus «Don Giovanni» und «Zauberflöte» von Joseph Lanner, und mit dem Champagner-Walzer von Johann Strauss Vater. Darauf ein bunter Strauss an quicklebendigen Stücken Lumbyes, in denen zur Silbernen Hochzeit des Königspaars getanzt wird und in denen das Vogelgezwitscher wie der Kuckucksruf ihre Auftritte haben. Wer einen Durchhänger hat, mag zu dieser CD greifen oder sie auf einer der Internet-Plattformen auffinden. Es wird ihm alsbald besser gehen.

«Champagne!»: The Sound of Lumbye und His Idols. Concerto Copenhagen, Lars Ulrik Mortensen (Leitung). Dacapo Records 8.224750 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023). Vertrieb: www.musikontaktshop.ch.

Weiter, immer weiter

«Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss
mit dem Luzerner Sinfonieorchester

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind nicht aufzuhalten auf ihrem Weg nach oben. Soeben haben die Musikerinnen und Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters zusammen mit ihrem Chefdirigenten Michael Sanderling die Saison 2023/24 eröffnet – mit nicht weniger als der «Alpensinfonie» von Richard Strauss. Und dies auf jenem Podium, das sechs Wochen zuvor, im Rahmen des Lucerne Festival, der Sächsischen Staatskapelle Dresden und ihrem (Noch-)Chefdirigenten Christian Thielemann für einen geradezu sensationellen Auftritt mit genau dieser Tondichtung gedient hat. Nicht nur die zeitliche Nachbarschaft und damit die Möglichkeit des Vergleichs mochten als heikel erscheinen, das Unterfangen selbst liess staunen, ist zu dessen Verwirklichung doch eine Orchesterbesetzung im XXL-Format gefordert. Mit weniger als sechzehn Ersten Geigen und somit einer Gruppe von rund sechzig Streichern, weniger als vierfacher, bei den Hörnern gar achtfacher Besetzung bei den Bläsern sowie einer ganzen Reihe an Spezialinstrumenten geht es in der «Alpensinfonie» nicht.

Zu zeigen, dass ein Auftritt in solcher Grossformation dem Luzerner Sinfonieorchester möglich ist, das war, unter anderem, die Ambition dieses Abends im sehr gut besuchten KKL. Nicht bei der Auslastung insgesamt, jedoch bei der Zahl der gelösten Abonnements, sei der Status aus der Zeit vor der Pandemie wieder erreicht, betont Numa Bischof Ullmann, der seit nunmehr zwanzig Jahren erfolgreich und ohne Ermüdungserscheinung wirkende Intendant des Luzerner Orchesters. Entschieden weiter gehe auch die Entwicklung des Klangkörpers hin zu einem voll ausgebauten Sinfonieorchester mit knapp achtzig fest angestellten Mitgliedern. Bald werde dieses Ziel erreicht sein – dies auf der Basis der von Bischof eingerichteten Verbindung zwischen öffentlicher und privater Finanzierung. Der grössere Teil des Budgets, gegen zwei Drittel, wird getragen von der Stiftung für das Luzerner Sinfonieorchester mit dem Mäzen Michael Pieper im Zentrum und einer grossen Zahl an Stiftern, Gönnern und Freundeskreisen.

Ist diese Konstruktion schon bemerkenswert genug, so gilt das erst recht für den Einfallsreichtum im Bereich der Programmgestaltung. Das zeigt das Konzertangebot des Orchesters, im KKL wie in dem 2020 eröffneten Orchesterhaus am Stadtrand, das erweist aber auch «Le piano symphonique», das vom KKL ausgeschriebene und nach einem Wettbewerb an das Luzerner Sinfonieorchester vergebene Klavierfestival, welches das von heute auf morgen aufgegebene Klavierfestival des Lucerne Festival ersetzt. Da fehlt es denn nicht an Überraschungen. Die Eröffnung des Festivals bestreitet Maria João Pires, die sich im «2. Akt» des Abends für Schuberts vierhändige Fantasie in f-Moll mit Martha Argerich zusammentut und sich später gemeinsam mit Elisabeth Leonskaja den ebenfalls vierhändigen «Lebensstürmen» Schuberts widmet. Schliesslich folgt Kit Armstrong mit den Etudes d’exécution transcendantes von Franz Liszt, nachdem er am Abend zuvor dessen gewaltige Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» gespielt hat: an der Orgel notabene.

Dass die in Luzern verfolgte Richtung stimmt – die «Alpensinfonie» hat es in denkbar eindrucksvoller Weise bestätigt. Eine hinreissende Darbietung war das. Gelingen konnte sie, weil der Kern des Orchesters so sicher in sich ruht, dass die zahlreichen Zuzüger ihre Einsätze in einer stimmig eingerichteten Umgebung beitragen konnten. Mit zündender Energie ging die Konzertmeisterin Lisa Schatzman der Gruppe der Ersten Violinen voran, während sich Gregory Ahss, ihr gleichberechtigter Kollege aus dem Kreis um Claudio Abbado, mit Innbrunst den Kaskaden an Tremoli hingab. Phantasievoll ausgespielte Soli liessen die Holzbläser glänzen, während das massiv besetzte Blech in reicher Abschattierung einwirkte und majestätische Klangkronen bildete. Probleme mit der Lautstärke, mit der Balance? Nicht die Spur. Dazu ist Michel Sanderling, Sohn eines berühmten Dirigenten-Vaters, viel zu sehr Kapellmeister.

In dem guten Sinn nämlich, dass er den Notentext mit aller Genauigkeit liest und sich ihm vorbehaltlos in den Dienst stellt. Das Raunen, das Verschwimmen, der Dunst – das hat Christian Thielemann mit Wagners «Wunderharfe» aus Dresden bei seiner Luzerner Auslegung der «Alpensinfonie» auf die Spitze getrieben; gelernt und vervollkommnet hat er es bei den Wiener Philharmonikern, die sich gegen nichts mehr sträuben als gegen den präzisen Schlag. Michael Sanderlings Sache ist das nicht, er schlägt präzise und führt das Orchester mit sicherer Hand, ohne ihm den Atem und dem Stück die Atmosphäre zu nehmen. Der Ansatz erlaubt ihm, die Partitur in aller Helligkeit leuchten zu lassen, die einzelnen Instrumentalfarben in gebotener Klarheit herauszustellen und so die unerhört weitreichenden Verästelungen in dieser nur dem Schein nach auf den grossen Effekt zielenden Tondichtung zu zeigen. Symptomatisch dafür waren das auffallend präsente, mit viel Hall versehene Herdengeläut und der sehr zu Recht prägnante Auftritt der Orgel, deren Spieltisch ins Orchester integriert war. Und was die beiden Herren an den zwei Windmaschinen an schweisstreibender Kurbelbewegung leisteten, gab zu erkennen, dass man von Starkregen und Gewitterböen schon vor 108 Jahren überrascht werden konnte. Eine äusserst fassliche, bildhafte Interpretation ist hier gelungen. Dass sie sich unter einem schlüssig von A bis Z reichenden Spannungsbogen ereignete, machte das Besondere dieser erfrischenden Bergwanderung mit Richard Strauss aus.

Bruckner gestern und heute

Das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet seine neue Saison

 

Von Peter Hagmann

 

Warum nur? Warum nur so laut – auch in der neunten Sinfonie Anton Bruckners, mit der das Tonhalle-Orchester Zürich seine neue Saison eröffnet hat? Die dynamischen Spitzen überstiegen die akustische Kapazität der Grossen Tonhalle am See; auch in der allerhintersten Reihe des Saals, wo sich gross besetzte Stücke besonders gut verfolgen lassen, begann wohl nicht nur beim Berichterstatter das Gehör zu leiden. Und mehr noch: Es war das Werk selbst, das unter der vom Dirigenten Paavo Järvi verordneten Lautstärke Einbussen erlitt. Ein einziges Beispiel dazu. Der dritte und letzte Satz der unvollendeten Neunten Bruckners steht im Zeichen eines mächtigen Akkords, der sich drei Schritten, der Dreieinigkeit gemäss, auf eine Kulmination von unglaublicher Dissonanz hin zubewegt. In diesem Moment, so immer wieder der Eindruck, scheint sich der Himmel zu öffnen und scheint der Komponist verzweifelt nach seinem Schöpfer zu rufen – nach jenem Gott, dem er seine Neunte gewidmet hat. Die Wissenschaft lehnt diese Deutung ab. Doch wer bedenkt, in wie vielen Kirchen, und vor allem barock ausgemalten Kirchen, Bruckner an den Orgelspieltischen sass, von welch genuiner Gläubigkeit der Komponist war und wie ausgeprägt seine Todesahnungen in den letzten Lebensjahren waren, der wird sich einem Verständnis der Kulmination als Blick in die Unendlichkeit des offenen Himmels nicht verschliessen.

Die drei Akkorde bilden das Zentrum der Sinfonie. In der Aufführung durch das Tonhalle-Orchester und seinen Chefdirigenten wurden sie ihrer Lautstärke wegen zum Problem. Zum einen gab es keine Steigerung vom ersten zum dritten der drei Akkorde. Die Akkorde waren nur laut, und alle gleich laut; schon beim ersten war das Pulver verschossen. So standen sie als grobe Blöcke nebeneinander – als ob sie der Organist Bruckner an seinem vergleichsweise starren Instrument gespielt hätte. Zum anderen liessen sie keine harmonisch klare Struktur erkennen; sie wirkten als Tonhaufen, ohne Richtung, ohne Gewichtung. Dem künstlerischen Niveau, welches das Tonhalle-Orchester für sich in Anspruch nimmt, entspricht das in keiner Weise. Ein Forte-Fortissimo, das keine Rücksicht auf die akustischen Bedingungen nimmt, verletzt die Grundlagen des musikalischen Tuns – genau gleich wie ein Akkord, der, weil die Blechbläser in ihrer gleissenden Schärfe alles andere zum Erliegen bringen, durch den Zuhörer nicht verstanden werden kann. Dazu kommt, dass die Vorstellung von Bruckners Musik als einer parataktischen, ja erratischen Kunst überholt ist. So hat man nach dem Zweiten Weltkrieg und bis tief ins 20. Jahrhundert hin gedacht. Inzwischen war eine Generation an Dirigenten am Werk, die bei Bruckner ganz andere Seiten entdeckt hat: das Geschmeidige, das Samtene, das Bewegliche, das Organische, das Wachsen.

Im Bruckner-Bild Paavo Järvis findet sich dafür wenig Platz. Dass das ohne Bedacht, ohne Reflexion so eingerichtet wäre, wage ich nicht anzunehmen. Eher vermute ich eine Absicht dahinter. Auf den beiden Compact Discs mit Bruckners Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, die Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester Zürich beim Label Alpha vorgelegt hat, kann von Problemen mit der Lautstärke keine Rede sein. Das erstaunt nicht. Überschiessendes kann am Mischpult jederzeit und problemlos reguliert werden, den Streichern und den Holzbläsern kann etwas mehr, den Blechbläser etwas weniger Kraft gegeben werden. Zu hören sind auf den Aufnahmen aber auch, und vor allem, die speziellen Farben, welche die Hörner, namentlich jedoch das schwere Blech mit den Trompeten und Posaunen in den Momenten zugespitzter Kraftentfaltung einbringen – das hat seinen eigenen Reiz. Um diese Effekte zu erzielen, kann Järvi allerdings nicht anders, als im Konzert – die Einspielungen werden «live» aufgenommen – auf volle Kraft zu setzen. Die schwer erträgliche Lautstärke also im Interesse der Aufnahme, aber leider auf Kosten der Zuhörer im Saal?

Jenseits dessen zeigt sich das Tonhalle-Orchester Zürich in Bruckners Neunter, wie sie Paavo Järvi versteht, und das gilt mutatis mutandis auch für die Auslegungen der Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, als ein Klangkörper von beachtlich gewachsener Qualität. Der traditionsgemäss grundtönig ausgerichtete Klang ist uneingeschränkt lebendig, er wird getragen von Homogenität, Volumen und Wärme. Dazu gekommen ist eine Reaktionsfähigkeit, die auf das solide Einvernehmen zwischen dem Orchester und seinem Musikdirektor schliessen lässt. Gemäss deutscher Tradition links und rechts vom Dirigenten aufgestellt, finden die beiden Geigengruppen zu lebendigem Dialog – die Zweiten übrigens auf Augenhöhe mit den Ersten Geigen. Die Holzbläser fügen prononcierte Farben in den Gesamtklang ein, sie erhalten allerdings nicht immer ausreichend Raum. Prachtvoll wie stets die vier Hörner und die vier Wagner-Tuben, zu denen sich eine auffallend flexible Solo-Tuba gesellt. Keine Wünsche offen lassen auch Trompeten und Posaunen, nur müssten sie, wie vermerkt, besser im Zaum gehalten sein. Dazu kommt eine ausgeprägte Sorgfalt in der Gliederung der langen Sätze. Die Grundlagen sind gegeben, es scheint auch entschieden an ihnen gearbeitet worden zu sein. Entschiedener jedenfalls als an der Schärfung des interpretatorischen Profils; diesbezüglich war in den vergangenen Wochen beim Lucerne Festival zu hören, wie hoch die Latte liegen kann.

Bei Kian Soltani, diese Saison im Fokus des Tonhalle-Orchesters, sind solche Anmerkungen obsolet. Äusserst persönlich ging er im ersten Teil des Abends das Cellokonzert Robert Schumanns an: mit einem berückend singenden Ton und einer Freiheit in der Tempogestaltung, die nicht nur die Phrasen zeigte, sondern auch enormes Ausdruckspotential freisetzte. Mag sein, dass er da und dort eine Spur zu weit ging; der langsame Mittelsatz geriet bisweilen hart an der Grenze zum Kitschigen. Aber besser zu viel des Guten als korrekt und ein wenig langweilig.

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7 in E-dur. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 932 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2022).
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 c-moll. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 872 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).

Höhenflüge mit Überraschung

Abschluss des Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Drei Klima-Aktivisten / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Es geschah nicht am helllichten Tag, das nicht. Aber doch mitten in der allerschönsten Musik, mitten im Scherzo der vierten Sinfonie Anton Bruckners. Zwei junge Leute, beide in weissen T-Shirts, schreiten entschlossen den rechten Seitengang im Parket hinunter. Warum die Studentin und der Student gerade jetzt so dringend nach Hause wollen? Wollen sie nicht, sie biegen nämlich nicht nach rechts zur Eingangstür ab, sondern nach links, streben an der ersten Sitzreihe vorbei zur Mitte des Orchesterpodiums. Dort schwingen sie sich mit einem Satz hinauf zu den Füssen des Dirigenten, kleben je eine Hand an dessen Podest und beginnen in die Musik hineinzusprechen. Es tue ihr leid, dass sie stören müsse, erklärt die junge Frau, sie liebe klassische Musik. Indessen stünden wir bekanntlich mitten in einer scharfen Klimakrise, sofortiges Handeln sei dringend geboten – «act now» steht gut lesbar auf ihren T-Shirts. Dessen ungeachtet und trotz der wütenden Zurufe aus den Sitzreihen bringt das Bayerische Staatsorchester aus München das angefangene Scherzo zu Ende.

Danach aber dreht sich der Dirigent Vladimir Jurowski um, geht in die Hocke, nähert sich den beiden Jungen und spricht mit ihnen. Sie hätten eine Abmachung getroffen, und er habe sein Ehrenwort für deren Einhaltung gegeben, ruft er ins Auditorium. Die beiden jungen Leute sollten, so die Vereinbarung, ihr Anliegen in wenigen Worten vortragen dürfen, man möge bitte ruhig zuhören; danach würden sie den Saal wieder verlassen, und Bruckners Vierte werde zu Ende gespielt. Er ersuche um Unterstützung für die Einhaltung des Ehrenworts. Die gehässigen Reaktionen aus dem Publikum halten freilich an, weshalb sich Jurowski im Schneidersitz auf seinem Dirigentenpodest niederlässt. Derweil lösen die beiden Aktivisten der Bewegung Renovate Switzerland umstandslos ihre Hände von dem Möbel, sprechen einige Sätze und verlassen dann ohne weiteres den Konzertsaal im KKL.

Der Zwischenruf war gewiss störend, angesichts der klimatischen Umstände und der allgemeinen Gleichgültigkeit im Umgang damit aber sehr wohl am Platz. Dass der Dirigent ihn zugelassen und gleichzeitig gezielt auf Deeskalation gesetzt hat, war ein Meisterstück. Die Besondere des Moments lag jedoch weniger bei dem Auftritt der beiden Aktivisten vor den Gästen der Zurich Versicherung als vielmehr bei der Fortsetzung des Konzerts. Jurowski ging das Finale von Bruckners «Romantischer» nämlich in einer Wildheit sondergleichen an, er peitschte es richtiggehend auf; der Satz, von Bruckner als «bewegt, doch nicht zu schnell» gedacht, fand zu bestürzender Eindringlichkeit und liess einen fassungslos zurück. Was heisst das?

Man mag des Dirigenten Ansatz als Akt der Interpretation verstehen, nur bleibt dabei die Frage offen, warum sich das Finale interpretationsstilistisch, etwa im Dynamischen und in der Artikulation, so krass vom Vorangehenden abhob. Näher liegt die Annahme, dass Jurowski in seiner Weise auf jenes Paradies zu sprechen kommen wollte, welches das Lucerne Festival diesen Sommer zum Motto gemacht hat. Oder um einen Schritt weitergedacht: Dass sich der Dirigent kurzerhand auf die Seite der beiden Klima-Aktivisten geschlagen hat. Tatsache ist jedenfalls, dass Jurowski, 1972 in Moskau geboren, schon seit geraumer Zeit unseren Umgang mit dem Planeten als fahrlässig geisselt, dass er die Zahl seiner berufsbedingten Flüge zu reduzieren sucht und angeblich darum 2019 sein Engagement als Chefdirigent des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters in Moskau aufgegeben hat. Dem entspricht, dass er so drastisch wie kein anderer Musiker seines Renommees den Krieg Putins gegen die Ukraine verurteilt. So politisch kann es im Paradies plötzlich werden.

Und das erstaunlicherweise mit einem Dirigenten, der sich einer altmodisch herrscherlichen Schlagtechnik bedient und vom Pauker verlangt, dass er jeden längeren Wirbel, und zwar auch im Piano, mit einem Akzent auf dem letzten Schlag markiert. Von ausgesuchter Konventionalität zudem das Programm: Vor der Vierten Bruckners gab es das Vorspiel zum ersten Aufzug von Richard Wagners «Tristan und Isolde», einige Tage zuvor schon vom Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä vorgetragen, sowie das Klavierkonzert Robert Schumanns, diesen Sommer ebenfalls schon auf dem Luzerner Programm, nämlich mit dem Solisten Daniil Trifonov. Für das Gastspiel aus München wäre eine Spur mehr Phantasie, ein My mehr Koordination denkbar gewesen, denn ins KKL kam das Orchester der Bayerischen Staatsoper München, das Staatsorchester, das dieses Jahr das Jubiläum seines nicht weniger als fünfhundertjährigen Bestehens feiern kann. Als Opernorchester besitzt es seit langem einen ausgezeichneten Ruf, auf dem Konzertpodium ist es weniger bekannt; beim Lucerne Festival gastierte es erst zum zweiten Mal.

Es tat es mit Aplomb – das kann sagen, wer die von Vladimir Jurowski gesetzten Prämissen akzeptiert. Schon im Kopfsatz von Bruckners Vierter – die Jurowski, wie es vor ihm Herbert Blomstedt bei der Siebten getan hat, aus der neuen Gesamtausgabe dirigierte – war ein ungemein kraftvolles, strahlendes Fortissimo zu hören. Eine Kraft allerdings, in der die Blechbläser so massiv in Erscheinung traten, dass alles andere unterging; weder die Holzbläser noch die Streicher waren in diesen Momenten zu hören, sie bildeten nicht mehr als vage wahrnehmbaren harmonischen Untergrund. Das entspricht einem althergebrachten, inzwischen ausser Kraft gesetzten Bruckner-Ton, wie ihn zum Beispiel Eugen Jochum pflegte. Dem Statischen, das mit dem blechgepanzerten Tutti einhergeht, suchte Jurowski durch die bewusste Gliederung der Sätze und flexibel ausgeformte Übergänge entgegenzuwirken. Immer wieder tauchten auch Inseln schönster farblicher Abmischung auf, etwa zwischen Flöte und Klarinette im Kopfsatz. Und der Solohornist, er hatte einen formidablen Auftritt.

Nicht weniger retrospektiv ausgerichtet wirkte am Abend darauf die Sächsische Staatskapelle Dresden mit ihrem seit 2012 und noch bis 2024 tätigen Chefdirigenten Christian Thielemann (der einen exquisiten Frack trug, wie es derzeit nur noch wenige Vertreter seiner Profession tun). Das stimmt allerdings nur zur Hälfte, denn immerhin eröffnete Thielemann das Luzerner Gastspiel des Orchesters aus der Semperoper mit dem «Schwanendreher», einem (freilich etwas etwas verkrampften) Bratschenkonzert Paul Hindemiths von 1935, dessen Solopart von Antoine Tamestit superb gemeistert wurde. Danach aber gab es «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, ein Leib- und Magenstück Thielemanns, mit dem er schon 2015, beim letzten Auftritt der Dresdener, das Publikum im KKL hingerissen hatte und es jetzt noch einmal und vielleicht noch deutlicher tat. Thielemann ist nicht nur ein mit allen Wassern gewaschener Kapellmeister alter Schule, sondern auch ein Taktstockvirtuose im besten Wortsinn. Mit wenig Aufhebens, aber den genau richtigen Zeichen hält er das Geschehen in Gang, souverän steht er über den Verästelungen der äusserst reichhaltigen Partitur und weiss doch immer wieder auf Einzelheiten einzugehen. Und unter seiner entspannten Hand klang Wagners «Wunderharfe» ganz vorzüglich: in kompakter Lautstärke, wo das gross besetzte Orchester laut sein soll, mit zart schimmernden Farben, wo der imaginäre Wanderer seinen Fernblick geniessen kann. Ob es ein Non plus ultra gibt?

Das gibt es. Dann nämlich, wenn die Münchner Philharmoniker das Podium einnehmen – das Stadtorchester aus der Kapitale des Freistaates und somit die Nummer drei neben der Staatskapelle und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, bei dem bald Simon Rattle die Leitung antreten wird. Unvergessen die siebzehn Jahre ab 1979 mit Sergiu Celibidache am Dirigentenpult und den ebenso umstrittenen wie aussergewöhnlichen Einspielungen der Sinfonien Bruckners. Seit Celibidaches Tod 1996 gab es bessere und weniger gute Zeiten, 2026 soll Lahav Shani die Position des Chefdirigenten übernehmen. Jetzt aber, beim Schlusskonzert des Lucerne Festival in diesem Sommer, war die Konstellation eine ganz besondere, denn an die Spitze der Münchner Philharmoniker gerufen war Mirga Gražinytė-Tyla, die 2016, im Luzerner Sommer mit dem Thema «PrimaDonna», so viel Aufmerksamkeit erzielt hat und seither eine steile Karriere verfolgt. Und auf den Pulten lag nicht weniger als die zweite Sinfonie Gustav Mahlers, die «Auferstehungssinfonie», mithin das Gegenstück zu Mahlers Dritter, mit der das Festival eröffnet worden ist.

Dass eine Frau vor einem meist vornehmlich mit Männern besetzen Orchester steht, gehört inzwischen zum Alltag – die Zeiten haben sich geändert, und «PrimaDonna» von 2016 hat hier zweifellos entscheidende Weichen gestellt. Im Fall von Mahlers Zweiter liegt der Fall anders. Das Stück ist ein veritabler Felsbrocken; ihn dirigentisch zu stemmen, kann verbreiteter Vorstellung gemäss nur mit gehörig ausgebautem Bizeps gelingen. Mirga Gražinytė-Tyla verkörpert geradewegs das Gegenteil. Klein gewachsen und von zarter Statur, gibt sie nicht die Dirigentin, die bitte sehr genau so gut sein kann wie ein männlicher Kollege, sie ist vielmehr ganz sich selbst. Unauffällig huscht sie zu ihrem Podest, das sie nur zur Ausübung ihrer Tätigkeit betritt; in den Momenten des Beifalls steht sie unauffällig unter den Orchestermitgliedern. Ihre Zeichengebung ist von ausserordentlicher Sparsamkeit, dies jedoch nicht zum Zeichen ihrer Virtuosität, vielleicht eher als Ausdruck eines kooperativen Selbstverständnisses. Die Auslegung der riesenhaften Partitur Mahlers zeugte freilich von hochentwickeltem Vorstellungsvermögen und der Fähigkeit, den Weg der Interpretation mit einem Blick, einem Lächeln den in aller Konzentration agierenden Musikerinnen und Musikern in aller Klarheit zu vermitteln.

In der Auslegung durch Mirga Gražinytė-Tyla erstand Mahlers Zweite unter einem einzigen, über neunzig Minuten gespannten Bogen. Gewiss setzten die Kontrabässe zu beginn gleich ihre Ausrufezeichen. In der Folge entfaltete sich der Kopfsatz jedoch sorgsam tastend, in sehr ruhigen Zeitmassen, fesselnder rhythmischer Präzision und einer farblichen Vielfalt sondergleichen. Sehr leise und leicht das Andante moderato des zweiten Satzes, in dem ein kleines Detail wie die Verbindung zwischen dem Pizzicato der Harfen und dem Klang der Harfen grossen Effekt machte. Dann der zweite Teil mit dem in ruhigem Alla breve durchgezogenen Scherzo, mit dem «Urlicht», in dem die Altistin Okka von der Damerau gern etwas zu tief blieb, später mit der etwas stark vibrierenden Sopranistin Talise Trevigne, den überraschenden Fernorchestern und dem prachtvollen Münchner Philharmonischen Chor (Einstudierung: Andreas Herrmann), der erst sitzend sang und sich schliesslich der kontrapunktischen Ordnung gemäss erhob. So klein die Zeichen der Dirigentin blieben – wenn es zur Sache ging und sie die Arme in die Höhe reckte, hatte das durchaus seine Folgen. Besonders hoch darf Mirga Gražinytė-Tyla freilich angerechnet werden, dass im Finale die Massen jederzeit gezügelt blieben.

Einen würdigen Abschluss bildeten diese drei letzten Abende in der Sommerausgabe des Lucerne Festival. Sie gaben zu erkennen, dass die Perlenkette der Luzerner Orchestergastspiele lebt – auch wenn es in der einen oder anderen Hinsicht durchaus etwas mehr Bewegung geben dürfte. Dass das Konzert neu erfunden werden muss, stellt als Aussage eine an der Wirklichkeit vorbeigehende Banalität dar, die oft genug abgeschrieben und wiederholt wird, deswegen jedoch nicht mehr Sinn erhält. Die 84 Prozent Auslastung, die das Festival für dieses Jahr ausweist, kommen zwar noch in keiner Weise an die Zahlen der Jahre vor der Pandemie heran, zeugen aber doch von Erholung. Und mit den 98 Prozent Auslastung der Salzburger Festspiele brauchen sie nicht verglichen zu werden, weil ein reines Konzertfestival und Festspiele mit der Oper als Hauptsache zwei Paar Schuhe darstellen. Was am Ende zählt, ist der Blick auf die Sache selbst.

Der Geist lebt – und wie

Ertragreiche Wochen beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Diesen Sommer hat es das Lucerne Festival nicht nur mit dem Paradies und seinen Äpfeln, sondern auch mit den alten Instrumenten. Genauer: mit dem Instrumentarium, wie es den Komponisten zur Zeit der Niederschrift ihrer Werke vertraut war wie mit jenen Spielweisen, die sich den überlieferten Quellen entnehmen lassen. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis also. Beim Lucerne Festival erhielt diese Spielart der musikalischen Interpretation, heute weit verbreitet und durch einen eigenen, bedeutenden Markt vertreten, bisher vergleichsweise wenig Raum. Sie wurde vielleicht auch nicht ihrer Bedeutung gemäss geschätzt. Nach einem Auftritt des Dirigenten Philippe Herreweghe mit einem seiner Orchester habe er, so verriet der Luzerner Intendant Michael Haefliger, aus dem Publikum eine Reihe deutlich ablehnender Zuschriften erhalten.

Nun also das: gleich drei Abende im Zeichen der historischen Praxis. Und Abende, die nicht nur von der Vielfalt in dieser Art des Musizierens zeugten, sondern auch kapital neue Sichtweisen auf vermeintlich altbekannte Werke eröffneten. So war es bei der konzertanten Aufführung von «Rheingold», dem Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», von der vor Wochenfrist an dieser Stelle die Rede war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.23). Und so war es vor wenigen Tagen bei der Begegnung mit Joseph Haydns «Jahreszeiten», einem für seine Natürlichkeit, seine Eingängigkeit, ja seine Volkstümlichkeit geschätzten Oratorium. So berührend, so erschütternd, jedenfalls so aufregend habe ich diesen Gang vom Frühling über Sommer und Herbst in den Winter nie gehört. Ermöglicht hat es Giovanni Antonini, der Haydn-Spezialist dieser Tage, der die Erfahrungen, die er im Rahmen der Gesamtaufnahme der Sinfonien Haydns sammelte und weiterhin sammelt, auf das grossangelegte, vierteilige Vokalwerk angewandt hat.

Mit einem schockierenden Schlag hob der Übergang vom Winter zum Frühling in der orchestralen Einleitung an; der Pauker benützte dafür die Griffseite seiner Schlägel und hieb mit aller Kraft aufs Fell. Deutlicher hätte nicht markiert werden können, dass es in den nun folgenden gut zwei Stunden ernsthaft zur Sache gehen würde. Antonini setzt durchwegs auf explizites, ja zugespitztes Musizieren – im Dynamischen, in der Akzentuierung, in der Ausformung des Rhythmischen, auch in der Gestaltung der teilweise atemberaubenden Tempi; nichts gerät hier beiläufig, jeder Ton, jede Geste wird beim Wort genommen. Möglich wird das, weil das in Mailand domizilierte Orchester Il Giardino Armonico, Antoninis Gründung 1985 und seither sein Erfolgsmodell, mit Instrumenten arbeitet, die den Klang der Jahre um 1800 evozieren. Die Streicher verwenden Darmsaiten, die duftige Beweglichkeit ermöglichen, die Bläser mit ihren Instrumenten nach der Bauart jener Zeit steuern äusserst pointierte Farben bei – zumal die hochvirtuosen Naturhörner, die in der herbstlichen Jagdszene durch schallende Jagdhörner ersetzt wurden. Krass klingt das bisweilen und dann wieder flüsterzart, jederzeit aber ausdrucksvoll und packend. Dabei kommt alles aus einem einzigen Guss, die Musik scheint den Fingern des ungeheuer temperamentvoll agierenden Dirigenten zu entspringen.

Dazu kamen der aus dem polnischen Wroclaw angereiste, dort von Lionel Sow betreute NFM-Chor, der Transparenz mit Homogenität verbindet und überwältigende Klangpracht entfaltet, sowie ein hochstehendes Solistenterzett. Florian Boesch (Simon) hielt seinen opulenten Bass perfekt im Zaum; mit natürlicher Frische versah er den Landmann, der in der Frühlingssonne über sein Feld schreitet, mit Augenzwinkern berichtete er im Herbst von den auf der Lauer liegenden Jägern. Der Tenor Maximilian Schmitt (Lukas) liess anfangs noch etwas viel Vibrato hören, fand in seiner sommerlichen Cavatine, in der sich sehr konkret die Hitzewelle 2023 spiegelte, eindrucksvoll zu schaurig ermattetem Ton – spätestens da konnte jedermann bewusst werden, was uns Haydns «Jahreszeiten» bedeuten könnten. Verschmitzt und mit sorgsam eingesetztem Vibrato trug danach die Sopranistin Annett Fritsch (Hanne) die Geschichte von der jungen Bauerntochter vor, die dem Edelmann, der sie mit Geld und Schmuck um den Finger zu wickeln sucht, ein Schnippchen schlägt. Was Interpretation vermag, wie die Kunst der Verlebendigung die Gestalt eines Werks prägen kann, hier war es zu erleben.

Ähnliches gilt für den Auftritt des 1979 eingerichteten, bis heute von seinem Gründer William Christie geleiteten Ensemble Les Arts Florissants. Auch hier gelten die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis – dies aber doch in der ganz persönlichen Handschrift Christies. Der ursprünglich aus Amerika stammende, heute hochdekorierte Franzose strahlt eine auf Anhieb erkennbare Fröhlichkeit aus, er steht auch für eine elegante, geschmeidige Helligkeit des Klangs. Ausgezeichnet zu hören war das bei «The Fairy Queen», der von 1692 stammenden Semi-Opera Henry Purcells, die auf dem Konzertpodium des KKL in halbszenischer Wiedergabe dargeboten wurde. Die vielen Passacaglien, Variationen über einen gleichbleibenden Bass, die in Halbtönen absteigenden Klagelaute, der reich besetzte Basso continuo, das diskret, aber effektvoll eingesetzte Schlagwerk – all das zeugte auch an diesem Abend von der ungebrochenen Vitalität der jahrhundertealten Musik.

Zu erleben war zudem, wie im Kreis rund um William Christie nicht nur instrumental, sondern auch vokal der stilistisch adäquate Zugang gepflegt – und weitergegeben wird. Le Jardin des voix nennt sich die von Les Arts Florissants betriebene Werkstatt, in der junge Sängerinnen und Sänger ihr Handwerk in Sachen alter Musik perfektionieren können. Das ist darum sinnvoll, weil sich bei manchen Aufführungen mit alten Instrumenten die vokale Seite an der heute üblichen Ausprägung des Belcanto orientiert; Willliam Christie hielt das schon in früher Zeit anders. Bei «The Fairy Queen» war ein Ensemble von vier Sängerinnen und vier Sängern mit von der Partie – auf durchwegs respektablem Niveau. Nur war es leider nicht in ausreichendem Masse wahrzunehmen. Denn vor den Instrumentalisten im Hintergrund mischte sich unter die Vokalisten im Vordergrund eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, die das musikalische Geschehen sehr heftig und sehr lautstark begleiteten. Der Versuch zu zeigen, dass in der Semi-Opera die Musik nicht die Hauptsache, sondern Teil eines vielfältigen Ganzen darstellte, und das mit heutigen Formen der Körpersprache zu tun, mag zu ehren sein. Im Endeffekt ging er jedoch daneben, denn die von Mourad Merzouki organisierte Körperarbeit hat die zarte Musik Purcells regelrecht zertrampelt.

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Neben der alten gehört auch diesen Sommer die neue Musik zur DNA des Lucerne Festival, und das in Verbindung mit der Förderung nachrückender Generationen. Das war und ist die Aufgabe der von Michael Haefliger zusammen mit Pierre Boulez begründeten und heute von Wolfgang Rihm geleiteten Lucerne Festival Academy. Jahr für Jahr wird seit 2004 eine gute Hundertschaft an jungen Leuten, Komponistinnen, Instrumentalisten, Dirigentinnen, nach Luzern eingeladen, um dort unter kundiger Anleitung die Welt der neuen und neusten Musik zu erkunden. Den Höhepunkt des Unternehmens bildet jeweils der Auftritt des Lucerne Festival Contemporary Orchestra auf dem Podium des KKL: mit einem Programm, das es in sich hat, und mit einem Dirigenten, der auch bei neuster Musik seiner Sache sicher ist. Dieses Jahr war die Finnin Susanna Mälkki dafür auserkoren – das war die denkbar beste Wahl.

Gewiss, «Fett» für Orchester (2018/19) des Deutschen Enno Poppe, seines Zeichens «composer in residence» dieses Sommers, ist ein gewiss leicht zu durchschauendes, wenn auch vielleicht nicht leicht zu spielendes Stück. Es operiert mit klanglichen Blöcken, die sich, nun ja, bekämpfen, wie es in Gesellschaft und Politik unserer Tage die Regel geworden ist. In den Vordergrund tritt dabei eine fein austarierte Mikrotonalität, Augenblicke des Gleitens, des Rutschen, des Jaulens, was beim Zuhören nicht ungerührt lässt. Allein, in dieser Hinsicht gibt es von Poppe bessere Stücke, zum Beispiel «Salz» für Ensemble von 2005. Auch nicht gerade vom Sessel geworfen hat mich «Šu», ein einsätziges Konzert für die chinesische Mundorgel Sheng und Orchester von Unsuk Chin. Unvergessen die 2010 in Genf uraufgeführte Oper «Alice in Wonderland», mit der die Koreanerin einen unerfüllt gebliebenen Wunsch ihres Lehrers György Ligeti in die Tat umgesetzt hat. Im Vergleich dazu wirkte das Mundorgelkonzert etwas trivial – aber vielleicht war diese Wahrnehmung auch die Folge des Auftritts von Wu Wei, des Virtuosen an der Sheng. Amüsant war der, aber nicht mehr.

Mit reinem Sachbezug, untadelig ausgebildetem Handwerk und einer formidablen Präsenz auf dem Podium – damit punktete dagegen Susanna Mälkki. Die von ihr geleitete Wiedergabe von Igor Strawinskys «Sacre du printemps» geriet zu einem grossen Moment des Festivals. Mit energischer, klarer Zeichengebung, souverän in der Bewältigung der komplexen Taktwechsel, aus spürbarer Übersicht über den musikalischen Verlauf heraus führte sie das Lucerne Festival Contemporary Orchestra durch die Klippen der Partitur, und die jungen Leute gaben ihr Letztes. Nicht dass sich sagen liesse, das Orchester habe sich gut entwickelt, es wird ja jedes Jahr neu zusammengesetzt. Aber der Eindruck eines Ritts über den Bodensee, der frühere Aufführungen von Strawinskys Meisterwerk zum «Sacré Sacre» hatten werden lassen, stellte sich an dem heftig bejubelten Abend nicht ein. Im Gegenteil, es war auch hier zu beobachten, was Interpretation bewirken kann. Jedenfalls trat die rituelle Anlage des Stücks klar heraus, ohne dass der Brutalismus die Oberhand über die sehr wohl vorhandene Schönheit der Partitur gewonnen hätte.

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Herzstück und Rückgrat des Lucerne Festival bildet jedoch nach wie vor die dichte Folge an Gastspielen grosser Orchester und ihrer Dirigenten. Das ist auch richtig so; wo in aller Welt lässt sich das in dieser Weise haben? Dabei geht es keineswegs um einen sportlich getönten Wettkampf – um die Frage, welches Orchester nun besser als das andere sei oder gar das beste von allen. Äpfel können nicht gegen Birnen ausgespielt werden, jedes Orchester trägt seine durch vielerlei Faktoren bestimmte Individualität in sich. Hier im engen Zeitraum von vier Wochen Höhen und Tiefen zu erkunden, Entwicklungen zu verfolgen – das bietet Reize von nicht nachlassender Kraft. Jedenfalls für Menschen, die zuzuhören bereit sind.

Vielleicht, ich wiederhole mich, dürfte der Horizont in der Auswahl der gastierenden Klangkörper um ein Weniges erweitert werden. Dass von den Schweizer Orchestern nur das auf bemerkenswerten Pfaden wandelnde Luzerner Sinfonieorchester, nicht aber das ebenso gut aufgestellte Orchestre de la Suisse Romande auftritt, ist kaum nachzuvollziehen. Warum nicht wieder einmal die Tschechische Philharmonie, die mit Semyon Bychkov hervorragende Arbeit an Mahler leistet? Oder das Orchestre philharmonique de Radio France mit Mikko Franck? Ob das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder nach Luzern kommt, wenn Simon Rattle dort sein Amt als Chefdirigent angetreten hat? Es dürfte als ausgemacht gelten.

Dass der Dirigent – über dessen Funktion wird nicht erst heute, inzwischen aber besonders kritisch nachgedacht –, dass der Dirigent die entscheidende Rolle spielt, trat in den zurückliegenden Luzerner Wochen wieder in aller Deutlichkeit heraus. Besonders beim Royal Concertgebouw Orchestra, das, seit es 2018 als Folge einer #MeToo-Affäre seinen damaligen Chefdirigenten Daniele Gatti in die Wüste geschickt hat, ohne musikalischen Leiter auszukommen hat. Ebenso geschätzt wie das Orchester aus Amsterdam ist der Dirigent Iván Fischer, zumal wenn er an der Spitze des von ihm gegründeten Budapest Festival Orchestra steht. Was das Concertgebouworkest mit Fischer am Pult diesen Sommer in Luzern bot, war freilich unter beider Seiten Niveau. Das Vorspiel zu Wagners «Meistersingern» geriet grob und pompös, ja pathetisch, während die Siebte Sinfonie Gustav Mahlers manche technische Schwäche im Zusammenspiel offenbarte – als ob der Dirigent das komplexe Stück aus dem Ärmel hätte schütteln wollen. Mehr Glück hatte Klaus Mäkelä, der 2027 die Position des Chefdirigenten beim Concertgebouworkest antreten wird. Allerdings nicht mit Mahler. Dessen Sinfonie Nr. 4 in G-dur, die der junge Finne mit dem von ihm seit 2020 geleiteten Oslo Philharmonic im KKL darbot, zeugte gerade im Finale mit der lieblichen Sopranistin Johanna Wallroth vom Paradies, liess aber wenig von jener Gebrochenheit erkennen, die das Werk Mahlers trägt. Aber Mäkelä ist ja erst siebenundzwanzig. Und die siebte Sinfonie von Jean Sibelius, bei der Mäkelä das rhapsodische Fortschreiten optimal im Griff behielt und das Orchester zu aller Pracht führte, sprach vom Potential dieses genuin wirkenden Dirigenten.

Die Zusammenarbeit zwischen einem Orchester und einem Dirigenten erfordert einen langen Atem, das ist bekannt. Wohin die Reise im besten Fall führen kann, machte der erste der beiden traditionellen Auftritte der Berliner Philharmoniker ohrenfällig. Seit 2019 steht Kirill Petrenko an deren Spitze, und nun war zu erkennen, was hier grossartig gewachsen ist. Mit Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart boten die Berliner ein deutliches Plädoyer für einen zu Unrecht vergessenen Komponisten. Dann allerdings «Ein Heldenleben» von Richard Strauss: ein Musterbeispiel an orchestraler Kunst wie an kluger Interpretation. Die Berliner gaben sich der gerade auch in ihrer Ironie meisterlichen Tondichtung mit ihrer ganzen Klangpalette hin (und die Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner liess des Komponisten Gattin munter singen), während Petrenko das dichte Geflecht der Partitur auflichtete und wie ein zartes Spinnengewebe erscheinen liess. Nichts war da aufgesetzt, nichts süsslich, es herrschten Gelassenheit und Ruhe – und so blieb der Saal auch in den nirgends verkürzten Pausen mucksmäuschenstill. Allein, das war noch nicht das Nonplusultra, dafür sorgten das Gewandhausorchester Leipzig und der inzwischen nicht weniger als 96 Jahre alte Meister Herbert Blomstedt mit einer Auslegung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7, die einen sprachlos zurückliess. Selbstverständlich lag auf des Dirigenten Pult die neue Ausgabe der Sinfonie von Paul Hawkshaw, sie blieb aber geschlossen, denn Blomstedt gab das Werk ganz aus seinem Inneren, aus einer lebenslang gewachsenen und zugleich uneingeschränkt gegenwärtigen Einfühlung heraus. Und in einer Demut vor der Grösse des Kunstwerks, die zu unbeschreiblicher interpretatorischer Eindringlichkeit führte. Da stimmte einfach, was stimmen muss. Das Gewandhausorchester stellte sich ganz nah an seinen früheren Chefdirigenten heran und wuchs über sich heraus.

Wenn der Geist über den Körper triumphiert: Herbert Blomstedt vor dem Gewandhausorchester / Bild Patrick Hürlimann, Lucerne Festival

Jenseits der Marktgesetze

Konzerte an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Durch das Gepränge der Gattung und den mit ihm verbundenen Aufwand, durch die mediale Aufmerksamkeit und die mit den Produktionen verbundenen Aufreger – durch Aspekte solcher Art gerät das Musiktheater bei den Salzburger Festspielen traditionellerweise in den Fokus der Wahrnehmung. Dies jedoch durchaus zu Unrecht. Das seit 2017 und noch bis diesen Sommer von der Schweizerin Bettina Hering geleitete Schauspiel dümpelt zwar vor sich hin, jedenfalls bildet es keineswegs mehr jenes Standbein, als das es bei der Gründung angelegt war. Aber jenseits dessen blüht ein Garten von seltener Vielfarbigkeit. Er bietet ein ausgebautes Kinder- und Jugendprogramm. Er wartet mit hochkarätig besetzten Nischen der der Reflexion auf, zum Teil kuratiert von Markus Hinterhäuser, dem Intendanten der Festspiele. Er lädt zum Besuch einer unter der Leitung der Festspiel-Dramaturgin Margarethe Lasinger entstandenen Ausstellung über Max Reinhardt, einen der Gründerväter der Festspiele – dies zum 150. Geburtstag des legendären Theaterkünstlers und -unternehmers. Vor allem aber, und in erster Linie, gibt es: das Konzert.

Unter erkennbarer Mitwirkung des Intendanten durch den Spartenleiter Florian Wiegand betreut, trägt das Salzburger Konzertprogramm ein sehr eigenes Gesicht und bezieht daraus seine Bedeutung – jedenfalls bietet es weitaus mehr als Füllmaterial zwischen den Opernabenden. Formal herrscht ein feststehendes Raster. Dazu gehören etwa die unter der Intendanz Alexander Pereiras eingeführte Ouverture spirituelle eine Woche vor dem eigentlichen Beginn der Festspiele, die fünf mehrfach geführten Auftritte der Wiener Philharmoniker zu der für dieses Orchester traditionellen Stunde vor Mittag, das doppelte Gastspiel der Berliner Philharmoniker zum Ende der Festspiele, bevor sie nach Luzern weiterziehen sowie die Mozart-Matineen des Salzburger Mozarteumsorchesters. Hinzu kommt ein weitgespanntes Angebot an Kammerkonzerten, an Liederabenden und Solistenkonzerten.

Quer durch die formale Ordnung ziehen sich thematische Linien. Die Ouverture spirituelle stand diesen Sommer im Zeichen von «Lux aeterna», dies als fühlbarer Kontrast zum Opernprogramm, das der aus den Fugen geratenen Welt nachging (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.08.23). Und hier ist auch der Ort, an dem Altes direkt auf Neues stösst; nach der Eröffnung mit den grossformatigen «Eclairs sur l’Au-delà» von Olivier Messiaen in der Felsenreitschule standen sich da zum Beispiel die «Prophetiae Sibyllarum», die Motetten Orlando di Lassos, dem einstündigen Entwurf «ET LUX» von Wolfgang Rihm gegenüber. Besonders bemerkenswert war in dieser Hinsicht die Reihe «Zeit mit…», die in jährlichem Wechsel einem bestimmten Komponisten gewidmet ist. Diesen Sommer galt die Aufmerksamkeit György Ligeti, an dessen Geburt vor 100 Jahren erinnert wurde. Eröffnet wurde die Reihe mit dem «Poème Symphonique» für 100 Metronome, dessen gleichsam vielstimmiges Ticken immer lauter wird, bevor es wieder erstirbt – Werden und Vergehen innerhalb eines Lebens.

Vergangen ist an Ligetis Musik freilich nicht das Geringste, in Salzburg erst recht nicht. 1993 ist der Komponist dort, auf Initiative des damaligen Finanz- und Konzertdirektors hin, zusammen mit György Kurtág in einem Doppel-Porträt präsentiert worden. Markus Hinterhäuser war dabei, denn damals hat er mit einer Aufführung von Luigis Nonos «Prometeo» in Salzburg ein erstes Zeichen gesetzt. Inzwischen ist Hinterhäuser Intendant und Ligeti ein Klassiker. So gedacht nicht bei den irrwitzigen Klavier-Etüden, die Pierre-Laurent Aimard auf dem Programm hatte, wohl aber bei der Sonate für Violoncello solo, die Jean-Guihen Queyras souverän bewältigt und wunderschön vorgetragen hat – vielleicht etwas zu schön?

Dass auch bei Ligetis Musik die Interpretation ihre Rolle spielt, erwiesen die Geigerin Isabelle Faust, der Hornist Johannes Hinterholzer und der Pianist Alexander Melnikov, die das ebenso klangschöne wie intrikate Horn-Trio Ligetis in ihrer Auslegung phantastisch zuspitzten. Erst recht verwirklichte sich das bei jenem Trio für dieselbe Besetzung aus der Feder von Johannes Brahms, das Ligeti zum Ausgangspunkt seines Werks genommen hat. Die Besonderheit lag darin, dass Johannes Hinterholzer nicht das zu Brahms’ Zeiten schon bekannte, heute übliche Ventilhorn an die Lippen setzte, sondern das damals im Verschwinden begriffene Naturhorn, bei dem die Töne nur auf der Basis der durch die Natur gegebene Obertonreihe, allein mit den Lippen und der einen Hand im Schallbecher, geformt werden. Brahms, dem das Instrument aus eigenem Tun heraus vertraut war, schrieb sein Trio explizit für das Naturhorn – und warum er das tat, war in dieser einzigartigen Aufführung klar zu hören, verleihen die gestopften Töne den Melodielinien doch ganz eigene Kontur. Zu hören war das auch, weil Isabelle Faust wie Alexander Melnikov Instrumente aus der Entstehungszeit des Werks benützten – Exemplare mit betörendem Klang (zu denen das Programmheft leider keine Angaben enthielt). Wie sich Geige und Horn gleichsam zu einer einzigen Stimme verbanden und wie sinnlich sich das Klavier daruntermischte, das machte gerade den langsamen Satz zu einem zutiefst berührenden Erlebnis.

So ist es in eben jener neuen Generation von Musikerinnen und Musikern, die nicht auf das klassisch-romantische Repertoire allein, auch nicht auf den schönen Ton und das gepflegte Legato, schon gar nicht auf die Position im Markt fixiert sind. Sie sind offener, berücksichtigen auch älteres wie neueres Repertoire und gehen dabei in derselben Leidenschaft wie auf der Höhe des aktuellen Kenntnisstandes zu Werk. Ein Beispiel dafür bieten der Dirigent François-Xavier Roth und das von ihm gegründete Orchester Les Siècles, die in Salzburg höchst erfolgreich debütiert haben. Und das mit einem allseits anspruchsvollen Doppel-Abend, dessen erster Teil György Ligeti galt. Klangschön im zweiten Satz, virtuos im dritten das Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten (und Instrumentalistinnen) – nicht zuletzt darum, weil nicht ein Synthesizer, sondern eine echte Hammond-Orgel zum Einsatz kam. Bestechend die Farbenspiele in den «Ramifications» für zwei Mal sechs Streicher(innen). Das Violinkonzert mit der unerhört identifizierten Solistin Isabelle Faust liess ungeahnte Welten des Flüsterns und die Sehnsuchtsklänge der aus dem wohltemperierten System ausbrechenden Okarina erleben. Schliesslich das «Concert Românesc» aus Ligetis früher Zeit in Budapest als Zeugnis eines Künstlertums, das der von oben herab herrschenden Kulturbürokratie die Stirn bot. Mehr davon bietet eine bei Harmonia mundi soeben erschienene CD.

Nach einem Moment der Erholung dann Wolfgang Amadeus Mozart. Erst das Klavierkonzert in A-Dur KV 488, für das sich Alexander Melnikov an einen wenig günstig, nämlich mitten im Orchester aufgestellten und darum klanglich oft bedrängten Hammerflügel setzte. Und zum Abschluss die C-Dur-Sinfonie KV 551, die «Jupiter». Bekanntlich verwendet das Orchester Les Siècles durchwegs Instrumente, die der Entstehungszeit der vorgetragenen Werke entsprechen. Ob dieses Alleinstellungsmerkmal auch für sein Salzburger Mozart-Programm galt, darf allerdings bezweifelt werden. Bei den Bläsern war es so, bei den Streichern klang es sehr nach hergebrachtem Instrumentarium – das Orchester hätte dafür ja einen vollständigen Satz an Streichinstrumenten mit Darmsaiten und den entsprechenden Bögen mitführen müssen. Ein kleiner Etikettenschwindel? Davon abgesehen war François-Xavier Roth bei Mozart allzu sehr auf forsche Attacke fokussiert. Knallende Pauken, schmetternde Trompeten, ein harsches Tutti, das ist noch nicht alles, eher Revolution von gestern. Bei Jordi Savall und dem von ihm gegründeten Orchester Le Concert des Nations herrschte jedenfalls ein ganz anderer Ton. Klar, Savall ist ein älterer Herr, der, auch wenn er sein Temperament keineswegs verloren hat, gestisch nicht mehr viel Aufhebens macht. Das Ergebnis, bei Ludwig van Beethovens Sinfonien Nr. 3 (in Es-Dur) und Nr. 5 (in c-Moll): warm opulente, elegant federnde, jederzeit durchhörbare Klanglichkeit. Sie bot enormen Reichtum, ohne dass das ungeheure Aufbäumen der sogenannten Schicksalssinfonie unterspielt worden wäre.