Kent Nagano beim Tonhalle-Orchester Zürich
Von Peter Hagmann
Tritt Kent Nagano ans Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich, ist mit besonderen Akzenten zu rechnen. So war es 2009, als der Japaner aus den USA, der längst in Deutschland und Frankreich heimisch geworden ist, die «Metamorphosen» von Richard Strauss auslegte. Die 23 Streicher formten ein aus dem Inneren heraus leuchtendes Netz, in dem jeder einzelne Faden in seiner Individualität zu erkennen war – nur die radikale geistige Durchdringung der Partitur macht so etwas möglich. Sechs Jahre später das ebenso amüsierende wie irritierende Concerto grosso für vier Alphörner und Orchester des nach New York ausgewanderten Österreichers Georg Friedrich Haas und eine fabulöse Umsetzung von Anton Bruckners sechster Sinfonie – ein interpretatorischer Akt, in dem ein ganz ungewöhnliches Gleichgewicht erreicht wurde. Oder dann Anfang 2017 die «Eclairs sur l’Au-Delà» von Olivier Messiaen, bei deren farbenreicher Klangwerdung Nagano von seinen Erfahrungen als Schüler des Komponisten profitierte.
Auch beim jüngsten Auftritt des Dirigenten, diesmal nun in der frisch herausgeputzten Grossen Tonhalle, fehlte es nicht an Überraschungen. Wie sich im späteren Verlauf des Abends als besonders sinnreich erweisen sollte, gab es zur Eröffnung drei Stücke aus der «Kunst der Fuge» Johann Sebastian Bachs – eines seltenen Gasts in den heiligen Hallen am See, der im Verlauf der Saison aber doch mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich erhält. Diese Gipfel der kontrapunktischen Kunst, die Bach ohne Angaben zur Instrumentation hinterlassen hat, wurden nicht in der bekannten und üblichen Orchestrierung Wolfgang Graesers, sondern einer ungewöhnlichen, um nicht zu sagen: gewöhnungsbedürftigen Einrichtung des japanischen Komponisten, Pianisten und Dirigenten Ichiro Nodaira gegeben. Die Farben des Orchesters werden hier sozusagen getrennt genutzt: Die Streicher stellten, rein und klar ohne jedes Vibrato, das Thema vor, die Bläser bis hin zum Kontrafagott den Kanon in der Oktave, das klingende Schlagzeug samt Harfe die Tripelfuge der Nummer acht – schaute da für einen Augenblick nicht Jacques Loussier und sein «Play Bach» um die Ecke? Streng, ohne Unterbrechung durch Beifall wurde diese Eröffnung durchgezogen, und nochmals attacca schloss sich das Intermezzo für vier Schlagzeuger aus der Oper «Stilles Meer» von Toshio Hosokawa an, der in dieser Saison den Creative Chair besetzt. Ein kurzes, überaus aufwühlendes Stück der Erinnerung an die Katastrophe von Fukushima und durchaus ein musikalisch gesetztes Zeichen in einer Zeit, da statt mehr an erneuerbare Energie an den Bau weiterer Atomkraftwerke gedacht wird.
Daraufhin gab es, um den organischen Aufbau des Programms nicht zu stören, keine Pause, lediglich eine kurze Unterbrechung, während der sich das Tonhalle-Orchester zu grosser Formation versammelte: für die neunte Sinfonie Anton Bruckners. Wie stets, wenn sich Kent Nagano diesen monumentalen sinfonischen Entwürfen zuwendet, herrschte Temperament, kam es zu Kraftentfaltung, dies aber jederzeit in ausgesuchter Balancierung innerhalb des Orchesters, aber auch innerhalb des Raums. Nie knallte es. Die Posaunen, die Trompeten liessen ihre Muskeln spielen, blieben aber jederzeit so ins klangliche Gesamtbild integriert, dass alle Register, zumal die hohen Streicher, zu ihren Rechten kamen. Ja mehr noch: Wie nach der Vorbereitung durch die Wärme der intonationssicher klingenden Wagner-Tuben und die Klangpracht der Hörner das gewaltige Ende des dritten Satzes erreicht wurde, trat heraus, welch klares dynamisches Konzept für die Sinfonie insgesamt Nagano entwickelt hatte. Denn erst dort, ganz am Ende, wurde der Höhepunkt an Lautstärke, an Intensität, an Erfüllung erreicht. Dieselbe auf dem intellektuell hochstehenden Umgang mit der Partitur basierende Umsicht liess das Zusammenwirken der verschiedenen Themen innerhalb der Sätze hören. Schon im Eröffnungssatz herrschten Sorgfalt und Sorgsamkeit im Aufbau der langgezogenen Verläufe und, vor allem, in den Verbindungen zwischen ihnen. Einigermassen flink, Bruckner schreibt «bewegt, lebhaft» vor, kam das Scherzo daher; nichts Behäbiges, nichts von den groben Röhrenhosen des Komponisten war hier zu erfahren – im Gegenteil: Die Artikulationszeichen des Komponisten zu den gestossenen Akkordwiederholungen war auf das Genaueste respektiert, was den Satz sprechen liess. Übrigens in gleicher Weise, wie es die in den einzelnen Themengruppen subtil modifizierten Tempi taten. Im Finale schliesslich herrschte so viel Transparenz, dass die kontrapunktische Hand Bruckners in helles Licht kam. Da war er denn, der ferne Gruss Johann Sebastian Bachs.