Gefühl, in Kunst verwandelt

«Roméo et Juliette» von Gounod in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Ball / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Der erste Blick auf die Bühne schockiert. Statt der erwarteten Szenerie für den prunkvollen Ball, mit dem «Roméo et Juliette» anhebt, öffnet sich im Opernhaus Zürich ein rechteckiger, weit in den Hintergrund gezogener Raum, lindgrün gehalten, leer, wären da nicht jene zwei einander gegenüberstehenden, parallel nach hinten verlaufenden Reihen von Tessinerstühlen. In die Seitenwände eingelassen hat der Bühnenbildner Andrew Lieberman raumhohe Türen; aus denen treten nach und nach, einzeln, sehr zeremoniell, die Gäste ein: Damen in gehobener Kleidung heutigen Schnitts, von Annemarie Woods entworfen, Herren in betont elegantem Dinner Jacket oder in Galauniform. Zu ihren Plätzen geführt werden sie von einem eifrigen Tanzmeister – nein, so stellt sich bald heraus, es ist der Hausherr selbst, das Oberhaupt der Familie Capulet (David Soar). Bald kommt es zu dem erst strengen, dann kultiviert ausartenden Eröffnungswalzer, den Pim Veulings choreographiert hat. Und erklingt «Je veux vivre», die Arie der Juliette, mit der sich Julie Fuchs als eine zweite Violetta Valéry in die Herzen des Publikums singt.

Wie unterm Brennglas lässt sich an diesem Anfang verfolgen, was die neue Zürcher Produktion von Charles Gounods Oper intendiert und was sie erfolgreich verwirklicht. An Schmelz fehlt es in keiner Hinsicht, wohl aber an Schmalz. Was dem stolzen Werk im Wege steht, ist die Rührseligkeit, die ihm durch zahllose Interpreten beigefügt worden ist; nichts davon ist an diesem formidablen Abend zu erleiden. Was hier rührt, und es ist nicht wenig, geht auf die Erfindung der Librettisten Jules Barbier und Michel Carré, auf die Musik Gounods und die unprätentiös sachgerechte Umsetzung in die szenisch-musikalische Wirklichkeit zurück. Der Regisseur Ted Huffman erzählt die Geschichte von der blitzschnell aufflammenden und unerbittlich in die Katastrophe führenden Liebe zwischen zwei jungen Menschen aus zwei verfeindeten Familien in einem neutralen Ambiente der Jetztzeit. Plüsch und Samt fehlen ebenso wie der Duck auf die Tränendrüse; an deren Stelle treten die Genauigkeit und die Empathie in der Ausgestaltung der handelnden Figuren – sie könnten Menschen von nebenan sein, gewinnende Erscheinungen, denen das Mitgefühl ihrer Umgebung sicher ist.

Genau gleich hält es der Dirigent Roberto Forés Veses. Hell und klar leuchtet in dem von ihm erzeugten Licht die Partitur Gounods, warm und pulsierend klingt sie, und zugleich gibt sie ihr ganzes Raffinement zu erkennen – im tief abgesenkten Graben des Opernhauses erbringt die Philharmonia Zürich eine erstklassige Leistung. Gounod war nicht nur ein genuiner Franzose, er war nicht nur zutiefst in den musikalischen Traditionen seines Landes verankert, wie es die Ouvertüre vorführt. Er hatte auch Sinn für das, was sich ihm durch die intensive Begegnung mit der deutschen Musik erschlossen hat. Für den Kontrapunkt beispielsweise, aber auch für Nebenstimmen in unterschiedlichen Farben. Ausdrucksvoll, im Geist des musikalischen Sprechens lässt Gounod die Holzbläser, das Horn oder ein konzertierendes Cello intervenieren – so fasslich, wie es in dieser Produktion geschieht, ist das selten zu hören.  Möglich wird es, weil der Dirigent zwar schon auf die Rundung und die Geschlossenheit des Klangs hinarbeitet, im selben Mass jedoch Freiräume offenlässt, in denen die instrumentalen Kommentare zur Geltung kommen. Unter dem Strich ergibt das eine Vitalität eigener Art.

Roméo (Benjamin Bernheim) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich
Juliette (Julie Fuchs) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Mag sein, dass das auf der Bühne Folgen zeitigt, jedenfalls findet die tragische Geschichte eine Authentizität, wie sie nicht alle Tage vorkommt. Benjamin Bernheim und Julie Fuchs sind das Traumpaar der Stunde – ähnlich wie es vor vielen Jahrzehnten Eva Lind und Francisco Araiza und später, in anderem Zusammenhang, Agnes Baltsa und José Carreras waren. Sie gehen förmlich auf im coup de foudre; sie spielen ihn nicht, sie leben ihn. Und sie singen auf Augenhöhe: beide gleichermassen sicher in der Performanz und stark in der Ausstrahlung, beide ausserdem mit ähnlich gelagerten Timbres, mit einem sagenhaften Reichtum an Obertönen und kaum je angestrengt wirkender Kraft. Und dann das Legato, das er einbringt, die Koloraturen, mit denen sie brilliert. Ganz ausgezeichnet auch das Ensemble, das die beiden Protagonisten trägt – etwa der ernsthafte Frère Laurent, der in einer schlichten Wortzeremonie die heimliche Trauung vollzieht und dann in ergreifender Solidarität das so fatal falsch wirkende Fläschchen bereithält. Einen besonderen Auftritt hat die junge Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova in der Hosenrolle des Stéphano, des Pagen des Titelhelden. In quirliger Natürlichkeit präsentiert sie ihre Arie – der Szenenapplaus ist ihr sicher.

Das alles ereignet sich in einer Inszenierung, die augenfällig macht, wie sich die Schlinge zuzieht. Diskret tut sie das, etwa mit einer Kampfszene, die, so schreckliche Folgen sie zeitigt, doch in jedem Augenblick attraktive Kunst bleibt. Intelligent auch die szenische Sprache, die sie spricht. Eine besondere Rolle spielen die Tessinerstühle. Versinnbildlichen sie anfangs in ihrem strengen Gegenüber die scharfe Konfrontation zwischen den Capulets und den Montagues, stehen sie während der Trauung, im Moment der nächsten Nähe zwischen den beiden Familien, in einer Reihe nebeneinander. Und erst gegen den Schluss hin fällt auf, dass die Rückwand des anfänglich so weiten Raums mehr und mehr nach vorne gerückt ist, sich der Blickwinkel zusehends verengt hat, bis für den Tod der beiden Liebenden nur mehr ein schmaler Streifen der Bühne übrigbleibt. Der einfache szenische Handgriff stellt die konzise Dramaturgie von «Roméo et Juliette» in hellstes Licht. Auch darum kann man nach diesem Abend seine Ansichten zu Gounods lange Zeit missachteter Oper neu sortieren.

Kühles Ambiente, brodelnde Energie

«Madama Butterfly» von Giacomo Puccini in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Schwieriger Moment für die Geisha Cio-Cio-San (Svetlana Aksenova), den Diplomaten Sharpless (Brian Mulligan) und die Dienerin Suzuki (Judith Schmid) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Leer die Bühne und hell, von weissen Stoffwänden eingefasst. Zwar werden nach und nach altbürgerliche, dunkelbraune Holzmöbel massiver Faktur hereingetragen, dennoch bleibt dem japanischen Salon, den Michael Levine auf die Bühne des Opernhauses Zürich gezaubert hat, viel lichter Raum. Dezent aufgetragen ist die couleur locale; sie beschränkt sich auf die authentisch wirkenden Kostüme, in denen Annemarie Woods den Gegensatz zwischen Ost und West scharf herausstellt, auf die Frisuren und die Maske. Besonders aber auf die Körpersprache: auf das Trippeln der Japanerinnen und den schweren Schritt der Amerikaner. Fein wie mit dem Silberstift ist das Szenario angedeutet, das Drama selbst ergibt sich ganz aus dem Musikalischen und der Körpersprache – wobei das Agieren nicht zuletzt unter dem Einfluss der Choreographin Sonoko Kamimura-Ostern kühl zeremoniell gehalten ist. In ihren Ansätzen stellt sich die brillante Inszenierung des Amerikaners Ted Huffman durchaus in die Nachfolge Robert Wilsons.

So tritt denn der zugespitzte Spannungsverlauf in «Madama Butterfly» mit voller Wucht zutage. In der neuen Produktion des Opernhauses Zürich wird die Begegnung mit dem grandiosen Stück Giacomo Puccinis zu einem bewegenden Ereignis. Seinen Grund findet das schon darin, dass in dieser Auslegung zwei kleinere Partien ganz entschieden aufgewertet werden. Das betrifft zunächst Suzuki, die Dienerin der jungen Geisha Cio-Cio-San, die nicht nur als Spiegel und Resonanzkörper in Erscheinung tritt, sondern als aktiv Mitleidende – ihr warmer, strahlkräftiger Mezzosopran und ihre enorme Bühnenpräsenz ermöglichen das. Von einer zudienenden zu einer mitgestaltenden Figur wird aber auch der amerikanische Diplomat Sharpless, der, in Japan stationiert, die Zeichen zu lesen weiss und das Unheil von allem Anfang an kommen sieht: eindringlich, wie Brian Mulligan die Hilflosigkeit dieses an sich aufrechten Mannes verkörpert.

Pinkerton dagegen, der nach Japan entsandte Leutnant der amerikanischen Navy, er ist und bleibt der Widerling, als den ihn «Madama Butterfly» zeigt. Er sieht in Cio-Cio-San das Früchtchen, das er haben muss, er lässt zu diesem Zweck den Zuhälter Goro (Martin Zysset in einem ausgezeichneten Auftritt) eine fingierte Hochzeit inszenieren, und er kommt schliesslich zusammen mit seiner legitimen Gattin (Natalia Tanasii) den aus der Liebesnacht entsprungenen Sohn nach Amerika holen – in scharfer Zeichnung und stimmlich brillant bringt der Tenor Saimir Pirgu diese Figur zum Leben. Wenn am Ende die Erinnerung an die japanische Liebe durchbricht, ist es zu spät: In einem Theatercoup von fürchterlicher Wirkung durchschneidet sich Cio-Cio-San genau in dem Moment die Kehle, da der jahrelang erwartete Geliebte vor sie tritt.

Das drei Jahre dauernde Warten, das sich zwischen den beiden Akten des Stücks ereignet und zu Beginn des zweiten Aufzugs in einem ausgedehnten orchestrale Zwischenspiel kulminiert, es findet an diesem Abend seine besondere Erfüllung. Denn unter der Leitung des jungen Italieners Daniele Rustioni spielt die Zürcher Philharmonia ihre Stärken aus. Ohne die Balance zu gefährden, lässt der Dirigent den sinfonischen Anspruch der Partitur und den phantasievollen Umgang Puccinis mit fernöstlichen Idiomen erkennen. Als Cio-Cio-San hält Svetlana Aksenova, eine Spezialistin für diese Partie, den instrumentalen Wogen blendend stand. Vor allem aber bringt sie eine Glaubwürdigkeit ins Spiel, welche die bodenlose Verzweiflung dieser jungen Frau zu einem kathartischen Moment werden lässt.