Das Hohelied der Freiheit

«Leben mit einem Idioten» von Alfred Schnittke
im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Nicht Kirill Serebrennikov, sondern Matthew Newlin als Idiot / Bild Frol Podlesnyi, Opernhaus Zürich

Skandal! In grossen Lettern stand das Wort im Raum, seit eine Zürcher Sonntagszeitung ans Licht gebracht hatte, dass am Opernhaus Zürich vor der Premiere von Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten» massiv in Libretto und Partitur des Stücks eingegriffen worden sei. Der Schuldige war rasch ausgemacht, es war der Regisseur Kirill Serebrennikov, der dafür bekannt ist, die von ihm inszenierten Stücke seinen interpretatorischen Intentionen einigermassen rücksichtlos anzupassen. Unterstrichen hat Serebrennikov seine Haltung als Interpret durch einen im Programmbuch abgedruckten Satz, der vielsagender nicht sein könnte. Häufig, so meinte er, empfinde er die Musik in der Oper als einengend, sie setze Grenzen, und er als Regisseur müsse das musikalische Narrativ bedienen – was hier, bei «Leben mit einem Idioten», glücklicherweise eben nicht der Fall sei. In der Folge gingen die Wogen hoch; die Vorstellung verlief dann trotz der durch die ausgelösten Provokationen störungsfrei und wurde bejubelt.

Was war geschehen? 1992, als «Leben mit einem Idioten» durch die damals von Pierre Audi zu neuen Horizonten geführte Niederländische Oper Amsterdam zur Uraufführung gebracht wurde, lag die UdSSR in Trümmern, eine erste frische Brise war hinter den Eisernen Vorhang eingedrungen. In diesem Licht steht «Leben mit einem Idioten», eine Erzählung von Viktor Jerofejew, die unpubliziert bleiben musste und die der Autor für Alfred Schnittke zum Operntext umgeformt hat. Das Sujet war scharf gewürzt, die Amsterdamer Uraufführung geriet zu einem Fest – zu einem Fest der befreiten russischen Kunst. Neben Schnittke und Jerofejew war Mstislaw Rostropowitsch mit von der Partie; er dirigierte, zeigte seine Künste als Tango-Spieler am Klavier und brachte mit seinen Kantilenen auf dem Cello Süssstoff ein. Für die schonungslose Inszenierung hatte der legendäre Boris Pokrowski von der Moskauer Kammeroper gesorgt, für die Ausstattung der berühmte Konzeptkünstler Ilja Kabakov. Und wer mit dem Idioten gemeint war, liess die Lenin-Maske des Wowa, Wladimir, genannten Ungeistes leicht erraten. Dem zusammengebrochenen System der Menschenverachtung wurde hier, auch dank der nicht nur polystilistischen, sondern auch anspielungsreichen Musik Schnittkes, ein Abgesang der denkbar grotesken Zuspitzung gesungen.

Von all dem wollte Kirill Serebrennikov nichts mehr wissen. Wer sich heute noch mit Lenin befassen wolle, fragte er rhetorisch? Und Jerofejew doppelte nach mit der Bemerkung, als Opernfigur sei Putin absolut uninteressant. So wurde denn Hand angelegt und eliminiert, was an den implodierten sowjetischen Alltag von damals erinnert. Wowa, das personifizierte Böse, das genuin Zerstörerische, das in eine Ehe eindringt und dort alles kapital durcheinanderbringt, wurde zu «Schätzchen» umbenannt, der Text da und dort neu gefasst. Nicht das Besondere der Lebenssituation von 1992 sollte aufscheinen, sondern das allgemeine Menschliche; der Idiot in jedem von uns sollte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelangen. Als deutender Ansatz lässt sich das nachvollziehen, zumal vor dem Hintergrund dessen, was Serebrennikov im Reiche Putins widerfahren ist. Zugleich gab die Aufführung im Opernhaus Zürich zu erkennen, in welchem Mass der Oper Schnittkes und Jerofejews dadurch die Zähne gezogen werden. Aus der bitterbösen Satire wurde ein dadaistisches Spektakel. Und aus Schnittkes so eigener, eigenartiger Musik eine etwas gewöhnliche moderne Oper.

Gewöhnlich? Nein, vielleicht doch nicht. Insofern nicht, als «Leben mit einem Idioten» in Zürich nicht als Oper erscheint, sondern als Interpretation. Gewiss, die Aufführung einer Oper ohne Interpretation ist unmöglich; als Möglichkeit gezeigt wird hier dagegen die Aufführung einer Interpretation ohne Oper. Uninteressant ist das nicht, wird das Stück doch aus seiner ursprünglichen Befindlichkeit klar in die Jetztzeit verlagert – und auf eine ganz private Ebene, jenes des Regisseurs. Kirill Serebrennikov ist ein Berserker, der die ihm vorliegenden Stoffe gnadenlos in die Hand nimmt. In Zürich ist der Idiot der Regisseur selbst, Matthew Newlin, der seine ungeheuer anspruchsvolle Partie über der Silbe «Äch» mit fulminanter Geschmeidigkeit singt, erscheint im Outfit Serebrennikovs, mithin als Alter Ego des Bühnenkünstlers. Ihm zur Seite steht in einer stummen Rolle und einer hinreissenden Performance der splitternackte Campbell Caspary, der an einem Höhepunkt des Abends in einem Strahlenkranz erscheint. Um Sexualität als Zentrum des Lebens geht es hier, das ungeschminkt denken und offen zeigen zu können, scheint für Serebrennikov, der inzwischen in Berlin lebt, der Inbegriff seiner persönlichen neuen Freiheit darzustellen.

Ort des Geschehens ist ein kahler, weisser Raum, im Hintergrund durch ein ansteigendes Podest begrenzt, von dem aus der ebenfalls ganz in Weiss gekleidete Chor des Opernhauses Zürich, von Janko Kastelic, Johannes Knecht und Ernst Raffelsberger einstudiert, die Vorgänge auf der Spielfläche wie im antiken Drama kommentiert, ja vorantreibt. Viel zu schauen gibt es auf dieser Spielfläche – so viel, dass das Wirken der Philharmonia Zürich im Graben merklich in den Hintergrund gerät. Untadlig agiert wird unter der Leitung des im Bereich der neuen Musik hocherfahrenen Dirigenten Jonathan Stockhammer, doch der klangliche Biss, der als Gegenpol zur szenischen Bildermacht vonnöten wäre, will sich nicht einstellen. Gesungen und, vor allem, gespielt wird jedoch meisterhaft. Dass für die Partie des Ich kein Geringerer als Bo Skovhus gewonnen werden konnte, erweist sich als Glücksfall; der Sänger, der ebenso sehr als Schauspieler geliebt wird, zieht hier alle Register seines Könnens. Ihrem Bühnengatten in keiner Weise nachstehend Susanne Elmark in der Partie der Frau: hochdramatisch ausgestaltet und in jedem Moment packend verkörpert. Mehr als solide bewältigt werden auch die kleineren Aufgaben des Wärters (Magnus Piontek) und des von der Frau innigst verehrten Dichters Marcel Proust (Birger Radde).

Ist am Ende doch etwas viel verpackt in den Abend? Bleibt ausreichend Raum, im Verfolgen der Produktion der Frage nachzugehen, ob sich das Kopf ab mit der Gartenschere nicht schon vor dem ersten Ton ereignet habe, ob das Bühnengeschehen nicht als rückblickende Horrovision des Ich zu lesen wäre? Wie dem auch sei, wer sich über die Dominanz des szenischen Narrativs beschweren möchte, sieht sich am Ende eines Besseren belehrt. Da erklingt nämlich der ergreifende Chor «Herbst» aus Alfred Schnittkes Musik zum Film «Agonie» von Elem Klimov, die, 1982 vollendet, von den russischen Behörden zerstört wurde, später aber rekonstruiert werden konnte. Womit sich der Kreis in eigener Weise geschlossen hätte.

Wenn der Berg mehr als grollt

«Derborance» von Daniel Andres
als Uraufführung in Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Samy Camps als Antoine in Biel / Bild Joel Schweizer, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Antoine ist düster; ahnt der junge Mann etwas? Er ist mit seinem Schwiegeronkel, der sich bei seiner Schwester wortgewaltig für die Erlaubnis zur Ehe mit deren Tochter Thérèse ausgesprochen hatte, mit den Tieren vom heimatlichen Dorf auf die Alp Derborence gestiegen. Bald legen sich der Alte und der Junge auf ihren Strohsäcken in der einfachen Alphütte schlafen – da geschieht es, donnert ein Felssturz auf die Alp herab und begräbt alles Lebendige unter Steinmassen. Ein Einziger überlebt: Es ist Antoine, der sich mit Geschick und Hartnäckigkeit aus seinem Felsenverliess befreit und, wie weiland Siegfried geleitet von einem Vögelchen, ins Dorf hinuntereilt. Dort wird er nicht eben freundlich empfangen; die Dorfgemeinschaft hält ihn für einen Wiedergänger. Thérèse aber, in Erwartung, erkennt ihren Mann und folgt ihm in ein neues Leben, wo immer sich das abspiele.

Erzählt wird das in dem sehr persönlichen, spannenden Roman des viel zu wenig geschätzten Schriftstellers Charles Ferdinand Ramuz aus der französischen Schweiz. Kein Wunder, hat er Daniel Andres in den Bann geschlagen. 1937 in Biel geboren und dort verwurzelt, ist Andres Komponist, aber überdies ein auf denkbar unterschiedlichen Ebenen aktiver Künstler. Neben dem Komponieren hat er dirigiert, hat er die Orgel geschlagen, das regelmässig und mit einem eindrücklichen Repertoire, hat er eine Buchhandlung geführt und selber geschrieben, als Journalist wie als Buchautor. So erstaunt nicht, dass sich Daniel Andres durch die Sprache des Romans angesprochen fühlte – durch ihre herbe Kargheit wie ihre pulsierende Empathie. Seinen Ausgang nimmt der 1934 erschienene Roman ja bei zwei schweren Bergstürzen von 1714 und 1749 an einem der schönsten Orte im Wallis, an den Flanken von Les Diablerets. Das ist zwar Jahrhunderte her, aber Bergsturz ist Bergsturz, man denke nur an den kürzlich erfolgten Abbruch von Felsen beim glarnerischen Martinsloch.

Geschickt hat der Komponist als sein eigener Librettist den Roman zum Opernstoff umgewandelt. Manches musste in diesem Prozess herausfallen, etwa die bedrohliche Stille nach dem Getöse, die von Ramuz grossartig eingefangen ist. Was durch die Transformation an Genauigkeit in der Beschreibung der Gefühlslagen der durch den Bergsturz traumatisierten Menschen verlorengeht, wird kompensiert durch die fürwahr eigenwillige Partitur aus dem Jahre 2021. Die Folgen der Naturkatastrophe spiegeln sich in der äusserst zurückgenommenen Ausstattung des musikalischen Materials; über weite Strecken sind es ein- oder zweistimmige Lineaturen, die den im originalen Französisch gehaltenen Text begleiten. Eine eigene Art Freiheit manifestiert sich da – überhaupt gibt sich die Musik von Daniel Andres frei, sie klingt tonal, geht aber weit über die Grenzen des Tonalen hinaus. Und sie erzählt «Derborence» in ihrer Weise: Kommt Bedrohliches, Schmerzhaftes ins Spiel, erklingen dissonante Ballungen, wenn Antoine in seinem Felsenverliess die Wassertropfen entdeckt, die ihm das Überleben sichern, lässt sich das Schlagzeug vernehmen. Alles ist da in eng gestecktem Rahmen gehalten, es findet aber gerade darum seine Wirkung.

In hohem Mass geht das auch auf die Uraufführungsproduktion im Stadttheater Biel zurück. Der Hausherr Dieter Kaegi hat die Inszenierung selbst übernommen, und er hat den Chefdirigenten Yannis Pouspourikas ins Boot geholt. Würdig dieses Engagement – so würdig wie das Verhalten Kaegis als Patron, der den etwas scheuen alten Komponisten zum Geniessen des Beifalls an die Rampe führte. Pouspourikas hielt den von Valentin Vassilev betreuten Chor des Theaters und das Sinfonieorchester Biel-Solothurn sorgsam bei der Stange und erzeugte eine Spannung ohne Unterbruch. Und zusammen mit dem Ausstatter Francis O’Connor und dem Lichtgestalter Mario Bösemann gelang Dieter Kaegi eine szenische Auslegung, die mit wenigen, klaren Zeichen die für die Geschichte treffenden Konturen schuf. Wenn die Dorfgemeinschaft auf dem Höhepunkt der Erregung nach dem Curé ruft, erscheint der Priester in voller Montur, um dem vermeintlichen Wiedergänger ein Gebetsbuch entgegenzuhalten und ihn nach seinen christlichen Wurzeln zu befragen – Konstantin Nazlamov tut das mit aller stimmlichen Eindringlichkeit. Wenig später meldet sich der einflussreiche Bauer Nendaz zu Wort: mit seinem prachtvollen Bariton lässt Flurin Caduff keinen Zweifel an der Prominenz dieses Mitbürgers. Eindrücklich auch Samy Camps in der Partie des Antoine, der einen tiefgreifenden Wandel zurück in die Dorfgemeinschaft und von ihr wieder weg durchmacht. Gefolgt von Julia Deit-Ferrand als seine Gattin Thérèse, die als Einzige an die Wiederkehr ihres Antoine glaubt – in jeder Faser berührend bringt das die junge Mezzosopranistin aus Lausanne zur Geltung.

Eine Stunde dauert «Derborence», eine aufwühlende Stunde. Nach «Eiger» (vgl. Mittwochs um zwölf vom 26.01.22) bietet das Theater-Orchester Biel-Solothurn hier eine weitere Hommage an Schweizer Alpen. Eine, wie sie in keinem Opernhaus sonst zu erleben ist.

Vorstellungen in Solothurn ab 31. Oktober, in Biel noch ab 13. November 2024.

Leidenschaft des Leisen

Lucerne Festival:
Beat Furrer, «composer in residence»

 

Von Peter Hagmann

 

Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Beat Furrer beim Lucerne Festival zum ersten Mal als «composer in residence» in Erscheinung trat. Gab es schon damals eine reiche Auswahl an Werken zu hören, so ist das Œuvre des bald siebzigjährigen Schweizers in Wien inzwischen kräftig gewachsen. Was es an Besetzungen und Gattungen gibt, findet sich in seinem kontinuierlich aufgebauten Werkverzeichnis. Eines ist jedoch geblieben: Es ist eine klar erkennbare, wenn auch nach vielen Richtungen erkundete und erweiterte Handschrift. Ihr zentrales Kennzeichen ist das Leise, das der Komponist ähnlich wie Helmut Lachenmann oder Salvatore Sciarrino mit besonderer Zuwendung pflegt.

So erstaunt denn nicht, dass Beat Furrer seinen Kollegen Salvatore Sciarrino mit einer kleinen Assonanz grüsst. In «Begehren», einem Beitrag Furrers zum Musiktheater, der 2003 in Graz, in der damals neuen Helmut-List-Halle, szenisch aus der Taufe gehoben worden ist – in «Begehren» scheinen für einen kurzen Moment jene kleinen, absteigenden, vom Leisen aus im Nichts verschwindenden Gesten auf, die Sciarrinos Musik so unverkennbar machen. «Begehren» ist auch diesen Sommer beim Lucerne Festival erschienen, nicht szenisch, sondern konzertant, aber doch auf der Bühne des Luzerner Theaters. In jenem Haus also, in dem Furrer, übrigens in denkbar eindrucksvoller Weise, Sciarrinos Oper «Luci mie traditrici» dirigiert hat – dies im Herbst 1999, zwei Jahre vor der konzertanten Uraufführung von «Begehren» im Schauspielhaus Graz.

Das Leise, Kleinräumige und gerade darin scharf Profilierte übt eben seine ganz eigene Anziehungskraft aus. Am Beispiel von «Begehren» ist es in besonderem Mass zu erleben. Und in besonderer Plausibilität. Auf einer Collage von Texten Cesare Paveses, Günter Eichs, Vergils und Hermann Brochs geht Beat Furrers Stück dem Orpheus-Mythos nach, genauer: dem verbotenen, fatalerweise aber gleichwohl ausgeführten Blick des Sängers nach hinten zu seiner aus dem Totenreich befreiten Gattin. Alles ist hier schattenhaft, die vom Komponisten selbst geleitete Aufführung liess es eindringlich erleben. Das von Furrer selbst gegründete Klangforum Wien (warum blieben im Programmheft die Namen der Streicher neben der Konzertmeisterin ungenannt?) flüsterte, zischte, raschelte, und das von Cordula Bürgi vorbereitete Vokalensemble Cantando Admont tat es ihm gleich – alles in komplexer Rhythmik und reichster Farbgebung. Hervorragend auch die Sopranistin Sarah Aristidou und der über weite Strecken als Sprecher fungierende Bass Christoph Brunner; beide werden auch an der für März 2025 vorgesehenen Uraufführung von Beat Furrers neuer Oper «Das grosse Feuer» am Opernhaus Zürich mitwirken.

ER und SIE, so sind Orpheus und Eurydike in «Begehren» abstrahierend benannt, begegnen sich im Dunklen. Das erinnert an Furrers erste, tief beeindruckende Oper «Die Blinden» von 1989. Anders als dieses Stück trägt «Begehren» jedoch das Problem in sich, eingeschlossen zu sein in seiner Abstraktion und sich dem Publikum nicht wirklich mitzuteilen. Trotz der subtilen Klangregie von Markus Wallner blieben im Luzerner Theater die gewisperten Texte unverständlich. Das mag seinen Sinn haben; die Begegnung zwischen Orpheus und Eurydike bleibt ja unmöglich, sie endet mit dem Tod der Protagonisten. Der Klang müsse sprechen, etwas in Bewegung setzen, sagt der Komponist zu seinem Schaffen. Wenn aber die Menschen im Auditorium derart im Dunklen tappen, wie es hier zu geschehen hat, dann läuft Furrers grossartige Musik Gefahr, ins Leere zu laufen. In eine Unverbindlichkeit, die dem hochstehenden künstlerischen Entwurf nicht entspricht.

Nicht weniger zwiespältig die Eindrücke bei Beat Furrers Orchesterstück «Lichtung» im Konzertsaal des Luzerner KKL. Gross angelegt war die Uraufführung dieses Kompositionsauftrags von Roche; mit seinem Engagement im Bereich der neuen Musik beim Lucerne Festival führt der Basler Chemiekonzern in verdienstvoller Weise eine von Maja und Paul Sacher begründete mäzenatische Tradition weiter. Das vom Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung des Komponisten engagiert vorgestellte Stück erzählt ebenfalls keine Geschichte, kennt aber doch einen fassbaren formalen Verlauf. Er führt von einem zarten Flimmern in einen Bereich muskulöserer Klanggebung und nimmt dann den Beginn wieder auf. An langjähriger Erfahrung gereifte Imagination und meisterliches Handwerk zeigen sich da. Am Ende bleibt jedoch die Frage, ob die Partitur nicht doch Zeichen einer gewissen ästhetischen Verfestigung aufweise.

Bei dem Trompetenkonzert «Meduse» von Lisa Streich, ebenfalls «composer in residence» dieses Luzerner Sommers, kann davon keine Rede sein. Die 1985 geborene Schwedin scheint lebhaft mit dem Suchen nach ihrem Eigenen beschäftigt. Lustvoll tummelt sie sich im Garten dessen, was Spätromantik und Moderne im Bereich der Kunstmusik ausgelegt haben – alles freilich in indirekter Präsenz, beschädigt, gesehen durch ein Fenster mit Sprüngen. Immer wieder und in immer anderen Konstellationen taucht das Element der Quart auf, folgen sich Kadenzen in Moll und kommt es zu rauschhaften Steigerungen im Geiste Tschaikowskys, dazu schwingen die Schlagzeuger ihre bunten Schläuche und muss der Solist an der Trompete – es ist der gefeierte Simon Höfele, der jedoch kaum je wirklich zu hören ist – sein Instrument durch einen Wasserschlauch ersetzen. Einige Augenblick lang hat das seine erheiternden Seiten, doch bald nutzen sich die Ideen ab, beginnt das Material verbraucht zu wirken und gerät man ins Grübeln über «Elle est belle et elle rit», den Untertitel des Stücks. Medusa einmal anders als mit kullernden Augen und züngelnden Schlangen. Nun ja, vielleicht ist da nicht alles so ernst gemeint.

Wunderwerke

Das Scelsi-Festival und das Arditti Quartet in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn eine Schweizer Stadt als Musikstadt bezeichnet werden kann, dann ist es – nein, nicht Zürich, sondern Basel. So gedacht diese Woche, an deren Anfang das Arditti Quartet bei der Gesellschaft für Kammermusik gastierte und an deren Ende das anregungsreiche, mit Musikerinnen und Musikern der Extraklasse besetzte Scelsi-Festival in Gang kam.

Nicht gerade seit Menschengedenken, aber doch seit einem halben Jahrhundert besteht nun das von Irvine Arditti im Alter von 21 Jahren gegründete Quartett, das seinen Namen trägt und dessen rascher Aufstieg dem Geiger erlaubte, seine Tätigkeit als Konzertmeister beim London Symphony Orchestra 1980 aufzugeben. Seit diversen Häutungen spielt es seit 2006 in der bis heute gültigen Besetzung mit Irvine Arditti als klar erkennbarem Primarius, mit Ashot Sarkissian an der zweiten Geige und Ralf Ehlers an der Bratsche sowie Lucas Fels am Cello. Alle vier weisen sie scharfe Profile auf, zugleich bilden sie aber ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ensemble – von besonderer Bedeutung angesichts des Repertoires von den Klassikern der Moderne bis zu den allerneusten Schöpfungen. Ein Buch der Rekorde bildet die Geschichte des Ensembles. Die Rede ist von mehreren hundert Streichquartetten, die für das Quartett komponiert worden sind, von über zweihundert CD-Produktionen, von Preisen bis hin zum Ernst-von-Siemens-Musikpreis im Jahre 1999. In Basel, bei der Gesellschaft für Kammermusik, ist das Quartett seit seinem Debüt 1989 nicht weniger dreizehn Mal aufgetreten, und am Münsterplatz, in der Paul-Sacher-Stiftung, befindet sich das Archiv des Ensembles.

Nun also das Festkonzert zum Jubiläum des fünfzigjährigen Bestehens und der Auftakt zu einer ausgedehnten Tournee. Fünf Stücke standen auf dem Programm; sie sprachen von der einzigartigen Kontinuität und der unerhörten Vitalität einer Gattung, die gerne als elitär empfunden und in die Nische verbannt wird. Die Werkfolge zeigte ein packendes Panoptikum an Stilen. Den Anfang machte das erste Streichquartett des Briten Jonathan Harvey aus dem Jahre 1977, das vom Strukturdenken des ausklingenden Serialismus zeugt, doch nicht ohne Effekt bleibt. Für Schockmomente sorgte dann «Tetras» des griechischen Architekten und Komponisten Iannis Xenakis, ein wildes, unangepasstes, auch Geräuschklänge einbeziehendes Werk von 1983. Ganz anders «In the Realms oft he Unreal», ein von sehr persönlichem Ton lebendes, wohl auch biographisch geprägtes Werk der Österreicherin Olga Neuwirth von 2009. Nach der Pause als Uraufführung das siebte Streichquartett des 1957 geborenen Briten James Clarke; das kurze, kurzweilige Werk arbeitet mit wenigen kräftigen Strichen, die einen unwiderstehlich in Bann schlagen. Schliesslich «Grido», das dritte Streichquartett des bald neunzigjährigen Helmut Lachenmann, ein Klassiker des Repertoires von 2002, bei dem das Geräuschhafte subtil in den Klang eingebunden ist. Dass auch ein solches Programm auf Anklang stösst, erwies die Begeisterung des grossen Publikums im Hans-Huber-Saal des Basler Stadtcasinos.

Ein Jubiläum beging auch das Basler Scelsi-Festival. 2014 von der Pianistin und Komponistin Marianne Schroeder gemeinsam mit dem Schriftsteller Jürg Laederach gegründet und heute von einem Verein getragen, steht im Zeichen des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi, deckt darüber hinaus aber einen weiten stilistischen Kreis neuer Musik ab. Dies genährt durch die lebenslangen, reichen Erfahrungen Marianne Schroeders als einer weitgereisten, mit den Exponenten der neuen Musik bestens vernetzten Künstlerin. Mehr als für die westeuropäischen Grossmeister wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen interessierte sie sich für Erscheinungen jenseits des Mainstreams.  Etwa für Galina Ustwolskaja, deren sechs Klaviersonaten, äusserst spezielle Musik, von ihr zu einer Zeit auf CD aufgenommen wurden, da die russische Komponistin noch zu den Geheimtipps gehörte. Eingespielt hat sie auch Werke von John Cage, mit dem sie intensiv zusammengearbeitet hat, von Morton Feldman – oder eben von Giacinto Scelsi, zu dem sie nach Rom gereist ist, um aus erster Hand Informationen zu dessen ebenfalls aussergewöhnlicher, wenn auch nicht unumstrittener Musik zu erhalten.

All diese Erfahrungen fliessen in das Basler Scelsi-Festival ein – der Eröffnungsabend führte es beispielhaft vor. Der Ort des Geschehens war das Kulturzentrum Don Bosco, eine ehemalige katholische Kirche, die mit viel architektonischem Geschick zu einer flexibel nutzbaren kulturellen Lokalität von starker atmosphärischer Ausstrahlung umgewandelt worden ist – ähnlich wie die evangelisch-reformierte Pauluskirche, die zu einem Zentrum der Chormusik geworden ist. Weit vorne im Kirchenraum, dem nach Paul Sacher benannten Konzertsaal, brachte die Klarinettistin und Komponistin Carlo Robinson Scelsis Solo-Stück «Ixor» (1956) zur Aufführung. Das war die Einleitung. Was folgte, war jedoch etwas ganz Anderes, nämlich ein Rezital des berühmten Organisten und Komponisten Zsigmond Szathmáry – denn tatsächlich ist in Don Bosco die Orgel erhalten geblieben. Und sie ist sehr valabel. Szathmáry begann mit «Harmonies», der Etüde Nr. 1 von György Ligeti aus dem Jahre 1967. Eine gleichsam stillstehende, schillernde Klangwelt tut sich hier auf, nie bekommt man die Orgel so zu hören: leise, fahle, mikrotonal gefärbte und darum eigenartig schwebende Klänge, die sich daraus ergeben, dass der Winddruck reduziert ist, die Register nur halb gezogen und die Tasten in differenzierter Weise bedient werden. Und zum Schluss die «Volumina», das berühmt-berüchtigte Stück Ligetis von 1961/62, das einen aus dem Nichts heraus mit einem von Armen und Füssen erzeugten Cluster im vollen Werk erschreckt und am Ende, wenn der Orgel mit einem hörbaren Knall die Luft abgestellt wird, in jämmerlichem Wimmern endet.

Dazwischen gab es, neben «In Nomine Lucis» von Scelsi, eine überraschende «Sonata da chiesa» von Hans Ulrich Lehmann und von Szathmáry selbst eine «Cadenza con ostinati», beides vom Organisten zusammen mit seiner Tochter Aniko Katharina Szathmáry an der Geige vorgetragen. Dann aber, nach der Pause, Arnold Schönberg – und nicht weniger als «Das Buch der hängenden Gärten» von 1909. Die Sopranistin Franziska Hirzel schlug sich fabelhaft; vorbildlich setzte sie auf die Gedichte Stefan Georges, liess sie in hohem Mass verständlich werden und erlaubte deren Umsetzung in musikalische Lineatur zu verfolgen. Für eine Überraschung, die stärker nicht hätte wirken können, sorgte jedoch die Klavierlegende Ursula Oppens, die eigens aus New York, wo sie soeben ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte, nach Basel gekommen war. Ihre Körperhaltung war vom Alter gezeichnet, doch ihre Augen blitzen vor Vitalität, und was ihre Hände an den Tasten vollbrachten, war schlicht ein Wunder. Ein Wunder an manueller Sicherheit und an Gegenwärtigkeit, vor allem aber eines an klanglicher Schönheit – wann und wo lässt sich solches erleben? Beim Basler Scelsi-Festival eben.

Ein Mensch und seine Gesichter

Alban Berg in einem opulenten Bildband

 

Von Peter Hagmann

 

Was für ein schönes Buch. Was für ein liebevolles Buch. Was für ein intimes Buch.

Der Nachlass Alban Bergs (1885-1935) wird zum einen von der Österreichischen Nationalbibliothek, zum anderen von der durch Helene Berg, die Gattin des Komponisten, 1968 eingerichteten Alban Berg-Stiftung aufbewahrt; in der öffentlichen Institution finden sich die Dokumente zum künstlerischen Schaffen, in der Stiftung das Private. Nur fünfzig Jahre alt wurde Berg, seine Frau, ebenfalls 1885 geboren, hat ihn mehr als vierzig Jahre überlebt – und sie hat in dieser Zeit unermüdlich am Nachruhm ihres Gatten gearbeitet. Gleich nach Bergs Tod hat sie sein Arbeitszimmer fotografisch dokumentiert, um es originalgetreu zu erhalten. In der Folge hat sie des Komponisten Hinterlassenschaft für spätere Verwendung vorbereitet. Inzwischen steht die Wohnung des Ehepaars Berg im vornehmen Wiener Bezirk Hietzing unter der Aufsicht der von dem Musikwissenschaftler und Musiker Daniel Ender geleiteten Stiftung.

Im dort aufbewahrten Material finden sich mehrere Tausend Fotografien. Zusammen mit seinen Mitarbeitern hat sie Daniel Ender allesamt gesichtet, sie identifiziert und eingeordnet. Inzwischen hat er aus dem immensen Bestand knapp dreihundert Aufnahmen ausgewählt, sie sorgfältig restaurieren lassen und sie nun in einem prachtvollen Bildband publiziert. Zu den Aufnahmen gibt es Legenden sowie eine Reihe kurzer Auszüge aus Briefen und Texten, aber nicht eigentlich eine Erzählung, die durch die Bildersammlung durchführt. Immerhin findet sich am Ende des Buchs eine Zeittafel zu Bergs Leben, der sich Aufschlüsse zu den Bildern entnehmen lassen – hat man das Buch durchgesehen, kommt man darauf, dass es vielleicht sinnvoll gewesen wäre, diese Zeittafel vorab zu Kenntnis zu nehmen. Auf der anderen Seite besteht der Reiz der von Ender gewählten formalen Anlage gerade darin, dass man sich den Bildern und ihrer Aussagekraft spontan überlässt und dergestalt dem durch sie vorgestellten Menschen in eigener Weise nahekommt.

Denn in der Tat geht es hier um «Alban Berg im Bild»: um den Komponisten allein. Überaus eindrucksvoll, wie unterschiedlich das an sich immergleiche Gesicht erscheint; fast hat man das Gefühl, Berg beginne gleich zu sprechen. Erstaunlich auch, wie wenig sich das Gesicht Bergs über die Jahre hin verändert. Gewiss, die Kinder- und Jugendbilder sprechen ihre eigene Sprache. Und freilich sind fünfzig Jahre ein Lebensalter, in dem noch manches an den Gesichtszügen erhalten geblieben ist, was sich später womöglich verändert hätte. Bei Anton Webern ist das anders; ein fescher Kerl war der als Junger, und später noch immer schön, dann aber äusserst streng. Berg dagegen erscheint auf der Mehrzahl der Bilder vielleicht nachdenklich, doch stets freundlich, bisweilen fröhlich, ja ausgelassen. Gern hält er eine Zigarette zwischen den Fingern, auch in den Jahren des Ersten Weltkriegs, den er als Soldat aus gesundheitlichen Gründen in einer Kanzlei hinter sich gebracht hat.

Dass sich im privaten Nachlass des Komponisten so viel Bildmaterial findet, geht auf seine Herkunft zurück. Sichtbar wird es gleich auf den ersten Seiten des Buches. Aufgewachsen ist Alban Berg in einer grossbürgerlichen Wohnung im ersten Wiener Stadtbezirk. Der Vater: Kaufmann, die Mutter: aus begüterter Familie stammend. Riesig und üppig dekoriert die Räume – und vor allem: es wurde fotografiert, das gehörte zum Status und zu dessen Herzeigen. Neugierig blickt man auf die Bilder, und wenn man die Seite wendet, stösst man auf einen doppelseitig angelegten, entsprechend vergrösserten Ausschnitt einer soeben wahrgenommenen Aufnahme – das macht geradezu dramatischen Effekt, wie überhaupt das Buch mit Sinn und Sinnlichkeit gestaltet ist. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden professionelle Fotografinnen und Fotografen verpflichtet, die wie etwa Dora Kalmus alias Madame d’Ora hochstehende Kunst-Porträts erstellten. Später knipste man selber, und Berg, vom Fotografieren angetan, tat es ausgiebig (oder liess Freunde abdrücken).

In seiner Anlage folgt das Buch dem Leben des Komponisten. Es zeigt ihn in einem Werdegang wachsenden Selbstbewusstseins, zudem präsentiert es Menschen aus seiner Umgebung, die für ihn von Bedeutung waren: zuallererst seine Frau, aber auch seinen Lehrer Arnold Schönberg oder Wegbegleiter wie Anton Webern, wie der bewunderte Karl Kraus oder Franz Werfel mit Alma Mahler. Einen Lidschlag lang darf hierbei an die in diesem Buch selbstverständlich ausgesparte Affäre Bergs mit Werfels Schwester Hanna Fuchs-Robettin gedacht werden. Wie auch immer: Ein wunderschönes Paar waren sie, Alban Berg und Helene geborene Nahowski, füreinander geschaffen und einander eng verbunden – das tritt in berührender Deutlichkeit heraus. In den biographischen Weg eingelegt sind, auf einer eigenen Schiene, eine Reihe von Porträts des Komponisten bis hin zu den Büsten und den Arbeiten von Malern wie Arnold Schönberg oder Franz Rederer. Ausgespart bleibt auch weder Schalk und Ulk – zum Beispiel in den Fotos aus den Automaten oder jenen von den Besuchen auf dem Fussballplatz oder den lustvollen Ausfahrten mit dem Cabriolet der Marke Ford, das sich der Künstler 1930 aus den Tantièmen seiner erfolgreichen Oper «Wozzeck» erwerben konnte. Das Auto, generalüberholt und fahrbereit, lebt noch. Genauso wie die im Repertoire solide verankerte Musik Alban Bergs.

Daniel Ender: Alban Berg im Bild. Fotografien und Darstellungen 1887-1935. Böhlau-Verlag, Wien und Köln 2023. 280 S., Fr. 51.60.

Urkraft der Triebe

George Benjamin mit «Lessons in Love and
Violence» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Liebhaber und Geliebter: Ivan Ludlow (König) und Björn Bürger (Gaveston) / Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Wenige Tage nach der Zürcher Premiere von «Lessons in Love and Violence», seiner dritten Oper, konnte George Benjamin den Ernst von Siemens-Musikpreis entgegennehmen. Die Ehrung folgt einer eigenen, plausiblen Logik. Der Engländer mit Jahrgang 1960 ist genuin mit der musikalischen Tradition des 20. Jahrhunderts verbunden, er verfügt über reiche Einfallskraft und ein tadelloses Handwerk. Allein schon das bietet in den neunzig Minuten der Aufführung von «Lessons in Love and Violence» im Opernhaus Zürich zu Hörerlebnissen der Sonderklasse – zumal der Dirigent Ilan Volkov das Orchester des Hauses mit sicherer Hand durch die vielschichtige Partitur führt. Eingängig ist Benjamins Tonsprache gewiss nicht, fasslich aber sehr wohl. Sie wartet mit raffinierten Farbeffekten und klaren Zeichen auf, so etwa dann, wenn von Gewalt die Rede ist, mit einem herben Strich über die Saiten des Cibaloms. Das schafft Orientierung wie Atmosphäre, denn tatsächlich geht es in «Lessons in Love and Violence» um die Urgewalt der Triebe.

In sieben Szenen hat Martin Crimp sein Libretto geteilt; sie werden durch Zwischenspiele voneinander getrennt, was als Verfahren nicht neu, wenngleich noch immer dienlich ist. Erzählt wird, nach einem Stück von Christopher Marlowe aus dem Jahre 1594, die Geschichte von Edward II., der sich neben seiner Frau einen Geliebten hielt, ob dem sexuell aufgeladenen Alltag die Staatsgeschäfte vernachlässigte und die Mittel verschwendete, während sein Volk das Leid der Geknechteten zu tragen hatte. Allerdings gibt es mit dem Minister Mortimer einen senkrechten Staatsdiener, der zusammen mit der Königsgattin Isabel für das brutale Ende des Königs sorgt, der jedoch, kaum ist Edward III. als Nachfolger installiert, nicht weniger gnadenlos beseitigt wird. Die von Marlowe geschilderten Vorgänge sollen sich im frühen 14. Jahrhundert ereignet haben, ganz unbekannt kommen einem jedoch weder die Ursachen noch die Methoden vor – Falk Bauers Kostüme lassen auch keinen Zweifel daran.

Sex and crime, das verkauft sich bekanntlich, vor allem, wenn gute Musik dabei ist. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Crimp und Benjamin bleiben nicht an der unterhaltenden Oberfläche, sie bohren tiefer und stellen die durchaus ambivalenten Prämissen heraus, unter denen die Figuren handeln. Mortimer zum Beispiel, der Tenor Mark Milhofer macht das hervorragend deutlich, ist nicht nur ein Beamter von unerschütterlicher Loyalität, er lebt auch eine scharfe Intoleranz und gehorcht ebenso dem Machttrieb wie seine Gegenspieler – dafür werden ihm am Ende die Augen ausgestossen. Drastisch zeigt das der Regisseur Evgeny Titov – wie überhaupt an diesem in durchgehender Spannung vorbeiziehenden Abend weder mit Handgreiflichkeit noch mit Theaterblut gespart wird. Als König kennt Ivan Ludlow kein Halten, wenn er den Körper seines Gaveston (Björn Bürger) in der Nähe hat. Besonders eindrucksvoll jedoch die düpierte Königin Isabel. Was als Nebenrolle gestaltet ist, kommt hier zu starker Wirkung – dank Jeanine De Bique, die von Salzburg aus bekannt geworden ist und jetzt in Zürich ihr unerhört wandelbares Timbre einsetzt. Am Ende, wenn die Oper ihren Höhepunkt erreicht, gerät sogar das Bühnenbild von Rufus Didwiszus in Bewegung: beginnen die skulpturalen Darstellungen aus mythischer Zeit, welche die Bühne im Hintergrund abschliessen, zu zittern und zu wanken. So wie der Boden, auf den Alleinherrscher geraten können.

Der ganz normale Wahnsinn

In einer denkwürdigen Autobiographie blickt der Komponist Georg Friedrich Haas auf seine Kindheit und die Jahre des Werdens.

 

Von Peter Hagmann

 

«Nazibub» nennt sich Georg Friedrich Haas im Untertitel jenes Buches, in dem er sich seiner Kindheit, seiner Jugend und seiner Adoleszenz erinnert. Die Bezeichnung trifft haargenau. Tatsächlich entstammt der demnächst siebzigjährige Komponist aus Österreich, einer der ganz Grossen seines Faches, ein Künstler mit eindeutigen gesellschaftspolitischen Positionsbezügen (und solchen, die klar links von der Mitte zu verorten sind) – tatsächlich entstammt Georg Friedrich Haas einer Familie und einem Milieu, in dem nationalsozialistisches Denken und Handeln zutiefst verankert waren. Und es blieben. Lang und reich an Schmerz war der Weg, den der «Nazibub» von seinem geistigen und seelischen Erwachen über Widerstand und Entfremdung hin zu vollständiger Emanzipation und Neuerfindung der Identität gegangen ist. In seinen 2014/15 von der Seele geschriebenen, zwischen 2018 und 2022 erweiterten und in Form gebrachten Memoiren, die Ende letzten Jahres unter dem Titel «Durch vergiftete Zeiten» bei Böhlau herausgekommen sind, schildert es Haas in allen, und man muss sagen: in allen ebenso schrecklichen wie erschreckenden Einzelheiten.

Zu Memoiren gehört, dass das erzählende Ich im Zentrum steht, das gilt auch für den Band von und mit Georg Friedrich Haas. Indessen geht es hier nicht um das goldene Licht der Erinnerung. Nichts wird da beschönigt, nur wenig verschwiegen – im Gegenteil: Haas steht sich selber in kritischer Distanz gegenüber, er thematisiert sein Schweigen, wo es vielleicht nicht die einzige Reaktion gewesen wäre, und steht zur Scham, die ihn bis heute umtreibt. Bedeutender ist jedoch die schonungslose Ausleuchtung des Umfelds, in das Haas hineingewachsen ist und von dem er sich in aller Gründlichkeit gelöst hat – und das geschieht so sorgfältig, dass das Buch Pflichtlektüre sein muss. Zumal hinter dem Autor zwei ihm freundschaftlich zugewandte Helfer stehen; der Zeithistoriker Oliver Rathkolb und der Musikwissenschaftler Daniel Ender unterlegen die Ausführungen mit Anmerkungen, welche die Faktenlage stützen, Quellen anführen und bisweilen liebevoll korrigierend eingreifen. Das schafft jene Objektivität, die aus dem Memoirenband ein Dokument zur jüngeren Geschichte Österreichs macht. Und nicht nur das. Wer in dem Buch verfolgt, wie sich eine Ideologie in einzelnen Menschen einnisten und sie von dort aus zu verabscheuungswürdigen Taten verführen kann, braucht weniger als einen Lidschlag, um die Parallelität zum Geschehen in Russland und der Ukraine zu erkennen.

Die Grosseltern und die Eltern von Georg Friedrich Haas waren bekennende Nationalsozialisten. Fritz Haas, der Grossvater väterlicherseits, überstand den Ersten Weltkrieg als Offizier, geriet 1917 in russische Gefangenschaft und verfolgte ab 1921 eine glänzende Laufbahn als Architekt. 1928, noch nicht vierzig Jahre als, wurde er als Professor an die Technische Universität Wien berufen, als deren Rektor er 1938 bis 1942 wirkte. 1934 trat er der damals noch illegalen NSDAP bei und blieb ein ferventer Nazi bis zu seinem Tod 1968. Nach Kriegsende und Umerziehungslager verlor er alle Ämter wie auch seine Wiener Wohnung, erhielt jedoch eine Rente. Was zur «Gesinnung» gehörte, lebte er und gab er weiter: unbedingter Gehorsam gegenüber den Eltern, Schweigen der Kinder am Esstisch, Körperstrafen, Führerkult, Antisemitismus. Einem jüdischen Freund, der zum Transport ins Konzentrationslager aufgeboten war, verweigerte er die Hilfestellung, dafür plünderte er danach dessen Wohnung. Eine jüdische Familie, die um ein Nachtlager bettelte, überantwortete er umstandslos der Gestapo. Nach dem Krieg sah er sich als Opfer und gab er sich wie viele Menschen aus seiner Generation aktiv als Altnazi zu erkennen. Steht Haas diesem Machtmenschen distanziert gegenüber, zeichnet er seine Grossmutter väterlicherseits liebevoll. Auch Irmgard Haas war Nationalsozialistin, auch sie war Parteimitglied, aber sie machte sich nicht schuldig. Vielmehr akzeptierte sie die ganz anderen Ansichten ihres Enkels, der fürs Studium zu ihr nach Graz gezogen war, ja sie unterstützte ihn in seinem Werdegang als Musiker.

Ein vielschichtiges Bild entsteht in dieser Erzählung – eines in grausig bunten, schneidend grellen Farben. Dass manche Nazis nach Kriegsende ihrer «Gesinnung» mehr oder weniger offen treu blieben, einfach das Mäntelchen wechselten, es ist bekannt. Zum Beispiel von Erich Schenk, dem langjährigen Wiener Ordinarius für Musikwissenschaft, der seiner antisemitischen Haltung zum Trotz nach Kriegsende nicht nur in seiner Position verblieb, sondern von der Republik Österreich dekoriert wurde. Georg Friedrich Haas berichtet aus eigener Anschauung, wie Altnazis von den wiederauferstandenen Parteien als Wähler umworben wurden und als Preis für einen Parteieintritt ihre Stellungen zurückbekamen. Und er zeichnet nach, wie an einer Einrichtung wie der von ihm als Student wie als Dozent betretenen Grazer Musikhochschule noch bis in die achtziger Jahre, bis hin zu den epochalen Rektoraten von Otto Kolleritsch, Positionen aufgrund einschlägig gefärbter Netzwerkverbindungen vergeben wurden. Haas hat selbst sehr konkrete Erfahrungen gemacht. Nachdem er um die Jahrtausendwende eine Petition unterschrieben hatte, welche die Einladung der damals heiss diskutierten Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht» nach Graz verlangte, wurde mehrfach in sein einsam gelegenes Wohnhaus eingebrochen und ihm am Ende ein toter Hase vor die Eingangstür gelegt.

Damit war das Fass voll. Den rechtsgerichteten «Verein deutscher Studenten», in den er alter Familientradition gemäss eintrat, in dem er sich erst (wider besseres Wissen) anpasste, um später (vergeblich) Widerstand zu leisten, verliess Georg Friedrich Haas. Mit den Eltern brach er. Ein schwerer Schritt, denn trotz ihrer strammen «Gesinnung» war ihnen innig verbunden; überhaupt macht die Diskrepanz zwischen der Liebe zur Familie und der wütenden Scham im Angesicht ihrer Denk- und Lebensweise die Lektüre der Memoiren zu einer beklemmenden Erfahrung. Und er zog weg – weit weg nach Westen, erst nach Basel, wo er eine Professur an der dortigen Musikhochschule annahm, schliesslich nach New York, wo er als Professor für Komposition an der Columbia University und in einer vierten Ehe seinen Frieden gefunden zu haben scheint. Auch seinen musikalischen Stil habe er modifiziert, schreibt er; in Zukunft, so habe er beschlossen, wolle er nicht mehr irgendwelchen Gesetzmässigkeiten gehorchen, sondern ausschliesslich seinen ganz ureigenen Gefühlen folgen. Dazu, überhaupt zum Niederschlag des Biographischen im Musikalischen, ist vergleichsweise wenig zu erfahren. Als Co-Herausgeber steuert Daniel Ender in seinem Vorwort einiges dazu bei. Das Ensemblestück «in vain» etwa entstand im Jahre 2000 als Reaktion auf den Einzug der FPÖ in die Regierung des damaligen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel; das Statement des Komponisten bestehe darin, dass das Stück, so Ender, eine explizite Reprise enthalte, was für neue Musik aussergewöhnlich sei.

In der gnadenlosen Präzision der Schilderungen und in seiner schockierenden Offenheit dürfte das Buch niemanden kalt lassen. Auch jene nicht, die der Meinung sind, das sei alles vergangen und überwunden. Vergangenheit ist es, von Überwindung kann jedoch keine Rede sein, wie der Blick auf die Entwicklungen in Österreich und genauso gut anderswo zeigt. «Ich habe noch viel zu tun.» Mit diesem Satz enden die Memoiren von Georg Friedrich Haas. Dem kann man sich nur anschliessen.

Georg Friedrich Haas: Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben. Herausgegeben von Daniel Ender und Oliver Rathkolb. Böhlau, Wien und Köln 2022. 293 S., Fr. 56.90.

Der Blick über den Gartenzaun

Eindrücke von der Biennale Musica in Venedig

 

Von Peter Hagmann

 

Aus «The Return» von Simon Steen-Anderson / Bild Andrea Avezzù, La Biennale di Venezia

Zerfressen vom Salzwasser in der Lagune und erstickt in den Massen an Touristen steuere Venedig unaufhaltsam auf den Untergang zu – so wird nicht selten prophezeit. Wer Augen hat zu sehen, kann dieser frühherbstlicher Tage feststellen, dass hier wieder einmal eines der üblichen Klischees Urständ feiert. Gewiss ist nicht wenigen Gebäuden die Baufälligkeit anzusehen. Gleichzeitig verkehren auf den Kanälen aber auch Vaporettoni mit dicken Baumstämmen und abenteuerlichen Maschinen – irgendwo werden sie ja gebraucht werden; geschähe ihr Einsatz ohne jede Aussicht auf Erfolg, käme es nicht dazu. Und was die Horden auf der Seufzerbrücke und andernorts betrifft: Sie sind da, aber in weitaus moderaterem Ausmass als je. Die riesigen Kreuzfahrtschiffe scheinen sich nun doch von der Lagune fernzuhalten, so dass der Gang durch die engen Gässchen ohne jede Kollision gelingt.

Was besonders auffällt, ist die natürlich nur subjektiv wahrnehmbare, im Augenblick aber ausgesprochen kräftig wirkende Lebendigkeit in der Stadt. Wer sich ein wenig auskennt, kann nach wie vor erlesene Gastronomie erleben. Und klar, viele der prächtigen Paläste, nicht nur am Canal Grande, zeigen mit ihren geschlossenen Fensterläden an, dass sie nicht bewohnt sind. Ebenso wenig ist aber zu übersehen, wie offensiv sich Venedig als Kulturstadt zeigt. Dafür stehen nicht so sehr die offenkundig gut besuchten Konzerte mit Musik des Stadtheiligen Antonio Vivaldi, die in manchen Kirchen angeboten werden, als die zahlreichen Kunstausstellungen. In der Peggy Guggenheim Collection lässt sich auf allerhöchstem Qualitätsniveau in das Thema «Surrealismus und Magie» eintauchen. Und der Stadtpalais der auf der Insel San Giorgio domizilierten Fondazione Cini mit ihrer enormen Bibliothek und ihren zahllosen Forschungsinstituten lädt zur Besichtigung der hauseigenen Sammlung wie einer Ausstellung zu Joseph Beuys ein.

Beuys pflegte die Grenzüberschreitung in eigener Art – und genau das tut derzeit die heuer zum zweiten Mal von der italienischen Komponisten Lucia Ronchetti kuratierte Biennale Musica. Das anders, als es sein Titel suggeriert, alljährlich im Herbst durchgeführte Festival für neue Musik sucht dieses Jahr den Begriff dessen, was unter Musiktheater verstanden werden kann, neu zu beleuchten. «Out of stage» lautet das Motto. Weg vom Guckkasten der Bühne und seinen Prämissen, hinaus ins Offene, und zwar sowohl der Spielorte, der Thematik wie der gesellschaftlichen Konstellation – so könnte man es sehen. Dabei wird, anders als bei den Donaueschinger Musiktagen, die sich als Uraufführungsfestival verstehen, durchaus auch historischer Kontext geschaffen, wird mit Stücken wie «Dressur» (1977) von Mauricio Kagel, «Graffitis» (1981) von Georges Aperghis oder «Hirn & Ei» (2010) von Carola Bauckholt in Erinnerung gerufen, dass die Versuche, die Beziehung zwischen Musik und Theater neu zu definieren, durchaus ihre eigene Geschichte haben.

Die wichtigen Akzente werden jedoch durch Uraufführungen gesetzt – Uraufführungen von Werken, die von der Biennale in Auftrag gegeben wurden und die sich explizit auf die Stadt mit ihrem musikalischen Dasein in Geschichte und Gegenwart beziehen sollten. Fabelhaft eingelöst hat das der 46-jährige, in Bern lehrende Däne Simon Steen-Andersen mit seinem rund einstündigen Stück «The Return», das den ebenso komplizierten wie vielsagenden Untertitel «a.k.a. Run Time Error@Venice feat. Monteverdi» trägt. Steen-Andersen versteht das Komponieren nicht allein als das Niederschreiben von Musik, er blickt vielmehr radikal über den Gartenzaun hinaus und sieht den schöpferischen Akt als ein Raum- wie Zeitgefühl ergreifendes Tun. In seinem 2014 in Donaueschingen aus der Taufe gehobenen Klavierkonzert verbindet sich die Musik mit dem Bild und lebt aus ihm. Der Solist betätigt hier sowohl einen intakten Flügel als auch eine Midi-Tastatur, die erschreckend zerbrochene Klänge von sich gibt; und am Ende zeigt der neben dem Solisten aufgestellte Bildschirm, wie ein Konzertflügel aus der Höhe auf den Boden kracht und zerbirst.

In «The Return» geht Steen-Andersen einige Schritte weiter in jene Richtung, die von Künstlern wie dem an der Biennale ebenfalls präsenten Niederländer Michel van der Aa vertreten wird. Ausgangspunkt von «The Return» bildet «Il Ritorno di Ulisse in Patria», die 1640 in Venedig uraufgeführte Oper Claudio Monteverdis. In einem ungemein packenden Bilderbogen geht Steen-Andersen der Frage nach, was das heissen könnte: Monteverdi, «Ulisse», Venedig. Und er tut das auf den verschiedensten Ausdrucksebenen: mit Sprache und Musik, mit szenischer und filmischer Aktion. Multimedial eben. Monteverdis Oper kommt vor, bisweilen gar im Original – und hochstehend aufgeführt durch Giulia Bolcato (Sopran), Anicio Zorzi Giustiniani (Tenor) und Davide Giangregorio (Bass) sowie das solistisch besetzte Instrumentalensemble VenEthos. Ebenso oft erklingt Monteverdis Musik aber auch verzerrt, als ob sie unter dem Wasser der Lagune gesungen würde oder über einen unendlich langen Plastikschlauch aus der Vergangenheit zu uns herüberkäme. Dabei zeugt der Umgang mit der Vorlage von tiefem Respekt und liebevoller Hinwendung. Etwa dann, wenn sich Steen-Andersen zusammen mit seinem Team auf die Suche macht nach jener Gasse, in der das nicht mehr existierende Opernhaus der Uraufführung stand, dabei sogar fündig wird und genau an jener Stelle eine Arie anstimmen lässt.

Das alles wird im grossformatig gezeigten Video eingebracht – als eine parallel zum Stück ablaufende Dokumentation der Entstehung der vor vollen Rängen im Teatro Piccolo gezeigten Produktion. Angesiedelt ist ihr Geschehen in den Gassen und auf den Kanälen Venedigs, in erster Linie aber auf dem ausladenden Gelände des Arsenals – in Kavernen, in Höfen, auf Turmesspitzen, jedenfalls an Orten, die der Besucher der Biennale bestenfalls kennt, meist aber bloss erahnt. Witzig überschneiden sich dabei die Ebenen: die vorgespiegelte Realität des Videos und die gespielte Wirklichkeit auf der Bühne, darüber hinaus auch die zeitlichen Abläufe. Virtuos wird dabei auf Zuspitzung hingearbeitet – bis dorthin, wo zwei Darsteller ihre Weingläser aneinanderschlagen, der eine auf der Bühne, der andere im Video, beide unterstützt durch den Klang eines Triangels. Faustdick hat es Steen-Andersen hinter den Ohren, lustvoll, ja echt lustig spielt er mit den Ideen und den Situationen – etwa mit jener leitmotivisch eingesetzten Installation aus dem Geiste Jean Tinguelys, in der eine zufällig von oben herabrollende Kugel die verschiedensten Aktionen auslöst. Das alles in technisch blendender Perfektion.

Eine ähnlich verspielte, nur sozusagen rein analoge Haltung nimmt Giorgio Battistelli ein, das Urgestein der italienischen Avantgarde. An der diesjährigen Biennale wurde der 69-jährige Römer für sein Lebenswerk mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet, während seine Freunde vom Ensemble Ars Ludi, als da sind Antonio Caggiano, Rodolfo Rossi und Gianlucca Ruggeri, wenige Tage später den silbernen Löwen entgegennehmen durften. Battistelli bestritt die Eröffnung des Festivals im Teatro La Fenice. Auf dessen immenser Bühne gaben die drei Herren von Ars Ludi «Jules Verne», eine einstündige Harlekinade rund um drei Figuren des Autors. Das Stück stammt von 1987, in Venedig wurde es in einer neuen, italienischen Version dargeboten. Zwischen einem mehr als gut bestückten Arsenal an Klangerzeugungsmitteln spazieren da Professor Lidenbrock, Doktor Ferguson und Kapitän Nemo vom einen Ort zum anderen, betätigen hier dieses, dort jenes Gerät, singen, sprechen, rufen, gehen baden, schiessen um sich – am Ende weiss man bei diesem an Kagel erinnernden, gleichwohl sehr persönlichen, amüsant überdrehten Spektakel nicht, wo einem der Kopf steht. Auch der Schluss der diesjährigen Biennale gehört Giogio Battistelli. In wenigen Tagen gibt es im Teatro alle Tese auf dem Gelände des Arsenals «Experimentum mundi», die von 1981 stammende Oper für Schauspieler, vier Frauenstimmen, eine Gruppe Handwerker und einen Schlagzeuger, alle vom Komponisten am Dirigentenpult angeleitet.

Alles anregend, alles bereichernd – nicht zuletzt dank der intellektuellen Einbettung durch eine Fülle an Vorträgen, Workshops, Runden Tischen und einen über vierhundert Seiten starken Katalog. Wie dann das Gewitter mit Sturm und Starkregen ausbrach und sich die Menschen unter den Arkaden in Schutz brachten, wie etwas später am Automaten aber doch eine Fahrkarte fürs Vaporetto gelöst werden konnte, aber kein Schiff auftauchte, weil der angekündigte Streik im öffentlichen Nahverkehr ohne Ankündigung in den Abend hinein verschoben worden war, weshalb ein durchnässender Fussmarsch durch die menschenleere Stadt angesagt war – spätestens dann waren wir wieder glücklich zuhause bei den Klischees, die so untrennbar mit der zauberhaften Stadt Venedig verbunden sind.

Seiltanz am Abgrund

György Kurtágs «Kafka-Fragmente»
mit Anna Prohaska und Isabelle Faust

 

Von Peter Hagmann

 

Da haben sich zwei gefunden; wiewohl in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern wirksam, stehen sie sich nah. Anna Prohaska ist eine Sopranistin, die neue Musik mit derselben Leidenschaft pflegt wie alte und darum im hergebrachten Repertoire besondere Akzente setzt. Dasselbe tut die Geigerin Isabelle Faust mit ihrer Stradivari «Sleeping beauty» von 1704; sie arbeitet mit zielgerichteter Sorgfalt und stellt die kritischen Fragen, ohne die im Bereich der musikalischen Interpretation keine Kreativität entsteht. Jetzt haben sich die beiden in Berlin ansässigen Künstlerinnen zusammengetan, um für das Label Harmonia mundi die «Kafka-Fragmente» György Kurtágs aufzunehmen. In wenigen Tagen wird die CD greifbar sein, und dann dürfte sie auch auf den einschlägigen Webseiten erscheinen.

Das Stück ist Kult, wie es der Komponist selbst ist. Kurtág, inzwischen 96 Jahre alt, ist spät in der musikalischen Öffentlichkeit erschienen; der Dirigent Claudio Abbado hat ihm bei Wien Modern, der Konzertdirektor Hans Landesmann bei den Salzburger Festspielen die Türen geöffnet. Sein Œuvre ist überschaubar, enthält aber doch auch eine Oper. Seine musikalische Handschrift lebt von der verknappten Geste, welche die Dinge in einer ganz und gar persönlichen Weise auf den Punkt bringt. Mit vielen seiner Werke hat er regelrecht Geschichte geschrieben. Als «…quasi una fantasia…» op. 27., Nr. 1, für Klavier und Orchestergruppen 1990 beim Grazer Musikprotokoll unter der Leitung von Hans Zender aus der Taufe gehoben wurde, musste das Stück auf der Stelle wiederholt werden, ein einzigartiger Vorgang.

Auch die «Kafka-Fragmente» haben breite Beachtung gefunden – trotz (oder gerade wegen) der eigenartigen Besetzung für Singstimme und Violine. Textliche Basis der vierzig zum Teil ultrakurzen Nummern, deren Aufführung eine Stunde dichtester Konzentration auf dem Podium wie im Auditorium verlangt, bilden verstreute Sätze aus Briefen und Tagebüchern Franz Kafkas – teils undurchdringlich, teils unschlagbar treffend. Dass das zu frappanter Intensität führen kann, macht die formidable Auslegung durch Anna Prohaska und Isabelle Faust deutlich.

Die Sopranistin verfügt über ein Ausdrucksspektrum, das weit über den schönen Ton und das ausgebaute Legato hinausgeht; sie kann wispern und flüstern, kreischen und schreien, sie setzt sich schonungslos dem Singen ohne jedes Vibrato aus und wird handkehrum zur grossen Operndiva – fast alles im Rahmen von ein bis zwei Minuten. Die Geigerin steht ihr in nichts nach. Im lapidaren Beginn der Nummer 1, «Die Guten gehen im gleichen Schritt», spielt sie die unerhörte Schönheit ihres Instruments voll aus, um wenig später mit Kratzgeräuschen, gehauchten Flageolets, erschütternden Glissandi und raffinierten Doppelgriffen aufzuwarten. Den Höhepunkt bietet zweifelsohne die mit sieben Minuten längste Nummer 20, die, Pierre Boulez gewidmet, einen eigenen der vier Abschnitte ausmacht. Die Rede ist dort von einem Seil, das zum artistischen Akt einlädt, das in Wirklichkeit aber nur wenige Zentimeter über dem Boden verläuft und somit eher stolpern macht. Auch in einer solchen Situation kann sich existenzieller Seiltanz aufdrängen, György Kurtág, Anna Prohaska und Isabelle Faust lassen es erfahren.

György Kurtág: Kafka-Fragmente. Anna Prohaska (Sopran), Isabelle Faust (Violine). Harmonia mundi 902359 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2022).