Auf der Höhe der Zeit

Isabelle Faust und Philippe Herreweghe
zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Auffallend herzlich umarmte am Schluss die Geigerin Isabelle Faust den Konzertmeister Klaidi Sahatçi: ein Zeichen der kollegialen Wertschätzung, aber auch eines der Dankbarkeit. Gemeinsam und mit deutlich sichtbarem Körpereinsatz hatten die Solistin und der Mann am ersten Geigenpult das Tonhalle-Orchester Zürich durch das Violinkonzert von Johannes Brahms geführt. Nicht dass es Unstimmigkeiten irgendwelcher Art gegeben hätte, aber auf dem Dirigentenpodest stand Philippe Herreweghe, ein grossartiger Musiker und ein innovativ denkender, anregend interpretierender Dirigent – aber: kein Taktschläger. Er lässt die Musiker spielen; Einsätze gibt er nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit den Augen. Seine Zeichengebung ist weich, sie kommt ganz aus dem Gefühl für die musikalischen Verläufe und die Wegmarken des Ausdrucks heraus, die Koordination im Orchester überlässt er gern den Musikern selbst. Das geht nicht auf Überheblichkeit zurück, es zeugt vielmehr vom Geist Claudio Abbados, für den das Musizieren im Orchester im Idealfall eine Art vergrösserter Kammermusik darstellte – Kammermusik verstanden als Momente bewussten Aufeinanderhörens.

Wirklich verstanden und in Freiheit umgesetzt werden kann das, was Herreweghe mit den Händen und dem Körper ausdrückt, wohl nur von den Mitgliedern seiner Familie, der diversen von ihm ins Leben gerufenen Formationen. Was für bewegende (und übrigens technisch ausgefeilte) Aufführungen vom Kreis um Herreweghe geboten wurden, kann anhand zahlloser, in vielen Fällen beispielhafter Tondokumente nachvollzogen werden. Es war auch in Zürich zu erleben, wo Herreweghe seit dem späten 20. Jahrhundert bei der Neuen Konzertreihe in schöner Regelmässigkeit Johann Sebastian Bachs «Matthäus-Passion» präsentiert hat – und das in einer Fasslichkeit, welche die Härte der Sitzbänke im Fraumünster glatt vergessen machte. Auch das jüngste Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich – ich hörte den ersten der beiden Auftritte – wurde zu einem Ereignis, das in jedem Augenblich packte und danach lange nachhallte, eben gerade weil alle Beteiligten in gesteigerter Achtsamkeit füreinander zusammenwirkten. Der Reaktion im Publikum war enorm; sie drückte die Anteilnahme an einem Abend aus, der, wie es in den Konzerten des Tonhalle-Orchesters immer häufiger geschieht, keine Pause aufwies und darum als geschlossenes Ganzes wirkte.

Übrigens auch auf der Ebene der Tonarten. Denn auf Brahms’ Violinkonzert in D-dur folgte nach einem Schritt in die Dominante die Sinfonie Nr. 7 in A-dur von Ludwig van Beethoven, dem von Brahms zutiefst verehrten Vorbild. Hier konnte das Orchester wieder einmal sein Eigentliches herzeigen: die Strahlkraft der Streicher, die dank der intensiven Kommunikation der Stimmführer untereinander zu besonderer Wirkung kam, das dunkle Fundament der Bässe, welche die Orgelpunkte in der Sinfonie Beethovens zu ungeheurer Spannung steigerten, die Wärme der Holzbläser im Verbund mit den Hörnern, die den Beginn des zweiten Satzes im Violinkonzert von Brahms zum Höhepunkt des Werks machte. All das geschah ohne Zwang, auch ohne jeden Exzess – gleichsam von selbst. Und ganz natürlich, als ob es anderes nicht gäbe, stellte Herreweghe die A-dur-Sinfonie Beethovens ins Licht heutiger Erkenntnisse zu Fragen der Aufführungspraxis. Die Besetzung war klein gehalten, der von nuanciertem Vibrato der Streicher geprägte Ton blieb beweglich, und die beiden Geigengruppen, die nicht nebeneinander, sondern einander gegenüber sassen, liessen die Motive hin- und hergehen. Spürbar frisch waren die Tempi, sie hatten darin jedoch nichts Demonstratives. Eigenartig nur, dass die Artikulation des Hauptthemas im zweiten Satz so beliebig blieb, so wenig Unterschied zwischen Hebung und Senkung aufwies. Aber die Flüsterfuge in diesem Allegretto gelang vorzüglich – wie überhaupt das Piano immer wieder seinen Namen verdiente.

In derselben Gelassenheit erschien das Geigenkonzert von Brahms – und das will etwas heissen bei einem Werk, in dem oft und gerne gedrückt und gekratzt wird. Isabelle Faust meisterte ihren Part – natürlich technisch perfekt, mit makellos intonierten Mehrfachgriffen und ohne ein einziges Glissando. Aber auch interpretatorisch verfolgte sie heutige Auffassungen, nämlich eine Reinheit und eine Einfachheit, wie sie Joseph Joachim, dem Widmungsträger und Uraufführungsinterpreten, zugeschrieben wurden. Virtuoses Auftrumpfen oder ein Kampf mit den Elementen, will sagen: mit der oder gegen die Geige, davon konnte in keinem Augenblick die Rede sein. Hell und klar, auch leuchtend blieb der Ton im ausladenden Kopfsatz – bis hin zu der hier über weite Strecken von der Pauke begleiteten Kadenz. Und sparsam das Vibrato, das sie dann im Adagio ausgeprägter einsetzte, dies in Verbindung mit subtilen Modifikationen des Tempos. Äusserst temperamentvoll, doch gleichzeitig elegant schliesslich das Finale. Was Understatement auszulösen vermag, hier war es zu erleben.

Alte weise Männer – fast

Auftritte des Tonhalle-Orchesters Zürich
und des Berner Symphonieorchesters

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konstellation war zu verlockend. Wie es beim Tonhalle-Orchester Zürich nun mal so Sitte ist, war David Zinman, der erfolgreiche Chefdirigent zwischen 1995 und 2014 und heutige Ehrendirigent, für einen Abend nach Zürich eingeladen. Vorgesehen war Anton Bruckners Sinfonie Nr. 5, später ist daraus die Nr. 4 geworden. Für fast denselben Zeitpunkt war beim Berner Symphonieorchester dessen langjähriger Chefdirigent Mario Venzago für einen Abend des Wiedersehens angekündigt. Auch bei ihm stand eine Sinfonie Bruckners auf dem Programm, nämlich die Dritte, die Venzago vor fast zehn Jahren mit dem Berner Orchester aufgenommen hat. Im Raum stand also ein reizvoller Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Kunst des Dirigierens und das Lebensalter auf der Basis der bekanntlich nicht gerade einfachen Musik des Meisters von Sankt Florian.

Allein, es hat nicht sollen sein. David Zinman, inzwischen 86 Jahre alt, war von ärztlicher Seite empfohlen worden, auf die Reise nach Europa und den Auftritt auf dem Konzertpodium zu verzichten, was der Dirigent so selbstverständlich wie bedauerlicherweise respektierte. In aller Eile musste denn auch für Ersatz gesorgt werden; gefunden wurde er in der Person des 27-jährigen Österreichers Patrick Hahn, der schon in vieler Munde ist und jetzt in der Grossen Tonhalle Zürich debütiert hat. Derzeit wirkt er in Wuppertal, und dort lässt er sich als «jüngster Generalmusikdirektor im deutschsprachigen Raum» vorstellen. Aus dem Spaziergang mit zwei alten weisen Männern wurde darum nichts, es kam vielmehr zur Begegnung zwischen einem hocherfahrenen Könner und einem Nachrückenden, der mit Mut nicht nur das Konzert, sondern sogar das Programm gerettet hat.

An sich will das Lebensalter nichts heissen. Legt ein junger Dirigent Wert auf seine Jugendlichkeit und wagt er sich an ein Stück wie die Vierte Bruckners, hört man jedoch mit besonderer Genauigkeit hin. Zu sagen ist: Sehr ordentlich, wie Patrick Hahn die wohl beliebteste der Sinfonien Bruckners gemeistert hat, aber für eine Erleuchtung reichte es nicht; es kam zu einer respektablen Wiedergabe, aber nicht zu einer Interpretation im eigentlichen Wortsinn. Mit seinem abgespreizten kleinen Finger an der rechten, den Taktstock führenden Hand gab sich Patrick Hahn als ein Dirigent alter Schule zu erkennen, der dem Orchester distinguiert, aus einer Position der Übersicht heraus vorangeht. Wirklich im Griff hatte Patrick Hahn die Zürcher Formation allerdings nicht, und die Konturen einer Meinung des Dirigenten zum Werk blieben merklich unscharf.

Zu wünschen übrig liess etwa die Balance. Die Posaunen bliesen sich immer wieder in den Vordergrund, was nun einmal ausgesprochen unschön klingt. Und in den letzten Takten der Sinfonie war der berühmte Hornruf, der das Werk eröffnet hat und sich an dieser Stelle als Krone auf das dreifache Forte des gesamten Orchesters zu setzen hätte, nicht der Spur nach zu vernehmen. Die Zeichengebung mit den beiden meist parallel geführten Händen, die Fokussierung der Blickrichtung des Dirigenten auf die Ersten Geigen, die Beiläufigkeit der Phrasierung, die auf wenig Gespür für das Atmen der Musik zurückgeht, der brave Umgang mit den Tempi – Symptome solcher Art zeigen, dass es hier noch reichlich Luft nach oben gibt. An der Begabung Patrick Hahns ist freilich kein Zweifel.

An jener der Geigerin Noa Wildschut erst recht nicht. Keck ging die erst 22-jährige Musikerin aus den Niederlanden das Violinkonzert Nr. 5 in A-Dur, KV 219, an: im Kopfsatz mit noch etwas viel Mainstream-Vibrato, im weiteren Verlauf aber mit immer mehr überraschenden Einfällen, zum Beispiel mit spannend gestalteten Trillern. Auch wenn noch nicht alles restlos gefasst erschien, trat da doch ein ganz eigener Ansatz zutage; er nimmt viel von jenen Energien auf, die das Mozart-Bild im späten 20. Jahrhundert so entschieden aufgefrischt haben. Wie genuine Vitalität in Kunst übergeführt werden kann, erwies aber ganz besonders Sol Gabetta. Innig verbunden mit dem Berner Symphonieorchester und Mario Venzago gab sie das selten gespielte, weil technisch wie gestalterisch anspruchsvolle Cellokonzert Nr. 2 in d-Moll, p. 119, von Camille Saint-Saëns. Dass das Stück als etwas spröde gilt, konnte man gleich vergessen, so überzeugend, mit so viel Schwung, so reichem Klangspektrum, so vielfach differenziertem Vibrato und ausserdem ohne jedes unnötige Portamento bewältigte sie ihren Part.

Eröffnet wurde der Abend im Berner Stadtcasino – er hätte schon längst stattfinden sollen, musste der Pandemie wegen aber verschoben werden – mit der Uraufführung von «Hymnus», einem Auftragswerk des Baslers Balz Trümpy: einer Verneigung vor Anton Bruckner und einer Reminiszenz an die Avantgarde von ehedem in persönlicher Handschrift. So lag denn nahe, dass nach der Pause Bruckners Dritte, in d-Moll wie das Cellokonzert von Saint-Saëns, auf den Pulten lag. Keineswegs von selbst versteht sich die Individualität, in der Mario Venzago an die Musik Anton Bruckners herangeht. An Klangfülle fehlte es nicht in der an Wagner orientierten Sinfonie, doch blieb das Blech jederzeit sinnvoll ins Ganze eingebunden und erschien die Farbenpracht der Partitur in hellem Licht. Nicht wenig zum lebendigen Bild beigetragen hat die Erhitzung der Spannungsverläufe durch die Arbeit mit Tempo und Attacke, eine Anleihe an Auffassungen des frühen 20. Jahrhunderts, und andererseits durch die Integration des geraden, ohne Vibrato versehenen Tons, wie er in der alten Musik wiederentdeckt worden ist. Mario Venzago ist ein wacher Geist, offen für die Geschichte wie die Gegenwart, und seine langjährige Erfahrung lässt ihn aus einem opulenten Fundus schöpfen – als ein alter weiser Mann.

Der Denker am Pult

Kent Nagano beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Tritt Kent Nagano ans Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich, ist mit besonderen Akzenten zu rechnen. So war es 2009, als der Japaner aus den USA, der längst in Deutschland und Frankreich heimisch geworden ist, die «Metamorphosen» von Richard Strauss auslegte. Die 23 Streicher formten ein aus dem Inneren heraus leuchtendes Netz, in dem jeder einzelne Faden in seiner Individualität zu erkennen war – nur die radikale geistige Durchdringung der Partitur macht so etwas möglich. Sechs Jahre später das ebenso amüsierende wie irritierende Concerto grosso für vier Alphörner und Orchester des nach New York ausgewanderten Österreichers Georg Friedrich Haas und eine fabulöse Umsetzung von Anton Bruckners sechster Sinfonie – ein interpretatorischer Akt, in dem ein ganz ungewöhnliches Gleichgewicht erreicht wurde. Oder dann Anfang 2017 die «Eclairs sur l’Au-Delà» von Olivier Messiaen, bei deren farbenreicher Klangwerdung Nagano von seinen Erfahrungen als Schüler des Komponisten profitierte.

Auch beim jüngsten Auftritt des Dirigenten, diesmal nun in der frisch herausgeputzten Grossen Tonhalle, fehlte es nicht an Überraschungen. Wie sich im späteren Verlauf des Abends als besonders sinnreich erweisen sollte, gab es zur Eröffnung drei Stücke aus der «Kunst der Fuge» Johann Sebastian Bachs – eines seltenen Gasts in den heiligen Hallen am See, der im Verlauf der Saison aber doch mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich erhält. Diese Gipfel der kontrapunktischen Kunst, die Bach ohne Angaben zur Instrumentation hinterlassen hat, wurden nicht in der bekannten und üblichen Orchestrierung Wolfgang Graesers, sondern einer ungewöhnlichen, um nicht zu sagen: gewöhnungsbedürftigen Einrichtung des japanischen Komponisten, Pianisten und Dirigenten Ichiro Nodaira gegeben. Die Farben des Orchesters werden hier sozusagen getrennt genutzt: Die Streicher stellten, rein und klar ohne jedes Vibrato, das Thema vor, die Bläser bis hin zum Kontrafagott den Kanon in der Oktave, das klingende Schlagzeug samt Harfe die Tripelfuge der Nummer acht – schaute da für einen Augenblick nicht Jacques Loussier und sein «Play Bach» um die Ecke? Streng, ohne Unterbrechung durch Beifall wurde diese Eröffnung durchgezogen, und nochmals attacca schloss sich das Intermezzo für vier Schlagzeuger aus der Oper «Stilles Meer» von Toshio Hosokawa an, der in dieser Saison den Creative Chair besetzt. Ein kurzes, überaus aufwühlendes Stück der Erinnerung an die Katastrophe von Fukushima und durchaus ein musikalisch gesetztes Zeichen in einer Zeit, da statt mehr an erneuerbare Energie an den Bau weiterer Atomkraftwerke gedacht wird.

Daraufhin gab es, um den organischen Aufbau des Programms nicht zu stören, keine Pause, lediglich eine kurze Unterbrechung, während der sich das Tonhalle-Orchester zu grosser Formation versammelte: für die neunte Sinfonie Anton Bruckners. Wie stets, wenn sich Kent Nagano diesen monumentalen sinfonischen Entwürfen zuwendet, herrschte Temperament, kam es zu Kraftentfaltung, dies aber jederzeit in ausgesuchter Balancierung innerhalb des Orchesters, aber auch innerhalb des Raums. Nie knallte es. Die Posaunen, die Trompeten liessen ihre Muskeln spielen, blieben aber jederzeit so ins klangliche Gesamtbild integriert, dass alle Register, zumal die hohen Streicher, zu ihren Rechten kamen. Ja mehr noch: Wie nach der Vorbereitung durch die Wärme der intonationssicher klingenden Wagner-Tuben und die Klangpracht der Hörner das gewaltige Ende des dritten Satzes erreicht wurde, trat heraus, welch klares dynamisches Konzept für die Sinfonie insgesamt Nagano entwickelt hatte. Denn erst dort, ganz am Ende, wurde der Höhepunkt an Lautstärke, an Intensität, an Erfüllung erreicht. Dieselbe auf dem intellektuell hochstehenden Umgang mit der Partitur basierende Umsicht liess das Zusammenwirken der verschiedenen Themen innerhalb der Sätze hören. Schon im Eröffnungssatz herrschten Sorgfalt und Sorgsamkeit im Aufbau der langgezogenen Verläufe und, vor allem, in den Verbindungen zwischen ihnen. Einigermassen flink, Bruckner schreibt «bewegt, lebhaft» vor, kam das Scherzo daher; nichts Behäbiges, nichts von den groben Röhrenhosen des Komponisten war hier zu erfahren – im Gegenteil: Die Artikulationszeichen des Komponisten zu den gestossenen Akkordwiederholungen war auf das Genaueste respektiert, was den Satz sprechen liess. Übrigens in gleicher Weise, wie es die in den einzelnen Themengruppen subtil modifizierten Tempi taten. Im Finale schliesslich herrschte so viel Transparenz, dass die kontrapunktische Hand Bruckners in helles Licht kam. Da war er denn, der ferne Gruss Johann Sebastian Bachs.

Gold versus Silber

Das Tonhalle-Orchester Zürich mit Berlioz
und Mendelssohn

 

Von Peter Hagmann

 

Beim Tonhalle-Orchester Zürich geht die Post ab. Eben hat sich die Formation zusammen mit ihrem Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter Paavo Järvi nach Wien, Luxemburg, Paris und Basel begeben, nachdem die Musikerinnen und Musiker bereits im November vergangenen Jahres für eine drei Abende umfassende Residenz nach Hamburg gereist waren. Projekte solcher Art stellen gerade im Künstlerischen besondere Anforderungen; die Programme sollen als Visitenkarte gelten, und die Interpretationen müssen auf Hochglanz poliert werden. Für die Tournee dieser Tage ist das voll gelungen. Mit «Harold en Italie», einer als Bratschenkonzert verkleideten Sinfonische Dichtung von Hector Berlioz, sowie Johannes Brahms’ Klavierquartett Nr. 1 in g-Moll in der Orchestrierung Arnold Schönbergs standen zwei nicht eben oft gespielte, aber wertvolle Werke aus dem französischen beziehungsweise dem deutschsprachigen Kulturraum auf dem Programm – in gut schweizerischem föderalistischem Ausgleich, aber auch als Zeichen des Anspruchs, als Orchester das Herkunftsland insgesamt zu repräsentieren.

Ein Glanzstück bot die fiktive Reiseschilderung des zu seiner Zeit heftig umstrittenen, auch streitbaren französischen Zukunftmusikers schon allein deshalb, weil zu Beginn vom Solisten keine Spur zu sehen war; Paavo Järvi schritt allein zu seinem Podest und gab den Auftakt, der Bratscher Antoine Tamestit, einer der besten Vertreter seines Fachs, schlich erst später einem neugierigen Kobold gleich durch die Sitzreihen des Orchesters. Ein kleiner, witziger Hinweis darauf, dass es sich bei «Harold en Italie» nicht wirklich um ein Bratschenkonzert handelt, sondern eher um eine Art Sinfonie mit obligater Viola, dass also der Solist, der sich ausserdem als ein Wanderer sieht, nur mittelbar als solcher in Erscheinung tritt. Das stimmt freilich nur halb, denn die Hauptsache steuert gleichwohl die Bratsche bei.

Antoine Tamestit tat das mit unübersehbarer Lust und unüberhörbarem Gewinn. Seine für ihn persönlich hergestellte Viola hat er seit dem Gewinn des Young Artist Award der Credit Suisse 2008 zurückgelegt zugunsten einer 1672 von Antonio Stradivari erbauten Bratsche, die ihm von der Habisreutinger-Stiftung zur Verfügung gestellt wird. Was für ein herrliches Instrument, von opulenter Wärme in der Tiefe, von sonorer Kantabilität in der Höhe – und unerhört reich an Farben. Virtuos nutzt Tamestit dieses Potential in denkbar glänzender Weise; in der Zürcher Tonhalle zog er das Orchester, mit dem er gestenreich kommunizierte, voller Überzeugungskraft auf seine fiktive Reise mit. Das Ergebnis war stupend, zumal Paavo Järvi den Farben auf der Spur war und das Orchester die vielen überraschenden Effekte grossartig zur Geltung brachte.

So geriet das Zuhören bei Berlioz zum reinen Vergnügen – was sich vom «Lobgesang», eine Woche zuvor geboten, leider ganz und gar nicht sagen lässt. Die zweite Sinfonie, B-dur, von Felix Mendelssohn Bartholdy aus den Jahren 1839/40, in ihrem Aufbau mit einer ausführlichen orchestralen Einleitung und einem kantatenartigen zweiten Teil klar der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens von 1824 nachempfunden, feiert die Erfindung des Buchdrucks, die Verbreitung des Wissens und, über die Aufklärung wie die französische Revolution, die Emanzipation der Menschen von Untertanen zu mündigen Bürgern – kann man es von heute aus nicht so sagen? Das von der Stadt Leipzig bei Mendelssohn als dem Leiter des Gewandhauses bestellte Stück verbeugt sich auch vor der Reformation und jener daraus hervorgegangenen Konfession, zu der sich Mendelssohn nach seiner Abkehr vom Judentum emphatisch bekannte. Von diesem Hintergrund liess Paavo Järvi nun allerdings nichts hören, er zielte eher aufs Gegenteil.

«Alles was Odem hat, lobe den Herrn» – so ist das Thema der langsamen Einleitung zur Sinfonia später vom Chor textiert – kam daher, als gälte es einen weltlichen Herrscher, einen Fürsten zu feiern: pompös, mit dröhnenden Posaunen und in betäubender Lautstärke, obwohl nur forte vorgeschrieben ist, weil das Fortissimo erst später folgt. Dazu mit kantig artikulierten Punktierten und in einigermassen hochgetriebenem Zeitmass. Das wiederum mochte seinen Grund darin haben, dass Järvi das darauffolgende Allegro im gleichen Schlag, aber verdoppeltem Tempo nehmen wollte. Doch dieses verdoppelte Tempo, es war, so der Eindruck in der zweiten der beiden Aufführungen, entschieden zu schnell; die ersten Geigen fanden in den rasenden Sechzehnteln weder die erforderliche Genauigkeit noch die wünschenswerte Transparenz, die Hörner setzten bisweilen mit leichter Verspätung ein. Für die Musik Mendelssohns, zumal den «Lobgesang», ist dieser hochgetriebene, auf Druck basierende Duktus ungeeignet; das Angebot an Aufnahmen erweist, dass es valable Alternativen gibt.

Das auf den Einstieg folgende Allegretto geriet nicht nur «poco», sondern «assai agitato» – die tremolierende linke Hand des Dirigenten forderte immer wieder mehr und mehr. Sehr schön, ruhig und entspannt, dann aber das Adagio religioso, der dritte Teil der instrumentalen Einleitung. Danach schlug die Stunde des Chors, der von Florian Helgath einstudierten Zürcher Sing-Akademie. Obwohl mit professionellen Sängerinnen und Sängern besetzt, hinterliess sie, das allerdings auf höchstem Niveau, den Eindruck eines Bürgerchors. Der Klang war fest und kompakt, damit jenem des Orchesters angenähert, zudem kräftig unterstützt durch die Orgel, die den Bass verstärkte und den Gesamtklang füllte. Nun gut, mag sein dass Paavo Järvi den «Lobgesang» in historisch informierter Praxis aufzuführen gedachte – nämlich so, wie es zu Brahms Zeiten üblich gewesen sein mag. Ob der donnernde Lärm des Schlusses diesem interpretatorischen Ansatz oder gar der Intention Mendelssohns entsprochen hätte, darf dahingestellt bleiben.

Überzeugt hat vor allem eines: das Trio der solistischen Stimmen. Mit seiner klaren Linienführung und seiner ausgezeichneten Diktion empfahl sich der Tenor Patrick Grahl für jede Aufgabe im Konzertrepertoire, und Marie Henriette Reinhold brachte in der undankbaren Partie der zweiten Sopranistin ihr herrlich gerundetes Timbre ein. Als jedoch Chen Reiss in «Lobe den Herrn, meine Seele» ihren Sopran erklingen liess, ging musikalisch das Licht an. Hell und leicht ihr Timbre, klar und leuchtend ihre Tongebung, ohne jeden Druck die Formung der Linien – so muss es sein. Der «Lobgesang» braucht eben nicht feudales Gold, vielmehr aufgeklärtes Silber.

Bewegung auf dem Podium

Roberto González-Monjas in Winterthur,
Jakub Hrůša in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Quereinsteiger ist er nicht wirklich, aber doch ein wenig. Am Salzburger Mozarteum liess er sich zum Dirigenten ausbilden, berühmt geworden ist Roberto González-Monjas jedoch als Geiger. In Winterthur, einem Zentrum seines vielfältigen künstlerischen Wirkens, hat er nicht nur als Konzertmeister des Musikkollegiums und, ex officio, als Primarius des Winterthurer Streichquartetts Spuren hinterlassen, sondern vor allem auch als Kammermusiker; unvergessen sind seine Abende mit dem Pianisten Kit Armstrong von 2019 und 2020, bei denen in einer Differenziertheit und einer Spannung sondergleichen Sonaten von Brahms und Mozart erklangen. Das Dirigieren steht in der Wahrnehmung von aussen her eher an zweiter Stelle, gilt dem 34-jährigen Spanier aber gleich viel wie das Geigenspiel. Auch in diesem Bereich gab es für mich bemerkenswerte Momente, und zwar beim Lucerne Festival, wo er als Orchesterleiter mit der Geige die Iberacademy, das von ihm gegründete Jugendorchester aus Kolumbien, in Ekstase versetzte und wo er im Sommer letzten Jahres mit dem Mahler Chamber Orchestra die Wiedergabe einer Sinfonie Joseph Haydns zur Sternstunde werden liess.

Inzwischen ist Roberto González-Monjas Chefdirigent des Musikkollegiums Winterthur, und als solcher hat er nun ein sehr spezielles Abonnementskonzert präsentiert. «Scheherazade» war das Stichwort des Abends. Er endete denn auch mit der gleichnamigen Sinfonischen Dichtung von Nikolai Rimsky-Korsakow – einem Stück, das von der Besetzung und vielleicht auch von der Akustik im Konzertsaal des Winterthurer Stadthauses her an die Grenzen ging. Dasselbe tat Roberto González-Monjas. Nach einem überschiessenden, geradezu explosiven Beginn lotete er die doch sehr redselige Partitur in ihrer ganzen Farbenpracht aus, versah die sich gerne wiederholenden Gesten mit prägnanter Kontur und unterstützte die musikalische Erzählung durch temperamentvolle Schärfung der Verläufe. Das Orchester gab sich dem packenden interpretatorischen Ansatz mit vollem Engagement hin – und klang schlicht grossartig, jedenfalls fern jener Herbheit, die sich bei Thomas Zehetmair bisweilen eingestellt hatte. Die Streicher fanden klangvolle Homogenität, der Konzertmeister Ralph Orendain brillierte in seinen ausgedehnten Soli, und die Bläser, denen der Dirigent die nötige Freiheit liess, trugen mit charakteristischen Einwürfen zur Vitalität des Geschehens bei.

Überraschend spannend war das, wie überhaupt der Abend reiche Anregung bot – Roberto González-Monjas ist nun einmal ein genuiner Musiker, dem es weder an Einfall noch an Agilität fehlt (und der eines Tages vielleicht auch noch seine Körpersprache zu mässigen weiss). Begonnen hatte das Programm mit einem erst kürzlich aufgefundenen Stück von Igor Strawinsky, einem frühreifen, emotionalen «Chant funèbre» auf den Tod seines Mentors Rimsky-Korsakow. Worauf die «Shéhérazade» von Maurice Ravel mit der intonatorisch nicht restlos sattelfesten Mezzosopranistin Sophie Koch folgte und sich die reizende «Epiphanie» für Sopran und Orchester von Charles Koechlin anschloss. In Winterthur, so der Eindruck, ist etwas los; Anfang Juni folgt zum Schluss der Saison «Le grand rituel», ein unkonventionelles Festival von zwei Wochen Dauer, das klassische (und andere) Musik in den Industriebau der «Halle 23» bringt und das in einer durch Tanz begleiteten Aufführung von Strawinskys «Sacre du printemps» kulminiert.

Ganz anders als der Wirbelwind Roberto González-Monjas erscheint Jakub Hrůša, der von Beobachtern gerne in der Nähe zu Eminenzen wie Bernard Haitink oder Mariss Jansons gesehen wird. Das erstaunt nicht, verfolgt der 40-jährige Tscheche doch eine ganz und gar konventionelle, allerdings steil ansteigende Laufbahn. Nach der Ausbildung an Klavier und Posaune in der Heimatstadt Brünn, nach dem Studium und ersten Erfolgen in Prag wirkt Hrůša jetzt als Chefdirigent bei den Bamberger Symphonikern sowie als Gastdirigent bei der Tschechischen Philharmonie und bei der Accademia di Santa Cecilia in Rom; gerne gesehen ist er auch in den grossen Opernhäusern. Indessen zielt Hrůša nicht nur auf den Aufstieg im Rahmen des etablierten Repertoires. Bei seinem Diplomkonzert in Prag dirigierte er die Sinfonie «Asrael» von Josef Suk, die er später auch auf CD aufnahm, während er beim Lucerne Festival im letzten Sommer mit den Bamberger Symphonikern ein Programm mit einem neuen Stück von Iris Szeghi, dem Violinkonzert von Beat Furrer und dem Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka präsentierte.

Die Verankerung im Etablierten und zugleich die emphatische Neigung zum Neueren prägte auch den jüngsten Auftritt Jakub Hrůšas beim Tonhalle-Orchester Zürich. Zunächst: das Cellokonzert von Antonín Dvořák in einer handwerklich untadeligen Ausführung – und mit einer hochmusikalisch ausgesungenen, unerhört in die Tiefe gehenden und dementsprechenden berührenden Präsentation des Soloparts durch den jungen Cellisten Kian Soltani. Blendend der Einstieg des Orchesters mit dem glänzenden Solohorn und der innigen Klarinette, trefflich das Dazutreten des Cellisten, der ohne jeden Druck voranzuziehen verstand. Im zweiten Satz erzeugte Kian Soltani eine Melancholie, die gewiss niemanden gleichgültig liess – und wie er das hohe d vor der Kadenz hinstellte, zunächst rein und gerade, um gegen das Ende hin in eine kleines Vibrato hinzuzufügen, das war hohe Kunst.

Danach freilich (und nach einer entbehrlichen «Pastorale» von Dmitri Smirnov): das Konzert für Orchester des Polen Witold Lutosławski, ein Werk von unglaublicher Wucht, das in der grandiosen, sehr persönlichen Auslegung durch das Tonhalle-Orchester Zürich und seinen Gastdirigenten Jakub Hrůša zu einer Grösse sondergleichen fand. Messerscharf griffen die musikalischen Ideen ineinander, hart stiessen die instrumentalen Farben aufeinander, Harmonie war ausgeschlossen, es gab einzig energisches Aufstehen, ja Aufbäumen. In welchem politischen und gesellschaftlichen Klima Lutosławski 1950 die ersten Noten zu Papier brachte, zwar befreit vom Nazi-Terror, aber mit Stalin im Nacken, dann jedoch, beim Abschluss der Partitur 1954, im Zeichen jener leichten Lockerung, die zur Gründung des Warschauer Herbstes 1956 führte – das alles war zu hören. Und nicht beiseitezuschieben war der Gedanke an das, was derzeit in der Ukraine geschieht. Solches vermag, mit Hingabe ausgeführt und mit Empathie wahrgenommen, Musik als Kunst wie unterm Brennspiegel zu fassen.

Übrigens geht auch beim Tonhalle-Orchester die Post ab. Der Stolz auf die neue Orgel im Saal fruktifiziert sich in einem eigens dem Instrument gewidmeten Festival. Es zeigt die Orgel als Soloinstrument, indem Christian Schmitt, als Organist spezieller Gast des Orchesters in der zu Ende gehenden Saison, zwei mächtige Werke von Johann Sebastian Bach und Olivier Messiaen spielt, und dies am 4. Juni, bevor dann der Altmeister Herbert Blomstedt ans Pult tritt und die fünfte Sinfonie Anton Bruckners dirigiert. Die Orgel wird aber auch als Instrument für Kammermusik gezeigt: in einer Sonntagsmatinee am 12. Juni im Rahmen der Reihe «Literatur und Musik». Thomas Hampson kommt und lässt sich von Christian Schmitt an der Orgel begleiten, auch Jazz soll sich auf ihr spielen lassen. Mittendrin und als Höhepunkt schliesslich gibt es auch hier den «Sacre du printemps», in dem nicht die Orgel tanzt, wohl aber eine Truppe aus dem Ballett Zürich zusammen mit dem Choreographen Lucas Rodrigues Valente.

Seligkeit und Absturz

Lorenzo Viotti erstmals beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein fulminantes Debüt. Kurz und bündig: drei Stücke in spannungsvoller Beziehung zueinander, ein konzentrierter Verlauf von eineinhalb Stunden ohne Unterbruch durch eine Pause, sorgfältig konzipierte und mit Verve ausgeführte Deutungen – so und nicht anders muss es sein. Und so erübrigt sich auch die regelmässig geäusserte Vorstellung, das Konzert mit «klassischer» Musik bedürfe der Auffrischung.

Zu verdanken ist das – nicht nur, aber auch nicht zuletzt – Lorenzo Viotti, der nun zum ersten und hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich getreten ist. Die Erwartungen waren hoch, denn seit er 2015 den Dirigentenwettbewerb der Salzburger Festspiele gewonnen hat, verfolgt der 32-jährige Schweizer Dirigent eine kräftig nach oben weisende Laufbahn, die ihn inzwischen an die Spitze der Oper Amsterdam und der mit ihr verbundenen Niederländischen Philharmonie geführt hat.

Wien und seine musikalische Seligkeit, das bildete den Faden, dem der Abend folgte. Er hob an mit dem verkannten Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds, das in zart schimmernden Jugendstil-Klängen schwelgt. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg im amerikanischen Exil des Komponisten entstanden und dort nach Kriegsende revidiert, lässt das dreisätzige Stück die goldene Zeit der Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufleben. Immer wieder klingen die orchestralen Farben Franz Schrekers an, die Harmonik greift weit aus, jedoch ohne Verlust an tonaler Bodenhaftung, die Melodielinien kreisen in sinnlichen Bögen immer wieder höchsten Höhen zu. Veronika Eberle versah ihren Part mit betörenden Schwingungen, und das Tonhalle-Orchester stellte sich zusammen mit Lorenzo Viotti so akkurat an ihre Seite, dass die Bildhaftigkeit von Korngolds Musik in aller Farbenpracht heraustrat.

Erstaunlich und bemerkenswert, was der Dirigent mit dem ihm unvertrauten Orchester und in dem für ihn neuen Saal erzielte. Erst recht gilt das für die Suite aus dem «Rosenkavalier», die wohl nicht von Richard Strauss zusammengestellt wurde, den Geist des meisterlich rückwärtsgewandten Werks aber voll und ganz spiegelt. Lorenzo Viotti ist ein junger Musiker, den die durch Theodor W. Adorno geschürte Abneigung gegen Strauss in keiner Weise anficht. Mit dem Tonhalle-Orchester, das ihm in blendender Verfassung begegnete, kostete er die Schönheit dieser locker der Oper entlang gefügten Walzerfolge nach Massen aus. Immer wieder drosselte er die Tempi, als wollte er die Zeit anhalten, als wollte er seinem Publikum vielleicht aber auch Gelegenheit zu geben, in die Musik hineinzuhören, hineinzuhorchen. Der dunkel gefärbte Mischklang tat seine Wirkung; wenn auch noch bisschen mehr Transparenz geherrscht hätte, wenn das feingliedrige Spinnennetz, das Strauss’ Musik auch ausmacht, noch etwas besser zu hören gewesen wäre, das Glück wäre vollkommen gewesen. Aber was soll schon vollkommenes Glück…

Weiter ging es mit dem Wiener Walzer im dritten Schritt des Abends – nämlich mit «la Valse» von Maurice Ravel, unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und durchaus in Anspielung an den Zusammenbruch der kaiserlich-königlichen Wiener Monarchie verfasst. Ungeheuer die Energie, die Viotti aus dem Dreivierteltakt herausholte, blendend die Brillanz, in der er die Instrumentation leuchten liess. Auch hier hätte ein Plus an Innensicht, eine Schärfung der Klangereignisse im Einzelnen, den zerstörerischen Taumel noch stärker fühlbar gemacht.  Dessen ungeachtet schüttelten einen die überraschenden, heftig einfahrenden Schläge auf die grosse Trommel gewaltig durch. Und mit einem Mal stand das scheussliche Geschehen auf den Kriegsschauplätzen in unserer östlichen Nachbarschaft bedrohlich fassbar im Raum.

Das Vergangene als das Gegenwärtige?

John Adams beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

John Adams in der Zürcher Tonhalle / Bild Alberto Venzago, Tonhalle-Orchester Zürich

Tiefe Gräben liegen zwischen dem Musikdenken der Alten und der Neuen Welt – um es einmal so pauschal zu sagen. Als John Cage 1954 bei den Donaueschinger Musiktagen und vier Jahre später bei den Darmstädter Ferienkursen in Erscheinung trat, löste das lange anhaltende Schockwellen aus. Pierre Boulez, einer der Wortführer der Nachkriegsavantgarde, stellte einigermassen ernüchtert fest, dass die durch den Zufall gesteuerten Werke Cages kaum anders klängen als seine eigene, im Geist des Serialismus konzipierte Musik. Sozusagen über Nacht geriet das Gebäude der reinen, allein aus dem Material und seiner Entwicklung gewonnen Tonkunst in Schräglage – und tatsächlich wurde Cage mit seinem unorthodoxen Erfindungsgeist zu einer Galionsfigur jener heterogenen Bewegung, die sich zur Opposition gegen die Darmstädter Ästhetik formierte.

Ähnliche Erdbebenstösse löste die ebenfalls aus den USA stammende Minimal Music aus. Einfache Formeln in mehr oder weniger modifizierten Repetitionen, Verzicht auf einen Verlauf zwischen Anfang und Ende, stabile tonale Harmonik – Parameter dieser Art stiessen bei den Verfechtern der westeuropäischen Avantgarde auf entschiedenen Widerstand. «In C» von Terry Riley, «Drumming» von Steve Reich, «Glassworks» von Philip Glass – Stücke dieser Art wurden hierzulande angefeindet, in gleichem Masse jedoch Kult. Widerspruch regte sich gegen die angeblich geringe Handwerklichkeit, ja die offenkundige Ablehnung der akademischen Basis der europäischen Avantgarde wie auch, und vor allem, gegen die Annäherung der Kunstmusik an die Popmusik. Aus genau denselben Gründen freilich wurde die Minimal Music in Europa breit rezipiert – trotz dem Odium, das dieser musikalischen Richtung anhaftete.

Wenn nun das Tonhalle-Orchester Zürich John Adams, den zwar auch schon über siebzigjährigen, aber doch einer jüngeren Garde der Minimal Music angehörenden Komponisten und Dirigenten, in Residenz einlädt und ihm das Podium für eine ausführliche Werkschau öffnet, so mag das einen Zug ins Populistische aufweisen. «Mag», muss aber nicht. Denn die Begegnung mit Adams im Zürcher Konzertsaal war und ist von hohem informativem Wert. Mit der «Harmonielehre» von 1985, für die, wäre er gesundheitlich dazu in der Lage gewesen, David Zinman nach Zürich hätte zurückkehren wollen, für die dann aber Pierre-André Valade ans Pult gerufen wurde, erschien ein ikonisches Werk im Programm. Eines, in dem sich der Amerikaner als Enkelschüler Schönbergs mit dessen gleichnamigem Buch auseinandersetzt und das so anregend wie individuell tut. Im dritten der drei März-Konzerte mit Musik von John Adams wird dann Paavo Järvi einen bunten Querschnitt durch das Œuvre des Amerikaners vorlegen – von der «Tromba lontana», zwei verhältnismässig frühen Fanfaren (1986), bis hin zu «I Still Dance», dem Beitrag zum Abschiedskonzert von Michael Tilson Thomas 2019 in San Francisco.

Ja, John Adams, der mit seiner spektakulären zeitgeschichtlichen Oper «Nixon in China» von 1987 weit über die USA hinaus bekannt wurde, ist auch zu einer Art Staatskomponist geworden. Für manche Feierlichkeit schrieb er repräsentative Musik, zum Beispiel 2003 zur Einweihung des neuen Konzertsaals von Los Angeles, der von Frank Gehry entworfenen Disney Hall, ein Konzert für elektrische Violine und Orchester. Seinen Auftritt am Pult des gross besetzten Tonhalle-Orchesters Zürich eröffnete er mit «Short Ride in a Fast Machine», einem kurzen Stück von 1986, das er zur Eröffnung eines Musikfestivals in Massachusetts geschrieben hat. Dass die Partitur, wie Adams schreibt, auf der Erinnerung an eine offenbar halsbrecherische Fahrt als Nebensitzer in einem Sportwagen fusst, spielt hier keine Rolle, mit ihrem eingängigen Verlauf weiss die schräge Fanfare immerhin zu amüsieren. Und dass sie das kurz und bündig tut, kommt ihr nur zugute.

Da lag der deutlichste Nachteil der «Naive and Sentimental Music» von 1998 – einem Werk, das in der zeitlichen Ausdehnung und der Grösse der Besetzung an eine Sinfonie Bruckners heranreicht. «Naiv und sentimental» ist hier weder wörtlich noch ironisch gemeint, Adams schliesst vielmehr, intellektuell hochstehend und geradezu bildungsbürgerlich, an eine zur Zeit Schillers geführte ästhetische Diskussion zum Verhältnis zwischen der Kunst und der sie umgebenden Welt an. Sein im Programmheft abgedruckter Text erinnert im sprachlichen Duktus durchaus an die Beiträge, mit denen die Komponisten der Avantgarde an ihre Musik heranzuführen suchten – mit dem Hörerlebnis hatte er wenig zu tun.  Im Raum stand ein sinfonischer Entwurf in drei Sätzen, der in seinen repetitiven Mustern sehr wohl an die Minimal Music erinnerte – im gleichen Masse aber auch nicht, sind in die Wiederholungen doch Brechungen eingebaut, welche die Regelmässigkeit stören und zu komplexen rhythmischen Verläufen führen. War das von einigem Interesse, so wirkten die Anklänge an Gesten der westeuropäischen Spätromantik verbraucht und retrospektiv, aus zweiter Hand, wenn nicht sogar anbiedernd.

Ähnlich ambivalente Eindrücke hinterliess «Must the Devil Have All the Good Tunes?», Adams´ drittes Klavierkonzert von 2018. Zu bewundern gab es in diesem Totentanz einen horrend virtuosen Klavierpart, der das perkussive Element des Instruments brillant nutzt und der angesichts der ausgebauten Orchesterbesetzung ein wahrhaft stählernes Fortissimo verlangt – das Werk ist ja auch für Yuja Wang geschrieben. Víkingur Ólafsson, der kometenhaft aufsteigende, 38-jährige Pianist aus Reykjavik, blieb seiner Aufgabe nicht das Geringste schuldig. Er stieb förmlich durch seinen Part, hielt sich aber jederzeit trittsicher und glänzte mit farbenreicher, felsenfest in sich ruhender Kraft. Ganz besonders eindrücklich geriet ihm freilich die Zugabe, die der Pianist als ein Zeichen an die Adresse all jener ukrainischer und russischer Frauen, die ihre Männer und Söhne verloren haben, verstanden wissen wollte. Das «Ave Maria» des Isländers Sigvaldi Kaldalóns, ein kleines, hochemotionales Stück für Singstimme und Klavier, von Ólafsson für Klavier allein gesetzt, erklang als eine innige, warm leuchtende Preziose. Emphatisch, doch ohne jeden Zug ins Kitschige. Denn deutlich hörbar waren die Oberstimme und der Bass, während die Füllstimmen die Harmonie bildeten, das aber in differenziertester Ausgestaltung auf einer je eigenen klanglichen Ebene taten. So authentisch wahrgenommen, erwies sich das Vergangene als das Gegenwärtige.

Weisheit des Alters, Kraft der Jugend

Ein ertragreicher Monat mit dem Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Seine Aufgabe als Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich nimmt Paavo Järvi mit allem Engagement wahr. In den Monaten, da die Tonhalle Maag der Pandemie wegen geschlossen bleiben musste, blieb er unverbrüchlich an der Seite des Orchesters, machte mit ihm CD-Aufnahmen und erarbeitete er mit ihm Konzerte, die vor leerem Saal stattfanden, aber aufgezeichnet und über die Streaming-Plattform Idagio oder über der Website des Orchesters an eine virtuelle Öffentlichkeit weitergegeben wurde. Als zu Beginn der Saison 2021/22 die Einschränkungen etwas gelockert wurden, konnte Mitte September unter Järvis musikalischer Leitung die Wiedereröffnung der rundum erneuerten Tonhalle am See feierlich begangen werden – mit Mahlers Dritter von 1896 und darauf mit einem Fest für die neue Orgel, dessen Höhepunkt die Dritte von Camille Saint-Saëns aus dem Jahre 1886 bildete, die sogenannte Orgel-Sinfonie. Mit zwei Werken übrigens, die stilistisch denkbar weit voneinander entfernt sind, die sich in ihren Schlusstakten mit den mächtigen Paukenschlägen jedoch überraschend gleichen.

In der Folge blieb Järvi an Bord; er ging Beethoven an (die «Eroica»), er legte Brahms aus, beide Sinfonien Teil des Programms einer notgedrungen abgesagten Tournee nach Japan – doch dann war Pause. Kam es zu einer Phase mit Gastdirigenten, traten unterschiedliche Handschriften heraus, blieb sich das Orchester treu und klang doch immer wieder anders, selbst der renovierte, akustisch verbesserte Saal zeigte sich von verschiedenen Seiten. Dies letztere wahrzunehmen war von besonderem Interesse. So wie ein Orchester mit jedem Dirigenten anders klingt, so verändert sich das akustische Profil eines Saals je nach den auf dem Podium wirkenden Interpreten – und das Mass, in dem das in der Grossen Tonhalle möglich ist, spricht für die exzellente Qualität des aufgefrischten, vom Staub der Jahrzehnte befreiten und mit einem neuen, wieder schwingenden Fussboden versehenen Zürcher Saals. Gewiss, die Differenzen gehen nicht ins Grundsätzliche, sie werden durch minimale Verschiebungen erzeugt. Und die Wahrnehmung dieser Verschiebungen ist natürlich subjektiv geprägt, so dass diesbezüglich keine Wahrheiten verkündet, bloss Denkanstösse vermittelt werden können.

Bei John Eliot Gardiner etwa, der Ende November mit dem Monteverdi Choir beim Tonhalle-Orchester gastierte und «L’Enfance du Christ», das selten gespielte Weihnachtsoratorium von Hector Berlioz, mitgebracht hatte – bei John Eliot Gardiner erhielten die vier eingesetzten Kontrabässe ausserordentliche Präsenz, jedenfalls mehr als die geringe Anzahl der beteiligten Musiker erwarten liess. Nicht dass der Saal vibriert hätte, es ergab sich einfach eine gut fundierte und klar zeichnende Basswirkung – dies im Rahmen eines aufgelichteten, farbenreichen Klangbilds. Keine Frage, dass diesem Effekt Gardiners Erfahrungen im Bereich der alten Musik und der historischen Praxis zugrundliegen, wo ein einzelner Violone bisweilen mehr Fundament zu erzeugen vermag als eine stärker besetzte Gruppe von Kontrabässen herkömmlicher Bauart. Umgekehrt konnte das Tonhalle-Orchester seinerseits von seinen Annäherungen an das historisch informierte Spiel ausgehen, wie es sie mit Frans Brüggen und Ton Koopman erprobt und entwickelt hat. Differenzierter Einsatz des Vibratos bei den Streichern ist hier kein Thema mehr.

Das alles bot beste Voraussetzungen für eine exzellente Wiedergabe eines eigenartigen, in seiner Weise tief berührenden Werks. Es erzählt nicht die Weihnachtsgeschichte in herkömmlicher Art, sondern setzt nach der Geburt Jesu an, da der degenerierte, in seinen wahnhaften Ängsten gefangene König Herodes auf der Suche nach dem ihn bedrohenden Knaben vor nichts zurückschreckt, da Maria und Josef zur Flucht gezwungen sind und in Ägypten um ein Haar kein Nachtlager finden – was wäre aktueller? Es gibt einen Erzähler (Andrew Staples), dazu kommen die sehr plastisch, geradezu opernmässig geformten Figuren von Herodes (William Thomas), Maria (Ann Hallenberg) und Joseph (Ashley Riches), während das Orchester die drei Teile des Werks in vielschichtiger Weise einkleidet. Zwischenspiele gliedern das Geschehen, illustrieren es aber auch nach der Art von Programmmusik – wie etwa in dem reizenden Duo für zwei Flöten und Harfe, das im Haus des ismaelitischen Gastgebers erklingt. Und es fehlt nicht an Chornummern, die von dem staunenswerten Monteverdi Choir in grandioser Weise ausgeführt wurden. Und wie es bei John Eliot Gardiner gerne geschieht, wurde auch mit dem Raum ausserhalb des Konzertsaals gearbeitet; dorthin zog sich die Musik am Ende in einem immer ferner wirkenden Pianissimo zurück.

Die Kunst der hochdifferenzierten Gelassenheit führte auch Marek Janowski vor – und das in einem Programm mit Wagner und Strauss. In grosser Besetzung versammelte sich das Tonhalle-Orchester – aber interessant: Die Bässe trugen weniger auf, als sie es in der kleineren Besetzung bei Gardiner taten. Das war nun eindeutig eine interpretatorische Entscheidung des Dirigenten. Janowski ist bekannt für einen unaufgeregten, nüchternen Zugang zur Musik, die beiden vorbildlichen Gesamtaufnahmen von Wagners «Ring des Nibelungen» sprechen davon; Wagner lebt bei ihm nie von wuchtigem Pathos, schon gar nicht von donnernden Bässen. Das heisst nicht, dass seine Auslegungen sachlich oder gar flach wirkten; die Expressivität entsteht bei Janowski nicht durch interpretatorisches Wollen, sondern gleichsam von selbst aus den vom Komponisten angelegten Strukturen. Dazu kommt eine Souveränität, die sich aus der reichen Erfahrung des 82-jährigen Dirigenten gerade in diesem Repertoire speist. Janowski muss da niemand mehr etwas vormachen, er dirigierte auch praktisch das ganze Programm auswendig. Das Orchester spendete ihm am Schluss denn auch seinen eigenen Beifall.

Vor allem aber pflegt Janowski bei der Musik der deutschen Spätromantik einen feingliedrigen, in hohem Masse durchhörbaren Ton – dem die Akustik der Grossen Tonhalle allen Raum liess: Nach den Momenten der gehobenen, vom Saal problemlos getragenen Lautstärke in den Tagen der Wiedereröffnung erwies sich hier, dass der erneuerte Raum auch die klangliche Kompaktheit relativiert, also auch besser ins Innere der musikalischen Verläufe hineinhören lässt. Welchen Gewinn das bringt, liess beim Abend mit Janowski Richard Wagners «Siegfried»-Idyll hören, das nicht solistisch besetzt war, aber solistisch wirkte; dabei verband sich das ziselierte Klangbild mit einer meisterlich kontrollierten Steigerung des Grundzeitmasses, was zu einer hinreissenden Wiedergabe dieses einzigartigen Geburtstagsgeschenks führte. Ähnlich zurückhaltend, gleichzeitig enorm klangschön gelang Janowski und dem Orchester Vorspiel und Bacchanale aus Wagners «Tannhäuser» – wobei hier auch zutage trat, dass Noblesse und Temperament sich keineswegs ausschliessen. Besonders zum Vorteil gereichte der Verzicht auf Druck und Unterstreichung der Musik von Richard Strauss. Bei «Vier letzten Liedern» war das darum weniger zu spüren, weil Hanna-Elisabeth Müller, die für Anja Harteros eingesprungen war, ihre zugegebenermassen sehr schöne Stimme exponierte und zu wenig vom Wort her agierte. Die Tondichtung «Tod und Verklärung» jedoch gelang vorbildlich.

In der Woche danach folgte auf den Altmeister ein Jungspund. Antonello Manacorda ist zwar auch schon über fünfzig, aber er nimmt sein Podest im Sprint, und seine Zeichengebung strahlt ungeheuer Energie aus. An diesem Abend vielleicht ein wenig zu viel, denn das Tonhalle-Orchester klang bisweilen etwas harsch. Auch das gehört zu den Eigenheiten des Saals: Die im Rahmen der akustischen Neuausrichtung vorgenommene leichte Anhebung der Obertöne führt dazu, dass das Fortissimo rasch scharfkantig wird, dass hier also besonders sorgfältig dosiert werden muss – für einen Gastdirigenten, der beim Tonhalle-Orchester debütiert, keine leichte Sache. Tatsache ist gleichwohl, dass Manacorda, er entstammt der Schule Claudio Abbados, zu den bemerkenswertesten Dirigenten seiner Generation gehört, an seiner jüngst erschienenen Aufnahme der drei letzten Sinfonien Mozarts mit der von ihm als Chefdirigent geleiteten Kammerakademie Potsdam lässt es sich nachvollziehen. Zu hören war es auch bei der Kammersinfonie Nr. 2 von Arnold Schönberg, einem etwas spröden Stück, das Erich Schmid 1950 erstmals zum Tonhalle-Orchester gebracht hat, das seitdem dort aber nie mehr erklungen ist. Manacorda hauchte dem konventionell gebauten, in sehr erweiterter Tonalität gehaltenen Dreisätzer erstaunlich viel Leben ein.

Besonders vital wirkte Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert in d-moll KV 466. Das lag zuallererst an Francesco Piemontesi, dem nach Mitsuko Uchida und Leif Ove Andsnes dritten der für diesen Abend vorgesehenen Solisten. Der Einstieg in das Konzert wirkte sehr gepflegt, in einem natürlichen, schlanken Ton, doch trotz dem frischen Tempo fast etwas brav. Bald manifestierten sich freilich andere Facetten. Wurde deutlich, wie Piemontesi im Solopart Dialoge zwischen einzelnen Stimmen entdeckt und ans Licht bringt – was Manacorda mit dem Orchester brillant aufnahm. Im Mittelsatz griffen dann phantasievolle Verzierungen Raum, auch Nuancierungen des Tempos und quirliges Konzertieren mit dem Orchester, mit dem der Solist jederzeit in engem Kontakt stand. So frisch hört man ein so bekanntes Werk selten. Etwas mehr Mühe machte die Sinfonie Nr. 8, C-dur, von Franz Schubert. Himmlische Längen gab es keine, denn Manacorda schlug in allen Sätzen sehr flüssige Tempi an, das verlieh der klar ins Grosse zielenden Sinfonie einen spezifischen Zug. Nicht restlos überzeugend gemeistert war die Balance; vor allem im Finale traten Trompeten und Posaunen auf Kosten der übrigen Register zu sehr hervor und gerieten die zahlreichen Akkordwiederholungen zu lärmigem Stampfen – ein Problem, das bekannt und schwer zu lösen ist. Nicht auszuschliessen, dass es Antonello Manacorda eines Tages gelingt.

Der Augen Lust, der Ohren Freud

Wiedereröffnung der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Georg Aerni, Tonhalle-Gesellschaft Zürich

Es ist vollbracht. Die Tonhalle Zürich, 1895 eröffnet, 1939 und 1985 neu gefasst, strahlt und klingt wieder. Vier Jahre, unerwarteter Ereignisse wegen eines länger als gedacht, nahmen die Bauarbeiten in Anspruch – eine Periode, während der das Tonhalle-Orchester Zürich das in mancher Hinsicht einzigartige Provisorium der Tonhalle Maag bespielte. Dass diese Phase jetzt abgeschlossen ist, dass das Orchester in sein Stammhaus am See zurückkehren konnte, löst hüben wie drüben, im Publikum, Glücksgefühle aus. Bei dem Abend mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 3, mit dem 15. September 2021 die feierliche Wiedereröffnung der Tonhalle begangen wurde, war es auf Schritt und Tritt zu erleben.

Das heisst: Wer die Tonhalle über ihren Haupteingang an der Claridenstrasse betritt, bemerkt keine Neuerungen. Das Entrée präsentiert sich unverändert, mit der Kasse, den Garderoben, den Toiletten am angestammten Ort. Auch die Treppen hinauf ins obere Stockwerk weisen auf den schnellen Blick keine Veränderung auf – und schon steht man im Foyer. Auch das: im Grunde wie gehabt. Etwas aufgefrischt, in sorgsamer Arbeit, wie es der Denkmalschutz verlangt, und ein wenig neu möbliert. Ist das Foyer bevölkert, und das ist es an diesem kapitalen Abend dank Zertifikat und Maske, und spielt das Wetter nicht besonders mit, so fällt das Wichtigste gar nicht auf. Es sind die Fenstertüren an der Aussenwand. Die führen nämlich auf eine weiträumige Piazza mit Ausblick über den Zürichsee in die Glarner Alpen; die Zubauten, die diese Sicht bis anhin versperrten, sind entfernt worden. Neu erstellt worden ist dafür ein Restaurant mit dem trefflichen Namen «Lux», das sich zur Linken der Piazza erstreckt, sowie eine Freitreppe, die hinunter führt zu dem leider absolut ungastlichen General-Guisan-Quai.

Doch nun geht es stracks hinein in den Saal, in die neuerdings so benannte Grosse Tonhalle – und da kennt das Staunen kein Ende. Wunderbar, anders lässt es sich nicht in Worte fassen. Die Grosse Tonhalle ist ein Saal mit über hundertjähriger Geschichte, das ist zu sehen, denn es wird nach Massen gefeiert. Zugleich ist dieser musikalische Zentralort, wie die in diesem Projekt federführende Architektin Elisabeth Boesch unterstreicht, ein Raum von heute. Einer, der auf der Höhe der Jetztzeit steht, was die technischen Aspekte betrifft: von der Beleuchtung und der Belüftung über die Gestaltung des Orchesterpodiums und die Ausformung der Bestuhlung bis hin zu der neuen Orgel (von der in der kommenden Woche an dieser Stelle die Rede sein wird). In seiner überwältigenden optischen Anmutung freilich nähert er sich, soweit es möglich und sinnvoll war, dem Zustand von 1895 an – ein Akt historisch informierter Baukunst.

Das Grau in Grau, es ist im Zuge der Neugestaltung der Tonhalle im 20. Jahrhundert aufgetragen worden, ist abgekratzt worden, darunter sind die Farbschichten von damals zum Vorschein gekommen. Einer, der diese Entdeckungen von nahe verfolgt hat, ist Elmar Weingarten, Intendant des Tonhalle-Orchesters zwischen 2007 und 2014; mit Begeisterung berichtete er von diesen vorbereitenden Arbeiten. Jetzt sind wir es, die begeistert sein dürfen. In leuchtenden Farben glänzt, mit reichlich Gold prunkt die Grosse Tonhalle. Sie tut es nicht ganz so arg wie der Goldene Saal in Wien, aber doch in einem vergleichbaren Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins – nur dass es in der Schweiz kein Kaiserhaus gegeben hat, dem entgegengetreten werden sollte. Die Säulen strahlen jetzt in einem hellen Rosa, die Decke wird von einem mittleren Beige getragen, und in ihrer Mitte prangt das Gemälde mit dem hellblauen Himmel, den Engeln und den vergötterten Komponisten, unter ihnen Johannes Brahms, der 1895 den Saal mit dem von ihm komponierten und dirigierten «Triumphlied» eröffnet hat. Unerhört festlich, ja geradezu katholisch das Ganze. Und wenn man bedenkt, dass sich an die Tonhalle damals der Zürcher Trocadéro angeschlossen hat… Zürich darf fürwahr stolz sein auf sein neues altes Musik-Bijou, zumal das 170 Millionen Franken schwere Projekt durch eine Volksabstimmung legitimiert worden ist. Anderswo hat das nicht geklappt – Stichwort Genf und Cité de la Musique, doch das ist ein anderes Kapitel.

Nun ist das lustvolle Schauen das eine, das andere und letztlich wichtigere jedoch ist das gute Hören. Was kann der Saal? Was hat die Mitwirkung des hocherfahrenen Münchner Akustikers Karlheinz Müller bewirkt? Was die Wiederherstellung des schwingenden Fussbodens? Mit ihren exorbitanten Anforderungen war Mahlers Dritte genau das richtige Werk, diesen Fragen nachzugehen – wobei auf der Hand liegt, dass sich Orchester wie Dirigent, aber auch das Publikum jetzt erst in den Saal einleben müssen. Die Entscheidung für dieses Werk war aber auch insofern stimmig, als es für das Zürcher Tonhalle-Orchester gleichsam emblematischen Charakter trägt. Mit Mahlers Dritter, 1896 abgeschlossen, 1902 uraufgeführt, hat 1904 der damals 24-jährige Volkmar Andreae am Pult des Tonhalle-Orchesters für Aufsehen gesorgt; zwei Jahre später wurde er als Nachfolger Friedrich Hegars Chefdirigent des Orchesters. Hegar wie Andreae blieben je vier Jahrzehnte lang an der Spitze des Orchesters. Ihnen folgte 1995 David Zinman, der sein Amt, für diese Zeit ungewöhnlich, immerhin fast zwanzig Jahre lang ausübte. Für sein Antrittskonzert hatte er Mahlers Dritte ausgewählt.

Die Sinfonie verlangt alles, was ein Orchester aufzubieten vermag: stärkstes Tutti, hauchzartes Pianissimo, Agilität in allen Lagen, unterschiedlichste Intensitäten der Tongebung, ein Höchstmass an Transparenz selbst in dichten Klangballungen. All das ist zu bester Geltung gekommen. Das Tonhalle-Orchester Zürich, das sich mit einem Engagement sondergleichen seinen Stammsitz zurückgeholt hat, sah sich in ungewöhnlicher Aufstellung mit den Kontrabässen links oben und den acht Hörnern in einer Senke auf der rechten Seite. Kraftvoll und kompakt das Fortissimo, reichhaltig und griffig die Farbgebungen. Mag sein, dass der Klang etwas voller wirkt als im grauen Saal mit seinem versteiften Fussboden, dass die Bässe mit mehr Wärme auftragen und die Höhen der links und rechts vom Dirigenten sitzenden Geigen noch mehr Silberglanz annehmen – das sind erste Eindrücke, die sich noch bestätigen müssen. Wie Paavo Järvi das unbekannte Land des renovierten Saals erkundete, erheischt als Zeichen der Professionalität allen Respekt. Und wie das Orchester aus sich heraustrat, machte schlagartig klar, was man in der gewiss stimmungsvollen Tonhalle Maag entbehren musste. Leuchtend die Soli der Konzertmeisterin Julia Becker, wehmütig das Posthorn, das von hinten, aus dem Verbindungstrakt zwischen Grossem und Kleinem Saal, die Herzen rührte. Eindringlich im vierten Satz der Auftritt der Altistin Wiebke Lehmkuhl, die auch im Leisen äusserst präsent klang, und im fünften jener der Damen aus der Zürcher Sing-Akademie und der Zürcher Sängerknaben. Zum Höhepunkt geriet aber fraglos das Finale, das aus dem Pianissimo des Streichersatzes auf das Grandioso der von den beiden Paukern unterstrichenen Schlusstakte hin entfaltete. Es gab Stehapplaus.

Dieser 15. September 2021 markierte einen Einschnitt; er gab das Zeichen zum Aufbruch. Die klare Strukturierung des Konzertangebots, die Ilona Schmiel als Intendantin entwickelt hat, bleibt ebenso bestehen wie die Vielfalt in den ästhetischen Grundzügen. Aber sonst ist manches neu – zum Beispiel die Grafik, die einen Gewöhnungsprozess verlangt. Rechtzeitig zur Wiedereröffnung ist bei Bärenreiter ein anregend informierendes Buch zur Geschichte der Zürcher Tonhalle erschienen, dazu ist beim Label Alpha eine Box mit fünf Compact Discs herausgekommen, auf denen sich die sechs Sinfonien Peter Tschaikowskys finden. Jetzt geht es mit voller Kraft voran in die neue Saison und in die vertiefte Inbesitznahme des Saals. Als erstes fällt Licht auf die neue Orgel, ein vielversprechendes Instrument aus dem Hause Kuhn in Männedorf: mit der «Orgelsinfonie» von Camille Saint-Saëns und einer siebenstündigen Orgelnacht, die unsere neue Königin von allen Seiten zeigen dürfte.

Tonhalle Zürich 1895-2021. Bärenreiter, Kassel 2021. 190 S.
Peter Tschaikowsky: Sinfonien und andere Orchesterwerke. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 778 (5 CD).

 

Standing Ovation. Bild Gaetan Bally, Tonhalle-Gesellschaft Zürich