In der piccola Scala

Zürich zeigt Verdis «Ballo in maschera»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

In Zürich, so befand seinerzeit ein in der Limmatstadt umtriebiger Intendant, stehe die am nördlichsten gelegene Oper südlicher Ausrichtung. Ganz falsch war die als Selbstrechtfertigung gedachte Feststellung nicht – in gewisser Weise gilt sie auch heute. Nicht ohne Stolz verweist Andreas Homoki auf den Umstand, dass in den zwölf Jahren seiner Intendanz sechzehn Opern von Giuseppe Verdi auf die Bühne gekommen seien. Tatsächlich? Vielleicht fiel es darum nicht auf, weil die Spielpläne am Hause Homokis immer von ausgesuchter Vielfalt waren und weil sich die szenischen Handschriften doch deutlich voneinander abhoben. Jetzt finden wir uns wieder in einem Moment, da die Vielseitigkeit im Angebot des Zürcher Hauses zu fruchtbaren ästhetischen Weiterungen führt.

Auf die alles andere als unumstritten Produktion von Alfred Schnittkes «Leben mit einem Idioten» in der zugespitzt subjektiven szenischen Lesart von Kirill Serebrennikov (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.11.24) folgte mit «Il ballo in maschera» von Giuseppe Verdi keineswegs harmlose Kost, insgesamt aber doch ein Genuss, dem selbst eingefleischte Verdi-Verächter erliegen dürften. Das geht zuallererst auf die Philharmonia Zürich und den von Janko Kastelic vorbereiteten Chor der Oper Zürich zurück; sie tragen beide gleichermassen eine kraftvoll muskulöse Partitur und stellen die Stärken von Verdis Musik in helles Licht. Angefeuert werden sie wie die Solisten auf der Bühne vom Zürcher Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda, der in diesem Repertoire fürwahr zuhause ist und darum aus dem Vollen schöpft. Knackig das Forte, sorgsam ausgearbeitet die Reize der Instrumentation wie die kontrapunktischen Momente – und vor allem: höchst präzis das Rhythmische, zumal die zahlreichen Punktierten, in denen der Abend seine zentrale Energiequelle findet.

Das gilt auch für die auf der Bühne vorgeführte Gesangskunst. Nichts ist da verschliffen, die Töne sitzen exakt auf dem Punkt, der ihnen von Verdi zugedacht war. Und sie verbinden sich mit den denkbar schönsten Timbres und einem Zusammenspiel der Stimmfarben, das Spannung erzeugt und sie bis zum spektakulären, fatalen Schuss am Ende der Oper aufrechterhält. In der Titelpartie des Grafen Riccardo präsentiert sich Charles Castronovo als ein genuiner italienischer Tenor mit Glanz und Schmelz, dazu mit ausgebauter Fähigkeit zu nuancierter Gestaltung. Ihm zur Seite und später, wenn er sich vom treuen zum getäuschten Freund gewandelt hat, als Feind gegenüber steht George Petean als ein mit schwarzem Bariton versehener Renato, der den Umschlag von Vertrauen in Wut packend darstellt. Mit Erika Grimaldi wird Renatos Gattin Amelia durch eine Sängerin mit heller Tongebung verkörpert, während die Wahrsagerin Ulrica bei Agnieszka Rehlis und ihrem herrlich tiefen Alt bestens aufgehoben ist. Für die raschen Umbrüche im Atmosphärischen sorgt souverän Katharina Konradi mit ihrer hohen Beweglichkeit.

Ihre Verwirklichung auf der Bühne finden all diese Auftritte in einer Inszenierung, die nichts anderes möchte, als die Geschichte zu erzählen. Das leuchtet umso mehr ein, als die Spannung, die Verdis Stück innewohnt, im Ansatz der Regisseurin Adele Thomas uneingeschränkt zur Geltung kommt; man spürt auf der Haut, wie sich im zweiten Akt der Knoten schürzt, man atmet mit der Verdichtung im dritten Akt und erschrickt dann angesichts des zwar angekündigten, aber doch überraschend und krass vollzogenen Mords auf der Bühne. Dass sich dieses Attentat inmitten festlichen Gepränges ereignet, gehört zu den Besonderheiten von «Un ballo in maschera». Unverbunden stehen in diesem Werk die Stimmungen nebeneinander, unvermittelt kippen sie – es zu zeigen ermöglicht die Drehbühne der Ausstatterin Hannah Clark. Dass der Schauplatz der Oper der Zensur wegen von Schweden, wo ein König mitten in einem Maskenball ermordet wurde, nach Amerika verlegt werden musste, deutet die Inszenierung subtil an, naheliegendem Gegenwartsbezug geht sie jedoch aus dem Weg. Wichtiger erscheint die Personenführung – und tatsächlich agieren die Darstellerinnen und Darsteller in einer Dringlichkeit, die das Stück aus der durch die Kostüme angedeutete Vergangenheit ins Hier und Jetzt versetzt. Braucht es mehr?

Das Hohelied der Freiheit

«Leben mit einem Idioten» von Alfred Schnittke
im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Nicht Kirill Serebrennikov, sondern Matthew Newlin als Idiot / Bild Frol Podlesnyi, Opernhaus Zürich

Skandal! In grossen Lettern stand das Wort im Raum, seit eine Zürcher Sonntagszeitung ans Licht gebracht hatte, dass am Opernhaus Zürich vor der Premiere von Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten» massiv in Libretto und Partitur des Stücks eingegriffen worden sei. Der Schuldige war rasch ausgemacht, es war der Regisseur Kirill Serebrennikov, der dafür bekannt ist, die von ihm inszenierten Stücke seinen interpretatorischen Intentionen einigermassen rücksichtlos anzupassen. Unterstrichen hat Serebrennikov seine Haltung als Interpret durch einen im Programmbuch abgedruckten Satz, der vielsagender nicht sein könnte. Häufig, so meinte er, empfinde er die Musik in der Oper als einengend, sie setze Grenzen, und er als Regisseur müsse das musikalische Narrativ bedienen – was hier, bei «Leben mit einem Idioten», glücklicherweise eben nicht der Fall sei. In der Folge gingen die Wogen hoch; die Vorstellung verlief dann trotz der durch die ausgelösten Provokationen störungsfrei und wurde bejubelt.

Was war geschehen? 1992, als «Leben mit einem Idioten» durch die damals von Pierre Audi zu neuen Horizonten geführte Niederländische Oper Amsterdam zur Uraufführung gebracht wurde, lag die UdSSR in Trümmern, eine erste frische Brise war hinter den Eisernen Vorhang eingedrungen. In diesem Licht steht «Leben mit einem Idioten», eine Erzählung von Viktor Jerofejew, die unpubliziert bleiben musste und die der Autor für Alfred Schnittke zum Operntext umgeformt hat. Das Sujet war scharf gewürzt, die Amsterdamer Uraufführung geriet zu einem Fest – zu einem Fest der befreiten russischen Kunst. Neben Schnittke und Jerofejew war Mstislaw Rostropowitsch mit von der Partie; er dirigierte, zeigte seine Künste als Tango-Spieler am Klavier und brachte mit seinen Kantilenen auf dem Cello Süssstoff ein. Für die schonungslose Inszenierung hatte der legendäre Boris Pokrowski von der Moskauer Kammeroper gesorgt, für die Ausstattung der berühmte Konzeptkünstler Ilja Kabakov. Und wer mit dem Idioten gemeint war, liess die Lenin-Maske des Wowa, Wladimir, genannten Ungeistes leicht erraten. Dem zusammengebrochenen System der Menschenverachtung wurde hier, auch dank der nicht nur polystilistischen, sondern auch anspielungsreichen Musik Schnittkes, ein Abgesang der denkbar grotesken Zuspitzung gesungen.

Von all dem wollte Kirill Serebrennikov nichts mehr wissen. Wer sich heute noch mit Lenin befassen wolle, fragte er rhetorisch? Und Jerofejew doppelte nach mit der Bemerkung, als Opernfigur sei Putin absolut uninteressant. So wurde denn Hand angelegt und eliminiert, was an den implodierten sowjetischen Alltag von damals erinnert. Wowa, das personifizierte Böse, das genuin Zerstörerische, das in eine Ehe eindringt und dort alles kapital durcheinanderbringt, wurde zu «Schätzchen» umbenannt, der Text da und dort neu gefasst. Nicht das Besondere der Lebenssituation von 1992 sollte aufscheinen, sondern das allgemeine Menschliche; der Idiot in jedem von uns sollte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelangen. Als deutender Ansatz lässt sich das nachvollziehen, zumal vor dem Hintergrund dessen, was Serebrennikov im Reiche Putins widerfahren ist. Zugleich gab die Aufführung im Opernhaus Zürich zu erkennen, in welchem Mass der Oper Schnittkes und Jerofejews dadurch die Zähne gezogen werden. Aus der bitterbösen Satire wurde ein dadaistisches Spektakel. Und aus Schnittkes so eigener, eigenartiger Musik eine etwas gewöhnliche moderne Oper.

Gewöhnlich? Nein, vielleicht doch nicht. Insofern nicht, als «Leben mit einem Idioten» in Zürich nicht als Oper erscheint, sondern als Interpretation. Gewiss, die Aufführung einer Oper ohne Interpretation ist unmöglich; als Möglichkeit gezeigt wird hier dagegen die Aufführung einer Interpretation ohne Oper. Uninteressant ist das nicht, wird das Stück doch aus seiner ursprünglichen Befindlichkeit klar in die Jetztzeit verlagert – und auf eine ganz private Ebene, jenes des Regisseurs. Kirill Serebrennikov ist ein Berserker, der die ihm vorliegenden Stoffe gnadenlos in die Hand nimmt. In Zürich ist der Idiot der Regisseur selbst, Matthew Newlin, der seine ungeheuer anspruchsvolle Partie über der Silbe «Äch» mit fulminanter Geschmeidigkeit singt, erscheint im Outfit Serebrennikovs, mithin als Alter Ego des Bühnenkünstlers. Ihm zur Seite steht in einer stummen Rolle und einer hinreissenden Performance der splitternackte Campbell Caspary, der an einem Höhepunkt des Abends in einem Strahlenkranz erscheint. Um Sexualität als Zentrum des Lebens geht es hier, das ungeschminkt denken und offen zeigen zu können, scheint für Serebrennikov, der inzwischen in Berlin lebt, der Inbegriff seiner persönlichen neuen Freiheit darzustellen.

Ort des Geschehens ist ein kahler, weisser Raum, im Hintergrund durch ein ansteigendes Podest begrenzt, von dem aus der ebenfalls ganz in Weiss gekleidete Chor des Opernhauses Zürich, von Janko Kastelic, Johannes Knecht und Ernst Raffelsberger einstudiert, die Vorgänge auf der Spielfläche wie im antiken Drama kommentiert, ja vorantreibt. Viel zu schauen gibt es auf dieser Spielfläche – so viel, dass das Wirken der Philharmonia Zürich im Graben merklich in den Hintergrund gerät. Untadlig agiert wird unter der Leitung des im Bereich der neuen Musik hocherfahrenen Dirigenten Jonathan Stockhammer, doch der klangliche Biss, der als Gegenpol zur szenischen Bildermacht vonnöten wäre, will sich nicht einstellen. Gesungen und, vor allem, gespielt wird jedoch meisterhaft. Dass für die Partie des Ich kein Geringerer als Bo Skovhus gewonnen werden konnte, erweist sich als Glücksfall; der Sänger, der ebenso sehr als Schauspieler geliebt wird, zieht hier alle Register seines Könnens. Ihrem Bühnengatten in keiner Weise nachstehend Susanne Elmark in der Partie der Frau: hochdramatisch ausgestaltet und in jedem Moment packend verkörpert. Mehr als solide bewältigt werden auch die kleineren Aufgaben des Wärters (Magnus Piontek) und des von der Frau innigst verehrten Dichters Marcel Proust (Birger Radde).

Ist am Ende doch etwas viel verpackt in den Abend? Bleibt ausreichend Raum, im Verfolgen der Produktion der Frage nachzugehen, ob sich das Kopf ab mit der Gartenschere nicht schon vor dem ersten Ton ereignet habe, ob das Bühnengeschehen nicht als rückblickende Horrovision des Ich zu lesen wäre? Wie dem auch sei, wer sich über die Dominanz des szenischen Narrativs beschweren möchte, sieht sich am Ende eines Besseren belehrt. Da erklingt nämlich der ergreifende Chor «Herbst» aus Alfred Schnittkes Musik zum Film «Agonie» von Elem Klimov, die, 1982 vollendet, von den russischen Behörden zerstört wurde, später aber rekonstruiert werden konnte. Womit sich der Kreis in eigener Weise geschlossen hätte.

Hohe Kunst – live

Víkingur Ólafsson und Paavo Järvi eröffnen die Saison des Tonhalle-Orchesters Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Eiligen Schrittes, sichtbar tatendurstig, strebt Víkingur Ólafsson seinem Platz am Steinway zu – der Mann hat etwas vor. Ólafsson gehört nicht zu den Pianisten, die den Betrieb am Laufen halten, er sucht und pflegt das Besondere. Die vergangene Saison, 2023/24, widmete er einem einzigen, allerdings schwergewichtigen Werk: den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs, die er auf einer Reise über den gesamten Globus an insgesamt 88 Abenden aufgeführt hat. Ein Projekt solcher Art ist ihm möglich, weil er tief in die Musik eintaucht, ihr Inneres erkundet und ihren Kontext ausleuchtet; das verleiht ihm die Kraft, seine Interpretationen nicht nur stetig zu verfeinern, sondern sie auch am Leben zu erhalten. An einem Leben notabene, das dem wachen Zuhören auch bei angeblich bekannten Stücken neue Dimensionen erschliesst.

So war es auch beim Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll von Johannes Brahms op. 15, mit dem er die Saison 2024/25 des Tonhalle-Orchesters Zürich und zugleich seine Präsenz als Künstler im Fokus eröffnete. Sehr getragen ging Paavo Järvi den Kopfsatz an: maestoso, wie Brahms es verlangt, aber nicht basslastig, nicht schwer im Klang, wie es so oft geschieht. Dies erkennbar in Absprache mit dem Solisten, dem es nicht um Kraft und Geläufigkeit ging – beides ist bei Ólafsson in mehr als ausreichendem Mass vorhanden –, sondern um das Singen und das Artikulieren. Herrlich schwangen die Bögen aus, und zugleich waren sie durch Satzzeichen gegliedert, woraus sich eine spezifische Vitalität ergab. Besonders eindringlich geriet das Adagio des Mittelsatzes: erfüllt von Emotionalität und getragen durch eine ausgeprägte Gemeinsamkeit des Musizierens zwischen dem Solisten und dem Tonhalle-Orchester, das mit letzter Aufmerksamkeit und allem Erfolg bei der Sache war. Auch im abschliessenden Rondo dominierte das «non troppo», mit dem Brahms die Ausführungsbezeichnung «Allegro» ergänzt hat – vielgestaltiges Konzertieren stellte sich hier ein. Der Einstieg in die Zürcher Residenz Víkingur Ólafssons geriet fulminant; er machte neugierig auf die Fortsetzung.

Zu Wort kam am Eröffnungsabend in der Grossen Tonhalle Zürich auch Anna Thorvaldsdottir, Jahrgang 1977, aus Island stammend wie Víkingur Ólafsson. Sie nimmt in dieser Saison die Funktion des Creative Chair ein. Seit Paavo Järvi an der Seite von Ilona Schmiel das künstlerische Sagen hat, treten Regionen in Erscheinung, die hierzulande unterbeleuchtet sind, und mit ihnen weniger vertraute ästhetische Ansätze. «Archora», das Orchesterstück von 2022, bot Musik, die ganz aus der Tiefe kommt und aus ihr eine Fülle an Farbwirkungen gewinnt. Strukturelles Denken scheint hier weniger im Vordergrund zu stehen, der Gegensatz etwa zur Neuen Komplexität Brian Ferneyhoughs könnte grösser nicht sein. Auch die Arbeit an Entwicklungsverläufen, wie sie die zentraleuropäische Musik so entscheidend geprägt hat, ist offenbar nicht von Bedeutung; das Stück, mit dem sich Anna Thorvaldsdottir vorstellte, erscheint mir eher wie Magma, das sich unablässig verändert und gerade dadurch Interesse weckt. Auch hier blickt man weiteren Begegnungen mit Spannung entgegen.

Schliesslich, als orchestrales Prunkstück, «L’Oiseau de feu», die erste Ballettmusik, die Igor Strawinsky 1910 für Serge Diaghilev geschrieben hat; an diesem Abend wurde sie in Form der Konzertsuite von 1919 gespielt. Ein Fest für das Tonhalle-Orchester Zürich, es zeigte sich in Bestform. Das geht auch auf Paavo Järvi zurück, der die Fäden sehr geschickt in der Hand hielt. Mit kleinen, nur das Nötigste, das jedoch klar anzeigenden Bewegungen steuerte er das Orchester, das darum nicht zu früh in Ekstase geriet. Die dynamischen Werte waren auf das Sorgfältigste kontrolliert, die Farben der raffinierten Instrumentation Strawinskys funkelten um die Wette. Und als es dann in im Finale ums Ganze ging, stand der Klang grossmächtig im Raum, freilich ohne je die Grenzen der akustischen Kapazität zu tangieren. Grandios. Und ein Erlebnis, wie es sich eben nur live, nur im Konzertsaal einstellt.

Ungleiche Paare

«Ariadne auf Naxos» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Komponist (Lauren Fagan), hingerissen und mitgerissen von Zerbinetta (Ziyi Dai) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Viel ist es nicht, was aus den langen Jahren der Intendanz Alexander Pereiras am Opernhaus Zürich in Erinnerung geblieben ist. Sicher gehört dazu «Ariadne auf Naxos» von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, eine Produktion aus dem Jahre 2006. Erinnern Sie sich? In dem der Seria-Oper vorgelagerten Buffa-Vorspiel trat der Intendant höchstselbst als jener überhebliche Haushofmeister, der namens seines gnädigen Herrn das Sagen zu haben glaubt, in Erscheinung; etwas laienhaft geriet der Auftritt, aber er hat Spass gemacht. Noch mehr Spass machte das Hauptstück der Seria-Oper, für das der Regisseur Claus Guth seinen Bühnenbildner Christian Schmidt dazu gebracht hat, den zentralen Raum der «Kronenhalle» am Zürcher Bellevue eins zu eins nachzubilden; die wüste Insel, die sich Hofmannsthal gedacht hatte, wurde hier zu einem äusserst gehobenen Ort, an dem sich Zürcher Prominenz, darunter wiederum der Intendant in Person, zum Soupieren versammelte, dabei aber einige Zwischenfälle hinzunehmen hatte und schliesslich das Feld räumte. «Keine Sorge», sagte Andreas Homoki, der zur Eröffnung seiner letzten Spielzeit als Intendant des Opernhauses Zürich «Ariadne auf Naxos» inszeniert hat – «keine Sorge» sprach er ins Mikrophon, als er nach der Pause vor den Vorhang trat: «ich spiele nicht mit». Es gebe nur eine Indisposition anzukündigen. Die Pointe sass.

Sie war nicht die einzige an diesem ebenso erheiternden wie berührenden Abend. Mit einem mitten in den noch erleuchteten Zuschauerraum einfahrenden Schlag des Orchesters hebt das Vorspiel an. Es bietet einen Blick in das turbulente Theater-Leben hinter dem Vorhang – dem wunderschönen, tiefroten, mit goldenen Bordüren versehenen Hauptvorhang, der kräftig am Spiel mitwirkt. Temporeich und in expliziter Körpersprache, allerdings ohne Grenzüberschreitung zur Charge, entwickeln sich die Vorbereitungen für die Soirée im Palais des reichsten Mannes von Wien. Spielleiter, von Hannah Clark in das theatergemässe Schwarz gekleidet und mit Funkgerät versehen, ist der Haushofmeister, der jeden in den Senkel stellt – der grosse Kurt Rydl, der das Singen aufgegeben, sich von der Bühne jedoch nicht verabschiedet hat, macht das herrlich. Zu seinen Opfern zählt der Komponist, der «Ariadne auf Naxos» geschaffen hat und jetzt gespannt der Aufführung entgegensieht, vom Haushofmeister aber ultraschlechte Nachrichten entgegenzunehmen hat – was Lauren Fagan in dieser Hosenrolle an vokalem Ausdruck wie an Körpersprache bietet, setzt hohe Massstäbe. Den Ärger des Künstlers vermag auch sein Lehrer nicht abzumildern, doch immerhin erreicht Martin Gantner mit seiner souveränen Präsenz, dass die Sache nicht implodiert. Keine einfache Aufgabe angesichts der Forderung des Mäzens, dass «Ariadne auf Naxos» nicht nur eine Ergänzung durch eine Opera buffa erhalten soll, sondern dass beide Stücke zur gleichen Zeit gespielt werden sollen.

Ein Riesen-Tohuwabohu ergibt sich da über die anfangs leere, sich aber zusehends füllende Bühne von Michael Levine. Techniker, auch sie alle in Schwarz, arrangieren raumhohe Wände, rollen einen Teppich aus, fahren Wagen mit Möbeln und Kleiderständer heran. Dazu gibt es Eifersüchteleien, Zusammenstösse, Überraschungen aus dem Bühnenhimmel, dass es eine Art hat. Im Zentrum die grosse, von Homoki sorgsam als eine Versammlung von Individuen ausgestaltete Truppe rund um die kecke Zerbinetta; was hier an wohlorganisiertem Durcheinander zu sehen ist, entspricht durchaus dem Gewusel der Instrumentalstimmen in der Musik von Richard Strauss. Zusammengehalten wird das alles durch Markus Poschner am Pult der klein, aber speziell besetzten Philharmonia Zürich. Poschners Strauss-Ton neigt klar zum Muskulösen, bisweilen gar Handfesten, was die kammermusikalische Anlage der Partitur unterspielt. Zugleich ist aber doch sehr viel zu hören – von den speziellen Farbeffekten bis hin zu den witzigen Anspielungen und Zitaten. Hinreissend ist aber vor allem das Temperament, mit dem Poschner das Vorspiel durchzieht und es in seiner ganzen Verrücktheit zeigt. Er tut es so eindringlich, wie Homoki in seiner szenischen Zubereitung eine grosse Liebeserklärung an das Theater abgibt. Ausgesprochen gut gelaunt begibt man sich in die Pause – sehr wohl in der Annahme, dass man mit dem Vorspiel die heimliche Hauptsache kennengelernt hat.

Dabei: Hauptsache ist der Operneinakter «Ariadne auf Naxos», ist die von Hofmannsthal etwas breit ausgelegte Reflexion über Verlust, Verwandlung und Neubeginn. Die wüste Insel ist hier ein in der schwarzen Leere stehendes Ehebett, auf dem die trauernde Ariadne liegt, wenn sie nicht zu ihren Medikamenten greift. Doch zuerst dringt noch die Zerbinetta-Truppe ins Geschehen – mit ihrem Versuch, die Trauernde über den Verlust des geliebten Theseus hinwegzutrösten (und die Verbindung zum Vorspiel herzustellen). Da schlägt denn die Stunde der Chinesin Ziyi Dai, die nicht nur die halsbrecherischen Koloraturen der Zerbinetta fabulös meistert, sondern dazu noch akrobatisches Geschick zeigt. Dann aber der Auftritt von Daniela Köhler als Ariadne, eine junge Sängerin mit grosser, allerdings auch zu berückendem Piano fähiger Stimme, mit hervorragender Diktion und bestechender szenischer Präsenz. Ihr begegnet in John Matthew Myers als der erlösende Halbgott Bacchus ein Tenor mit Kraft und Glanz. Klar, der Hauptteil wirkt weniger sexy als das Vorspiel, darin liegt ein Problem des Stücks, das auch die virtuose Zürcher Produktion nicht zu lösen vermag, zumal sich der orchestrale Ton von jenem des Vorspiels kaum abhebt. Und das Thema der Verwandlung, es bleibt abstrakt. Dass sich zwei Menschen begegnen und durch die Begegnung mit dem Gegenüber bei gewahrter Individualität zu etwas anderem werden, das ereignet sich jeden Tag. Was die Verwandlung jedoch genau bedeutet, wie sie zu schaffen wäre, das lässt Hofmannsthal nicht nur Ariadne fragen, sondern auch sein Publikum bedenken. Vielleicht sogar über den pathetischen Schluss und jenen Moment hinaus, da der Haushofmeister/Spielleiter in einer letzten Erinnerung ans Vorspiel nochmals auf der Bühne erscheint und mit einem Fingerschnippen den Blackout auslöst.

Vom Leben, vom Tod

Monteverdis «L’Orfeo» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Orfeo (Krystian Adam) und La Speranza (Simone McIntosh) an der Pforte zur Unterwelt / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Die Toccata zu Beginn des Stücks, sie erklang als ein regelrechter Weckruf – und als solcher wirkte und wirkt sie bis heute. Fast fünfzig Jahre sind vergangen, seit das von Claus Helmut Drese geführte Opernhaus Zürich mit der Produktion von «L’Orfeo» unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle den entscheidenden Anstoss zur Wiederentdeckung Claudio Monteverdis, ja eines ganzen Teils der Musikgeschichte gegeben hat. Die alte Musik hat sich zu einem eigenen Sektor im musikalischen Leben entwickelt, mit eigenen, spezialisierten Interpreten, eigenen Festivals, eigenen Labels und vor allem mit einer eigenen, ebenso in die Tiefe wie in die Breite gewachsenen Stilistik. Obwohl Harnoncourt, rasch zur Galionsfigur der Bewegung geworden, von allem Anfang an betont hatte, es gehe nicht um musikalische Archäologie, sondern um die Wiedergewinnung einer vergessenen Kunst für das Hier und Jetzt, musste doch einige Zeit vergehen, bis die historisch informierte Aufführungspraxis diesen Aspekt zuzulassen und zu verinnerlichen in der Lage war. Heute hat das Spektrum der Interpretation alter Musik ungeahnte Vielfalt erlangt.

Zu erleben ist das in der neuen Produktion von Monteverdis «L’Orfeo», die das Opernhaus Zürich in seinen Spielplan aufgenommen hat. Geradezu verhalten, zurückgenommen wirkt die eröffnende Toccata; sie wird erst von den Zinken und den Posaunen allein, dann von den Streichern mit dem Basso continuo, schliesslich vom gesamten Orchester dargeboten. Der Weckruf war gestern, heute gilt es der Interpretation. In der feinfühligen, gescheiten Sichtweise des Regisseurs Evgeny Titov setzt sie auf eine Dramaturgie des Rückblicks, und das nimmt des hauseigene Barockorchester La Scintilla mit Ottavio Dantone als Dirigenten am Cembalo in beeindruckender Weise auf. Das Leise herrscht vor, man muss die Ohren spitzen, kann dann aber eintauchen in eine musikalische Welt voller Farben – dies nicht zuletzt dank dem reich besetzten, geschmeidig agierenden Basso continuo. Ist die Toccata vorbei und hat auch die allegorische Einleitung durch La Musica, die in der Darstellung der wunderbaren Sopranistin Josè Maria Lo Monaco Trost und Kraft verspricht, ihr Ende gefunden, sieht man Orfeo auf einem Steinbrocken sitzen und mit einer Pistole spielen, neben sich den blütenweissen Sarg mit der toten Euridice drin.

Es ist das Gegenteil dessen, was Monteverdis Partitur vorgibt. Die ausgelassene Hochzeit zwischen Orfeo und Euridice, der fatale Schlangenbiss, Orfeos Gang in die Unterwelt, der endgültige Verlust Euridices, das hat alles schon stattgefunden. Was den neuen Zürcher «Orfeo» bestimmt, ist der Blick zurück in die unmittelbare Vergangenheit mit den Momenten des allerhöchsten Glücks und der allertiefsten Verzweiflung. Ist das Eintauchen in die seelische Verfasstheit eines Menschen, in der es nichts als Wunden gibt. Das Bühnenbild von Chloe Lamford und Naomi Daboczi spricht davon. Es zeigt zwei riesige verkohlte Baumstämme oder, wenn man will, zwei enorme dunkelgraue Lavabrocken. Der Eingang zur Unterwelt wird angedeutet durch eine frei im Raum stehende, zweiflüglige Tür in barocker Formensprache; ihr Medaillon über dem Türrahmen zeigt das Gesicht des Schiffers Caronte, das mit einem Mal zu singen beginnt. Dem prachtvollen Bariton von Mirco Palazzi, dem man wenig später in der Partie des Totengottes Plutone wieder begegnet, hält Orfeo all seine Kunst entgegen – Krystian Adam gestaltet seine Partie aus ungeheurer Empathie und einer Emotionalität heraus, die ganz direkt berührt. Jedenfalls erliegt ihr nicht nur der Fährmann am Flusse Styx, sondern auch Proserpina; was Simone McIntosh mit ihrem lieblichen Timbre an Wärme in das ganz in kalter Sachlichkeit gehaltene Intérieur der Chefetage im Totenreich einbringt, ist von ergreifender Wirkung.

Eine Schrecksekunde nur dauert die Grenzüberschreitung, der von Plutone ausdrücklich verbotene Blick, den Orfeo seiner Euridice schenkt und sie dadurch endgültig verliert. Miriam Kurowatz, von der Kostümbildnerin Annemarie Woods ganz in Weiss gekleidet, gibt die Euridice als Lichtgestalt, Orfeo dagegen versinkt in schwere Depression. Ottavio Dantone nimmt den Ansatz des Regisseurs subtil auf; zart und weich klingt dieser «Orfeo», darin liegt auch ein Moment jenes Trostes, den La Musica zu Beginn angesprochen hat. Orfeo hilft es nicht. Wenn zum Schluss sein Vater Apollon auftritt, kommt durch das sternenglitzernde Kostüm des Gottes und die glänzenden Lineaturen seines Darstellers Mark Milhofer ein helles Licht in das düstere Geschehen. Und noch einmal zeigt die von Marco Amherd vorbereitete Zürcher Sing-Akademie, in welch entscheidender Weise sie die Produktion belebt – diesmal aus hoch gelegenen Logen im halb erleuchteten Zuschauerraum. Dann: Blackout, ein Schuss im Dunkeln, eine letzte Kadenz – von lieto fine keine Spur. Ein Abend geistreich interpretierenden Musiktheaters.

Carmen und Don José – beide in sich gefangen

Bizets Opera-comique im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Escamillo und Don José im Hahnenkampf, Carmen schaut zu / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Ach ja, die Zigarre. Grossformatig prangt sie zurzeit von den Zürcher Plakatwänden – versteht sich: Das Opernhaus Zürich zeigt «Carmen», die Opéra-comique von Georges Bizet. Doch die Zigarre, sie tritt nicht auf. Wenn die Glocke läutet und sich die Arbeiterinnen auf dem Platz vor der Zigarrenfabrik eingerichtet haben, wird ein Tableau vivant sichtbar. Und jede Menge Rauch. In der Hand tragen die Damen jedoch – Zigaretten. Ein kleiner witziger Hinweis auf die Aufführungstradition des vielgespielten Werks und zugleich, erzielt durch Verfremdung, ein Zeichen der Absage. Tatsächlich versucht Andreas Homoki in seiner Inszenierung von «Carmen» nach Massen, von den Klischees der Ausstattung, die sich dem Werk angelagert haben, wegzukommen und einen eigenen Weg der Annäherung zu finden. Dabei geht er, ähnlich wie in seiner Arbeit an Richard Wagners «Ring des Nibelungen», auf eine Art Urzustand zurück: auf den Moment der Uraufführung von «Carmen» im Frühjahr 1875 an der Opéra-Comique in Paris.

Für dieses legendäre Haus hat Homoki im letzten Jahr seine Inszenierung entworfen – als eine Hommage an einen geschichtsträchtigen, in seiner Atmosphäre bis heute einzigartigen Ort des musikalischen Theaters. Von Paris ist diese szenische Einrichtung jetzt nach Zürich gekommen, und mit ihm die Pariser Bühne selbst. Der leere Bühnenraum als Ort des Geschehens, das war die Idee. Um sie auch in Zürich zum Tragen zu bringen, wurde die Pariser Bühne mit ihren dunklen Backsteinwänden kurzerhand nachgebaut – ein neuerliches Meisterstück. Und hinzugefügt hat der Bühnenbildner Paul Zoller einen wunderprächtigen Theatervorhang in leuchtendem Rot, mit bunten Verzierungen und goldenen Seilzügen. Einen Vorhang eben, hinter dem sich die Geheimnisse des Theaters verbergen. Nicht zuletzt diente er dem Regisseur dazu, den Raum zu gliedern und das szenische Geschehen zu rhythmisieren.

In diesem Ambiente zeigt Homoki die tragische Geschichte von Carmen, die Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle Prosper Merimées gebaut haben, auf einer Zeitschiene, die vom Jahr der Uraufführung bis in unsere Gegenwart reicht: als ein Geschehen, das, wie das immer aufscheinende Licht im Zuschauerraum unterstreicht, uns sehr direkt angeht. Im Eröffnungsakt dominieren neben den aufmüpfigen Arbeiterinnen keine Soldaten, sondern Damen und Herren aus der gehobenen Pariser Gesellschaft des Fin de siècle, die befremdet zuschauen, zugleich aber rasch in Raufereien ausbrechen können. Herrliches Schauvergnügen bieten die Kostüme. Überdies sind sie so individuell geschneidert, wie deren Träger als einzelne Persönlichkeiten in der Gruppe gezeichnet sind – eine grossartige Leistung des von Janko Kastelic hervorragend vorbereiteten Chors der Oper Zürich und des in ihn integrierten Kinderchors. Mittendrin und doch in je eigener Weise verloren: Don José, der Unteroffizier, und Carmen, die nicht so sehr als Zigeunerin denn als eine aus innerstem Antrieb heraus selbstbestimmte Frau erscheint.

Der zweite Ort auf der Zeitschiene liesse sich in Annäherung an die Aufführungstradition als das Lager einer Schmugglerbande identifizieren, doch erinnern die traurigen Gestalten, die da ihre Habseligkeiten herbeitragen, auch an Bilder von versehrten Gesellschaften; tatsächlich blickte, wie Volker Hagedorn im Programmbuch nachdrücklich schildert, die Bevölkerung von Paris im Jahr der Uraufführung von «Carmen» auf schwierigste Zeiten zurück. Hier schlägt die Stunde von Mercédès (Niamh O’Sullivan) und Frasquita (Uliana Alexyuk) auf der einen Seite, von Le Dancaïre (Jean-Luc Ballestra) und Le Remendado (Spencer Lang) auf der anderen; ihre Ensembles finden zu spritziger Virtuosität. Derweil spitzt sich der Konflikt zwischen Carmen und Don José bedrohlich zu, dies unter dem Einfluss des Stierkämpfers Escamillo, der sein männliches Selbstbewusstsein in fast beiläufiger Ruhe ausspielt und auch im Moment der Niederlage gegen Don José seine Würde elegant zu wahren weiss – stimmlich wie darstellerisch bringt Łukasz Goliński dieses Rollenporträt zu umwerfender Wirkung. Nicht minder eindrucksvoll erscheint Natalia Tanasii in der Partie der treuherzigen Micaëla; mit ihrer starken vokalen Ausstrahlung und ihrer spürbaren Empathie holt sie die Botschafterin aus Don Josés früherem Leben aus dem Nebel der Nebenrolle.

Das Finale schliesslich spielt im Hier und Jetzt. Partygänger mit Flaschen und Konfetti bevölkern die Bühne; ohne Platz in der Arena, verfolgen sie den Einzug der Stierkämpfer am Fernsehschirm. Schon leert sich der Raum, stehen sich Carmen und Don José gegenüber – einsam, in ihren Positionen gefangen. Und sticht der Mann zu: ein Femizid, wie er heute erschreckend alltäglich geworden ist. Das Schaudern bleibt in dieser schönen, allerdings auch etwas beiläufigen Produktion jedoch aus.  Die Zeitschiene, die sich Andreas Homoki ausgedacht hat, entfaltet nicht jene bezwingende Überzeugungskraft, die sie an den Tag legen müsste. Zudem sorgt Gianandrea Noseda am Pult der Philharmonia Zürich zwar für sorgfältige Artikulationen und klare Farbgebungen, noch mehr aber für die Kraftmeierei, die bei dieser Partitur so nahe liegt. Und ihr so wenig gut tut.

Besonders ins Gewicht fallen die Probleme jedoch bei der Besetzung der Hauptrollen. Marina Viotti ist vieles, nicht zuletzt eine Sängerin mit hörbarem Potential. Eine Carmen ist nicht, für diese Rolle fehlen ihr noch das szenische Temperament, die musikalische Ausstrahlung, die Fähigkeit zu Expansion und Veräusserung. Viele ihrer Arien, gerade die Habanera am Beginn, bleiben farblos; die Todesarie beim Kartenlegen im dritten Akt gerät ihr dagegen äusserst berührend. Bei Saimir Pirgu liegt der Fall anders. Mit seinem baritonal gefärbten, muskulösen Tenor gibt er einen Don José, dem das Scheitern ins Leben eingeschrieben ist und der darauf mit explosiver Wut reagiert. Dass er ein zutiefst verunsicherter Mann ist, der Mutter kaum entwöhnt, dem Sturm von Carmens Weiblichkeit und ihrem ungeheuren Selbstbehauptungswillen keinen Augenblick lang gewachsen, das bleibt unterbelichtet. «Carmen» ist freilich mehr als eine Studie zur Emanzipation der Frau und ihren Folgen.

Im Feuer, und wie

Rafael Payare beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Mit dem Konzert gehe es bergab, bald werde das immer ältere Publikum ausgestorben sein. Nach Diversität wird deshalb gerufen – nach Frauen, nach musikalischen Menschen mit anderer als weisser Hautfarbe. Auch nach geteilter Verantwortung und, vor allem, nach der Abkehr von Traditionen im Repertoire und den Darbietungsformen. Ein bisschen etwas davon verwirklichte das Gastspiel von Rafael Payare beim Tonhalle-Orchester Zürich. Der nicht mehr ganz so junge Dirigent, er ist heute 44 Jahre alt, stammt aus Venezuela und hat wie Gustavo Dudamel seine künstlerischen Wurzeln im sozial-musikalischen Projekt El Sistema von José Antonio Abreu. Sein Instrument ist das Horn, im Símon Bolívar Symphony Orchestra nahm er die Position des Solohornisten ein. Dort kam er auch in Kontakt mit Claudio Abbado, später assistierte er Daniel Barenboim an der Staatsoper Unter den Linden Berlin. Inzwischen hat er in der Landschaft der grossen Orchester hat er seinen Platz gefunden; seit der Saison 2022/23 ist er als Musikdirektor beim Orchestre Symphonique de Montréal tätig, dies als Nachfolger von Kent Nagano.

Da hat es also einer geschafft. Hat er es geschafft, weil er hierzulande postulierten Anforderungen an Diversität genügt, weil er Protektion von erster Stelle aus genossen hat? Vielleicht. Die Herkunft des Dirigenten aus Südamerika und seine exorbitante Haarpracht, sie mögen ihre Wirkung getan haben; dazu kam ein wundervolles Ohrwurm-Programm mit Peter Tschaikowskys erstem Klavierkonzert und der Tondichtung «Ein Heldenleben» von Richard Strauss – der Saal war jedenfalls ausgezeichnet besetzt, und das keineswegs nur mit den gerne geschmähten Vertretern des Silbersees, sondern auch mit Turnschuh-Publikum. Jenseits dessen wurde vor allem aber deutlich, dass Rafael Payare über eine immense Begabung verfügt und dass er sie in fruchtbarer, ja begeisternder Weise einzusetzen versteht. Mit einer Ausstrahlung sondergleichen nimmt er das Orchester mit, seine Blicke, seine Gesten sind für alle da, wenn es erforderlich ist. Und seine Einsicht in die Partituren, in deren Strukturen wie deren Emotionen, dringt noch und noch ans Licht.

So steigerte denn Payare die Brillanz, die in Tschaikowskys berühmtem b-Moll-Konzert angelegt ist, zu einem mit Ah und Oh aufgenommenen Feuerwerk. Es konnte das tun, weil er in Kirill Gerstein mit einem Solisten zusammenarbeitete, dem, so der Eindruck, keine Grenzen gesetzt sind. Enorm seine Fingerfertigkeit (die ihm ganz selbstverständlich erlaubte, immer wieder Blickkontakt zu konzertierenden Orchestermitgliedern aufzunehmen), überwältigend seine Kraft (die freilich den Steinway an seine Grenzen brachte), ja überhaupt seine Phantasie, mit der er das perkussiv angelegte Soloinstrument zum Singen und zum Jubeln in den allerschönsten Klangfarben brachte. Und unter der anfeuernden Zeichengebung Rafael Payares kostete das Tonhalle-Orchester Zürich seinen Part nach Massen aus. Glücklichstes Zusammenspiel und vollendetes Glück des Zuhörens.

Nicht weniger muskulös ging Payare das «Heldenleben» an. Selber ein Musiker, der mit ungeheurem Körpereinsatz dirigiert, dem Orchester aber nirgends den Atem nimmt, stellte er heraus, dass mit dieser ausladenden, überreich mit Ideen und Farbwirkungen genährten Tondichtung ein Komponist vors Publikum trat, der dem Ungestüm seiner Jugendlichkeit freien Lauf liess (und der unter anderem genau dafür von seinen Kritikern gescholten wurde). Das Orchester liess sich das nicht zweimal sagen und stürzte sich mit hörbarer Lust ins Getümmel – kraftvoll, doch jederzeit kontrolliert in Dynamik, Balance und Färbung. Mit seinen virtuos bewältigten solistischen Einlagen zeichnete der Konzertmeister Andreas Janke Madame Strauss als eine ebenso zänkisch aufbegehrende wie hingebungsvoll säuselnde Gattin, die Trompeter verliehen den Reden der Feinde, die den Komponisten verfolgen, alle Schärfe, und schliesslich öffnete sich der Raum für jene Behaglichkeit, die zu den musikalischen Kennzeichen von Richard Strauss gehören. Mag sein, dass in einem helleren, lockerer gefügten Klangbild, wie es etwa Lorin Maazel so blendend pflegte, der ironische Boden, auf dem das in Musik gegossene Selbstporträt ruht, noch besser spürbar wird. Davon ist Rafael Payare noch weit entfernt, und das darf so sein.

Wie auch immer: Diversität hin oder her – in der etwas aufgeheizten Debatte fällt gerne unter den Tisch, dass es beim Musizieren weder um Geschlecht noch um Hautfarbe noch um Herkunft geht, sondern einzig und allein: um die Qualität des Tuns.

«Amerika» – 1914, 1964, 2024

Roman Haubenstock-Ramatis visionäres
Musiktheater im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Herwig Prammer, Opernhaus Zürich

Es ist kaum zu glauben. Wer das Stück in der phänomenalen Produktion des Opernhauses Zürich erlebt, könnte es für eine Schöpfung unserer Tage halten. Tatsächlich aber stammt «Amerika» von Roman Haubenstock-Ramati aus den Jahren 1962 bis 1964 – dass das Werk bei seiner Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin, deren Intendant Gustav Rudolf Sellner es in Auftrag gegeben hatte, einen Skandal auslöste, erstaunt nicht. «Amerika» nach dem unvollendeten Roman Franz Kafkas ist das Gegenteil einer Literaturoper, ja einer Oper überhaupt; in seiner Radikalität war Haubenstock-Ramatis musiktheatralischer Entwurf seiner Zeit um Lichtjahre voraus. Das mag auch verstehen lassen, warum das radikale Stück nach der Uraufführung bisher nur zweimal auf die Bühne gekommen ist, 1992 als eine verdienstvolle Tat des damaligen Intendanten Gerhard Brunner (und mit dem Haubenstock-Schüler Beat Furrer als Dirigenten) an der Oper Graz und dann 2004 in Bielefeld.

«Amerika» basiert auf einem Libretto, das vom Komponisten selbst anhand einer Dramatisierung von Kafkas Roman durch Max Brod erstellt worden ist. Es handelt von einem Mittelschüler namens Karl Rossmann, der von seinen Eltern auf die Straße gestellt worden ist, nachdem ihn ein im Haushalt tätiges Dienstmädchen erfolgreich und folgenreich verführt hat. Die Geschichte wird allerdings nicht linear als ein in sich geschlossener, logischer Ablauf erzählt. Er empfinde, so hält Haubenstock-Ramati im Vorwort zur Partitur fest, Kafkas Roman als das «Bild eines Traums», in dem sich Reales, Eindeutiges mische mit Verwischtem, Unklarem. Der Erzählstrang ist daher ersetzt durch eine rasche Abfolge von Episoden – von Momentaufnahmen, die sich in der Gesamtschau zwar zu einem erkennbar nach unten führenden Weg fügen, deren eigentliches Dasein jedoch in immer wieder aufs Neue überraschenden Wendungen liegt. In Wendungen übrigens, die das Zynische nach der Art des klassischen jüdischen Witzes in sein chaplineskes Gegenteil kehren. Darin liegt die eine Seite des manifesten Unterhaltungswerts von Haubenstock-Ramatis «Amerika».

Zur Diskontinuität aufgesplittert, und hierin ist die andere Seite des kitzligen Vergnügens begründet, sind auch die Mittel und Wege der musikalischen und szenischen Vermittlung. Gewiss, es gibt eine Bühne, sogar eine Guckkastenbühne, und einen Graben mit einem Orchester darin. Indessen greift «Amerika» weit über die hergebrachte Disposition eines Opernhauses hinaus. Was Haubenstock-Ramati komponiert hat, ereignet sich überall im Raum, oben wie unten, hinten wie vorne und an den Seiten. Vieles davon wird nicht ad hoc erzeugt, sondern stammt aus vorab erzeugten Aufnahmen; für die Sprechchöre zum Beispiel greift das Opernhaus Zürich auf Material, das mit dem Wiener Vokalensemble Nova unter der Leitung von Colin Mason für die Aufführung von Bielefeld entstanden und hier einer technischen Aufbereitung unterzogen worden ist. Ausser Kraft gesetzt ist auch die in der Oper übliche Dominanz der Kantilene. Gesungen wird kaum, eher wird deklamiert; wenn dann aber doch gesungen wird, geschieht es zum Teil in halsbrecherischen Koloraturen: Gesang an der Grenze zum Singbaren.

Das alles wird vom Team des Opernhauses Zürich unter der Leitung des in diesem Repertoire erfahrenen Dirigenten Gabriel Feltz und unter Mitwirkung der Tontechniker Oleg Surgutschow (Klangregie) und Raphael Paciorek (Sounddesign) in erstklassiger Qualität dargeboten. Haubenstock-Ramatis Stück war in Zürich ja nicht zum 200. Todestag Kafkas 2024 geplant, sondern weit früher, in jenem Jahr, da die Pandemie ausbrach und eine Aufführung von «Amerika» bestenfalls als Streaming hätte gezeigt werden können. Weil der Effekt des Räumlichen in diesem Fall zu sehr gemindert worden wäre, wurde die Produktion verschoben. Gleichzeitig hat sich die Zürcher Oper zur Zeit der verordneten Schliessung eine Surround-Anlage vom Feinsten eingerichtet, um den Klang von Chor und Orchester aus der extern gelegenen Probebühne in den Zuschauerraum zu übertragen – eine Investition, die sich schon damals, jetzt aber erneut ausgezahlt hat.

Multimedialität der besonderen Art herrscht in dieser Produktion von «Amerika» denn auch auf der Bühne. Bild, still und bewegt (eindrucksvoll die Videos von Robi Voigt), Licht (Elfried Roller), Szenerie (scharf charakterisierend die Kostüme der Ausstatterin Christina Schmitt), Aktion und Laut verbinden sich in eigenartiger Dichte – und das in forderndem Tempo. Die von Takao Baba choreographierten Tanzeinlagen sind von hypnotisierender Anziehungskraft: sagenhaft, was die zwölf Tänzerinnen und Tänzer leisten. Und grossartig, wie deren Art der körperlichen Agilität auf das musikalisch tätige Ensemble ausstrahlt: Alle bewegen sie sich so, wie es Opernsängerinnen, Opernsänger niemals täten. Dazu die durch die Verstärkung unterstützte Kraft der Diktion, in der die Konsonanten für einmal wichtiger sind als die Vokale. So kommt es zu starken Auftritten. Sie verteilen sich über das ganze Ensemble; herausragend etwa Ruben Drole oder Robert Pomakov, die mit ihren kraftvollen Timbres den von ihnen verkörperten autoritären Figuren bedrohliche Züge verleihen.

Da kommt er also an in jenem Amerika, in dem sich zu verlieren Karl Rossmann verurteilt ist. Den Koffer lässt er fürs erste stehen, weil er seinen Schirm vergessen hat. Auf der Suche begegnet er einer Unmenge an gehetzten Menschen und verirrt sich. Im Untergrund des Schiffs klärt ihn der Heizer über die wahren Verhältnisse im Land der grossen Träume auf. Und schon steht er vor den Zollbeamten, die als brutal schnarrende Roboter erscheinen. Nicht Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten zählen als Grundlage des Daseins, im Vordergrund stehen vielmehr Macht und deren Ausübung – selbst bei Klara (der zierlichen Mojca Erdmann mit ihrer silberhellen Stimme), die den unbeleckten Jüngling aufs Grausamste quält. Und der, Paul Curievici zeichnet das gekonnt nach, verliert mehr und mehr seine (noch schwach ausgebildete) Individualität, passt sich in Gang und Geste zunehmend seiner Umgebung an. Das sehr durchzogene Bild von der Neuen Welt, das Kafka zeichnet, bringt Haubenstock-Ramati scharf auf den Punkt. Sebastian Baumgarten denkt es scharfsinnig weiter. In seiner Inszenierung erscheint «Amerika» als die erheiternde Revue, die das Stück sein will – als ein Kaleidoskop, dessen wilde Drehungen einen schwindlig machen. Zugleich treten jedoch von Beginn an die Züge jener hässlichen Fratze, mit der wir uns mehr und mehr konfrontiert sehen, in Erscheinung. Womit «Amerika» von 1914 und 1964 endgültig bei Amerika von 2024 angelangt ist.

Klamauk der Extraklasse und bitter-süsse Traurigkeit

Lehárs «Lustige Witwe» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Nun ja, sie hat keinen besonderen Ruf: die Operette im Allgemeinen und im Speziellen «Die lustige Witwe». Man muss sich nicht eigens auf Theodor W. Adorno berufen, es war schon so, als die Operette Franz Lehárs kurze Zeit nach ihrer sensationellen Uraufführung Ende Dezember 1905 am Theater an der Wien vom Stadttheater Zürich auf den Spielplan genommen wurde. Im dritten Morgenblatt vom Dienstag, den 4. Dezember 1906, brachte die «Neue Zürcher Zeitung» unter der Rubrik «Lokales» einen handfesten Verriss. «Fürchterlich gelangweilt» habe ihn diese Operette, und es gebe bekanntlich «nichts Schlimmeres als eine langweilige Operette» – worauf der Autor E.F. gleich freimütig zugibt, nach dem zweiten Akt das Weite gesucht zu haben. Der Text lasse Geist wie Anstand vermissen, während die Musik fast durchwegs von «gemeiner Trivialität» sei: «Die Dürftigkeit in der Anlage und die Liederlichkeit in der Ausführung der einzelnen Stücke» seien nicht zu überbieten.

Bös gebrüllt, Löwe – aber hat er nicht Recht, ein bisschen wenigstens? Wie in der «Fledermaus» von Johann Strauss (Sohn), wo die Spannung nach dem Auftritt des trunkenen Gefängniswärters Frosch rasch nachlässt, dreht sich «Die lustige Witwe» besonders im dritten Akt merklich (und nicht allzu schnell) im Kreis – das Opernhaus Zürich vermag es nicht zu ändern. Und das musikalische Material, von Lehár aus dem Kern einer aufsteigenden Quart heraus entwickelt, zeigt immer wieder Erschöpfungszustände. Abhilfe schüfe da vielleicht ein entschiedener, wenn nicht zuspitzender interpretatorischer Zugriff, doch das scheint Patrick Hahns Sache nicht zu sein. Der junge Dirigent hält das Geschehen ordentlich zusammen, überlässt die Philharmonia Zürich aber weitgehend sich selber. Er führt zu wenig und schafft dort, wo es möglich und sogar sinnvoll wäre, nicht ausreichend Transparenz. So dominiert neben den feschen Ensemblenummern eine leicht verstaubte Larmoyanz.

Dazu kommt, dass das Paar im Zentrum des Stücks nicht mit glücklicher Hand besetzt ist. Was für ein überragender Hans Sachs in Richard Wagners «Meistersingern», was für ein düsterer Golaud in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy, doch hier, als Danilo, wirkt Michael Volle darstellerisch eigenartig ungelenk und stimmlich oftmals zu massiv, bisweilen gar dröhnend. Das fällt umso mehr auf, als Marlis Petersen, die grandiose Lulu vom Dienst, die überragende Medea in der Wiener Uraufführung von Aribert Reimanns gleichnamiger Oper, die Partie der begüterten, kurz nach der Verehelichung zur Witwe gewordenen Hanna Glawari mit Noblesse angeht, die Lineaturen sorgsam auszeichnet und ohne jeden Druck agiert – eben ganz aus ihrem Inneren heraus. Das passt haargenau zur Spielanlage, die sich der Regisseur Barrie Kosky, ein Operetten-Spezialist erster Güte, für seine Zürcher Inszenierung der «Lustigen Witwe» ausgedacht hat.

In vollkommener Dunkelheit beginnt der Abend. Erhellt sich die Bühne ganz leicht, gleitet, einem Traumbild gleich, auf der Drehbühne ein Flügel heran, an ihm und auf ihm eine nachsinnende Frau mit Marlene Dietrich-Frisur. «Wie von Zauberhand bewegt», so der Werbeslogan von damals, erklingen Erinnerungen an «Die lustige Witwe», hier gespielt von Franz Lehár selbst und wiedergegeben von einem Reproduktionsklavier. Erstaunlich die exorbitanten Freiheiten, die sich der Komponist genommen haben soll, gerade in der Nuancierung der Tempi und in der Ausformung des Dreivierteltakts – der Dirigent hätte sich davon eine Scheibe abschneiden können. Hier aber geht es nicht um die musikalische Anregung, sondern um die treffliche szenische Metapher, welche die eine Ebene von Koskys Auslegung bildet. Es ist die einer tiefen, unauflösbaren Melancholie.

Doch dann bricht unvermittelt das Operettengetriebe aus. Stürmen sie herein, die Herren in ihren Fräcken, die sich um die gar nicht lustige, aber vielversprechend ausstaffierte Witwe balgen – hinreissend, was die Tänzer, später auch die Tänzerinnen, durch den Choreographen Kim Duddy unvorstellbar auf Trab gehalten, an Agilität hergeben. Das ist die andere Ebene, die Kosky zeigt: der Klamauk und das Schaugepränge, zumal in den verspielten, opulenten Kostümen, die Gianluca Falaschi entworfen hat. Zu den Hauptdarstellern gehört hier ein bühnenhoher, vollkommen geräuschlos und ohne jedes Stocken auf einer schneckenförmig gewundenen Schiene laufender Vorhang, der die Bühne teilt und der Situation entsprechende Räume schafft – der Bühnenbildner Klaus Grünberg hatte die Idee, die Technik brachte das Knowhow ein, dem Publikum blieb das Staunen.

Getragen wird der Klamauk von der im Stück angelegten, von Barrie Kosky in der für ihn kennzeichnenden Drastik herausgearbeiteten Spannung zwischen Frauen, die wissen, was sie wollen und was nicht, und Pappkameraden von Männern, die von einem Fettnapf in den anderen geraten. Herübergebracht wird diese Spannung von einem hochmotivierten Ensemble. Zu ihm gehört Martin Winkler, der die Figur des vertrottelten Gesandten Mirko Zeta mit einer grandiosen Begabung für den Slapstick verkörpert. Ihm tanzt seine Frau Valencienne quicklebendig auf der Nase herum, mit ihrem strahlkräftigen Timbre und ihrer Spielfreude führt es Katharina Konradi blendend vor. Eine Nummer für sich ist ihr Geliebter Camille de Rosillon – denn Andrew Owens besticht durch einen glänzenden, obertonreichen Tenor und darüber hinaus durch ein absolut stupendes artistisches Geschick.

Ob das Bild der emanzipierten Frau, welche die Männer in ihrer patriarchalen Selbstgewissheit und ihren Unfähigkeiten hinter sich zurücklässt, tatsächlich den Grund für den sagenhaften kommerziellen Erfolg der «Lustigen Witwe» abgab, mag dahingestellt bleiben. In seiner starken, persönlichen Deutung vertritt Barrie Kosky diese Ansicht. Das ist sein gutes Recht, auch wenn es ihm damit nicht gelingt, aus der «Lustigen Witwe» ein besseres Stück zu machen. Von starker Wirkung ist jedoch die Fokussierung auf das in die Jahre gekommene Paar, das in seine Erinnerungen verstrickt ist und am Ende dennoch zueinander findet. In Zürich mündet das nicht in den furiosen Schlussgesang der Partitur, sondern in ein ganz zartes Geigensolo, das dorthin entschwindet, woher anfangs der Flügel gekommen ist. Auch das noch einmal einer jener Theatereffekte, für die Barrie Kosky geliebt wird.

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich