Ein Musiktheatermärchentraum

«Siegfried» zur Fortsetzung im Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Das Waldvögelein (Rebeca Olvera) und Siegfried (Klaus Florian Vogt) im Walde / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Mit keinem Werk der Operngeschichte, auch nicht mit Mozarts «Don Giovanni», ist eine derart komplexe, derart heftig diskutierte Wirkungsgeschichte verbunden wie mit dem «Ring des Nibelungen». Bis heute und in anhaltender Intensität fordert und irritiert Richard Wagners Tetralogie die Musiker, die Theatermacher, das Publikum. Die Leerräumung der Bühne und die Einführung der geneigten Scheibe als Spielort, von Wieland Wagner in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, der pointierte Einbezug gesellschaftspolitischer Allusionen durch Patrice Chéreau und die klangliche Auflichtung des Orchesterparts durch Pierre Boulez im Bayreuther «Jahrhundertring» von 1976, die Blüten des Regietheaters, die in den letzten Jahrzehnten einigen erhellenden und zahlreichen entstellenden Deutungsversuchen  Raum geschaffen haben – das alles gehört ebenso zum «Ring» wie die Aufregungen, die aufschäumen, wenn Wotan den Aktenkoffer des Kapitalisten mit sich führt oder Alberich keinen richtigen Tarnhelm herzeigt. Im Opernhaus Zürich freilich herrscht einhellige Begeisterung: im neuen «Ring», genauer: bei «Siegfried», wo ein drolliger Bär über die Bretter eilt (Kompliment an Dominique Misteli), wo ein sehr zeitgemässer Drache, pardon: ein Dragon seine Nüstern bläht und dann sein Leben aushaucht (Gratulation an den «Tierpfleger» Marius Kob), wo in der Esse die Flammen machtvoll aufschiessen und danach das Schwert bedrohlich glüht (der nie um eine Lösung verlegenen technischen Abteilung unter der Leitung von Sebastian Bogatu gebührt endlich auch einmal ein Kranz).

Wenn somit alles vorhanden ist, was gemäss Textbuch vorhanden sein muss, und umgekehrt nichts von jenen Modifikationen zu erleiden ist, die eifrige Regisseure vorzunehmen lieben – wo stehen wir dann? Erliegen wir dann nicht dem Irrtum, man könne auch bei einem Grossentwurf wie dem «Ring des Nibelungen» sozusagen zum Punkt Null zurückkehren und das Nachleben, das zum Werk gehört wie seine Niederschrift, mir nichts, dir nichts ausblenden? Und mehr noch: Liegt diesem Irrtum nicht eine retrospektive Haltung zugrunde, ja gar eine Negierung der Notwendigkeit, ein Kunstwerk immer und immer wieder neu im Licht der jeweiligen Gegenwart zu lesen – die Werke also notfalls, wie es im Sprechtheater zum Leidwesen vieler Besucher geschieht, zu dekonstruieren und sie der Jetztzeit gemäss neu zusammenzusetzen? Je weiter der neue Zürcher «Ring» voranschreitet, desto deutlicher wird, dass von all dem nicht die Rede sein kann. Auch in «Siegfried» verzichtet der Zürcher Hausherr Andreas Homoki als Regisseur nämlich darauf, seine eigenen Ansichten zur Tetralogie in Szene zu setzen; er schaut vielmehr einfach mit aller Genauigkeit hin und zeigt, was er in Wagners Text liest und in seiner Musik hört. Lesen und hören tut er freilich mit hellwachem Geist. Und sichtbar werden lässt er die Ergebnisse dieses Wahrnehmungsprozesses mit genuinem Theatersinn, ausserdem mit verspielter Phantasie und erheiternder Ironie. Wie ein Märchen zieht «Siegfried» an einem vorüber; die vier Stunden reiner Aufführungsdauer gehen im Nu vorbei – vielleicht mit Ausnahme des dritten Aufzugs, gegen dessen Ausführlichkeit nun einmal kein Kraut gewachsen ist.

Ganz langsam hebt sich der Vorhang, wenn das düstere Vorspiel zum ersten Aufzug anhebt. Eindrücklich die Farbenspiele, die mit denen die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Gianandrea Noseda aufwartet; was der Solist an der Kontrabasstuba da an Pianissimo-Klängen herzaubert, ist von aussergewöhnlichem Format. Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung führt weiter, was in «Rheingold» und «Walküre» angelegt wurde. Die gründerzeitlichen Räume auf der Drehbühne wirken etwas enger als in den vorangehenden Teilen – oder erscheinen sie nur so, weil die Farben dunkel gehalten sind und das Mobiliar, inzwischen in herbe Unordnung geraten, gewachsen scheint? Tatsächlich befinden wir uns in einer Art Kinderstube. Siegfried, stürmisch zwar, trägt noch die Eierschalen hinter den Ohren, Klaus Florian Vogt zeigt das sehr schön. Er nimmt den Anfang ausgesprochen lyrisch, wird dabei vom Orchester jedoch mehr als einmal bedrängt. Überhaupt lässt Noseda gerne die Muskeln spielen, was bisweilen von umwerfender Wirkung ist, aber auch Fragen aufwirft; warum zum Beispiel die tiefen Bläser immer wieder so hässlich schnarrend dominieren, ist nicht zu verstehen. Siegfried jedenfalls ist da und dort kaum zu hören – nicht weil Vogt seinen wandelbaren Tenor mit Blick auf die Anforderungen der Partie schont, sondern weil er die unbekümmerte Naivität, auch die Verletzlichkeit des jungen Siegfried heraustreten lässt. So sehr er seinen Ziehvater verachtet, sucht er, wenn er vom Tod seiner Mutter erfährt, doch auch Schutz in dessen Armen.

Mime wiederum ist mehr als eine Karikatur, er ist ein Mensch, wie es heute nicht wenige gibt: zerfressen von der Gier nach dem Ring und nicht eben uneitel, seinem Vorhaben aber nicht wirklich gewachsen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, dessen Timbre gegenüber früheren Zeiten milder geworden ist, kennt sich in dieser Partie aus wie in seiner Hosentasche; virtuos bringt er sie über die Rampe. Besonders gelingt das in dem von betörenden Sequenzen getragenen Fragespiel, in das ihn der unbekannte und unerwünschte Wanderer verwickelt. Tomasz Konieczny glänzt hier erneut mit unerhörter stimmlicher Pracht und Lust am Auskosten jeder einzelnen Silbe, vor allem aber auch mit Schauspielkunst vom Feinsten. Am Ende finden sich die beiden ungleichen Kontrahenten in dem inzwischen etwas abgewrackten Prunksaal mit dem langen Besprechungstisch, in dem sich der Wanderer zu erkennen gibt, nur versteht es Mime nicht. Genau dort erlebt Wotan/Wanderer seinen endgültigen Niedergang: nach der packend gelingenden Begegnung mit dem ahnungslosen, aber umso selbstgewisseren Siegfried und dem Schlag von dessen Schwert auf den Speer des Göttervaters.

Vorangegangen waren Momente zauberhaften Theaters. Der Zwist zwischen Alberich (Christopher Purves) und Wotan, der Auftritt des zierlichen Waldvögeleins von Rebeca Olvera und der Kampf Siegfrieds mit dem in aller Körperfülle erscheinenden Drachen, dem dann mit David Leigh ein in der Produktion neuer, aber sehr valabler Fafner entsteigt, schliesslich auch die für Wotan ungut ausgehende Besprechung mit Erda (Anna Danik). Dann aber wechselt die Szenerie, verabschiedet sich die Drehbühne für einen Augenblick zugunsten einer vornehm getäferten Wand in edelstem Graugrün und dem Felsen mit der schlafenden Brünnhilde – auch ein diskreter Hinweis auf den Unterbruch in der Entstehungsgeschichte der Tetralogie. Seinen Abschied nimmt hier auch gleichsam der Regisseur, er überlässt das Feld dem Text und der Musik. Einmal mehr darf man staunen über das psychologische Einfühlungsvermögen Wagners lange vor Freud. Und darf man die Kunst bewundern, mit der Klaus Florian Vogt, noch immer frisch, und Camilla Nylund als die aus tiefem Schlaf erwachende Brünnhilde die schwierige Annäherung von Mann und Frau meistern. Wie Siegfried erschrickt ob dem Anblick der Frau ohne Brünne und dann in tiefer Angst nach der Mutter ruft, wie sich Brünnhilde vor der Berührung durch den Mann fürchtet, und das keineswegs nur aus Gründen des Statusverlusts, wie feurig die beiden endlich das wie zufällig bereitstehende Bett in Besitz nehmen – alles feinsinnig ausgearbeitet, hochspannend und tief berührend.

Sinnreich und sinnlich: Wagners «Walküre» im Opernhaus Zürich

Von Peter Hagmann

 

Sieglinde, Siegmund und der unsichtbare Gast / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Vielleicht funktioniert er doch, der Weg, den Andreas Homoki für seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» am Opernhaus Zürich eingeschlagen hat. Nicht ein weiterer Deutungsversuch der Tetralogie, nicht eine neuerliche Transposition der Geschichte in eine Lebenswelt, die uns näher scheint als jene der Vorlage, auch nicht der Ersatz der von Wagner erfundenen Metaphern durch solche aus der Hand des Regisseurs soll auf die Bühne gebracht werden. Im Vordergrund soll die Sache selbst stehen, ja die Sache allein, nämlich der Text und seine Spiegelung in der Musik – das ist die Ambition im neuen Zürcher «Ring». Ein werkimmanenter Zugang also. Er mag altväterische Züge tragen, ja geradezu aus der Zeit gefallen sein, jedenfalls im Widerspruch stehen zu der dominierenden rezeptionsgeschichtlichen Tendenz. Er mag sogar aufrichtig unmodern sein in dieser Zeit, da auf den Bühnen, zumal jenen des Sprechtheaters, das Dekonstruieren und das Überschreiben um sich greift – all das mag sein. Aber: Er überzeugt. In der «Walküre» wirkt Homokis scheinbar retrospektiver, in Wirklichkeit aber revolutionärer Zugang klar, anregend und ausgesprochen berührend.

Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung geht vom gleichen Muster aus wie im «Rheingold». Auf den beiden Seiten einer Trennwand stellt die Drehbühne zwei Spielorte zur Verfügung, die Flexibilität und Wandelbarkeit ermöglichen. In ihrer Anmutung sind sie erkennbar in der Entstehungszeit der Tetralogie verankert. Was es zur Entfaltung der Geschichte braucht, ist vorhanden; der Stamm in der Behausung Hundings fehlt ebenso wenig wie der herrschaftliche Salon für den Disput um Ehre und Ehe, wie der Wald für den entscheidenden Kampf oder der Fels, auf dem in Tiefschlaf gefallen werden kann. Wichtiger, ja entscheidend ist die Schärfe, in welcher der Regisseur zusammen mit den Darstellerinnen und Darstellern die einzelnen Figuren zeichnet – hinreissend ist das. Massgebliche Unterstützung kommt dabei aus dem Graben, wo die Philharmonia unter der Leitung von Gianandrea Noseda für schlanken und farbenreichen, ausgezeichnet modellierten, auch emphatischen Klang sorgt. Der Dirigent wandelt auf denselben Pfaden wie der Regisseur; auch Noseda, er hat die Partitur übrigens ausgezeichnet im Griff, wird konkret. Hell leuchtet der musikalische Satz, die Leitmotive treten markant heraus, und dass die Tuba die Kontrabässe so oft unterstützt, versteckt der Dirigent keineswegs – wie er überhaupt der orchestralen Muskelspannung nichts schuldig bleibt.

Auf dieser Basis wird fassbar, dass es in der «Walküre» nicht so sehr um Brünnhilde geht als vielmehr um Wotan – und seinen selbstverschuldeten Fall. Das wird gleich zu Beginn angelegt, wo sich Wotan als unsichtbarer Spielleiter geriert, der die Szene arrangiert hat und das Heft noch voll in der Hand hält. Stösst er seinen Speer in den Boden, erklingt bedrohlicher Donner; benötigt Sieglinde ein Glas Wasser, ist er damit zur Stelle. Und später erscheint er persönlich bei Hunding zuhause, um das Siegmund versprochene Schwert in den Stamm zu stossen – Homoki setzt hier in Theater um, was Wagner mit seinen instrumentalen Anspielungen tut. Zugleich deutet sich an, in welchem Mass die Frauen die Feder führen. Sieglinde (Daniela Köhler bringt ein herrlich ausgebautes Timbre ins Spiel) erkennt ihren Bruder auf Anhieb, das lässt ihr Mienenspiel erkennen, das zeigt aber auch ihr Verhalten: Wie im Orchester das Schwertmotiv erklingt, küsst sie den verdutzten Besucher auf den Mund – das ist Musiktheater. So plausibel es wirkt, es nimmt der erotisch aufgeladenen Begegnung zwischen den Geschwistern doch ein wenig das Feuer. Obwohl ihn Eric Cutler als Siegmund untadelig besingt, kann der Lenz stürmischer wirken, als es hier geschieht. Erfrischend gelingt die Szene gleichwohl, zumal Christof Fischesser zwar als ein veritabler Herr der Hunde erscheint, dabei aber weniger einen ungehobelten als einen aufrecht in sich ruhenden, selbstgewissen Hunding gibt.

In der Folge geht es rasant bergab mit Wotan. Fricka (Patricia Bardon) liest ihrem Gatten derart scharf die Leviten, dass er sich förmlich aufbäumt. Deutlich wird da, welch grossartiges Rollenporträt Tomasz Konieczny in dieser Produktion gelingt. Virtuos dreht und wendet er den Speer, den er später, das ist nur logisch, eigenhändig in Siegmunds Leib stösst. Und brillant – auch vokal, mit seiner Strahlkraft, mit seiner genüsslich auskostenden Diktion – verkörpert er seine Seelenzustände. Schon merklich geknickt, wenn auch noch immer herrisch, erklärt der Göttervater seiner Wunschmaid den von der Gattin aufgezwungenen Plan. Brünnhilde aber – Camilla Nylund zeigt und singt es bezwingend – ist von Anfang an reine Liebe, innig verbunden mit dem Vater und dann entzündet durch die Unbedingtheit der Liebe Siegmunds; darum erfüllt sie nicht den Befehl, wohl aber den Wunsch Wotans und wird sie zu einer Zukunftsfigur. Bewegend der Abschied des Vaters von seiner Tochter – nicht zuletzt darum, weil die Inszenierung offenkundig macht, dass sich Wotan in diesem Moment auch von einem Teil seiner selbst zu lösen hat. Wenn der Feuerzauber ausklingt, geht der Gott in den Feierabend. Seinen Speer lässt er stehen.

Schöne heile Theaterwelt

Wagners «Rheingold» als Vorabend zum neuen Zürcher «Ring»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Aufführung ohne Interpretation, geht das? Immer und immer wieder ist es behauptet worden – von Igor Strawinsky, der seine Musik lieber dem mechanischen Musikinstrument Pleyela überantwortete als den Interpreten seiner Zeit, auch von einem unverdächtigen Dirigenten wie Günter Wand, der für sich in Anspruch nahm, in seinem Tun ausschliesslich auf den Notentext zu reagieren. Und nun hat auch Andreas Homoki, der Intendant des Opernhauses Zürich, diese Fährte aufgenommen. Seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen», die jetzt mit «Rheingold» eröffnet worden ist und im Lauf der beiden kommenden Spielzeiten vollendet werden soll, möchte nicht eine Deutung der von Wagner erdachten Vorgänge zeigen, sondern die Vorgänge selbst. Der Regisseur mithin nicht als Interpret, sondern als Spielleiter, der szenisch lebendig werden lässt, was Wagner zu Papier gebracht hat. Zurück zum Text selbst, zu den Ursprüngen, so lautet Homokis Maxime – eine Haltung, die sich nicht zuletzt an der Tatsache orientiert, dass Wagners «Ring» zu grossen Teilen in Zürich entstanden ist.

Wenn sich nach den ersten, noch im Dunkeln erklingenden Takten des Vorspiels die Szene erhellt, wird die Drehbühne sichtbar: der Ring als Kreis und das Kreisen als die Beweglichkeit der Fluten. Zu sehen sind in der Ausstattung von Christian Schmidt hochweiss gehaltene Räume klassizistischen Zuschnitts; später werden sie mit schwerem gründerzeitlichem Mobiliar bestückt – was vielleicht noch keine Interpretation darstellt, aber immerhin einen Hinweis auf die Entstehungszeit der Tetralogie vermittelt. Bald schon zeigt sich, wie der leere Raum der Bühne gefüllt werden soll: mit Bewegung und Plastizität der Körpersprache. Das ist überzeugend gelöst – ebenso trefflich, wie der Konversationston des Stücks herausgestrichen wird. Bisweilen werden allerdings Grenzen sichtbar. Die Kissenschlacht, die sich Uliana Alexyuk, Niamh O’Sullivan und Siena Licht Miller als die fröhlichen Rheintöchter liefern, zieht sich merklich in die Länge, während Christopher Purves als ein unerhört stimmgewaltiger Alberich seinen Drang nach dem Weiblichen ziemlich dick auftragen muss und dabei an die Grenze zur Charge gerät.

Format kommt ins Spiel, wenn ab der zweiten Szene Wotan das Heft in die Hand nimmt. Die obligate Augenbinde trägt der Göttervater nicht, wohl aber den wallenden Mantel und in der Hand den Speer mit den Vertragsrunen. Mit Donnerstimme setzt Tomasz Konieczny seine Positionen durch – ein umwerfendes Rollenporträt. Fricka vermag ihrem herrscherlichen, erst wenige Zeichen der Schwäche zeigenden Gatten nicht das Wasser zu reichen, dafür bleibt Patricia Bardon zu unbestimmt, aber es folgt ja noch «Die Walküre» mit dem für Wotan ungünstig ausgehenden Ehestreit. Etwas schwach auch Matthias Klink, der die Partie des Loge aus dem neuen Stuttgarter «Ring» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 15.12.21) nach Zürich gebracht hat; der Scharfsinn seiner diplomatischen Winkelzüge gegenüber Mime (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) und Alberich fällt ab vor dem Hüpfen und Springen, das ihm der Regisseur abverlangt.

Getragen wird die Produktion von einem sehr soliden Ensemble. Die musikalischen Überraschungen ereignen sich jedoch im Orchestergraben. Dort führt mit Gianandrea Noseda ein Neuling in den Gefilden von Wagners «Ring» und ein Dirigent italienischer Muttersprache das Zepter. Hervorragend tut er das. Kraftvoll und satt klingt die Philharmonia Zürich, aber in keinem Moment zu laut, die Verständlichkeit ist jedenfalls hoch. Das geht auf die Sprachpflege zurück, deren Einfluss nicht genug gewürdigt werden kann, vor allem aber auf den sorgsamen Umgang mit der musikalischen Struktur: mit der klanglichen Balance im verhältnismässig kleinen Raum des Zürcher Hauses und dem Netz der Leitmotive. Immer wieder und mit Erfolg ruft Noseda dem Zuschauer in Erinnerung, dass das «Rheingold» auch eine Art Sinfonischer Dichtung darstellt. Der Dirigent scheut denn auch nicht davor zurück, Motive an entscheidenden Stellen krass herauszuheben – was man da und dort auch als etwas penetranten Wink mit dem Zeigefinger empfinden mag.

Nur, es passt zu einer Inszenierung, die insgesamt doch nicht wenig an ihrer Ambition leidet – am Versuch, die schwer befrachtete Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» ausser Acht zu lassen und stattdessen mit heiterer Naivität und frischfröhlicher Vitalität zu Werk zu gehen. Das mag im Ansatz denkbar sein, in der Realität der Aufführung führt es zu Problemen. Was der Liebhaber und Kenner verlangt, wird ihm im neuen Zürcher «Rheingold» geboten. Haufenweise wird das Gold in angeblich schweren Klumpen auf der Bühne aufgeschichtet. Und lustig hüpft die Kröte, in die sich Alberich fatalerweise verwandelt, über den Boden. Zuvor versucht es der Nibelung noch mit einer monströseren Erscheinung, deren Wotan und Loge fürs erste nicht gewahr werden – bis sich dann eine furchterregende Schwanzspitze durch eine offenstehende Tür hineinschlängelt. Das wäre schon des Effekts genug gewesen. Doch leider lassen sich Andreas Homoki und Christian Schmidt das Untier nicht nehmen, weshalb einen Lidschlag später gleichwohl ein Theater-Drache mit Dampf und Gloria auf der Bühne erscheint.

So hat es Wagner niedergeschrieben, aber ist es sakrosankt? Entspricht es nicht einem heute etwas kindlich wirkenden Theaterbegriff – einem von vorgestern, der durch die Vielzahl anregender Deutungsversuche längst in die Jetztzeit übersetzt ist? Und erinnert es nicht an die seligen Zeiten der Bayreuther «Ring»-Inszenierungen Wolfgang Wagners? Wenn schon «Rheingold» in der Art, die Wagner vorschwebte, dann vielleicht doch eher konsequent, nämlich in historisch informierter Aufführungspraxis, wie es bei den «Wagner-Lesarten» in Köln versucht wird (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 08.12.21). Schliesslich: Wenn Wotan seine Gattin auffordert, in Walhall mit ihm zu wohnen, und die Götter feierlich der Burg zuschreiten, erscheint in Zürich weder Burg noch Brücke, sondern vielmehr ein überlanger weisser Tisch mit goldenem Rand. Obwohl rechteckig, erinnert das Möbelstück an einen anderen überlangen weissen, freilich ovalen Tisch, der dieser Tage, meist von zwei Männern in schwarzen Anzügen besetzt, vielerorts in den Medien erscheint. Die Ähnlichkeit, sie soll nicht als ein Moment deutenden Inszenierens empfunden werden?

Expressionistisch zugespitzt

«Salome» von Richard Strauss zur Eröffnung der Saison am Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Kostas Smoriginas (Jochanaan) und Elena Stikhina (Salome) in der Zürcher Inszenierung von Richard Strauss’ Einakter «Salome» (Bild Paul Leclaire / Opernhaus Zürich)

Es ist kaum zu glauben, aber jetzt geht es wieder los im Opernhaus Zürich. Mit Masken zwar, aber vor vollbesetzten Rängen, mit der in den Orchestergraben zurückgekehrten Philharmonia und Darstellern auf der Bühne, die vor dem auf der Bühne unabdingbaren Körperkontakt nicht mehr zurückzuschrecken brauchen. Möglich macht es das Zertifikat, will sagen: die Impfung, und darüber hinaus die regelmässige Testung. Und wie wenn das Lebenszeichen nicht hätte stark genug sein können, fanden sich zur Saisoneröffnung mit «Salome» von Richard Strauss auf dem edel versteinerten Sechseläutenplatz gut fünftausend Menschen ein, um sich bei allerschönstem Altweibersommerwetter die Übertragung der im Inneren durchgeführten Premiere zu Gemüte zu führen. Die Stimmung war ausgezeichnet. Das tat Not nach den gut eineinhalb Jahren der Einschränkungen – denen das Opernhaus Zürich, das darf wiederholt werden, mit Phantasie und Mut begegnet ist.

Nun ist das Feld wieder etwas freier, und so kann das Theater wieder zeigen, was es sein kann. Der Moment der Befreiung hinterlässt in der Zürcher «Salome» durchaus seine Spuren. Unerhörte Spannung trägt den Abend. Die hundert Minuten dieses Einakters gehen ja ohnehin schnell vorbei, aber so rasch wie jetzt in Zürich, so meine Empfindung, liegt der Kopf selten auf der Silberschüssel. Kaum hat die Prinzessin die Bühne betreten, macht sie deutlich, dass sie nur eines kennt: sich und ihre Wünsche. Elena Stikhina ist weder Girlie noch Matrone, vielmehr eine junge Frau von heute. Ihre Stimme hat einen samtenen Grund, lässt aber gewaltige Expansion zu. Und ihr Drängen nimmt derart obsessive Züge an, dass Narraboth, Mauro Peter gibt ihn als einen sensiblen, ehrlichen Soldaten, geradewegs handgreiflich werden muss – erst gegen die Prinzessin, die er in Verletzung der Etikette von ihrem Vorhaben förmlich zurückzureissen versucht, später mit fataler Folge gegen sich selbst.

Nicht nur von Salome geht elementare Kraft aus, dasselbe gilt für Jochanaan, den Kostas Smoriginas mit glänzendem, dabei nie monochromem, sondern grossartig wandelbarem Metall singt. In seiner Darstellung ist der heilige Mann aus der Zisterne gewiss ein Heiliger, vor allem aber ein Mann. Einer, der über ungeheure Ausstrahlung verfügt; und einer, der nicht lange fackelt. Während sein Erscheinen üblicherweise so bedrohlich wie elektrisierend gezeigt, vor allem aber mit Distanzierung versehen wird, ist er in Zürich fast tierischer Körper, jedenfalls ungezügelter Trieb und damit Salome verwandt. Bevor er die Prinzessin mit Donnerstimme verdammt, spreizt er ihr die Beine – unvermittelt und roh. Eine Vergewaltigung? Eine Bestrafung? Oder gar eine Projektion Salomes, auf der Bühne sichtbar gemacht? Die gleiche Frage stellt sich im Schleiertanz, an dessen Ende Herodes seiner Stieftochter einen Slip unter dem Jupe herunterziehen darf, nachdem Herodias zuvor von Jochanaan brutal genommen worden ist. Jochanaan also doch der rächende Prophet? Mag sein; hat er nicht dem nach dem Suizid noch röchelnden Narraboth den finalen Schnitt durch die Kehle zugefügt?

Darüber darf nachgedacht werden. Herodes und Herodias dagegen, das Paar sorgt auch in Zürich für Amusement. Sie, die auf ihre adlige Abkunft pocht, hat von der Kostümbildnerin Mechthild Seipel eine üppige Abendrobe in der Königsfarbe Rot auf den Leib geschneidert bekommen und ist die Domina: Michaela Schuster bringt das ausgezeichnet über die Rampe. Er, restlos übergekippt, aber durchaus noch seiner (angemassten) Funktion bewusst, zieht sich nicht mehr an, ihm genügt der seidene, mit aufgemalten Federn der über hundert königlichen Pfauen dekorierte Schlafanzug – was alles andere als daneben ist, wenn man bedenkt, wie beim Wiener Kongress 1815 die Herren Diplomaten ihre Verhandlungspartner im Schlafzimmer empfingen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist die Traumbesetzung für diese Partie, die hell-klare Lineatur, die perfekte Diktion, das Understatement im Ausspielen der Demenz gelingen ihm perfekt. Überhaupt lebt die Inszenierung des Zürcher Hausherrn Andreas Homoki von scharf gezeichneten Figuren, zugleich aber von feinsinnig durchdachtem Kontext. Wenn Salome davon singt, dass sie seinen Mund küssen möchte, nimmt sie Joachanaans Kopf exakt so in die Hände, wie sie es dann am Ende der Oper, wenn dieser Kopf nicht mehr auf seinem Leib sitzt, tun wird – so werden mit Gesten szenische Subtexte geschaffen.

Zum gedanklichen Beziehungsreichtum trägt auch das Bühnenbild von Hartmut Meyer bei. Zwei Halbmonde, einer oben, einer unten, stehen im Mittelpunkt – so wie in «Salome» immer wieder auf den Mond angespielt wird. Es ist nicht der Mond in romantischer Verklärung, sondern jener des Expressionismus, die Metapher des Nächtlichen, die für Angstzustände und Grenzerfahrungen steht. Warum kommt an diesem Abend gar nicht selten die Erinnerung an Edward Munchs Gemälde «Der Schrei» auf? Es wird des Orchesters wegen sein, der Philharmonia Zürich, die von der Gastdirigentin Simone Young zu beinah schmerzvollem Dröhnen angetrieben wird. Wüst klingt die Partitur, auch in den Passagen, wo sie sinnliches Piano verlangt und sich die Dirigentin mit trockenem Mezzoforte begnügt. «Salome» als expressionistisches Musikdrama und, wie die Dirigentin durchaus zu Recht findet, als Sinfonische Dichtung mit eingelegten Singstimmen in Ehren, doch ein Gepolter, wie es von der in Grossbesetzung angetretenen Philharmonia zu hören ist, muss nicht sein. Zuspitzung braucht, zumal in einem kleinen Haus wie der Zürcher Oper, nicht oder nicht nur Lautstärke, sie braucht mehr noch Schärfungen in der Farbgebung, der Artikulation, der Akzentsetzung. Dass das geht und wie es geht, hat Michael Gielen vorgemacht: im Frankfurter «Ring des Nibelungen» aus den Jahren 1986/87, der mit instrumentaler Kraft nicht sparte und doch der Stimme wie dem Wort ihre Rechte beliess.

Die Kunst, sie lebt

Unter denkbar widrigen Umständen hat das Opernhaus Zürich eine neue Produktion herausgebracht. «Simon Boccanegra» von Giuseppe Verdi ist zu einem Musiktheaterabend von seltener Intensität geworden.

 

Von Peter Hagmann

 

Christian Gerhaher in der Titelpartie von Verdis «Simon Boccanegra» in Zürich / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Tatsächlich: Sie lebt, die Kunst.

Mehr als fünfzig Zuschauer durften nicht hinein zu Giuseppe Verdis «Simon Boccanegra», der jüngsten Premiere am Opernhaus Zürich – und das war es dann auch: Bis Ende Jahr und, wie man jetzt weiss, auch darüber hinaus sind alle weiteren Vorstellungen untersagt. Allein, das Opernhaus hat sich längst seinen Ausweg geschaffen. Die Premiere von «Simon Boccanegra» wurde live auf Arte Concert übertragen, und dort, auf www.arte.tv, ist die Produktion bis zum 5. März 2021 kostenlos als Video verfügbar. Auf diese Weise rettet das Haus sich selber wie sein Publikum, dem angesichts der Lage nichts als das stille Darben bliebe.

Gewiss, die Begegnung mit Verdis Oper am Bildschirm, und darum geht es in diesen Zeilen, vermag den realen Opernabend in keiner Weise zu ersetzen. In diesem besonderen Fall ergab sich ausserdem eine zusätzliche Schnittstelle, denn wie schon bei Mussorgskys «Boris Godunow» zur Saisoneröffnung (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.20) agierten Chor und Orchester nicht an der Stätte des Geschehens, sondern in einem ausserhalb des Hauses, wenn auch nahe gelegenen Probenraum, aus dem der Klang über ein Glasfaserkabel auf die nun wirklich hochstehende Lautsprecheranlage im Opernhaus übertragen wurde. Für die Beobachtung am Bildschirm spielte das keine Rolle, zumal Unsicherheiten in der Koordination so gut wie ausblieben.

Und natürlich, Surrogat ist vieles beim Verfolgen einer Oper am Bildschirm. Ganz besonders gilt das für die optische Seite. Während der Besucher im Saal nach eigenem Ermessen bestimmt, worauf er sein Augenmerk richtet, wird der Blick des Konsumenten am Bildschirm gesteuert durch die Entscheidungen des für die Aufzeichnung zuständigen Regisseurs. Wenn Simon Boccanegra als Doge von Genua seinen zum Widersacher gewordenen Mitstreiter Paolo verdammt, lässt Michael Beyer nicht den Protagonisten sehen, sondern den Adressaten des Fluchs – und das stark herangezoomt, auf dass jede Zuckung im Antlitz des Bestraften sichtbar werde. So bildet sich eine Metaebene der Interpretation aus, die das ohnehin schon vielschichtige Erleben des Geschehens erweitert.

Der Blick auf die Gesichter, das Lesen des Mienenspiels, erhält in dieser Inszenierung nun allerdings besonderes Gewicht. Andreas Homoki, dem Regisseur des Abends, ist es einmal mehr gelungen, die Darsteller zu unerhört intensivem, aus tiefer innerer Beteiligung genährtem Spiel zu animieren – was die von «Simon Boccanegra» exponierten Dilemmata als fürwahr bedrückend empfinden lässt. Bei einem Sänger wie Christian Gerhaher, der mit der Verkörperung der Titelpartie ein drittes Debüt am Opernhaus Zürich absolviert, ist das nicht weiter erstaunlich, die Zeichnung der Figur des Genueser Dogen entspricht seinem eigenen Wesen in hohem Masse.

Obwohl einer unteren Schicht entstammend – die Kostüme, die Christian Schmidt entworfen hat, lassen daran keinen Zweifel –, geht Boccanegra in der Zürcher Produktion nicht in Prachtentfaltung und Machtrausch auf, wie sie aus Inszenierungen älteren Datums in Erinnerung stehen. Der in angeblich freier Wahl vom Volk bestimmte Doge ist ein Anderer, ein Aufgeklärter, ja ein Intellektueller. Seine Mission sieht er darin, dem durch Kämpfe zwischen mafiösen Clans und durch machistische Ehrbegriffe gestörten gesellschaftlichen Zusammenhalt mit einem Aufruf zu Gewaltverzicht, Respekt und Liebe zu begegnen. Er verfolgt sie beharrlich und geschickt, mutig und unbedingt – jedenfalls ohne Rücksicht auf sein Leben. Sein durch das Gift des Widersachers ausgelöstes, langsames Zerfallen zeigt er körpersprachlich an: durch eine zunehmend gebückte Haltung. Grossartig ist das.

Und in keinem Augenblick durch Kitsch getrübt. Glasklar singt Gerhaher, in scharf gezeichneter Lineatur, ohne die Zuckerwatte der Italianismen, dafür mit makelloser Diktion. Und einmal mehr wird hier deutlich, wie aus strukturellem Bewusstsein heraus Emotion entsteht. Wenn des Dogen Faust auf den Tisch fällt, und das hat Verdi durchaus vorgesehen, verfehlt es seine Wirkung nicht. Weitaus stärker berühren jedoch die Momente der Innigkeit, das Erkennen von Vater und Tochter, der Ausgleich zwischen Boccanegra und dem stolzen Fiesco – den Christof Fischesser ganz im Gegensatz zu dem hellen Timbre des Protagonisten mit runder, fülliger Tiefe versieht. Da muss man bisweilen schon zweimal durchatmen, aber zu Hause am Bildschirm fällt es nicht weiter auf.

Überhaupt erscheint «Simon Boccanegra» in Zürich als ein Kammerspiel, ja fast als eine Partie Schach. Den herrschenden Umständen entsprechend bleibt die Öffentlichkeit des Volks in der Inszenierung Homokis weitgehend ausgespart; der von Janka Kastelic vorbereitete Chor singt im Off, und wenn für zwei, drei Momente Menschenansammlungen sichtbar werden, so sind Figuranten mit Masken am Werk. Als umso spannender tritt das von Arrigo Boito, dem Librettisten der Zweitfassung von «Simon Boccanegra», geschickt gesteuerte Timing heraus – Christian Schmidts Drehbühne mit ihren überhohen Türen, die sich an bezeichnenden Stellen öffnen oder schliessen, die auch überraschende Durchblicke gewähren, ermöglicht es und unterstreicht es.

Unter der Leitung von Fabio Luisi, der hiermit seine letzte Produktion als Generalmusikdirektor der Oper Zürich dirigiert, zieht auch die Philharmonia Zürich kompromisslos mit. Pointiert, dynamisch sorgfältig differenziert, vielfarbig prägt das Orchester die szenischen Entwicklungen. Und geschmeidig konzertiert der Dirigent mit den Solisten; ohne die Fäden aus der Hand zu geben, lässt er ihnen den Raum, den sie brauchen und den sie sich wünschen. So findet Jennifer Rowley zu bewegenden Auftritten als Amelia Grimaldi alias Maria Boccanegra; ihre Funktionen als Zünglein an der Waage und zugleich liebende Frau verkörpert sie auch stimmlich tadellos. Der Gabriele Adorno befindet sich bei Otar Jorjikia, der Paolo Albiani bei Nicholas Brownlee in besten Händen.

Ja, sie lebt, die Kunst. Wenn sie es will.

Ein fulminantes Plädoyer für Christoph Willibald Gluck

«Iphigénie en Tauride» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zürcher Bühne für «Iphigénie en Tauride» / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Dass der Abend so spannend und so berührend würde, es war in keiner Weise zu erwarten. Mit seiner Opernreform aus den Jahren nach 1760 hat Christoph Willibald Gluck Geschichte geschrieben, von seinen fünfzig Opern werden aber nur noch wenige gespielt – die «edle Einfachheit», die Gluck propagiert hatte, wurde rasch zum Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen und trägt heute Züge des Verstaubten. Allein, das muss nicht sein. Wird die Musik Glucks nicht im romantischen Dauerlegato, sondern mit den Mitteln seiner Zeit zu Klang gebracht, offenbart sie Reize sonder Zahl. Das erweist «Iphigénie en Tauride», die Tragédie Glucks von 1779, in der neuen Produktion der Zürcher Oper. Mit La Scintilla kommt dort das hauseigene Barockorchester zu Zug, das sich im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis mit eigener Brillanz bewegt. Und mit Gianluca Capuano ist ein Dirigent am Werk, der sich in den Praktiken des 18. Jahrhunderts profund auskennt und sie äusserst phantasievoll einsetzt. Der tiefe Stimmton von 415 Hertz erleichtert nicht nur den Sängern das Leben, er fördert auch eine Sonorität von kerniger, federnder Opulenz. Sie wird noch dadurch unterstrichen, dass die Streicher vielgestaltig und temperamentvoll artikulieren – und dabei das Geräusch beim Anstrich nicht scheuen, auch pointiert das Bogenvibrato einsetzen und im Bedarfsfall explizit mit dem Holz statt mit den Haaren spielen. Die Bläser wiederum, sie tragen mit leuchtenden Farbakzenten zum lebendigen Klangbild bei.

Keine Spur also von jener trägen Erhabenheit, mit der man in früheren Zeiten die neuartige, gegen die vokalen Exzesse der späten Opera seria  gerichteten Musiksprache Glucks verwechselt hat. Vielmehr schafft, was aus dem Orchestergraben kommt, eine belebte, hier zärtliche, dort aufschäumende Basis für das ausnehmend schön zusammengestellte Ensemble mehrheitlich aus dem Kreis der französischen Gesangskultur. Die Ausnahme stellt Cecilia Bartoli dar – die sich das spezifische Idiom jedoch längst zu eigen gemacht hat. Vorbildlich die Diktion, grandios die Technik ganz allgemein, unverbraucht Ansatz und Führung ihrer nun doch reifen Stimme. Und einzigartig die Bühnenpräsenz. Wie sie als Iphigénie, von Diane zu ihrer Priesterin gemacht, vor der quälenden Frage steht, welchen der beiden Männer vor ihr, den noch nicht wirklich erkannten Bruder Oreste oder dessen Freunde Pylade, sie nun töten und welchen sie freilassen soll, erzeugt sie, langsam auf die schreckensstarr wartenden Opfer zugehend, eine Spannung von unerhörter Kraft. Ihrer stimmlichen wie szenischen Ausstrahlung ist zu verdanken, dass die Figur der jungen Priesterin, der eine unmenschliche Aufgabe übertragen ist, dem Zuhörer, der Zuschauerin als eine Frau erscheint, die aus ihrem Inneren den Mut und die Kraft schöpft, den auf ihrer Familie liegenden Fluch zu bannen. Mit dem fulminanten Bariton Stéphane Degout (Oreste) und dem wunderbar geschmeidigen Tenor Frédéric Antoun (Pylade) stehen ihr Darsteller zur Seite, die das Niveau der Protagonistin ohne Einschränkung und in je eigener Ausprägung zu halten vermögen. Den bösen König Thoas gibt Jean-François Lapointe als polternden Wüterich, während Brigitte Christensen, die in späteren Vorstellungen Cecilia Bartoli vertreten soll, als Diane das lieto fine einleitet.

Schade nur, dass oft so dröhnend gesungen wird, als handelte es sich um Verdi oder Wagner. Es mag damit zusammenhängen, dass der Zürcher Hausherr Andreas Homoki als Regisseur das Geschehen ganz von den Individuen auf der Bühne her ausgestaltet und diese Figuren mit bebender, vibrierender Emotionalität auflädt – dies im Bestreben, den innovativen Theaterbegriff Glucks auch szenisch erfahrbar werden zu lassen. In der Tat bietet die Bühne von Michael Levine nichts als einen leeren, schwarzen Raum, der sich nach dem Hintergrund zu verjüngt. Er erinnert ein wenig an den Balg der ersten Fotoapparate, denn immer wieder setzen sich die Wände dieses Schicksalskellers in Bewegung. Den rächenden Blitzen gemäß, von denen zu Beginn der Oper Glucks die Rede ist, öffnen sich gezackte Schlitze, durch die der Lichtdesigner Franck Evin für kurze Phasen helle Strahlen von aussen eindringen lässt. Sehr effektvoll ist das in seiner reduzierten Anlage – wiewohl nicht ganz neu: Auch Barrie Kosky hat seinen Zürcher «Macbeth» 2016 fast ganz im Dunkeln spielen lassen. Allerdings nicht mit den prachtvollen barockisierenden Kostümen, auf die der Ausstatter setzt. In ihrer farblichen Anlage sorgen sie dafür, dass die rabenschwarze Gegenwart von der hellen Erinnerung an die Vergangenheit klar getrennt ist, dass andererseits die vom Regisseur eingeführte stumme Rahmenhandlung, die den Mythos von der über Generationen währenden Schuld in Kurzfassung präsent werden lässt, eindringlich fassbar wird.

Populär – und doch so schwer

Verdis «Nabucco» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Veronica Simeoni (Fenena) , Michael Volle (Nabucco) und Anna Smirnova (Abigaille) im neuen Zürcher «Nabucco» / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Der Gefangenenchor ist ganz wunderbar gelungen. So leise im Ansatz, so gemässigt im Ausbruch, so liebevoll in der klanglichen Zuwendung ist dieses Zentralstück im Repertoire des radiophonen Wunschkonzerts selten zu hören – der erweiterte Chor des Opernhauses Zürich, von Janko Kastelic vorbereitet, zeigt hier, was er kann. Überhaupt öffnet sich ab dem dritten der vier Teile von Giuseppe Verdis «Nabucco» der Raum für Differenzierung im Dynamischen und für Farbigkeit im Vokalen wie im Instrumentalen. Zuvor aber herrschen musikalisch ein Druck und ein Lärm, wie sie beim Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi leider des öfteren vorkommen.

Natürlich, es geht in diesen ersten beiden Teilen von Verdis Jugendwerk um Machtansprüche und kriegerische Konfrontation. Dennoch, so laut, wie es Luisi fordert, muss es nicht werden, es geht ja doch noch um Kunst. Und die leidet in diesen Momenten des neuen Zürcher «Nabucco» erheblich. Michael Volle, im deutschen Repertoire erprobt und inzwischen auch im italienischen Fach approbiert, kann als Nabucco zwar auf eine gewaltige Donnerstimme setzen, aber sein Dröhnen wirkt einförmig und auf die Länge ermüdend. Auch sein Gegenspieler Georg Zeppenfeld muss als Zaccaria derart pressen, dass die Vorzüge seines edlen Timbres nur ansatzweise hervortreten. Die Russin Anna Smirnova, welche die anspruchsvolle Partie der Abigaille kurzfristig von Catherine Naglestadt übernommen hat, zeigt hinsichtlich des dynamischen Durchhaltevermögens keine Schwäche, an der Premiere litt ihr Auftritt dagegen an deutlich hörbaren Mängeln der Intonation. Eine Überraschung Benjamin Bernheim als Ismaele; das biegsame Timbre des französischen Tenors hat derart an Kontur und Glanz gewonnen, dass ihm der vom Dirigenten verfolgte Pegel keinerlei Problem bereitet. In den Schatten gerät dagegen Veronica Simeoni (Fenena); erst nach der Pause vermag sie zu zeigen, über welch grossartiges Potential sie verfügt.

So fehlt es in diesem «Nabucco» nicht an Augenblicken, in denen die Schwächen des Werks und die Problematik seiner Rezeption übermächtig heraustreten – das gilt auch für die Inszenierung des Zürcher Hausherrn Andreas Homoki. Eine riesige, zugleich aber erstaunlich bewegliche Wand, die nach grünem Quarz aussieht, beherrscht die Bühne von Wolfgang Gussmann. In vielgestaltiger Weise wird sie genutzt. Wenn das Heer der Babylonier mit Nabucco an der Spitze gegen Juda aufmarschiert, rückt sie als Ausdruck der Bedrohung so nahe an den Bühnenrand, dass man um die davor am Boden liegenden Chormitglieder zu fürchten beginnt. Zugleich trennt sie den Raum und schirmt sie Gespräche ab – die dann von der anderen Seite her belauscht werden können. Ihre grüne Farbe gibt den Ton vor für die Kostüme der Babylonier, die sich an adliger Mode orientieren, während das Volk Israel in erdfarbenes Tuch kleiner Leute gehüllt ist – eine minimale Andeutung auf die Rolle Verdis und seiner Oper in der Bewegung des Risorgimento. Lebendig geführt der Chor – Homoki kommt schliesslich aus der Schule Walter Felsensteins. Die einzelnen Figuren bleiben zum Teil aber maskenhaft. Immer wieder dreht sich Nabucco um die eigene Achse, worauf das Volk erschrocken zurückweicht – so etwas geht einmal, vielleicht zweimal, danach ist das szenische Zeichen verbraucht. Nach der Pause, wenn sich die dramatische Spannung aus den einzelnen Figuren nährt, gewinnt die Inszenierung an Griffigkeit. Die Probleme, die «Nabucco» bietet, sind damit aber nicht gelöst.

Heinz Holligers Traumoper

Uraufführung von «Lunea» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Dichter und seine Frauen: Heinz Holligers Oper «Lunea» in Zürich / Bild Paul Leclaire, Opernhaus Zürich

Was für ein wunderschönes Stück. Was für ein anregendes Stück. Ein Stück von heute. Eine Oper. Was heisst hier «Oper»? «Lunea» widerspricht ungefähr allem, was man gemeinhin mit Oper verbindet. Zu erleben ist vielmehr Musiktheater der dichtesten Art.

Dunkel ist’s. Rabenschwarz. Eine quadratische Öffnung lässt sich erahnen; sie nimmt Kontur an, wenn das Licht, das Franck Evin von oben hereinfallen lässt, den Blick freigibt auf die mit wenigen Strichen gezeichneten, sparsam bewegten, in einen silbernen Ton gefassten Bilder, die der Regisseur Andreas Homoki erdacht hat. Zu sehen sind Damen im Reifrock mit Schirm und Herren im Gehrock mit Zylinder – scharf charakterisieren die Kostüme von Klaus Bruns. Dazu hat der Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann hier einen Salontisch, dort ein Biedermeiersofa, bisweilen auch nur einen Sessel bereitgestellt. Mehr braucht es nicht, es spricht deutlich genug.

Mag sein, dass es so ausgesehen hat im Kopf des Nikolaus Lenau – des berühmten Dichters der Schumann-Zeit, dessen einzigartiger Ruf nicht zuletzt auf die zahlreichen Vertonungen seiner Verse zurückging. Immer wieder dieses Dunkel, immer wieder diese Erinnerungsfetzen, zum Beispiel an die diversen Frauen, denen der Dichter zugetan war, denen er aber doch nicht nahe kommen konnte. Und dann dieser Blitz, wohl ein Schlaganfall, der am 29. September 1844 den in geselliger Runde singenden Lenau traf, ihm die eine Hälfte des Gesichts lähmte und ihn auf eine Schleuderfahrt hinab in die Unterwelt des Wahnsinns trieb.

Ver-rückt war er, so sagten sie damals, so sagen wir heute. Auch Heinz Holliger sagt es – obwohl er für die geläufige Verbindung zwischen Wahnsinn und Genie wenig übrig hat. Wenn etwas Aussergewöhnliches entstehe, sei immer eine Spur Verrücktheit im Spiel; ohne diese Spur komme zum Beispiel ein Komponist nicht über das Niveau von Czerny hinaus. Es gibt genügend Beispiele in dieser Richtung, Heinz Holliger kennt sie. Dem im Turm eingesperrten Hölderlin galt seine Aufmerksamkeit im «Scardanelli-Zyklus», dem internierten Robert Walser in seiner 1998 in Zürich uraufgeführten Oper «Schneewittchen», dem Maler und Geiger Louis Soutter im Violinkonzert von 2002. Jetzt also Nikolaus Lenau, der 1850 im Alter von nur 48 Jahren in einer psychiatrischen Klinik bei Wien starb.

Den Dichter kannte Holliger schon lange. Dem Patienten begegnete er, als ihm vor Jahren Lenaus «Notizbuch aus Winnenthal» in die Hände fiel. In diesen Aufzeichnungen aus einer psychiatrischen Klinik bei Stuttgart finden sich Lebens-Sätze, die in Form wie Inhalt weit über die Gedichte Lenaus hinausgehen. An ihnen hat sich Holligers Phantasie entzündet; einige hat er zur Grundlage für einen Vokalzyklus mit dem Titel «Lunea» gemacht. Die 23 Sätze für Bariton und Klavier oder 23 Instrumentalisten von 2013 bilden das Gerüst von «Lunea», der abendfüllenden Oper Holligers, die vom Opernhaus Zürich bestellt und jetzt zu bejubelter Uraufführung gebracht worden ist. Händl Klaus, der ebenso versierte wie phantasiebegabte Librettist, hat die Leitsätze neu angeordnet und durch weitere Satzfragmente ergänzt. In einem Akt berührender Empathie hat sich der Librettist in das Leben und das Schreiben Lenaus eingegraben; jedes Wort im Textbuch zu «Lunea» stammt von Lenau.

Eine Geschichte wird nicht erzählt. Jenseits jeder Logik, vielmehr nach der Art eines Traums werden Situationen evoziert, die sich mit dem Leben Lenaus in Verbindung bringen lassen. Einige seiner Frauen ziehen vorbei, etwa die verheiratete Sophie von Löwenthal, die Lenau besitzen, aber nicht haben wollte, die manisch verehrte Mutter oder der unverbrüchlich treue Schwager Anton Schurz. Das fügt sich in Zürich zu einem Bilderbogen, der durch eine schwarze Wand gegliedert wird. Formal bestimmend ist dabei das Verfahren der Symmetrie, wie es sich schon im Werktitel, einem Anagramm des Dichter-Namens, niederschlägt. Ihren Ursprung findet diese Idee im Wirken des Psychiaters und Schriftstellers Justinus Kerner, eines Freundes von Lenau, der Tintenkleckse auf einem Papier durch dessen Faltung verdoppelt hat (was ein knappes Jahrhundert später im Rorschachtest wiederaufgenommen wurde). Ab der Mitte der Oper läuft vieles rückwärts, werden auch Schlüsselworte in ihre buchstabengetreue Umkehrung gesetzt. Und die teilende Wand, die in der ersten Hälfte des Abends von links über die Szene fährt, nimmt ihren Weg im zweiten von rechts. Selbst die Logik der Zeit, so Holliger, sollte in seiner Oper aufgehoben sein.

Als Rezipient wird man durch das Stück in eine Art Schwebezustand versetzt, was die Musik in ihrer Weise nachhaltig unterstützt. Schon allein durch ihre Langsamkeit, die der Komponist am Dirigentenpult mit einer Radikalität sondergleichen realisierte. Vor allem aber fesselt die Partitur durch den Reichtum ihrer Assoziationen. Holligers Musik, so enigmatisch sie in einem ersten Höreindruck erscheinen mag, wirkt in ihrer Weise doch sehr beredt, und das auf vielen Ebenen, strukturell wie klanglich. Manche Einzelheit der musikalischen Formung reflektiert das Leben Lenaus (oder jenes des Komponisten). Und durch die Verwendung tradierter Modelle wie der barocken Floskel des passus duriusculus, des Abstiegs in Halbtönen als Ausdruck höchsten Schmerzes, werden mit kleinen Zeichen grosse Wirkungen erzielt. Das alles in einem äusserst delikaten Klangbild. Leise, farbenreich und äusserst vielgestaltig kommt die Musik daher; sie fordert höchste Aufmerksamkeit und belohnt den Zuhörer durch eine Sinnlichkeit, wie sie sich in der neuen Musik nicht von selbst versteht. Ein Spätwerk ist Holligers «Lunea», getragen von in langen Jahren gereiftem Handwerk, belebt durch nicht versiegende Inspiration, hochgetrieben bis zum Manierismus. Eben: überaus anregend und wunderschön.

Der Regisseur Andreas Homoki und seine Mitstreiter haben absolut bezwingend, um nicht zu sagen: genau richtig auf die Partitur reagiert, nämlich musikalisch. Wie der Komponist und sein Librettist arbeiten sie mit Assonanzen und Andeutungen, konkret in der Erscheinung und abstrakt in der Bedeutung. Und Christian Gerhaher in der Titelpartie ist darum eine Idealbesetzung, weil dieser Tage kein Sänger so ausgeprägt von der Sprache her denkt wie der deutsche Bariton mit seinem herrlich zeichnenden Timbre. Ebenbürtig stehen ihm Juliane Banse als Sophie von Löwenthal und Ivan Ludlow als Anton Schurz, aber auch Sarah Maria Sun und Annette Schönmüller zur Seite. Die von Raphael Immoos geleiteten Basler Madrigalisten und die 34 Mitglieder der Philharmonia Zürich tragen das Ihre zu einer Produktion bei, die von der ungebrochenen Gegenwärtigkeit des Musiktheaters zeugt.

Weitere Vorstellungen am 8., 13., 15., 18., 23. und 25. März 2018.

Festspiele Zürich 2016

 

Peter Hagmann

Alles Dada – oder fast alles

Abschluss der Ära Elmar Weingarten bei den Festspielen Zürich

 

Was waren das für Zeiten, als es in Zürich noch Junifestwochen gab. Als, im Rahmen grosser thematischer Schwerpunkte und veranstaltet von der Stadt selbst, Japan zu Gast war oder John Cage himself für erheiternde Unruhe sorgte. In den frühen neunziger Jahren war Schluss damit, angeblich aus finanziellen Gründen. Wenige Jahre später kam es zu einem Neustart – unter neuen Vorzeichen und dem neuen Namen «Zürcher Festspiele». Die Hoteliers der Stadt hatten sich über schlechten Geschäftsgang Ende Juni beklagt und waren bei Alexander Pereira vorstellig geworden, dem damaligen Intendanten des Opernhauses Zürich, von dem sie für die fragliche Zeit einen kulturellen Akzent und in der Folge eine kommerzielle Belebung erhofften.

So kam es vor zwanzig Jahren zu den Zürcher Festspielen, die eigentlich keine Festspiele waren. Denn die Stiftung, die sie ausrichten sollte, verfügte über geringe Mittel und dementsprechend wenig Handlungsspielraum. Im Stiftungsrat vertreten waren die grossen Zürcher Kulturinstitute, die von den Subventionsgebern aufgerufen waren, das Ende der Saison mit besonderem Glanz zu versehen. Wenn sich dieser Glanz einstellte, dann am ehesten in den Preisen, die das Opernhaus für seine Vorstellungen im Rahmen der Festspiele verlangte. Inhaltlich ergab sich kein Profil, da jedes der grossen Kulturinstitute sein ohnehin vorgesehenes Programm präsentierte – und es, weil ja Festspiele waren, mit einem speziellen Fähnchen versah.

Neue Ausrichtung

Das wurde erst anders, als Elmar Weingarten, mit seinem Ideenreichtum und seiner Konzilianz prädestiniert für diese Aufgabe, vor vier Jahren den widerwilligen Stier bei den Hörnern packte. Er übernahm die Leitung der Festspiele 2012 noch als Intendant des Tonhalle-Orchesters Zürich und führte die Geschäfte nach seinem Rücktritt beim Orchester 2014 weiter. Vier Ausgaben der Festspiele sind unter Weingartens gütiger Hartnäckigkeit zustande gekommen. Die Institution hat in dieser Zeit nicht nur ihren Namen gewechselt: von den eher lokal gedachten «Zürcher Festspielen» zu den «Festspielen Zürich» mit bewusst internationaler Ausstrahlung. Das Festival hat auch, und vor allem, ein Gesicht erhalten. Denn Weingarten hat den thematischen Schwerpunkt, der die Junifestwochen ausgezeichnet hatte, wieder eingeführt und ihn den neuen Bedingungen der Festspiele gemäss rehabilitiert.

Den Geburtsfehler der Institution hat auch Weingarten nicht beheben können. Tatsache ist, dass für die Festspiele Zürich mit dem Opernhaus und dem Tonhalle-Orchester sowie dem Schauspielhaus und dem Kunsthaus vier grosse Kulturinstitute der Stadt zusammenarbeiten sollten, die das aber nicht unbedingt wollen, ja der unterschiedlichen Planungsfristen wegen gar nicht können – was der Entwicklung einer gemeinsamen Dramaturgie fundamental im Wege steht. Dass die Festspiele dennoch ihr Profil so schärfen konnten, wie es geschehen ist, grenzt an ein Wunder. Es basiert auf der Einsicht, dass eine Veranstaltungsreihe von einem thematischen Kern, einer thematischen Leitlinie nichts als profitieren kann – und dass sie selbst dann profitieren kann, wenn nicht alles und jedes im Angebot dem Thema gehorcht.

So hat Elmar Weingarten den Festspielen Zürich neue Horizonte eröffnet; er hat seinen Partnern die nötigen Freiheiten gelassen, zugleich aber als Anreger gewirkt und selber beherzt als Veranstalter agiert. Das mag zu einem gewissen Überangebot wie zu Terminkollisionen geführt haben, es hat dem Zürcher Kulturleben vor dem Beginn der sommerlichen Schulferien aber auch eine spürbare Zufuhr von frischer Luft und bunter Vielfalt verschafft. Alle sind sie in ihrer Weise unvergessen, das «Treibhaus Wagner» 2013, «Prometheus» mit der grandiosen Aufführung von Luigi Nonos Hörtragödie im Jahr darauf, «Shakespeare» 2015 und diesen Sommer, hundert Jahre nach der Gründung des Cabaret Voltaire in Zürich, «Dada – zwischen Wahnsinn und Unsinn». Und heuer, nicht zu unterschätzen, lagen die Festspiele auch erstmals etwas früher als ehedem, um die Sommer-Ausstellung des Kunsthauses besser ins Gesamtprogramm einzubinden.

Dada und die Musik

Eine der Spezialitäten der vier zurückliegenden Jahre bestand darin, dass es nicht der Künstlerische Leiter allein war, der die Ideen entwickelte, dass Elmar Weingarten vielmehr seine Gattin Claudia von Grote zu Seite stand; entschieden wirkte sie an der Ausarbeitung der dramaturgischen Ansätze mit. So gab es dieses Jahr etwa eine Reihe von Soiréen, bei denen sich die Dada-Bewegung mit den etablierten Künsten traf, aber auch eine Folge von Begegnungen mit Dada in Zürcher Privatwohnungen – analog einer Idee, wie sie an den Wiener Festwochen seit langem üblich ist. Die Musik dagegen, sie geriet beim Thema dieses Jahres etwas in den Hintergrund – wenn auch nicht ganz. Das Infragestellen und das Aufbrechen herkömmlicher Rituale fand auch in der Musik statt, und vor allen Dingen setzte es sich bis weit ins 20. Jahrhundert, ja bis in die Jetztzeit hinein fort.

Von solchem berichtete die grosse Dada-Nacht in der Tonhalle Zürich, die auf den Punkt genau um 19.16 Uhr begann und einen langen Abend währte. Wie ein Wirbelwind fegte Ursula Sarnthein, Bratscherin im Tonhalle-Orchester, durch den dritten Satz der Sonate für Viola allein, op. 25 Nr. 1, von Paul Hindemith; sie nahm die Vorschrift des Komponisten, dieses Stück Musik in rasendem Zeitmass und wild zu spielen, Tonschönheit sei dabei Nebensache, atemberaubend beim Wort. Wie viel Dada in Mauricio Kagel steckt, erwies dessen Stück «Match» für zwei Celli (Thomas Grossenbacher und Karolina Öhmann) und Schlagzeug (Erika Öhmann) von 1964. Und in ihrer Weise dadaistisch schräg die «24 Duos» von Jörg Widmann, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Ihre Höhepunkte fand die dadaistisch-musikalische Veranstaltung freilich im Auftritt der Stimmkünstlerin Salome Kammer, die dadaistische Sprechstücke aus ihrer persönlichen Schatzkammer präsentierte und neue Werke auf den Spuren Dadas dazustellte. Zur grossartigen Ausstrahlung der weit ausserhalb jeder Norm stehenden Sängerin kam die Kunst der Diseuse, die ihre Stimme in unglaublicher Weise zu wandeln versteht. Jedenfalls konnte man gewahr werden, wie sehr auch im deutschsprachigen Umfeld der Tonfall allein Bedeutungsträger sein kann.

Die Kunst der Interpretation

Neben Dada setzte sich das quasi normale Kunstleben fort – mit seinen helleren wie seinen dunkleren Seiten. Im Opernhaus trug der Bariton Christian Gerhaher zusammen mit seinem Klavierpartner Gerold Huber «Die schöne Müllerin» von Franz Schubert in einer Weise vor, dass einem das Blut ins Stocken geriet. Schon das scheinbar simple Strophenlied des Beginns liess kaum Heiterkeit aufkommen. Wenige Lieder später war klar, dass dem Müllerburschen, der hier von sich singt, grausam mitgespielt wird, dass die Müllerstochter alle vorführt, auch ihren Vater, und dass sie sich ganz rasch für den schmucken Jäger in Grün erwärmen wird, worauf dem Verschmähten nichts als der Sturz ins kalte Wasser des munter plätschernden Bächleins bleibt. Da in dem singenden Sprechen oder dem sprechenden Singen Gerhahers so gut wie jedes Wort verständlich war, wurde der Liederzyklus, den der Sänger mitsamt den von Schubert nicht vertonten Gedichten vortrug, zu einer ganz eigenen, äusserst dramatischen Erzählung, während die Dichtung des verkannten Wilhelm Müller in neuer Würde erschien. Ganz zu schweigen von der Vertonung Schuberts, die mit ihren Schlünden und ihren Abgründen an diesem Abend zutiefst erschütternd wirkte.

Solche Kunst der Interpretation ist für Lionel Bringuier, den Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Zürich, ein Fremdwort. Weil es sich um den sinfonischen Erstling eines jungen, ambitionierten Komponisten handelt und weil im Untertitel von einem Titanen die Rede ist (allerdings in Anspielung an einen Roman von Jean Paul), stürmte Bringuier ohne Rücksicht auf Verluste durch die erste Sinfonie von Gustav Mahler – am Tag nach der «Schönen Müllerin» bot das reichlich Ernüchterung. Für eine Vortragsanweisung wie «gemächlich» hat er keinen Sinn; wenn er darf, dreht er die Laustärke sogleich und mächtig auf. Und um das etwas weinerlich Weiche der k.u.k-Mentalität schert er sich ebenso einen Deut wie um die ironische Doppelbödigkeit, die sich ganz besonders im langsamen Satz mit seinen verfremdenden Anklängen an «Frère Jacques» manifestiert. Dass musikalische Interpretation auch und gerade einen Akt der Sinngebung beinhaltet und dass dieser Akt seine intellektuelle Basis haben muss, das scheint Bringuier keineswegs zu kümmern – das ist das Verstörende an diesem unglaublich sympathischen und zugleich erschreckend naiven jungen Musiker. Wie soll das nur weitergehen?

Solche Fragen stellen sich bei Fabio Luisi nicht, der Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich weiss genau, was er will – das zu hören und zu erleben, bringt Erlebnisgewinn, auch wenn es unter dem Strich nicht überall aufgeht. Bei «I Puritani», der letzten Oper Vincenzo Bellinis, die das Opernhaus Zürich als Beitrag zu den Festspielen herausbrachte, gedachte Luisi ans Licht zu heben, welch neue Bedeutung Bellini dem Orchester zumass. Das ist ihm an mancher Stelle vorzüglich gelungen, das Orchester der Oper Zürich stellte prachtvoll heraus, dass Bellini zu Recht stolz war auf seine Mühewaltung im Bereich der Instrumentation. In anderen Momenten aber explodierte die Lautstärke, dröhnte der Chor, schrien die Sänger, tutete das Orchester, als wären alle gegen alle, vor allem alle gegen die Partitur. Und das in einem Bühnenbild, das den Schall sehr direkt in den kleinen, für ein Sprechtheater konzipierten Zuschauerraum des Zürcher Stadttheaters abstrahlte. Der schwere, kreisende Zylinder, den Henrik Ahr entworfen hat, gab dem Regisseur Andreas Homoki Gelegenheit, eine Bildfolge zu entwickeln, die den narrativen Strang des eigenartig an Ort und Stelle tretenden Librettos erkennen liess. Und die Umdeutung des lieto fine in eine finale Katastrophe passte in ihrer drastischen Konkretisierung ganz und gar in diese Zeiten. Mit dem stimmgewaltigen, höhensicheren Lawrence Brownlee (Arturo) und der nicht weniger ausstrahlungsmächtigen Pretty Yende (Elvira) war die Szene durch zwei vorzügliche Protagonisten beherrscht.

Das waren die Festspiele Zürich 2016. Elmar Weingarten verabschiedet sich definitiv. Unter gründlich erneuerter Leitung sollen die Festspiele jetzt zur Biennale werden. Was das heisst, wird sich weisen.