Spass mit Händels «Agrippina»
am Opernhaus Zürich
Von Peter Hagmann

Wer ist die Böseste im ganzen Land? Ist es Agrippina, die Gattin des für tot gehaltenen, doch alsbald wieder erscheinenden Kaisers Claudio – eine durchtriebene Person, die Nerone, ihren Sohn aus erster Ehe, auf den Thron zu bringen versucht und zu diesem Zweck alle gegen alle aufbringt? Oder ist es nicht doch nicht die junge, verführerische Poppea, die den Dingen, soweit sie ihren Interessen entsprechen, ihren Lauf lässt und am Ende gelassen triumphiert? Ob die eine oder die andere, darüber lässt sich trefflich sinnieren während der gut drei Stunden interessanter, aber nicht immer gleichermassen hinreissender Musik Georg Friedrich Händels und in einem Handlungsverlauf von (vermutlich) Vincenzo Kardinal Grimani, der die grauen Zellen kräftig in Anspruch nimmt. Dies im Opernhaus Zürich, welches das Stück des noch sehr jungen Komponisten jetzt in den Spielplan genommen hat.
Dass «Agrippina» zwar über dreihundert Jahre alt ist, aber eins zu eins von heute stammen könnte, machen die Videos von Kevin Graber deutlich. Sie zeigen nicht nur die Skyline von New York, sondern zoomen auch ins Innere der Türme, wo sich die oberste Schicht der Oberschicht in Robe und Smoking ihren Lustbarkeiten hingibt. Und ihren Kämpfen, wie eine im Programmbuch etwas auffällig abgedruckte Notiz zu den Verwerfungen in der Familie Murdoch andeutet. Claudio erscheint in Zürich nicht als der Kaiser Roms, sondern als Chef eines jener Familienclans, die dieser Tage nicht in allzu gutem Licht stehen. In grosser Aufmachung beginnt Agrippina ihr Netz zu spinnen, wie beiläufig beobachtet von Poppea, die als Krankenpflegerin mit Badge und Köfferchen – die Kostüme von Hannah Clark bringen es treffsicher auf den Punkt – das Geschehen beobachtet. Allein, bis hier ein gutes Tempo der Entwicklungen erreicht ist, vergeht bei Händel (und auch in der Zürcher Spielfassung) seine Zeit; der erste Teil des Abends ist nicht frei von Längen. Doch nach und nach verschieben sich die Gewichte, nimmt Poppea das Heft in die Hand und wird zur Gegenspielerin Agrippinas. Mehr noch: zur Siegerin. Und das ganz einfach, mit Hilfe einer…
Das ist im grossen Ganzen der Rahmen, innerhalb dessen sich die Inszenierung von Jetske Mijnssen entfaltet. Unspektakulär tut sie es, aber äusserst unterhaltsam, ja witzig. Das deutet schon die Bühne von Ben Baur an; sie zeigt schöne, praktikable Räume von gehobenster Gewöhnlichkeit, Salons mit Plüsch und Kronleuchtern, aber auch – und dort schnürt sich dann der Knoten – eine Küche aus dem Katalog. Äusserer Effekt ist Jetske Mijnssens Sache nicht, sie arbeitet mit den genuinen Mitteln des Theaters. Zielgerichtet und packend tut sie das; was die Regisseurin aus den Darstellerinnen und Darstellern herausholt, schafft auch hier wieder erstklassiges Vergnügen. Nero zum Beispiel, hier Nerone, der fils à maman, der angefeuert durch die Mutter auf den Chefposten lauert, er ist ein ausgesuchter Lümmel mit dem ewigen Kopfhörer um die Ohren, mit dem viel zu weit geöffnetem Hemdkragen, den viel zu breit gespreizten Beinen – ein Tier von einem Mann. Wenn er erscheint, geht freilich die Post ab.
Nun aber das Wunder des Abends. Auf der Bühne stehen drei Countertenöre – und drei Sänger ganz unterschiedlicher Couleur. Wer kann, mag an dieser Stelle an die fernen 1960er Jahre denken, da Alfred Deller und Paul Esswood als die einzigen Vertreter des seinerzeit noch belächelten vokalen Fachs in Erscheinung traten. Oder an die späten achtziger Jahre, da die Pariser Nationaloper für Händels «Giulio Cesare» nicht weniger als drei Countertenöre engagiert hatte, was damals für sensationelles Aufsehen sorgte. Heute versteht sich solches gleichsam von selbst. Begegnen wir in Christophe Dumaux einem Nerone von geradezu stählerner Kraft und einer schlechterdings atemberaubenden Agilität in den Koloraturen – da bleibt nur das reine Staunen. Ganz anders der Ottone von Jakub Józef Orliński; hier klingt ein samtweicher, geschmeidiger, farbenreicher und ganz aus der Artikulation heraus gestalteter Countertenor. Und schliesslich der unglücklich in die Dame des Hauses vernarrte Höfling Narciso, dem Alois Mühlbacher nicht nur mit herrlicher Aufgeregtheit, sondern auch mit einer schlanken, klar zeichnenden Stimme begegnet.
Als heimlicher Zwilling steht ihm Pallante zur Seite, ein in seiner Begierde ebenfalls kaum zu bremsender Höfling, dem José Coca Loza seinen sonoren Bass leiht. An Körpergrösse kommt er nicht gerade an Yannick Debus heran – muss er auch nicht, denn Lesbo ist der Türsteher vom Dienst, dessen entschiedenem Zugriff niemand entgeht. Personal casting vom Feinsten ist das – wie es auch in der Erscheinung des doch noch immer regierenden Oberhaupts Claudio sicht- und hörbar wird; mit seinem seidenen Timbre und seiner würdevollen Ausstrahlung lässt Nahuel Di Pierro nichts zu wünschen übrig. Und dann die beiden Primadonnen, Anna Bonitatibus als eine in jeder Hinsicht souverän ausdrucksvolle Agrippina und Lea Desandre als eine grazile, mit silberheller Stimme versehene, aber entschieden anordnende Poppea. Ein erneut ausgezeichnet zusammengestelltes Ensemble, das von La Scintilla, dem Barockorchester der Zürcher Oper, unter der Leitung von Harry Bicket mit aller Emphase getragen wird.