Carmen und Don José – beide in sich gefangen

Bizets Opera-comique im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Escamillo und Don José im Hahnenkampf, Carmen schaut zu / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Ach ja, die Zigarre. Grossformatig prangt sie zurzeit von den Zürcher Plakatwänden – versteht sich: Das Opernhaus Zürich zeigt «Carmen», die Opéra-comique von Georges Bizet. Doch die Zigarre, sie tritt nicht auf. Wenn die Glocke läutet und sich die Arbeiterinnen auf dem Platz vor der Zigarrenfabrik eingerichtet haben, wird ein Tableau vivant sichtbar. Und jede Menge Rauch. In der Hand tragen die Damen jedoch – Zigaretten. Ein kleiner witziger Hinweis auf die Aufführungstradition des vielgespielten Werks und zugleich, erzielt durch Verfremdung, ein Zeichen der Absage. Tatsächlich versucht Andreas Homoki in seiner Inszenierung von «Carmen» nach Massen, von den Klischees der Ausstattung, die sich dem Werk angelagert haben, wegzukommen und einen eigenen Weg der Annäherung zu finden. Dabei geht er, ähnlich wie in seiner Arbeit an Richard Wagners «Ring des Nibelungen», auf eine Art Urzustand zurück: auf den Moment der Uraufführung von «Carmen» im Frühjahr 1875 an der Opéra-Comique in Paris.

Für dieses legendäre Haus hat Homoki im letzten Jahr seine Inszenierung entworfen – als eine Hommage an einen geschichtsträchtigen, in seiner Atmosphäre bis heute einzigartigen Ort des musikalischen Theaters. Von Paris ist diese szenische Einrichtung jetzt nach Zürich gekommen, und mit ihm die Pariser Bühne selbst. Der leere Bühnenraum als Ort des Geschehens, das war die Idee. Um sie auch in Zürich zum Tragen zu bringen, wurde die Pariser Bühne mit ihren dunklen Backsteinwänden kurzerhand nachgebaut – ein neuerliches Meisterstück. Und hinzugefügt hat der Bühnenbildner Paul Zoller einen wunderprächtigen Theatervorhang in leuchtendem Rot, mit bunten Verzierungen und goldenen Seilzügen. Einen Vorhang eben, hinter dem sich die Geheimnisse des Theaters verbergen. Nicht zuletzt diente er dem Regisseur dazu, den Raum zu gliedern und das szenische Geschehen zu rhythmisieren.

In diesem Ambiente zeigt Homoki die tragische Geschichte von Carmen, die Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle Prosper Merimées gebaut haben, auf einer Zeitschiene, die vom Jahr der Uraufführung bis in unsere Gegenwart reicht: als ein Geschehen, das, wie das immer aufscheinende Licht im Zuschauerraum unterstreicht, uns sehr direkt angeht. Im Eröffnungsakt dominieren neben den aufmüpfigen Arbeiterinnen keine Soldaten, sondern Damen und Herren aus der gehobenen Pariser Gesellschaft des Fin de siècle, die befremdet zuschauen, zugleich aber rasch in Raufereien ausbrechen können. Herrliches Schauvergnügen bieten die Kostüme. Überdies sind sie so individuell geschneidert, wie deren Träger als einzelne Persönlichkeiten in der Gruppe gezeichnet sind – eine grossartige Leistung des von Janko Kastelic hervorragend vorbereiteten Chors der Oper Zürich und des in ihn integrierten Kinderchors. Mittendrin und doch in je eigener Weise verloren: Don José, der Unteroffizier, und Carmen, die nicht so sehr als Zigeunerin denn als eine aus innerstem Antrieb heraus selbstbestimmte Frau erscheint.

Der zweite Ort auf der Zeitschiene liesse sich in Annäherung an die Aufführungstradition als das Lager einer Schmugglerbande identifizieren, doch erinnern die traurigen Gestalten, die da ihre Habseligkeiten herbeitragen, auch an Bilder von versehrten Gesellschaften; tatsächlich blickte, wie Volker Hagedorn im Programmbuch nachdrücklich schildert, die Bevölkerung von Paris im Jahr der Uraufführung von «Carmen» auf schwierigste Zeiten zurück. Hier schlägt die Stunde von Mercédès (Niamh O’Sullivan) und Frasquita (Uliana Alexyuk) auf der einen Seite, von Le Dancaïre (Jean-Luc Ballestra) und Le Remendado (Spencer Lang) auf der anderen; ihre Ensembles finden zu spritziger Virtuosität. Derweil spitzt sich der Konflikt zwischen Carmen und Don José bedrohlich zu, dies unter dem Einfluss des Stierkämpfers Escamillo, der sein männliches Selbstbewusstsein in fast beiläufiger Ruhe ausspielt und auch im Moment der Niederlage gegen Don José seine Würde elegant zu wahren weiss – stimmlich wie darstellerisch bringt Łukasz Goliński dieses Rollenporträt zu umwerfender Wirkung. Nicht minder eindrucksvoll erscheint Natalia Tanasii in der Partie der treuherzigen Micaëla; mit ihrer starken vokalen Ausstrahlung und ihrer spürbaren Empathie holt sie die Botschafterin aus Don Josés früherem Leben aus dem Nebel der Nebenrolle.

Das Finale schliesslich spielt im Hier und Jetzt. Partygänger mit Flaschen und Konfetti bevölkern die Bühne; ohne Platz in der Arena, verfolgen sie den Einzug der Stierkämpfer am Fernsehschirm. Schon leert sich der Raum, stehen sich Carmen und Don José gegenüber – einsam, in ihren Positionen gefangen. Und sticht der Mann zu: ein Femizid, wie er heute erschreckend alltäglich geworden ist. Das Schaudern bleibt in dieser schönen, allerdings auch etwas beiläufigen Produktion jedoch aus.  Die Zeitschiene, die sich Andreas Homoki ausgedacht hat, entfaltet nicht jene bezwingende Überzeugungskraft, die sie an den Tag legen müsste. Zudem sorgt Gianandrea Noseda am Pult der Philharmonia Zürich zwar für sorgfältige Artikulationen und klare Farbgebungen, noch mehr aber für die Kraftmeierei, die bei dieser Partitur so nahe liegt. Und ihr so wenig gut tut.

Besonders ins Gewicht fallen die Probleme jedoch bei der Besetzung der Hauptrollen. Marina Viotti ist vieles, nicht zuletzt eine Sängerin mit hörbarem Potential. Eine Carmen ist nicht, für diese Rolle fehlen ihr noch das szenische Temperament, die musikalische Ausstrahlung, die Fähigkeit zu Expansion und Veräusserung. Viele ihrer Arien, gerade die Habanera am Beginn, bleiben farblos; die Todesarie beim Kartenlegen im dritten Akt gerät ihr dagegen äusserst berührend. Bei Saimir Pirgu liegt der Fall anders. Mit seinem baritonal gefärbten, muskulösen Tenor gibt er einen Don José, dem das Scheitern ins Leben eingeschrieben ist und der darauf mit explosiver Wut reagiert. Dass er ein zutiefst verunsicherter Mann ist, der Mutter kaum entwöhnt, dem Sturm von Carmens Weiblichkeit und ihrem ungeheuren Selbstbehauptungswillen keinen Augenblick lang gewachsen, das bleibt unterbelichtet. «Carmen» ist freilich mehr als eine Studie zur Emanzipation der Frau und ihren Folgen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.