Oper ohne Gesang

«Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy als Sinfonische Dichtung in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Als Ende Februar 2020 Covid-19 um sich zu greifen begann, mussten die kulturellen Institutionen ihre Häuser schliessen. Zur Untätigkeit gezwungen war auch Jonathan Nott – doch der britische Dirigent aus der Schweiz, seines Zeichens musikalischer und künstlerischer Direktor des Orchestre de la Suisse Romande in Genf, liess sich dadurch nicht in die Enge treiben. Er zog sich zurück auf die Musik an sich und versenkte sich in sein Herzensstück seit früher Zeit, in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy. Warum nicht, das war seine Frage.

Genauer: Warum nicht das Drame lyrique von 1902 für den Konzertsaal gewinnen? Natürlich nicht auf dem Weg der konzertanten Aufführung, sondern vielmehr in der Form eines eigenen Werks: als eine zusammenhängende Folge von Abschnitten aus der durchkomponierten Oper. Einrichtungen solcher Art waren in den Jahren vor und nach 1900 an der Tagesordnung, man denke etwa an das Ballett «Daphnis et Chloé» von Maurice Ravel, aus dem der Komponist selbst zwei Suiten zum Gebrauch im Konzertsaal zog. Auch zu «Pelléas et Mélisande» gibt es derlei Einrichtungen, die berühmteste unter ihnen stammt von dem österreichischen Dirigenten Erich Leinsdorf. Die Bearbeitungen dieser Art gehen von den zahlreichen instrumentalen Teilen in Debussys Partitur aus. Jonatan Nott hatte jedoch etwas anderes im Sinn.

Er wollte die Oper als eigenen, vollgültigen Kosmos auf dem Konzertpodium verankern, und dies in rein instrumentaler Ausführung. Kürzung auf eine in der Praxis vertretbare Konzertlänge war also angesagt – und zugleich eine Erweiterung der Orchesterpartitur durch all das an Ausgesprochenem, Angedeutetem und vor allem leitmotivisch Notwenigem, was inneren Zusammenhang schafft. Trotz der Kürzungen sollte die Oper in ihrer Ganzheit, in ihrer immanenten Spannung, auch dramaturgischen Logik erlebbar werden. In welchem Masse das gelungen ist, erwies eine noch im November 2020 entstandene Aufnahme, deren besonderer Reiz ausserdem darin besteht, dass das kondensierte und intensivierte Werk Debussys mit dem fast zu gleicher Zeit entstandenen Poem «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönbergs kombiniert ist – was zu spannenden Vergleichen einlädt.

Auf dem Markt fand das zwei Compact Discs umfassende Projekt aus dem Hause Pentatone gute Resonanz. Es kam sogar auf die Vierteljahresliste im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Und auch im Netz ist die Aufnahme greifbar, selbst, was offenbar noch nicht bis zur Administration des Orchesters durchgedrungen ist, auf dem französischen Portal Qobuz und bei dem bedeutenden, auf klassische Musik spezialisierten Anbieter Idagio. Inzwischen jedoch, beinahe drei Jahre nach der Aufnahme, ist «Pelléas et Mélisande» in der von Jonathan Nott stammenden Einrichtung als Sinfonische Dichtung auch im Konzert vorgestellt worden – als Uraufführung notabene in der Genfer Victoria Hall. Ein grosser, mit lebendiger Zustimmung aufgenommener Moment.

Die Live-Aufführung stellt den Effekt, den die rein orchestrale Erzählung der Oper Debussys intendiert, in besonders helles Licht. Zumal sich das Orchestre de la Suisse Romande und sein Musikdirektor in Bestform präsentiert haben. Jonathan Nott hat die Musik Debussys in der Tiefe seines Inneren verankert; die Verdichtung erlaubt ihm, innerhalb einer knappen Stunde sehr nah an den Kern des Werks heranzukommen. Und die seine Musikalität prägende Neigung zum Dramatischen tut in einem solchen Moment das Ihre. In geschmeidigen Tempi und natürlichem Zug entfaltete sich die schauerliche Geschichte; die Seelenzustände, die der alte, verzweifelte Golaud, die ganz junge, scheue Mélisande und der naiv feurige Pelléas exponieren, sie waren förmlich mit Händen zu greifen – und dies in einem Wechselbad zwischen aufschäumender Liebe, bedrohlichem Misstrauen und Tod. Unerhört spannend geriet das, geradewegs zum Anhalten des Atems. Allerdings, je besser man die Oper Debussys kennt, desto mehr kann man in der Sinfonischen Dichtung erleben.

So ausgezeichnet gelungen ist die Aufführung, weil das Orchester und sein Dirigent auf der gesicherten Basis einer deutlich hörbaren Gemeinsamkeit agieren. Alle atmen sie gemeinsam, alle streben nach Identifikation, alle geben ihr Bestes. In einem warmen, geradezu üppigen Gesamtklang finden die einzelnen Farben zu leuchtender Präsenz; reich ist das Ausdrucksspektrum zwischen der Sensibilität der klanglichen Feinzeichnung und der dramatischen Eruption – wobei auch in den Momenten der Kraft Balance und Schönheit gewahrt bleiben. Bekanntlich versteht sich das gerade keineswegs von selbst.

Vorzüge solcher Art bestätigten sich, nun in ganz anderer Sprache, bei Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. In Kit Armstrong war hier sehr kurzfristig ein geradezu sensationeller Einspringer für die aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Maria João Pires gefunden worden. Der sagenhaft begabte, auch stilistisch in hohem Ausmass versierte Pianist überraschte mit sorgfältiger Lesart der Partitur und manch überraschender Artikulation, ausserdem mit einem leichten, hellen Ton am Steinway. Während Orchester wie Dirigent ihm in berührender Weise nahe blieben.

Allein, genau jetzt, da das Orchestre de la Suisse Romande und Jonathan Nott definitiv in die gleiche Strasse eingebogen sind und die Fruktifizierung ihren Lauf genommen hat, wird von der Trägerschaft des Orchesters mitgeteilt, dass der 2017 als unbefristet geschlossene Vertrag zwischen den beiden Partnern auf den 1. Januar 2026 beendet werden soll. Im März 2026 soll noch eine Tournee folgen, Jonathan Nott wird sie dann aber als «chef invité» leiten. Fast ein Jahrzehnt an der Spitze eines Orchesters sind genau das Richtige, am besten geht man, wenn es am schönsten ist – derlei lässt sich dazu sogleich anführen. Nur: Die Trennung von Jonathan Nott erfolgt in einem nicht unproblematischen Klima.

Vor eineinhalb Jahren trug ein regionaler Fernsehsender die (gewiss hohe, aber keineswegs unübliche) Gage des Dirigenten an die Öffentlichkeit getragen, was eine lebhafte, wenn auch wenig produktive Debatte auslöste – ist hier etwa ein Kesseltreiben in Gang gesetzt worden? Der Verdacht liegt darum nahe, weil sich beim Orchestre de la Suisse Romande in den vergangenen zwei Jahrzehnten eigenartige Personalbewegungen gehäuft haben – vom missglückten Versuch, dem Orchester einen seinem Niveau nicht entsprechenden Dirigenten aufzudrängen über die zahllosen, raschen Wechsel in der Geschäftsführung bis hin zu dem kostspieligen Abgang eines Orchesterdirektors schon nach wenigen Monaten der Tätigkeit. Welcher Art die Gründe hinter der jüngsten Personalie seien, ob der Wechsel am Grand Théâtre auf die Saison 2026/27 eine Rolle spiele, es muss offen bleiben. Klar ist nur, dass ein künstlerisches Projekt abgebrochen wird, das dem Orchester eine neue Perspektive wie kaum mehr seit der Ära mit Armin Jordan verschafft hat.

Mit Charles Gounod zwischen Himmel und Erde

«Roméo et Juliette» im Stadttheater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Zwölf Opern hat Charles Gounod geschrieben. Praktisch nichts davon ist geblieben, keines dieser Werke hat die Popularität der Cäcilienmesse oder gar des «Ave Maria» zum C-Dur-Präludium aus dem ersten Band von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier erreicht. Eine einzige Ausnahme gibt es – leicht zu erraten: «Roméo et Juliette». Das fünfaktige Drame-lyrique, 1867 in erster Fassung in Paris, im Théâtre-Lyrique an der Place du Châtelet, aus der Taufe gehoben, wird von allen Seiten geliebt, nicht zuletzt von den Sängerinnen und Sängern, aber auch vom Publikum, das sich der Emotionalität des Stoffes wie der musikalischen Schönheit von Gounods Partitur immer wieder lustvoll hingibt.

Wie es jetzt wieder im Berner Stadttheater geschieht, in dem die Bühnen Bern eine Inszenierung von «Roméo et Juliette» zeigen, die für die Pariser Opéra-Comique entworfen und gemeinsam mit den Theatern in Bern, Rouen, Washington und Bari koproduziert wurde. Die Herkunft aus Paris erklärt auch den Umstand, dass die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann aus zwei einander in erbitterter Feindschaft gegenüberstehenden Familien in keiner Weise mit der aktuellen Situation im Nahen Osten in Verbindung gebracht ist. Der Theaterkünstler Eric Ruf, zurzeit Direktor der Comédie-Française, siedelt das Geschehen vielmehr in Italien an, nicht gerade in Verona, eher in Apulien. Darauf schliessen lassen die mächtigen, wenn auch deutlich bröckelnden Türme, mit denen Ruf als sein eigener Bühnenbildner die unterschiedlichen Spielorte gliedert. Und damit für Atmosphäre sorgt.

Bild Janosch Abel, Bühnen Bern

Sogar eine Art Balkon wie jener in Verona kommt vor; es ist eine ganz in der Höhe liegende Umfassung, auf die sich Juliette hinauswagt – nur leicht bekleidet und barfuss, also ungeschützt, in Wirklichkeit aber zweifellos durch ein unsichtbares Seil gesichert. Die Szene, von ferne erinnert sie an eine ähnliche Stelle in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», sorgt für Schauder und Berührung. Erst recht gilt das für das Finale der Oper, das in einer süditalienischen Totenkammer spielt. In den prächtigsten Gewändern – die unerhört wirkungsvollen Kostüme hat der Modeschöpfer Christian Lacroix entworfen – hängen dort die vor sich hintrocknenden Leichen, auch die nur in tiefsten Schlaf versenkte Juliette, zu deren Füssen Roméo den Gifttrank zu sich nimmt, während sie, erwacht, schliesslich zum Dolch greift.

Über allem herrscht der Geist soliden Handwerks und genuinen Theatersinns. Weniger gilt das für die Ausgestaltung der einzelnen Figuren, die da und dort Luft nach oben offenlässt. Recht eigentlich misslungen wirkt der Einstieg ins Stück mit einer polternden, vom Dirigenten Sebastian Schwab weder dynamisch noch klangfarblich hinreichend kontrollierten Ouvertüre, einer durch waberndes Vibrato gezeichnete Nummer des von Zsolt Czetner einstudierten Chors sowie dem vom Berner Symphonieorchester einigermassen klobig begleiteten Walzer der Juliette. «Je veux vivre» singt da die junge Russin Inna Demenkova, wie es Violetta Valéry in der wenige Jahre vor «Roméo et Juliette» entstandenen «Traviata» von Giuseppe Verdis tut; sie zeigt dabei forsche Kraft zeigt und formt die Spitzentöne gern in einen Schrei um – nicht gerade das, was à la française wäre. Wesentlich näher an den meist feingliedrigen Ton Gounods kommt Ian Matthew Castro. Als Roméo gelingt dem ebenfalls jungen Tenor aus Puerto Rico eine vorzügliche Leistung; er bringt ein leichtes, offenes Timbre von hellem Glanz ein, das ihn die Höhe mühelos erreichen lässt. Und das zu manchem ergreifendem Moment führt.

Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr nähert sich Inna Demenkova einer idiomatisch adäquaten Auslegung der Juliette (wiewohl ihr Französisch ein unverständliches Kauderwelsch bleibt). Die vier zentralen Duette der Oper gelingen jedenfalls eindrucksvoll. Ebenfalls plausibel gelöst sind die grossen Szenen zwischen dem Ball des Anfangs und der fatalen Hochzeit am Ende. Und die von Stéphano, der ausgezeichneten Evgenia Asanova, provozierten Kampfszenen mit ihren zwei Toten sind von Glysleïn Lefever ebenso geschickt wie effektvoll choreographiert. Rasch ist der Abend vorbei – das ist, bei allen Einschränkungen im Einzelnen, das denkbar beste Zeichen.

Facetten des Zeitgeistes

Wiedereröffnung des Theaters St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Ehepaar? Slyvia D’Eramo (Gerda Wegener, links) und Lucia Lucas (Lili Elbe) / Bild Edyta Dufaj, Konzert und Theater St. Gallen

Man mochte es nicht wirklich, das von aussen so hermetisch wirkende Stadttheater St. Gallen – vor allem als Basler nicht, der sein ihm ans Herz gewachsenes Stadttheater von 1909 am 6. August 1975 frühmorgens in die Luft gesprengt und in sich zusammenstürzen sehen musste. Ein moderner Bau gleich neben der eilig abgetragenen Ruine sollte fortan der Ort seiner Theatererfahrungen sein. Werner Düggelin, der als Direktor das Theater Basel in den Jahren 1969 bis 1975 in der Stadt wie in der Branche zum Tagesgespräch gemacht hatte, wollte mit diesem Haus nichts zu tun haben, er gab seinen Posten auf. Inzwischen ist das neue Basler Stadttheater längst eingewachsen, die Wehmut ist jedoch nicht gewichen.

Ähnliches zu ähnlicher Zeit begab sich in St. Gallen. Nach gut hundert Jahren erfolgreichen Betriebs wurde das Stadttheater St. Gallen 1968 geschlossen und drei Jahre später abgerissen. Das Haus hatte sich in zunehmendem Mass als untauglich erwiesen und wurde nicht mehr benötigt. Im gleichen Jahr 1968 wurde nämlich das neue Theater im Stadtpark eröffnet, ein ebenso kühner Bau in moderner Formensprache; entworfen hatte ihn Claude Paillard, der 1961 den dafür ausgeschriebenen Wettbewerb für sich entschieden hatte. Von aussen, gerade eben aus der Nordwestschweiz, blickte man leicht verächtlich auf das Haus; von seiner Anmutung her setzte man es mit vielen Theaterbauten aus den sechziger Jahren gleich.

Inzwischen hat sich diesbezüglich einiges verändert, gerade in den letzten Jahren. Nach vier Jahrzehnten kontinuierlicher Nutzung hatte sich eine grundlegende Renovation des Gebäudes als notwendig erwiesen. In langjähriger Vorbereitung, während der das Theater wie die daneben liegende Tonhalle von der Stadt an den Kanton überging, wurde das rund fünfzig Millionen Franken schwere Projekt erarbeitet und in einer Volksabstimmung vom 18. März 2018 mit 62 Prozent Ja-Stimmen genehmigt – übrigens gegen eine Initiative der kantonalen SVP, die den Abbruch des Gebäudes und dessen Ersatz durch einen Neubau gefordert hatte. Im Herbst 2020 nahmen die Bauarbeiten ihre Fahrt auf, das Theater spielte derweil in einem Provisorium; und nun, am 22. Oktober 2023, ist das Haus wiedereröffnet worden.

Die Sanierung wurde mit denkbar grösstem Respekt vor dem originalen Entwurf an die Hand genommen – und genau das hat die Wertschätzung für den Entwurf Paillards erhöht. Das Sechseck als Grundlage als formaler Gegebenheiten, vom Grundriss bis hin zu einem Detail wie der Befestigung eines Treppengeländers am Boden, wurde mit aller Sorgfalt bewahrt. Auch der Sichtbeton, wie das Sechseck ein Markenzeichen in der Architektur der sechziger Jahre, wurde kompromisslos auf sein originales Erscheinungsbild zurückgeführt. Im Inneren wurde, für den Besucher meist nicht erkennbar, einiges an technischer Innovation durchgeführt. Zum Beispiel auch auf der Ebene der Akustik; heute nehmen zahlreiche Mikrophone den Klang auf und verteilen ihn über kleine Lautsprecher in den Raum. Das Verfahren kommt mittlerweile in manchen Kulturstätten zur Anwendung; in St. Gallen ist der Gewinn nicht zu überhören.

Grösser nahmen sich die durch den Theaterbetrieb geforderten Veränderungen in der räumlichen Konfiguration aus, doch auch hier stand die Erhaltung von Paillards ursprünglichem Entwurf an oberster Stelle. Im Ballettsaal zum Beispiel musste die Decke angehoben werden, damit den Tänzerinnen und Tänzern der notwendige Raum zur Verfügung steht. Probleme schuf ein vom Theater gewünschter Anbau, gegen dessen Ausführung sich der Denkmalschutz wandte. Studien im Archiv des Architekten Claude Paillard erwiesen dann, dass der fragliche Anbau schon geplant war, auf Wunsch der damaligen Bauherrschaft aber nicht realisiert wurde, weil eine repräsentative Zufahrt für Automobile als notwendiger erachtet wurde. Das ist jetzt korrigiert. So erstrahlt das Theater St. Gallen nunmehr in neuem Glanz. Und kann eine Ikone der modernen Architektur gewürdigt werden.

Zeitgleich mit der Wiedereröffnung des Hauses wurde am Theater St. Gallen eine neue Ära eingeläutet – nicht etwa mit Beethovens «Fidelio». Zum Einstand seines Teams trat Jan Henric Bogen, der neue Direktor des Hauses und zugleich der künstlerische Leiter des Musiktheaters, mit der Uraufführung eines Auftragswerks an. Eines Werks, das es in sich hat. Die Oper «Lili Elbe» des 1954 geborenen New Yorkers Tobias Picker und seines Librettisten Aryeh Lev Stollman erzählt die Geschichte der dänischen Malerin Lili Elbe (1882-1931), die in den zwanziger Jahren als Mann unter dem Namen Einar Wegener lebt. Wie sie bei ihrer Ehefrau Gerda Wegener für ein kurzfristig verhindertes Modell einspringt und dabei in Frauenkleidern posiert, wird ihr bewusst, dass sie im Grunde eine Frau ist. Gegen starken Widerstand ihrer Umgebung lässt sie ihr Geschlecht von einem Gynäkologen an ihre wirkliche Identität anpassen, ihre Ehe auflösen und sich einen neuen Namen geben: Lili Elbe. Da sich für sie wirkliches Frausein in Mutterschaft erfüllt, lässt sie sich von besagtem Gynäkologen eine Gebärmutter einsetzen. Die Operation misslingt und bringt ein tragisches Leben zu seinem Ende.

Der in Englisch gegebene, deutsch übertitelte Abend braucht starke Nerven. Das Schicksal einer Frau, die in einem männlichen Körper lebt und sich dagegen mit einer Radikalität sondergleichen auflehnt, lässt gewiss niemanden kalt. Geradezu schockierend ist jedoch die Art und Weise, in der ein Theater ein in mancher Hinsicht heikles Thema ins Scheinwerferlicht der Bühne zerrt, sich lautstark mit der Produktion der weltweit ersten Oper über die Frage der sexuellen Identität brüstet und sich wohlfeil einer zeitgeistiigen Debatte anbiedert, die gerade in diesen Tagen ideologisch und gesellschaftspolitisch so hochgradig aufgeladen ist. Und das, notabene, eingekleidet in eine Musik, die das Vokabular der amerikanischen Allerweltspostmoderne pflegt und herzlich wenig zu sagen hat. Allerdings: Dass das Thema in der katholisch-konservativen Stadt St. Gallen und im Moment der Eröffnung eines frisch renovierten Kulturhauses aufs Tapet kommt, ist schon ein starkes, auch ein mutiges Zeichen.

Die Produktion selbst ist von umwerfender Wirkung. Unter der Leitung von Modestas Pitrénas, seinem aus Vilnius stammenden Chefdirigenten und Konzertdirektor, holt das Sinfonieorchester St. Gallen ein Optimum aus der belanglosen Partitur heraus. Und die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne, auch der von Franz Obermair geleitete Chor und die neu zusammengestellte Tanzkompanie, zeigen ihr Bestes. Fulminant Lucia Lucas, die, selber eine Trans-Person, die Figur der Lili Elbe verkörpert und das mit einem unerhört sonoren Bariton wie mit temperamentvoll zugespitzter Bühnenpräsenz tut. Herausragend auch Sylvia D’Eramo als Gerda Wegener, Brian Michael Moore als der Pariser Parfumeur Claude LeJeune, Sam Taskinen als Lilis Bruder Marius und Msimelelo Mbali als der eitel-brutale Gynäkologe Warnekros. Sie alle treten in einer enorm bewegten, vielfarbigen, bisweilen auch den Geist des Musicals beschwörenden Inszenierung auf, bei der Krystian Lada als sein eigener Bühnenbildner Regie geführt hat.

Das Potential, das die musikalisch-szenische Einrichtung zum Ausdruck gebracht hat, verspricht viel. Dass als nächste Premiere, diesmal in dem von Barbara-David Brüesch geleiteten Schauspiel, «Die Ärztin» auf die Bühne kommt, gibt dann allerdings wieder zu denken. Den Text, so die Ankündigung, hat Robert Icke sehr frei nach «Professor Bernardi» von Arthur Schnitzler eingerichtet. Genügen die scharfsinnigen Dialoge Schnitzlers nicht mehr? Ich habe das Stück vor einiger Zeit im Wiener Theater in der Josefstadt gesehen: erstklassig in seiner schauspielerischen Performanz, der Saal war einen Abend lang gebannt und mucksmäuschenstill. Am Theater St. Gallen jedoch bricht sich jetzt der Zeitgeist Bahn – etwas spät zwar, aber immerhin.

Weiter, immer weiter

«Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss
mit dem Luzerner Sinfonieorchester

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind nicht aufzuhalten auf ihrem Weg nach oben. Soeben haben die Musikerinnen und Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters zusammen mit ihrem Chefdirigenten Michael Sanderling die Saison 2023/24 eröffnet – mit nicht weniger als der «Alpensinfonie» von Richard Strauss. Und dies auf jenem Podium, das sechs Wochen zuvor, im Rahmen des Lucerne Festival, der Sächsischen Staatskapelle Dresden und ihrem (Noch-)Chefdirigenten Christian Thielemann für einen geradezu sensationellen Auftritt mit genau dieser Tondichtung gedient hat. Nicht nur die zeitliche Nachbarschaft und damit die Möglichkeit des Vergleichs mochten als heikel erscheinen, das Unterfangen selbst liess staunen, ist zu dessen Verwirklichung doch eine Orchesterbesetzung im XXL-Format gefordert. Mit weniger als sechzehn Ersten Geigen und somit einer Gruppe von rund sechzig Streichern, weniger als vierfacher, bei den Hörnern gar achtfacher Besetzung bei den Bläsern sowie einer ganzen Reihe an Spezialinstrumenten geht es in der «Alpensinfonie» nicht.

Zu zeigen, dass ein Auftritt in solcher Grossformation dem Luzerner Sinfonieorchester möglich ist, das war, unter anderem, die Ambition dieses Abends im sehr gut besuchten KKL. Nicht bei der Auslastung insgesamt, jedoch bei der Zahl der gelösten Abonnements, sei der Status aus der Zeit vor der Pandemie wieder erreicht, betont Numa Bischof Ullmann, der seit nunmehr zwanzig Jahren erfolgreich und ohne Ermüdungserscheinung wirkende Intendant des Luzerner Orchesters. Entschieden weiter gehe auch die Entwicklung des Klangkörpers hin zu einem voll ausgebauten Sinfonieorchester mit knapp achtzig fest angestellten Mitgliedern. Bald werde dieses Ziel erreicht sein – dies auf der Basis der von Bischof eingerichteten Verbindung zwischen öffentlicher und privater Finanzierung. Der grössere Teil des Budgets, gegen zwei Drittel, wird getragen von der Stiftung für das Luzerner Sinfonieorchester mit dem Mäzen Michael Pieper im Zentrum und einer grossen Zahl an Stiftern, Gönnern und Freundeskreisen.

Ist diese Konstruktion schon bemerkenswert genug, so gilt das erst recht für den Einfallsreichtum im Bereich der Programmgestaltung. Das zeigt das Konzertangebot des Orchesters, im KKL wie in dem 2020 eröffneten Orchesterhaus am Stadtrand, das erweist aber auch «Le piano symphonique», das vom KKL ausgeschriebene und nach einem Wettbewerb an das Luzerner Sinfonieorchester vergebene Klavierfestival, welches das von heute auf morgen aufgegebene Klavierfestival des Lucerne Festival ersetzt. Da fehlt es denn nicht an Überraschungen. Die Eröffnung des Festivals bestreitet Maria João Pires, die sich im «2. Akt» des Abends für Schuberts vierhändige Fantasie in f-Moll mit Martha Argerich zusammentut und sich später gemeinsam mit Elisabeth Leonskaja den ebenfalls vierhändigen «Lebensstürmen» Schuberts widmet. Schliesslich folgt Kit Armstrong mit den Etudes d’exécution transcendantes von Franz Liszt, nachdem er am Abend zuvor dessen gewaltige Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» gespielt hat: an der Orgel notabene.

Dass die in Luzern verfolgte Richtung stimmt – die «Alpensinfonie» hat es in denkbar eindrucksvoller Weise bestätigt. Eine hinreissende Darbietung war das. Gelingen konnte sie, weil der Kern des Orchesters so sicher in sich ruht, dass die zahlreichen Zuzüger ihre Einsätze in einer stimmig eingerichteten Umgebung beitragen konnten. Mit zündender Energie ging die Konzertmeisterin Lisa Schatzman der Gruppe der Ersten Violinen voran, während sich Gregory Ahss, ihr gleichberechtigter Kollege aus dem Kreis um Claudio Abbado, mit Innbrunst den Kaskaden an Tremoli hingab. Phantasievoll ausgespielte Soli liessen die Holzbläser glänzen, während das massiv besetzte Blech in reicher Abschattierung einwirkte und majestätische Klangkronen bildete. Probleme mit der Lautstärke, mit der Balance? Nicht die Spur. Dazu ist Michel Sanderling, Sohn eines berühmten Dirigenten-Vaters, viel zu sehr Kapellmeister.

In dem guten Sinn nämlich, dass er den Notentext mit aller Genauigkeit liest und sich ihm vorbehaltlos in den Dienst stellt. Das Raunen, das Verschwimmen, der Dunst – das hat Christian Thielemann mit Wagners «Wunderharfe» aus Dresden bei seiner Luzerner Auslegung der «Alpensinfonie» auf die Spitze getrieben; gelernt und vervollkommnet hat er es bei den Wiener Philharmonikern, die sich gegen nichts mehr sträuben als gegen den präzisen Schlag. Michael Sanderlings Sache ist das nicht, er schlägt präzise und führt das Orchester mit sicherer Hand, ohne ihm den Atem und dem Stück die Atmosphäre zu nehmen. Der Ansatz erlaubt ihm, die Partitur in aller Helligkeit leuchten zu lassen, die einzelnen Instrumentalfarben in gebotener Klarheit herauszustellen und so die unerhört weitreichenden Verästelungen in dieser nur dem Schein nach auf den grossen Effekt zielenden Tondichtung zu zeigen. Symptomatisch dafür waren das auffallend präsente, mit viel Hall versehene Herdengeläut und der sehr zu Recht prägnante Auftritt der Orgel, deren Spieltisch ins Orchester integriert war. Und was die beiden Herren an den zwei Windmaschinen an schweisstreibender Kurbelbewegung leisteten, gab zu erkennen, dass man von Starkregen und Gewitterböen schon vor 108 Jahren überrascht werden konnte. Eine äusserst fassliche, bildhafte Interpretation ist hier gelungen. Dass sie sich unter einem schlüssig von A bis Z reichenden Spannungsbogen ereignete, machte das Besondere dieser erfrischenden Bergwanderung mit Richard Strauss aus.

Ein Chalet, das es in sich hat

Einakter von Adolphe Adam und
Gaetano Donizetti im Stadttheater Solothurn

 

Von Peter Hagmann

 

Betly (Roxane Choux) hält die Soldateska der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Schach / Bild Konstantin Nazlamow, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Mehr als sechs Jahre sind vergangen seit jenem höchst vergnüglichen Abend im Stadttheater Solothurn, der den beiden Einaktern «La notte di un nevrastenico» von Nino Rota und «Gianni Schicchi» von Giacomo Puccini galt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.01.17). Zunächst der gestresste Geschäftsreisende, der für die Übernachtung nicht nur sein eigenes Zimmer bucht, sondern, um jeder Störung zuvorzukommen, auch noch jenes links und jenes rechts davon. Der dann aber gleichwohl verdächtige Geräusche wahrnimmt, weil das Schlitzohr von Hotelier das Zimmer zur Rechten trotz hoch und heiliger Versprechungen dennoch vermietet hat, und das erst noch an ein junges Liebespaar. Danach dann die Posse um den verstorbenen Buoso Donati, dessen sehr attraktives Testament zugunsten der Verwandten abgeändert werden soll, was der von der Familie nicht eben geliebte Gianni Schicchi bewerkstelligt, allerdings durchs Band zu seinem Vorteil. Die Lust auf der Bühne wie jene im Zuschauerraum sind bis heute lebendig.

Jetzt legt die kleinste professionelle vollausgebaute Oper vielleicht nicht der Welt, aber wohl doch der Schweiz, nochmals nach. Zur Eröffnung seiner Spielzeit bringt das Theater-Orchester Biel-Solothurn nichts Geringeres als ein Stück Johann Wolfgang von Goethes. Es trägt den Titel «Jery und Bäteli» und ist von dem berühmten Eugène Scribe unter Assistenz von Méleville, bürgerlich Anne-Honoré-Joseph Duveyrier, zu einem Libretto geformt worden. Adolphe Adam hat auf dieser Basis einen ebenso eingängigen wie witzigen Einakter komponiert; «Le Chalet», so sein Titel, wurde im Herbst 1834 durch die Opéra-Comique aus der Taufe gehoben und geriet mit seinen über eintausend Aufführungen allein in Paris zu einem Kassenschlager sondergleichen. Allein, was Adam recht war, sollte Gaetano Donizetti billig sein. Er übersetzte die aus Goethes deutscher Sprache von Scribe ins Französische transponierte Vorlage eigenhändig ins Italienische und schuf, diesmal nun unter dem Titel «Betly ossia La campanna svizzera», seinen eigenen Einakter, der zwei Jahre nach dem Pariser Erfolg Adams in Neapel uraufgeführt wurde – ebenfalls mit Gewinn. Heute sind beide Kurzopern restlos vergessen; «Betly» hat nicht einmal in «Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters», das Allerheiligste der Oper, Eingang gefunden.

Genau das Richtige also für TOBS, wie die seit 2012 von Dieter Kaegi geleitete Institution zu nennen ist. «Aida» oder «Die Meistersinger» gehen nicht in den intimen Räumen von Biel und Solothurn, man muss sich nach der Decke strecken und Alternativen finden – was das quicklebendige Haus mit seinen zwei Spielstätten überaus geschickt tut. Zum Beispiel mit dem erheiternden Doppelabend im Zeichen von «Le Chalet suisse». Goethes Singspiel hat es durchaus in sich. Betly ist eine junge Frau, aber eine von rebellischem Geist. Sie lebt in ihrem weitab, nämlich im Appenzellischen gelegenen Chalet und hat nichts im Sinn mit der hergebrachten Karriere als Hausfrau und Mutter. Heiraten? Nein danke. Dem Mannsbild, das ihr Haus betritt, wird alsbald die Tür gewiesen. Dies sehr zum Kummer des jungen Daniel, der für Betly brennt. Schützenhilfe erfährt der Bewerber von Max, dem deutlich älteren Bruder Betlys, der in fremden Diensten zu Rang und Geld gekommen und nun in die Heimat zurückgekehrt ist. Seine Schwester gehöre unter die Haube, findet Max, und Daniel sei der Rechte. Nach einer Reihe von Zwischenfällen scheint das auch zu gelingen – oder vielleicht doch nicht?

Das wäre die Geschichte. In (Biel und) Solothurn wird sie zwei Mal erzählt, aber in zwei ganz und gar unterschiedlichen Weisen. Für die leichtfüssige, schwungvolle, in der Substanz freilich etwas schmalbrüstige Opéra-comique von Adam hat sich der Regisseur Andrea Bernard ein Spiel im Spiel ausgedacht. Gezeigt wird eine Probe von «Le Chalet», die Bühne von Alberto Beltrame ist eine Bühne, die Dekoration ist als Modell anwesend: als Blick in ein etwas schräg geratenes Puppenhaus. Max ist nicht nur Max, sondern auch der Regisseur und als solcher meist genervt – Michele Govi gibt seinen Part fulminant. Etwas chargiert vielleicht, aber das mag am Platz sein. Betly wiederum, Roxane Choux brilliert mit ausgeprägtem komischem Talent, erscheint als eine kaum zu bändigende Diva, die alles singen mag ausser – Betly. Schon gar nicht an der Seite von Pierre-Antoine Chaumien, der als Daniel seinen ersten grösseren Auftritt hat und den Umstehenden gleich einmal einen werbenden Flyer aufdrängt. Er gibt vor, das zu erarbeitende Stück mit einer Eigenkomposition erweitert zu haben – und genau da liegt eine kleine Schwäche von «Le Chalet», denn in diesem Momenten hängt Adams Partitur ein wenig durch. Dies trotz dem beherzten Einsatz des Sinfonie-Orchesters Biel-Solothurn, das von Franco Trinca souverän in Schwung gehalten wird.

Nach der Pause stellt man fest, dass das soeben noch als Modell gezeigte Puppenhaus mitsamt seinem nicht ganz passenden First in reale Grösse gewachsen und zum Bühnenbild worden ist. In Donizettis Fassung kommt «Betly» als eine ausgewachsene Opera comica im Belcanto-Stil daher. Das Szenische gibt sich zurückhaltender, es lässt mehr Raum für das Musikalische – und das ist gut so, treten doch bei allen drei Darstellern hochstehende vokale Qualitäten zutage. Seinen Anteil daran hat auch der von Valentin Vassilev geleitete Opernchor, dem die Kostümbildnerin Elena Beccaro zur Verdeutlichung der couleur locale etwas vergammelte Uniformen schweizerischer Offiziere und Fantasietrachten verpasst hat. Und hier legt der Regisseur auch den Finger auf die überraschende emanzipatorische Seite, die an dem Doppelabend aufscheint. Ihre Freiheit ist der jungen Frau alles, davon singt sie explizit. Wenn der Einakter Donizettis zu Ende geht, hat sie den Ehevertrag zwar unterschrieben, doch zeigt die Inszenierung, wie sie das Papier vor den Augen des frischgebackenen Ehemanns und ihres Bruders zerreisst, ihre Skier ergreift und mit ihren Freundinnen aus dem Chor in Richtung Matterhorn aufbricht. Goethe hat es nicht so gemeint, man kann es jedoch so denken.

Die Produktion steht noch in Biel und Solothurn auf dem Programm. Sie reist dann nach Visp, Winterthur und Zug.

Ans Licht getreten

Das Luzerner Sinfonieorchester mit seinem Chefdirigenten Michael Sanderling

 

Von Peter Hagmann

 

Die neue Saison, 2023/24, setzt ein mit «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, kurze Zeit später folgt die Sinfonie Nr. 4 von Gustav Mahler; im Frühjahr stehen Ernest Chaussons Sinfonie In B-dur und die Sechste Anton Bruckners an. Dessen vierte Sinfonie steht heute Abend auf dem Programm, dies nach der Schweizer Erstaufführung eines Violinkonzerts des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa, einem Auftrag, der gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern erteilt wurde. Nicht weniger.

Das alles wäre vor einiger Zeit undenkbar gewesen. Das Luzerner Sinfonieorchester, gegründet 1805, galt lange als eine Formation der Kategorie B, die dafür bekannt war, ihre Dienste im Graben des kleinen Luzerner Stadttheaters zu verrichten und daneben Abonnementskonzerte zu geben. Seit der Eröffnung des Kultur- und Kongresszentrums Luzern, des KKL, im August 1998 und vor allem seit dem Amtsantritt von Numa Bischof Ullmann als Intendant sechs Jahre später ist indessen nichts mehr wie ehedem – hat das Luzerner Sinfonieorchester einen überaus eindrucksvollen Weg zurückgelegt und ist mit allem Aplomb aus dem Schatten hinaus ans Licht getreten.

Die Besetzung wurde kräftig vergrössert, und das auf der Basis einer Verbindung zwischen der öffentlichen Hand und einer privaten Stiftung; für ergänzende Mittel sorgt ein weit ausgreifender Freundeskreis. Das Konzertprogramm wurde aufgefrischt und erweitert, was auch darauf zurückgeht, dass sich der Intendant, von Haus aus Cellist, in den musikalischen Gefilden auskennt und zudem über Ideenreichtum und Mut verfügt. Bald mussten jedenfalls die im KKL abgehaltenen Sinfoniekonzerte doppelt geführt werden – und bekanntlich zieht nichts so sehr den Erfolg an wie der Erfolg selbst. Entwickelt und stark ausgebaut wurde auch ein breites Spektrum an Musikvermittlung; im Zentrum stand da ein origineller Musikwagens, mit dem das Orchester unter die Menschen ging, unter die jungen wie die alten. Inklusion ist ein Modewort; hier wird sie gelebt. Inzwischen nimmt das Luzerner Sinfonieorchester eine neue Position in der Schweizer musikalischen Landschaft ein: Das Orchestre de la Suisse Romande war in Luzern zu Gast, während umgekehrt die Luzerner in der Genfer Victoria Hall gastierten. Spitzenorchester unter sich.

Zwei ganz besondere Schritte erfolgten in jüngster Vergangenheit. 2020 wurde das Luzerner Orchesterhaus eröffnet. Zwar definiert sich das Luzerner Sinfonieorchester als Residenzorchester des KKL. Mit dem Neubau auf dem musikalischen Kampus Südpol verfügt es nun aber auch über einen eigenen Sitz, einen von weitem sichtbaren Kubus mit einem grossartigen hölzernen Saal für die Probenarbeit, für Kammerkonzerte und die Musikvermittlung, mit Übungsräumen für die Musikerinnen und Musiker und mit dem Notwendigen für die Administration. Ein Jahr später trat das Luzerner Sinfonieorchester mit einem Festival, einer Insel im Saisonprogramm, an die Öffentlichkeit. «Le Piano Symphonique» nennt es sich, und es versteht sich als Ersatz für die aus unklaren Gründen aufgegebene Klavierwoche des Lucerne Festival. «Le Piano Symphonique» prunkt mit grossen Namen, wartet aber auch mit manch unkonventioneller Programmidee auf.

Die grossen Namen haben durchaus ihren Platz in Luzern, nicht nur während des Festivals. So kommen Martha Argerich, Maria João Pires und Elisabeth Leonskaja fürs sinfonische Klavier nach Luzern – und setzen sich sogar zu zweit an die Tasten. Jean-Yves Thibaudet gibt zusammen mit Martha Argerich die «Petite Suite» für Klavier zu vier Händen von Claude Debussy, worauf sich Kit Armstrong – an der Orgel, notabene – der technisch wie musikalisch höchst anforderungsreichen Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» von Franz Liszt annimmt. Um sich am Tag darauf, nun wieder am Klavier, Liszts «Etudes d’exécution transcendante» zuzuwenden.

Sehr gut nimmt sich auch der Name von Michael Sanderling aus, der dem Luzerner Sinfonieorchester seit der Spielzeit 2021/22 verbunden ist. Erst recht kann sich der Dirigent aber hören lassen. Zum Beispiel auf jener fünf Compact Discs umfassenden Box von Warner Classics, auf der sich, neben dem Klavierquartett Nr. 1 in g-moll op. 25 in der Orchestration Arnold Schönbergs, die vier Sinfonien von Johannes Brahms finden: ein hervorragend gelungener Anschluss an den Faden, den Wolfgang Rihm vor gut zehn Jahren mit «Nähe fern», den nachsinnenden Fantasien zu diesen Sinfonien, ausgelegt hat. Brahms mit Sanderling und den Luzernern – das sorgt für hochstehendes Erleben. Das Orchester bietet einen herrlich austarierten, voluminösen, aber nirgends schweren Ton; er lebt von natürlicher Kantabilität und bewusster Phrasierung. Das erweist schon der Kopfsatz der Ersten, dessen langsame Einleitung alle Grösse zeigt – freilich eine Grösse, die auch strukturell begründet ist, wird das Tempo in der Folge doch streng im Schlag ins Allegro übergeführt.

Exzellent der Streicherkörper mit seinen schlanken Kontrabässen und, zumal im Finale, die Bläser: Flöte und Horn, später Posaune und, für einmal gut vernehmbar, Kontrafagott. Im Kopfsatz der Zweiten spielen die Violinen ihre ganze Zartheit aus, und die Posaunen fügen sich geschmeidig in deren Klang ein. Schade nur, dass die beiden Geigengruppen nebeneinander sitzen und nicht einander gegenüber nach hergebrachter deutscher Art – von Brahms intendierte Echowirkungen kommen in dieser Aufstellung nicht zur Geltung. Packend dagegen, wie sorgfältig in der Durchführung dieses Satzes mit dem Wechsel zwischen Gebundenem und Gestossenem gespielt wird. Und wie zwingend dann der Übergang in die Reprise gelingt.

Besonders plausibel das Finale der Vierten, die grosse Passacaglia über einen achttaktigen, immergleichen Bass, die sich in Aufführungen bisweilen etwas in die Länge ziehen kann. Keine Rede davon in der Luzerner Aufnahme. Würdig, in gemessenem Tempo und rundem Klang (wiederum mit hörbarem Kontrafagott) das von den Bläsern allein vorgetragene Thema. Schon in der ersten Variation fällt auf, wie der Dirigent das von Brahms vorgeschriebene Diminuendo etwas früher einsetzen lässt, um ausreichend Zeit für einen sorgfältigen Abschluss zu finden. Das langsame Tempo erlaubt ihm in der vierten Variation, in der die Streicher die Führung übernehmen, das «largamente» schön aussingen zu lassen und von dort aus dann eine beinah unmerkliche Steigerung auf die Variation sieben hin zu erzielen. Die Aufnahmetechnik trägt mit ihrer Tiefenstaffelung das Ihre dazu bei, dass die Instrumentation (und damit die Schönheit des Orchesterklangs) zu voller Geltung kommt.

Michael Sanderling stellt ohne Zweifel einen bedeutenden Gewinn für das Luzerner Sinfonieorchester dar. Mal sehen, welche Eindrücke nach der Sommerpause die gigantische «Alpensinfonie» interlassen wird.

Johannes Brahms: Die vier Sinfonien, Klavierquartett Nr. 1 in g-moll op. 25 (orchestriert von Arnold Schönberg). Luzerner Sinfonieorchester, Michael Sanderling (Leitung). Warner 5054197482373 (5 CD, Aufnahmen 2022, Produktion 2023).

Explizit – und schön

Ein Abend mit den Festival Strings Luzern

 

Von Peter Hagmann

 

Live ist in jedem Fall besser als aus dem Lautsprecher, aus dem Kopfhörer, jedem technischen Fortschritt zum Trotz. Hochauflösender Grossbildschirm, Dolby-Atmos, Lautsprecher mit fünfstelligen Kaufpreisen – alles in Ehren. Am Ende geht doch nichts über den Klang, der direkt vom Podium aus ins Ohr dringt, der sich aber auch mit optischen Informationen verbindet. Dies niedergeschrieben von einem eifrigen Konsumenten aufgezeichneter Musik, jedoch erneut gedacht in einem Konzert der Festival Strings Luzern. Die unerhört untereinander verschworenen, von ihrem feurigen Konzertmeister Daniel Dodds geleiteten, zugleich autonom und in enger Abstimmung miteinander wirkenden Musikerinnen und Musiker sorgten im gut besuchten KKL Luzern für ein Hörerlebnis der Extraklasse. Und für eine grandiose Überraschung – eine Überraschung darum, weil die Festival Strings in ihrem engeren Umfeld, aus welchen Gründen auch immer, nicht über das Image verfügen, das ihrer künstlerischen Erscheinung entspräche.

Aber da wäre etwa die CD mit Wolfgang Amadeus Mozarts «Haffner-Serenade» in D-dur KV 250 samt dem ihr zugehörigen, vorangehenden Marsch in der gleichen Tonart. Eine Freiluft-Musik in der Art damals gültiger Tradition, aber mit Einfall und Witz komponiert. Und genau das Richtige für die 1956 von Wolfgang Schneiderhan und Rudolf Baumgartner in Luzern gegründete Formation, die freilich längst über die damals gepflegte Einrichtung als reines Streichorchester hinausgewachsen, vielmehr zu einem Klangkörper in voller Besetzung geworden ist. Allerdings: Mit rund zwei Dutzend Streichern gegenüber den doppelt geführten, solistisch eingesetzten Bläsern nimmt der Klang eine andere Färbung an als im philharmonischen Bereich. Leicht und hell wirkt er. Den Marsch wie das zweiteilige Allegro der Eröffnung nehmen die Festival Strings pointiert im Rhythmus und getragen von elegant federnden Kontrabässen. Ausgezeichnet getroffen das Tempo im Andante des zweiten Satzes, nur herrscht hier doch wohl zu viel Vibrato: Süsses schiebt sich in den Vordergrund – vielleicht hatte sich der leitende Konzertmeister Daniel Dodd vorgenommen, die «Seillières»-Stradivari von 1680, die Wolfgang Schneiderhan seinerzeit gespielt hat und die jetzt dank einem mäzenatischen Akt von privater Seite den Festival Strings gehört, besonders herauszuheben. Berührend das Menuett in moll, witzig das Rondo, dessen verspieltes Geigensolo Dodd blendend meistert.

Gut gelungen ist das, doch das wirkliche Gesicht der Festival Strings von heute liess sich erst im letzten Luzerner Abonnementskonzert des Ensembles erkennen. Nach einer zuverlässigen Wiedergabe der vier Noveletten in F-dur von Niels Wilhelm Gade, einem hierzulande kaum beachteten Zeitgenossen von Mendelssohn und Schumann, gab es von Letzterem das Cellokonzert in a-moll op. 129 mit seinen drei ineinander übergehenden Sätzen. Auf einem kleinen Podest im Zentrum sass Kian Soltani, der junge, Vorarlberger Cellist mit persischen Wurzeln – ein enorm aufstrebender Musiker, der in der kommenden Saison beim Tonhalle-Orchester Zürich in Residenz sein wird. Er nahm seinen Part mit einer Schönheit des Tons, einer Natürlichkeit des Singens und einer Musikalität in der Gestaltung, die unmittelbar in den Bann schlugen. Geradezu sensationell wirkte jedoch die Begleitung durch die Festival Strings, denen Daniel Dodd vom Sitzplatz des Konzertmeisters aus hie und da ein Handzeichen gab, im übrigen aber ungeheuer entschieden voranging. Das war von derart animierender Kraft, dass die Orchestermitglieder als ein restlos geschlossenes, kammermusikalisch aufgewecktes Ensemble erschienen und dem Solisten in einer Vertrautheit und einer Intensität zur Seite standen, als wären sie Partner seit Jahren.

Noch einen Schritt weiter gingen die Festival Strings Luzern in Felix Mendelssohn Bartholdys Sinfonie Nr. 3 in a-moll, der Schottischen. Der federleichte Klang, der mit Mendelssohns Musik verbunden ist, die Helligkeit, die Durchhörbarkeit, die zugespitzten Zeitmasse, all das gelang wie von selbst. Gleichzeitig strahlte das Ensemble eine Körperlichkeit sondergleichen aus. Jede Musikerin, jeder Musiker spielte nicht nur mit letztem Einsatz, sondern gestaltete auch mit höchstem Engagement – bis hin zum Saitenriss, den der Stimmführer der Zweiten Geigen zu erleiden hatte und den er mit Hilfe seiner Nebensitzerin mühelos bewältigte. Und dann dieser Schwung, dieses gemeinsame Atmen. Dazu der Umgang mit Attacke, Artikulation, Vibrato – alles vom Feinsten ausgearbeitet. Kristallklar trat die Musik Mendelssohns auf den Plan, superb ausgearbeitet im Strukturellen und im selben Moment versehen mit hinreissender sinnlicher Ausstrahlung. Der Schritt hin zu Darmsaiten wäre möglicherweise nur ein kleiner.

Wolfgang Amadeus Mozart: «Haffner». Serenade Nr. 7 in D-dur KV 250, Marsch in D-dur KV 249. Festival Strings Luzern, Daniel Dodds. Sony 19658725062 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).

Alte weise Männer – fast

Auftritte des Tonhalle-Orchesters Zürich
und des Berner Symphonieorchesters

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konstellation war zu verlockend. Wie es beim Tonhalle-Orchester Zürich nun mal so Sitte ist, war David Zinman, der erfolgreiche Chefdirigent zwischen 1995 und 2014 und heutige Ehrendirigent, für einen Abend nach Zürich eingeladen. Vorgesehen war Anton Bruckners Sinfonie Nr. 5, später ist daraus die Nr. 4 geworden. Für fast denselben Zeitpunkt war beim Berner Symphonieorchester dessen langjähriger Chefdirigent Mario Venzago für einen Abend des Wiedersehens angekündigt. Auch bei ihm stand eine Sinfonie Bruckners auf dem Programm, nämlich die Dritte, die Venzago vor fast zehn Jahren mit dem Berner Orchester aufgenommen hat. Im Raum stand also ein reizvoller Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Kunst des Dirigierens und das Lebensalter auf der Basis der bekanntlich nicht gerade einfachen Musik des Meisters von Sankt Florian.

Allein, es hat nicht sollen sein. David Zinman, inzwischen 86 Jahre alt, war von ärztlicher Seite empfohlen worden, auf die Reise nach Europa und den Auftritt auf dem Konzertpodium zu verzichten, was der Dirigent so selbstverständlich wie bedauerlicherweise respektierte. In aller Eile musste denn auch für Ersatz gesorgt werden; gefunden wurde er in der Person des 27-jährigen Österreichers Patrick Hahn, der schon in vieler Munde ist und jetzt in der Grossen Tonhalle Zürich debütiert hat. Derzeit wirkt er in Wuppertal, und dort lässt er sich als «jüngster Generalmusikdirektor im deutschsprachigen Raum» vorstellen. Aus dem Spaziergang mit zwei alten weisen Männern wurde darum nichts, es kam vielmehr zur Begegnung zwischen einem hocherfahrenen Könner und einem Nachrückenden, der mit Mut nicht nur das Konzert, sondern sogar das Programm gerettet hat.

An sich will das Lebensalter nichts heissen. Legt ein junger Dirigent Wert auf seine Jugendlichkeit und wagt er sich an ein Stück wie die Vierte Bruckners, hört man jedoch mit besonderer Genauigkeit hin. Zu sagen ist: Sehr ordentlich, wie Patrick Hahn die wohl beliebteste der Sinfonien Bruckners gemeistert hat, aber für eine Erleuchtung reichte es nicht; es kam zu einer respektablen Wiedergabe, aber nicht zu einer Interpretation im eigentlichen Wortsinn. Mit seinem abgespreizten kleinen Finger an der rechten, den Taktstock führenden Hand gab sich Patrick Hahn als ein Dirigent alter Schule zu erkennen, der dem Orchester distinguiert, aus einer Position der Übersicht heraus vorangeht. Wirklich im Griff hatte Patrick Hahn die Zürcher Formation allerdings nicht, und die Konturen einer Meinung des Dirigenten zum Werk blieben merklich unscharf.

Zu wünschen übrig liess etwa die Balance. Die Posaunen bliesen sich immer wieder in den Vordergrund, was nun einmal ausgesprochen unschön klingt. Und in den letzten Takten der Sinfonie war der berühmte Hornruf, der das Werk eröffnet hat und sich an dieser Stelle als Krone auf das dreifache Forte des gesamten Orchesters zu setzen hätte, nicht der Spur nach zu vernehmen. Die Zeichengebung mit den beiden meist parallel geführten Händen, die Fokussierung der Blickrichtung des Dirigenten auf die Ersten Geigen, die Beiläufigkeit der Phrasierung, die auf wenig Gespür für das Atmen der Musik zurückgeht, der brave Umgang mit den Tempi – Symptome solcher Art zeigen, dass es hier noch reichlich Luft nach oben gibt. An der Begabung Patrick Hahns ist freilich kein Zweifel.

An jener der Geigerin Noa Wildschut erst recht nicht. Keck ging die erst 22-jährige Musikerin aus den Niederlanden das Violinkonzert Nr. 5 in A-Dur, KV 219, an: im Kopfsatz mit noch etwas viel Mainstream-Vibrato, im weiteren Verlauf aber mit immer mehr überraschenden Einfällen, zum Beispiel mit spannend gestalteten Trillern. Auch wenn noch nicht alles restlos gefasst erschien, trat da doch ein ganz eigener Ansatz zutage; er nimmt viel von jenen Energien auf, die das Mozart-Bild im späten 20. Jahrhundert so entschieden aufgefrischt haben. Wie genuine Vitalität in Kunst übergeführt werden kann, erwies aber ganz besonders Sol Gabetta. Innig verbunden mit dem Berner Symphonieorchester und Mario Venzago gab sie das selten gespielte, weil technisch wie gestalterisch anspruchsvolle Cellokonzert Nr. 2 in d-Moll, p. 119, von Camille Saint-Saëns. Dass das Stück als etwas spröde gilt, konnte man gleich vergessen, so überzeugend, mit so viel Schwung, so reichem Klangspektrum, so vielfach differenziertem Vibrato und ausserdem ohne jedes unnötige Portamento bewältigte sie ihren Part.

Eröffnet wurde der Abend im Berner Stadtcasino – er hätte schon längst stattfinden sollen, musste der Pandemie wegen aber verschoben werden – mit der Uraufführung von «Hymnus», einem Auftragswerk des Baslers Balz Trümpy: einer Verneigung vor Anton Bruckner und einer Reminiszenz an die Avantgarde von ehedem in persönlicher Handschrift. So lag denn nahe, dass nach der Pause Bruckners Dritte, in d-Moll wie das Cellokonzert von Saint-Saëns, auf den Pulten lag. Keineswegs von selbst versteht sich die Individualität, in der Mario Venzago an die Musik Anton Bruckners herangeht. An Klangfülle fehlte es nicht in der an Wagner orientierten Sinfonie, doch blieb das Blech jederzeit sinnvoll ins Ganze eingebunden und erschien die Farbenpracht der Partitur in hellem Licht. Nicht wenig zum lebendigen Bild beigetragen hat die Erhitzung der Spannungsverläufe durch die Arbeit mit Tempo und Attacke, eine Anleihe an Auffassungen des frühen 20. Jahrhunderts, und andererseits durch die Integration des geraden, ohne Vibrato versehenen Tons, wie er in der alten Musik wiederentdeckt worden ist. Mario Venzago ist ein wacher Geist, offen für die Geschichte wie die Gegenwart, und seine langjährige Erfahrung lässt ihn aus einem opulenten Fundus schöpfen – als ein alter weiser Mann.

Kinderschmerzen, erfolgreich gelindert

«L’Enfant es les sortilèges» von Ravel und Tschaikowskys «Iolanta» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger als noch intakte Teetasse, Michał Prószyński (Teekanne) und Amelie Baier in voller Zerstörungswut / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Natürlich weiss das Kind, dass es seine Hausaufgaben zu erledigen hätte, die Mutter hat es ausdrücklich daran erinnert. Nur hat das Kind darauf absolut keine Lust; Lust hat es vielmehr darauf, böse zu sein, der Mutter die Stirn zu bieten und das wohlgeordnete Heim zu attackieren. Das geht anfangs gut, doch mit einem Mal verändert sich die Umgebung. Sie belebt sich. Die ihres Deckels beraubte Teekanne beginnt zu sprechen (natürlich auf Englisch, der Tea ist ja über das Commonwealth auf uns gekommen), der immer wieder zu Boden geworfene Wecker, der aufgeschlitzte und nach Massen ausgeweidete Teddybär, das zahme, aber nichtsdestotrotz malträtierte Eichhörnchen, sie alle beklagen sich über die ihnen zugemutete Behandlung. Ein Katzenpaar führt dann allerdings vor, wie das geht: lieb sein. Das Kind, nicht wenig erschrocken über sein bisheriges Verhalten, hat ein Einsehen. Ob es die Hausaufgaben erledigt, bleibt offen, aber immerhin zeigt es tatkräftiges Mitleid.

«L’Enfant et les sortilèges», die von Colette erfundene Geschichte, ist und bleibt entzückend, das finden auch die nicht wenigen Kinder, die an diesem Sonntagnachmittag an Vaters und/oder Mutters Hand ins Stadttheater Bern gefunden haben und dort gebannt dem Geschehen folgen. Es wird von den Bühnen Bern in einer sympathisch kindergerechten, zugleich nirgends anbiedernden Weise vorgestellt. Patrick Bannwart (Bühne) und Moana Stemberger (Kostüme) haben das Kinderzimmer, das sich später in einen nächtlichen Garten weitet, so stimmungsvoll eingerichtet, wie es das Libretto andeutet: die Welt der Erwachsenen übergross, die für das Kind erschreckenden Erscheinungen witzig und effektvoll. Und David Bösch führt als Regisseur das grosse, durchwegs ausgezeichnet besetzte Ensemble hin zu lebendiger, aber diskreter Bewegung.

Getragen wird die Aufführung auch von der Musik Maurice Ravels, der in diesem Einakter nicht nur seine Einfallskraft, nicht nur seine Handschrift, sondern vor allem einen prägenden Zug seiner Persönlichkeit herzeigt. Das Kleine, das Verspielte, das Naturhafte, das Kindliche, ja die Kinder überhaupt und mit ihnen die Tiere und die Blumen – all das lag dem Komponisten besonders nahe, und in «L’Enfant et les sortilèges» hat er es in hellen, sehr charakteristischen Klang gefasst. Barockes gesellt sich zum Jazz, die Assonanz an den Opernton zur Revue; manch schräger Ton, manch überraschender Auftritt eines Instruments sorgt für Erheiterung – Postmoderne avant la lettre findet hier statt, freilich fern jeder Nostalgie, vielmehr stets ironisch distanziert. Dass man das so klar wahrnimmt, geht zuvörderst auf das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Nicholas Carter zurück. Trocken geht der Berner Co-Operndirektor die Partitur an, er erzählt sie etwas knorrig, nahe beim Fagott des Grossvaters in Prokofjews «Peter und der Wolf». Amelie Baier als das schreckliche, doch rasch gesundende Kind macht hierbei genau die richtige Figur.

Verity Wingate (Iolanta) in ihrem gläsernen Verliess / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Allein, damit hat es sich nicht, es geht ja noch weiter – und wie. Ganz und gar andersartig, obgleich auf ähnlicher Schiene. Auch die Titelfigur in «Iolanta», dem Einakter von Peter Tschaikowsky, ist ein Kind, ein etwas älteres Kind, eine Königstochter an der Schwelle zur Adoleszenz. Sie sieht nichts, und das ist darum halb so schlimm, weil sie nicht weiss, dass Menschen sehen. Sie darf es nicht wissen, ihr Vater René will es so, und wer gegen diesen Willen verstösst, ist des Todes. Das hat Gewicht, denn der Herrscher über die Provence ist in Bern eine überaus machtvolle Erscheinung. Der König sitzt zwar im Rollstuhl, weil seine Kräfte, wie er von sich selber sagt, zu schwinden beginnen. Aber das bezieht sich keineswegs auf die Stimme, daran lässt Matheus França nicht den geringsten Zweifel. Selten ist derart prachtvoll gerundetes Volumen zu hören wie bei dem 36-jährigen Bass aus Brasiliens. Und kaum je kommt es zu so genuinen Theatermomenten wie hier.

Auch in diesem zweiten Teil der jüngsten Berner Opernproduktion gibt es einen Garten mit duftenden Blumen und ein Zimmer – einen gläsernen Kubus, in dem König René seine Tochter Iolanta in ihrem Unwissen gefangen hält. Doch die Geschichte wendet sich gegen die Autokratie. Der Herrscher hat den maurischen Arzt Ibn-Hakia engagiert; dieser Vertreter des im Mittelalter auch in Spanien ansässigen, kulturell wie wissenschaftlich hochentwickelten Islam, Thomas Lehman gibt ihn mit geschmeidigem, sonorem Bariton, soll die Tochter von ihrer Blindheit erlösen. Zum Teil ist das freilich bereits geschehen. Denn mit Robert, dem Herzog von Burgund (Jonathan McGovern), und seinem beigeordneten Ritter Vaudémont sind angeblich zufällig zwei unerwünschte Gäste in den verbotenen Garten eingedrungen. Iolanta und Vaudémont, das ist ein coup de foudre, wie er im Buch steht. Er eröffnet ihr ihre Blindheit und im gleichen Atemzug seine unbedingte Liebe, sie erwacht und ist voll des Feuers, Blindheit hin oder her – wie das Verity Wingate mit ihrem leuchtkräftigen Sopran und James Ley mit seinem geschmeidigen Tenor darbieten, ist schlechterdings hinreissend.

Kein Wunder, gelingt die Heilung, lässt der König im Rollstuhl auf dringendes Anraten des weitsichtigen Arztes seine Tochter frei und kann das überglückliche Ende eintreten, zu dem auch der von Zsolt Czetner vorbereitete Chor der Bühnen Bern mit seinem klangmächtigen Gotteslob seinen nicht unbeträchtlichen Teil beiträgt. Überhaupt lebt diese «Iolanta» von einer sehr ausgeprägten Musikalität. Engagiert unterstützt durch das Berner Symphonieorchester schlägt Nicholas Carter am Pult einen ganz anderen Ton an als bei Ravel. Warme Homogenität und vibrierende Lebendigkeit stellen sich da ein. Sorgfältig und in souveräner Übersicht steuert der Dirigent die Spannungskurven, aus überzeugender Vorstellung heraus mischt er die Klangfarben, natürlich atmend entfalten und verbinden sich die Tempi – und das alles ohne jeden Druck. Da kann einem die Musik Tschaikowskys fürwahr ans Herz gehen.