Mit dem Saxophon im Konzertsaal

Ein Abend des Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Valentine Michaud (rot) und Gabriel Michaud (blau) in Harrison Birtwistles «Panic» / Bild Magali DOugados, Orchestre de la Suisse Romande

So schnell findet sich ein Abonnementskonzert wie dieses nicht wieder. Das Programm: durchkomponiert von A bis Z, und das mit Werken ausschliesslich aus dem 20. Und 21. Jahrhundert. Die Ausführung: erstklassig in jeder Hinsicht, obwohl höchste Anforderungen gestellt waren. Der Saal: so gut wie ausverkauft – und besetzt mit einem altersmässig gut durchmischten Publikum. So ist es eben beim Orchestre de la Suisse Romande und seinem Musikdirektor Jonathan Nott. Und so ist es, wenn in der ehrwürdigen Genfer Victoria Hall eine so unkonventionelle Musikerin wie Valentine Michaud ihren Auftritt hat.

Seit sie 2020 den Credit Suisse Young Artist Award gewonnen hat und im Rahmen dessen als erste Vertreterin ihres Instruments mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen beim Lucerne Festival in Erscheinung getreten ist, steht die 1993 geborene Saxophonistin im Begriff, die Konzertsäle zu erobern. Sie tut es in Zusammenarbeit mit Orchestern oder im Duo mit der Pianistin Akvilé Šileikaité, aber auch mit ihrem Bruder, dem Schlagzeuger Gabriel Michaud. Und nicht nur das. Zusammen mit Emmanuel Michaud, einem weiteren Bruder, hat sie mit Sibja, einem transdisziplinären Kollektiv, eine Initiative gestartet, die neue, auf verschiedenen Ebenen basierende Konzertformate entwickelt. Was das für das Repertoire der Musikerin und ihr Erscheinungsbild bedeutet, veranschaulicht ihre neue CD unter dem Titel «Oiseaux de paradis», die einen Bogen von François Couperin zu John Lennon schlägt.

Bei Jonathan Nott ist Valentine Michaud mit ihrem im Konzertsaal noch nicht wirklich etablierten Instrument und ihrer künstlerischen Neugier auf offene Ohren gestossen. Für ihren ersten grossen Auftritt als Residenzkünstlerin des Orchestre de la Suisse Romande hat der Dirigent ein Programm zusammengestellt, das in der Vielfalt seiner inhaltlichen Bezüge von einzigartiger Attraktion war. Wie der Abend mit den Trois Danses pour orchestre op. 6 von Maurice Duruflé anhob, mischte sich bald, aber sehr diskret ein Saxophon in den Klang des gross besetzten Orchesters. Und kaum hatte man das wahrgenommen, gesellte sich für einen Augenblick der Bolero-Rhythmus der Trommel dazu. Wegweiser in Richtung dessen, was sich weiter ereignen sollte.

Die viel zu selten gespielten Tänze des Organisten-Komponisten Maurice Duruflé glänzen mit eigener, sehr schöner Musik unschwer zu erkennender französischer Tradition aus dem Jahre 1932. In der romantischen Tradition verankert, entfalten sie einen breiten Fächer an Stimmungen und sinnlichen Wirkungen – wie das Jonathan Nott mit dem Genfer Orchester erlebbar machte, liess keinen Wunsch offen. Das gilt auch für die «Escapades», eine Musik von John Williams zu dem Film «Catch me if you can», und das umso mehr, als hier das Alt-Saxophon von Valentine Michaud hören liess, zu welch sirenenartiger Lieblichkeit das gewöhnlich ganz anders konnotierte Instrument in der Lage ist.

Dann freilich wurde kräftig umgebaut. Das Orchester war nur mit seinen Bläsern präsent; sie sassen im Hintergrund des Podiums vor der Orgel. In Vordergrund wurde Platz geschaffen für zwei Inseln mit einer Fülle an Schlaginstrumenten und Raum für die Solistin. «Panic» von Harrison Birtwistle war angesagt, ein wildes, wüstes, horribel schweres Stück aus dem Jahre 1995, dessen Uraufführung bei den BBC Proms in London einen Skandal auslöste. In der Tat nimmt Birtwistle (auch) hier kein Blatt vor den Mund. Es geht um das Treiben des Gottes Pan auf Erden, und da bleibt bekanntlich kein Stein auf dem anderen. So auch in der Victoria Hall, wo zuerst der Dirigent allein auftrat und damit das Feld offen liess für Valentine Michaud und ihren Bruder Gabriel Michaud – beide mit nach allen Seiten zerzaustem Kopfputz aus der Manufaktur der Saxophonistin, die auch ihre Kostüme selber schneidert. Ein zwanzigminütiger Tonsturm kam da auf, Schrei folgte auf Schrei, Schlag auf Schlag – alles in denkbar brillanter Weise gemeistert vom Solistenpaar wie vom Orchester. Grosser Jubel.

Daraufhin und zum Schluss ein erneutes «ballet des techniciens», die innert weniger Minuten das Podium wieder herrichteten – für «Boléro», ein Kernstück aus dem Repertoire des Orchestre de la Suisse Romande, und bekanntlich fehlt auch hier das Saxophon nicht. Wunderbar, wie zart Jonathan Nott den Anfang aufsteigen, wie sorgfältig er die Farben aufscheinen liess. Und grossartig, wie es ihm gelang, das Repetitive des Stücks Schritt für Schritt mit innerer, vibrierender Spannung aufzuladen – bis zu jenem Punkt, da die Harmonie wechselt und neues Licht angeht. Und einmal mehr erwies sich, auf welch brillantem Niveau das Orchestre de la Suisse Romande mit Jonathan Nott Musik macht.

Genf honoriert das. Eben konnte das Orchester mit Hilfe eines Mäzens ein Gebäude, das an die Victoria Hall anschliesst, mieten und für seine Zwecke einrichten. Und die Zahl der Abonnemente, so der Intendant Steve Roger, sei klar im Steigen begriffen; seien 2019/20, in der letzten Spielzeit vor der Pandemie, rund 2000 Abonnemente verkauft worden, so zähle das Orchester in der Saison 2023/24 deren 4000. Eine Verdopplung auch in der Kasse – und dies zu einer Zeit, da allerorten über Publikumsschwund und insbesondere den Bedeutungsverlust des Abonnements geklagt wird. Es kann es auch anders gehen.

Oiseaux de Paradis. Valentine Michaud (Saxophone), Gabriel Michaud (Schlagzeug), Kurt Rosenwinkel (Gitarre). Mirare 716 (CD, Aufnahme 2023, Publikation 2024).

Une soirée parisienne

«Fortunio» von André Messager
in der Opéra de Lausanne

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Carole Parodi / Opéra de Lausanne

Man kennt ihn aus dem Lexikon, nicht aus gelebter Erfahrung. Dabei war André Messager (1853 bis 1929) Lichtgestalt wie Zentralfigur im Musikleben der Belle Epoque, jener Ära zwischen dem für Frankreich schmählichen Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 und dem Ausbruch der Ersten Weltkriegs 1914. Ausbildet an der Ecole Niedermeyer in Paris und von da her in gutem Einvernehmen mit Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré, trat er von der kleinen Orgel in der Pariser Madeleine aus den Gang durch die Institutionen an; er führte ihn als Musikdirektor an die Opéra-Comique, als künstlerischer Leiter zur Covent Garden Opera London und schliesslich als Direktor an die Pariser Opéra. Am Ende sah er sich geehrt als Commandeur in der Légion d’Honneur. Das Dirigieren nahm einen wichtigen Platz ein; dass er bei der Uraufführung von Claude Debussys «Pelléas et Mélisande» am Pult der Opéra-Comique stand, hat ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert. Auch komponiert hat er, und nicht wenig, doch das ist heute so gut wie vergessen.

Leider – das darf sagen, wer in der Opéra de Lausanne «Fortunio» gesehen und gehört hat, eine comédie-lyrique André Messagers, die auf einer Komödie von Alfred de Musset basiert. Als Messager als Dirigent der Uraufführung seines Werks 1907 ans Pult trat, soll ihn das Orchester der Opéra-Comique mit Ovationen begrüsst haben – so ist es der Rezension zu entnehmen, die Gabriel Fauré für «Le Figaro» verfasst hat. Tatsächlich hat es die Partitur in sich; sie klingt ausgeprägt französisch, ohne jeden Anklang an den Wagnerismus von César Franck, an die schwere Süsse von Jules Massenet oder den Klassizismus von Saint-Saëns – ganz eigen eben, aber durchaus eingebettet in die musikalische Umgebung ihrer Zeit. Leichtfüssig, aber nie seicht erzählt sie die Geschichte der jungen, schönen, biestigen Jacqueline, die mit dem in die Jahre gekommenen Notar Maître André verheiratet ist, daneben aber gerne auf Nebengeleisen fährt, etwa mit dem smarten Hauptmann Clavaroche oder dem Unschuldslamm Fortunio, das es freilich faustdick hinter den Ohren hat.

Nach der Uraufführung wurde «Fortunio» bis 1953 gegen achtzig Mal gespielt, in Frankreich hielt sich das Stück bis ins frühe 21. Jahrhundert auf den Bühnen, im deutschsprachigen Kulturbereich dagegen scheint es bloss verächtliches Schulterzucken erzeugt zu haben. Claude Cortese, der neue Direktor der Opéra de Lausanne, sieht gerade darin seine Chance. Er will in seinem Haus vornehmlich Stücke zeigen, die in Lausanne bisher nicht zu sehen waren. Und er will, so jedenfalls der implizite Tenor, die gar nicht so kleine Oper von Lausanne mit ihren drei Rängen und ihrem modernen Anbau als Stätte der Produktion zu einem Hafen für die französische Oper in der mehrsprachigen Schweiz etablieren. Das ist im besten Fall eine klare Ansage und schafft ein interessantes Gegengewicht zu dem ungleich grösseren, mächtig ausstrahlenden Grand Théâtre de Genève, das mit seinem Intendanten Aviel Cahn entschieden den Anschluss an das internationale Opernbusiness gesucht und gefunden hat.

In Lausanne hat sich Claude Cortese, ein mit allen Wassern gewaschener Theaterpraktiker, daran erinnert, dass es 2009 an der Pariser Opéra-Comique zu einer Produktion von André Messagers «Fortunio» gekommen ist, die gute Resonanz erzeugt und sogar auf das Medium der DVD gefunden hat. Die Produktion, nicht selbstverständlich, war noch zu haben – und so hat sie Cortese eingekauft: eine ausgezeichnete Tat. Die Inszenierung von Denis Podalydès, einem Sociétaire der Comédie-Française, hält sich denkbar weit entfernt von Ideen des Regietheaters, sie zeigt das Stück als Stück, was allerdings nicht eben wenig ist. Sie tut es mit schauspielerischer Energie und Spielwitz, schlägt den Zuschauer wie die Zuschauerin in Bann und schafft echtes Theatervergnügen. Das Bühnenbild von Eric Ruf spielt geschickt mit den Situationen und den mit ihnen verbundenen Klischees, die Kostüme von Christian Lacroix verorten das Stück amüsant lavierend zwischen der Entstehungszeit des Textes von Musset und jener der Musik. Und die Akteure auf der Bühne geraten in Fahrt, dass es eine Freude ist.

Wesentlich getragen wird das Vergnügen durch die Tatsache, dass in Lausanne ein Ensemble versammelt ist, dessen Mitglieder allesamt französischer Muttersprache zu sein scheinen. Das ist darum von Belang, weil sich die Musik André Messagers elegant dem Sprachduktus des Französischen anschmiegt. Gepflegte Diktion herrscht hier, eine geradezu lustvolle Sorgfalt etwa in der Färbung der Vokale und im Umgang mit Hebung und Senkung. So ist der bisweilen von Ironie geprägte Text über weite Strecken gut verständlich, auch bei den Stimmen in hoher Lage. Nicht zuletzt ist das dem Orchester Sinfonietta de Genève zu verdanken, das unter der Leitung von Marc Leroy-Calatayud einen schlanken, allerdings etwas unpersönlichen, die Farbigkeit der Musik unterspielenden Ton hören lässt.

Umso prachtvoller kommt dank Sandrine Buendia die Sinnlichkeit der im Zentrum der männlichen Begehrlichkeiten stehenden Jacqueline zur Geltung, wogegen der in der Partie des Fortunio sehr authentische Pierre Derhet als zuletzt lachender Vierter im Bunde bisweilen etwas viel Druck aufsetzt. Umwerfend Marc Barrard als der alte Notar und mehrfach gehörnte Ehemann, ein Schüler des grossen Gabriel Bacquier und sein würdiger Nachfahre. Während Christophe Gay als der mehr als wendige Hauptmann Clavaroche nicht nur durch einen höhensicheren Tenor, sondern auch durch akrobatische Beweglichkeit in Erinnerung bleibt. Während in Zürich und München die Pimmel hüpfen, blickt Lausanne auf die Sache, auf die Kunst. Zum Glück.

Wenn der Berg mehr als grollt

«Derborance» von Daniel Andres
als Uraufführung in Biel

 

Von Peter Hagmann

 

Samy Camps als Antoine in Biel / Bild Joel Schweizer, Theater-Orchester Biel-Solothurn

Antoine ist düster; ahnt der junge Mann etwas? Er ist mit seinem Schwiegeronkel, der sich bei seiner Schwester wortgewaltig für die Erlaubnis zur Ehe mit deren Tochter Thérèse ausgesprochen hatte, mit den Tieren vom heimatlichen Dorf auf die Alp Derborence gestiegen. Bald legen sich der Alte und der Junge auf ihren Strohsäcken in der einfachen Alphütte schlafen – da geschieht es, donnert ein Felssturz auf die Alp herab und begräbt alles Lebendige unter Steinmassen. Ein Einziger überlebt: Es ist Antoine, der sich mit Geschick und Hartnäckigkeit aus seinem Felsenverliess befreit und, wie weiland Siegfried geleitet von einem Vögelchen, ins Dorf hinuntereilt. Dort wird er nicht eben freundlich empfangen; die Dorfgemeinschaft hält ihn für einen Wiedergänger. Thérèse aber, in Erwartung, erkennt ihren Mann und folgt ihm in ein neues Leben, wo immer sich das abspiele.

Erzählt wird das in dem sehr persönlichen, spannenden Roman des viel zu wenig geschätzten Schriftstellers Charles Ferdinand Ramuz aus der französischen Schweiz. Kein Wunder, hat er Daniel Andres in den Bann geschlagen. 1937 in Biel geboren und dort verwurzelt, ist Andres Komponist, aber überdies ein auf denkbar unterschiedlichen Ebenen aktiver Künstler. Neben dem Komponieren hat er dirigiert, hat er die Orgel geschlagen, das regelmässig und mit einem eindrücklichen Repertoire, hat er eine Buchhandlung geführt und selber geschrieben, als Journalist wie als Buchautor. So erstaunt nicht, dass sich Daniel Andres durch die Sprache des Romans angesprochen fühlte – durch ihre herbe Kargheit wie ihre pulsierende Empathie. Seinen Ausgang nimmt der 1934 erschienene Roman ja bei zwei schweren Bergstürzen von 1714 und 1749 an einem der schönsten Orte im Wallis, an den Flanken von Les Diablerets. Das ist zwar Jahrhunderte her, aber Bergsturz ist Bergsturz, man denke nur an den kürzlich erfolgten Abbruch von Felsen beim glarnerischen Martinsloch.

Geschickt hat der Komponist als sein eigener Librettist den Roman zum Opernstoff umgewandelt. Manches musste in diesem Prozess herausfallen, etwa die bedrohliche Stille nach dem Getöse, die von Ramuz grossartig eingefangen ist. Was durch die Transformation an Genauigkeit in der Beschreibung der Gefühlslagen der durch den Bergsturz traumatisierten Menschen verlorengeht, wird kompensiert durch die fürwahr eigenwillige Partitur aus dem Jahre 2021. Die Folgen der Naturkatastrophe spiegeln sich in der äusserst zurückgenommenen Ausstattung des musikalischen Materials; über weite Strecken sind es ein- oder zweistimmige Lineaturen, die den im originalen Französisch gehaltenen Text begleiten. Eine eigene Art Freiheit manifestiert sich da – überhaupt gibt sich die Musik von Daniel Andres frei, sie klingt tonal, geht aber weit über die Grenzen des Tonalen hinaus. Und sie erzählt «Derborence» in ihrer Weise: Kommt Bedrohliches, Schmerzhaftes ins Spiel, erklingen dissonante Ballungen, wenn Antoine in seinem Felsenverliess die Wassertropfen entdeckt, die ihm das Überleben sichern, lässt sich das Schlagzeug vernehmen. Alles ist da in eng gestecktem Rahmen gehalten, es findet aber gerade darum seine Wirkung.

In hohem Mass geht das auch auf die Uraufführungsproduktion im Stadttheater Biel zurück. Der Hausherr Dieter Kaegi hat die Inszenierung selbst übernommen, und er hat den Chefdirigenten Yannis Pouspourikas ins Boot geholt. Würdig dieses Engagement – so würdig wie das Verhalten Kaegis als Patron, der den etwas scheuen alten Komponisten zum Geniessen des Beifalls an die Rampe führte. Pouspourikas hielt den von Valentin Vassilev betreuten Chor des Theaters und das Sinfonieorchester Biel-Solothurn sorgsam bei der Stange und erzeugte eine Spannung ohne Unterbruch. Und zusammen mit dem Ausstatter Francis O’Connor und dem Lichtgestalter Mario Bösemann gelang Dieter Kaegi eine szenische Auslegung, die mit wenigen, klaren Zeichen die für die Geschichte treffenden Konturen schuf. Wenn die Dorfgemeinschaft auf dem Höhepunkt der Erregung nach dem Curé ruft, erscheint der Priester in voller Montur, um dem vermeintlichen Wiedergänger ein Gebetsbuch entgegenzuhalten und ihn nach seinen christlichen Wurzeln zu befragen – Konstantin Nazlamov tut das mit aller stimmlichen Eindringlichkeit. Wenig später meldet sich der einflussreiche Bauer Nendaz zu Wort: mit seinem prachtvollen Bariton lässt Flurin Caduff keinen Zweifel an der Prominenz dieses Mitbürgers. Eindrücklich auch Samy Camps in der Partie des Antoine, der einen tiefgreifenden Wandel zurück in die Dorfgemeinschaft und von ihr wieder weg durchmacht. Gefolgt von Julia Deit-Ferrand als seine Gattin Thérèse, die als Einzige an die Wiederkehr ihres Antoine glaubt – in jeder Faser berührend bringt das die junge Mezzosopranistin aus Lausanne zur Geltung.

Eine Stunde dauert «Derborence», eine aufwühlende Stunde. Nach «Eiger» (vgl. Mittwochs um zwölf vom 26.01.22) bietet das Theater-Orchester Biel-Solothurn hier eine weitere Hommage an Schweizer Alpen. Eine, wie sie in keinem Opernhaus sonst zu erleben ist.

Vorstellungen in Solothurn ab 31. Oktober, in Biel noch ab 13. November 2024.

Geheimnisse der Kammermusik

Das Festival Zwischentöne in Engelberg

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn die Tage kürzer werden und sich der Nebel nicht auflösen will, ist Zeit für den Besuch eines Festivals. Natürlich, die Donaueschinger Musiktage, bei denen das Neuste aus der Neuen Musik zu hören ist, sie strahlen hell. Es gibt aber sehr valable Alternativen, zum Beispiel eben die Zwischentöne in Engelberg. Von Rafael Rosenfeld, dem Solocellisten des Tonhalle-Orchesters Zürich, geleitet und seiner Gattin, der Geigerin Mary Ellen Woodside, programmiert, bietet das inzwischen zehn Jahre alte Festival ein knappes Dutzend Anlässe innerhalb dreier Tage. Und das mit Kammermusik vom Feinsten – was umso bedeutungsvoller ist, als die Musik für kleinere Besetzungen im grossen Konzertbetrieb unserer Tage zunehmend an den Rand gerät.

Das ist bedauerlich. Denn einerseits gibt es, da die Musikhochschulen eifrig Nachwuchs ausbilden, eine grosse Zahl an Musikerinnen und Musikern, die zu Recht nach Auftrittsmöglichkeiten suchen. Und zum anderen ist das Repertoire, und das gilt für die allerverschiedensten Besetzungen, derart gut bestückt, dass auch alte Hasen noch ihre Entdeckungen machen können – Preziosen können da zum Vorschein kommen, dass es eine Art hat. Das Festival Zwischentöne verfolgt in diesem weiten Feld einen ebenso individuellen wie ausbalancierten Kurs zwischen alt und jung, arriviert und nachrückend, Stammrepertoire und Rarität. Zentrum des Unternehmens bildet dabei das Merel-Quartett, das in Zürich beheimatet ist und seit 15 Jahren eine intensive Konzerttätigkeit verfolgt – unter anderem mit einer eigenen, in verschiedenen Städten durchgeführten Reihe.

Um dieses Ensemble herum gruppieren sich Freunde und zugewandte Orte, dazu zwei Vertreter einer jüngeren Generation, die als «Young Festival Artists» Gelegenheit haben, von Erfahrungen anderer zu profitieren und in den Betrieb hineinzuwachsen. Das tat beispielsweise der Pianist Pau Fernández Benlloch; er war eingeladen, zusammen mit der Geigerin Irene Abrigo die frühe Violinsonate in D-dur D 384 von Franz Schubert vorzutragen. Geschmeidig in der Phrasierung und leuchtend im Klang durchschritt er die drei Sätze des 19-jährigen Komponisten. Und dass es zu Schuberts Lebenszeit Traditionen des Klavierspiels gab, die heute ausgestorben sind, aber mit Gewinn wiederzubeleben wären, etwa das ungleichzeitige Anschlagen von Tönen zur Steigerung des Ausdrucks, verstand sich für ihn als Student der Schola Cantorum Basiliensis von selbst.

Vielfältig und in den Besetzungen bunt gemischt gaben sich auch in diesem Herbst die Engelberger Programme. Neben Viertausendern wie dem cis-Moll-Streichquartett op. 131 Ludwig van Beethovens oder dem achten Streichquartett, c-Moll, op. 110 von Dmitri Schostakowitsch schlossen sie auch unbekannte neuere Musik ein, ebenso Improvisiertes aus Irland, zudem selten Gespieltes wie den Liederzyklus «La bonne chanson» von Gabriel Fauré, dessen Todestag sich heuer zum hundertsten Male jährt. Das Vokale, ja, auch das hat seinen Platz bei den Zwischentönen; diesen Herbst sah es sich vertreten durch niemand Geringeren als den deutschen Tenor Julian Prégardien, der sich in Engelberg vornehmlich durch den französischen Pianisten Eric Le Sage begleiten liess. Eine hochattraktive Konstellation, weil die beiden Beteiligten durchaus eigenwillige Ansätze der Interpretation erkennen liessen.

Schumann «Dichterliebe» und die «Winterreise» von Schubert bildeten Höhepunkte nicht nur in diesem Bereich des Programms, sondern im Festival insgesamt. Julian Prégardien nahm die Lieder dieser beiden Zyklen derart explizit in die Hand, dass sie sich zu szenischer Gestalt auswuchsen. Die Dichter, die in den beiden Zyklen von ihren entsetzlichen Seelenqualen berichten, schienen persönlich anwesend. Das ergab sich aus der von Prégardien mit besonderer Sensibilität gestalteten Beziehung zwischen Stimme und Sprache. Während viele Sängerinnen und Sänger, stolz auf ihr vokales Potential, vom Stimmklang ausgehen und den musikalischen Text aus dieser Perspektive deuten, ist es bei Prégardien gerade umgekehrt. Auch er kann selbstbewusst auf sein Material blicken, sein Forte hat umwerfende Strahlkraft, viel stärker noch ist bei ihm aber die Welt des Leisen ausgebildet. Sie umfasst auch das fast nur gehauchte, aber doch noch gesungene Flüstern, ja bisweilen bildet sich eine Art Sprechgesang aus – und dies in Verbindung mit der effektvollen Art des Sängers, sich effektvoll zwischen dem Flügel und dem Rand des Podiums zu bewegen. Die Wahrnehmung ist darum aufs Äusserste gespannt.

So treten denn die gesungenen Texte in ihrer ganzen emotionalen Spannweite (in der «Dichterliebe») und ihrer beklemmenden Depressivität (in der «Winterreise») heraus. Im wunderschönen Kursaal Engelberg liessen sie niemanden kalt, weder das entsetzliche Liebesleid des lyrischen Ichs bei Schumann noch dessen kapitalen Absturz bei Schubert. Vielmehr nahmen sie einen mit auf eine erschütternde Reise von Gefühlen der Hoffnung hin zu letzter Verzweiflung. Wesentlichen Anteil daran hatte Eric Le Sage an dem zart, aber auch farbenreich zeichnenden Bösendorfer aus dem Atelier der Gebrüder Bachmann, Wetzikon. In beiden Zyklen ging Le Sage ausgeprägt von kontrapunktischen Ansätzen aus; was der Sänger durch seine Textdeutlichkeit anstrebte, unterstützte der Pianist durch seine Arbeit an den Melodielinien. Bei Schumann führte das zu einer klanglichen Kargheit, die ungewohnt wirkte, die aber doch klar die inhaltliche Seite der Lieder unterstrich. Die «Winterreise» dagegen begann in der speziellen Zusammenarbeit zwischen Sänger und Pianist förmlich zu sprechen – und das war schlimm genug.

Den krönenden Abschluss des Festivals bot das Oktett in F-Dur D 803 für Streicher und Bläser von Franz Schubert. Hier zog das Merel-Quartett, das sich schon am Abend zuvor bei Mozarts Klarinettenquintett in bester Verfassung gezeigt hatte, alle Register seines Könnens. Deutlich wurde, wie das Ensemble noch einmal einen Schritt nach vorn gemacht hat. Das Zentrum der Energie geht nach wie vor vom Cellisten Rafael Rosenfeld aus. Dazu kommt mit Mary Ellen Woodside eine Primgeigerin, die inzwischen deutlich mehr wagt und mehr gibt als ehedem – das Zusammenspiel mit dem fantastischen Klarinettisten Pablo Barragán geriet äusserst spannend. Angesteckt vom Feuer in den Ecklagen brachten sich in den Binnenstimmen Edouard Mätzener (Violine II) und der Bratscher Alessandro D’Amico immer wieder mit kräftig zugreifenden Einwürfen ein. Zum Merel-Quartett kamen beim Oktett Schuberts mit Szymon Marciniak ein Kontrabassist, der das Letzte aus seinem fünfsaitigen Instrument herauslockte und bisweilen geradewegs ins Tanzen geriet, steuerte der Fagottist Diego Chenna neben dem Klarinettisten Pablo Barragán musikalisch hochgradig stimmige Energie bei und bewältigte die Hornistin Zora Slokar die heiklen Sprünge in ihrer Partie nicht nur ohne Fehl und Tadel, sondern auch ausgesprochen tonschön. Ein Vergnügen sonderglichen war das. Weil: ein fruchtbares Geben und Nehmen, ein Musizieren in gelebter Freundschaft. So soll es sein.

Der Ritt über den Genfersee

«Guillaume Tell» von Gioachino Rossini
an der Opéra de Lausanne

 

Von Peter Hagmann

 

Gessler und seine mutigen Opfer / Bild Carole Parodi, Opéra de Lausanne

«Guillaume Tell», die neununddreissigste und letzte Oper Gioachino Rossinis, ist in jeder Hinsicht übermässig: in ihrer Aufführungsdauer, in den Aufzügen der Chöre, in den Spitzentönen, die dem primo tenore abverlangt werden, nicht zuletzt in der heiss geliebten Ouvertüre mit ihren irrwitzigen Anforderungen an die Kantabilität wie die Virtuosität des Orchesters. Wie soll ein solcher Koloss in der nicht besonders ausladenden Opéra de Lausanne Platz finden? Tatsächlich ist «Guillaume Tell», ohnehin vergleichsweise selten gespielt, in Lausanne noch nie gegeben worden. Wir können das, sagte sich jedoch Claude Cortese, der neue Direktor des Hauses, der sich beim Publikum nicht mit einer eingekauften, sondern einer an Ort und Stelle neu erstellten Produktion einführen wollte. Cortese konnte das Risiko abschätzen, verfügt er doch über reiche Erfahrung im Metier. So wagte er es – und hat Recht behalten. Die Produktion ist in hohem Mass gelungen und lässt für die Zukunft einiges erwarten.

Hinreissend schon die Ouvertüre mit dem elegischen, von solistisch eingesetzten Celli getragenen Beginn und dem wirbelnden Ende. Das Orchestre de Chambre de Lausanne war schon hier ausgesprochen guter Laune; überhaupt zeigte es sich äusserst agil und geschmeidig – was nicht zuletzt auf den Dirigenten Francesco Lanzillotta zurückgeht. Mit acht Ersten Geigen spielte das Orchester gleichsam in einer Kammerbesetzung; wahrzunehmen war es jedoch nicht wirklich, das Instrumentale entwickelte ausreichend Präsenz, und die Balance, jene zwischen den Bläsern und den Streichern wie jene zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen, blieb jederzeit gewahrt. Eine imposante Leistung bot an der Premiere auch der von Alessandro Zuppardo vorbereitete Chor der Oper Lausanne; schöner, homogener, klar gezeichneter Klang war da zu hören – die grossen Aufzüge liessen nichts zu wünschen übrig.

Wie das Spiel in Lausanne anhebt, erstrahlt auf der Bühne von Alex Eales ein bekanntes Bildnis Ferdinand Hodlers, vielleicht «Landschaft am Genfersee»; dazu kommen die Herren im Chor, die gerne die Bewegungen des ebenfalls von Hodler so markig abgebildeten Holzfällers andeuten. Der Regisseur Bruno Ravella verortet die von Schiller in seinem Schauspiel erzählte Geschichte vom Kampf eines Volkes um seine Freiheit eindeutig in der Schweiz und im mythologischen Gewand. Am Ende jedenfalls fährt der Felsbrocken, auf dem Wilhelm Tell mit seiner Armbrust steht, dergestalt in die Höhe, dass der siegreiche Held wie die berühmte Helvetia auf der gegenwärtig im Umlauf befindlichen Ein-Franken-Münze erscheint. Dass es in diesen Tagen noch ein anderes Volk gibt, das um seine Freiheit kämpft, zeigt sich allein in zwei Bändern mit den ukrainischen Landesfarben, die in der Feier zur Hochzeit von drei jungen Paaren zu Beginn des Eröffnungsaktes verwendet werden. Das ist gut so; jede konkrete Anspielung an das Geschehen unserer Tage, so nahe es läge, käme einer Plattitüde gleich.

Die Besetzung der Urschweiz durch die Habsburger wird in der Inszenierung allerdings in schauerlicher Genauigkeit vorgeführt. Mit seinem kernigen Timbre gibt Luigi De Donato einen zynisch brutalen Gessler, der mit einer Fingerbewegung über Leben und Tod entscheidet. Und die von Sussie Juhlin-Wallén weinrot gekleidete Soldateska geht mit ihren Knüppeln schonungslos gegen Mann wie Frau vor. Das bildet den Hintergrund. Im Zentrum des Geschehens, so will es die Grand Opéra, steht aber das private Drama. Die Eindringlichkeit, mit der die zwischenmenschliche Interaktion szenisch wie musikalisch realisiert wird, ist von zutiefst berührender Wirkung. Wenn Tell von Gessler in der nicht enden wollenden Szene vor dem Apfelschuss erniedrigt wird, gibt Jean-Sébastien Bou das Letzte an darstellerischer Intensität und vokaler Expression. Ihm zur Seite steht Jemmy, der von der kleinen, ebenfalls ausdrucksstarken und stimmlich erstaunlichen Elisabeth Boudreault als der mutige Sohn seines Vaters gezeigt wird. Die Dritte im Bunde ist die Gattin und Mutter Hedwige, die von Géraldine Chauvet mit würdigem Profil versehen wird.

Und dann eben die liaison dangereuse zwischen dem jungen Arnold von Melchtal und Mathilde, der habsburgischen Prinzessin im Gefolge Gesslers. Im entscheidenden Moment des (übrigens leicht, aber geschickt gekürzten) Stücks nimmt die junge Frau aus dem gegnerischen Lager den von Gessler bedrohten Sohn Tells unter ihren Schutz stellt und wechselt damit die Seiten – schade nur, dass sie dann nicht ihre weinrote Schärpe von der Schulter nimmt und nicht auch im Gewand als eine Gleiche unter Gleichen von der Bühne geht. Wie die Ukrainerin Olga Kulchynska, neben Luigi De Donato das zweite Ensemblemitglied nichtfranzösischer Zunge, ihre Partie zum Leben erweckt, wie hoch ihre nur ganz leicht gefärbte Diktion steht, wie tadellos ihr die Koloraturen gelingen, wie treffend sie ihre Gefühle mit ihrer wunderschönen Stimme zur Geltung bringt, es verdient alle Bewunderung. In nichts steht ihr Julien Dran nach, der als einer der hohen französischen Tenöre den Ritt über den Genfersee prächtig meistert; souverän erklimmt er die Spitzen in der Partie des Arnold, und ohne Einbusse lässt er auf den stimmlichen Gipfeln seiner Partie Glanz und fassbaren Klang erstrahlen – das alles in Verbindung mit vorbildlicher Diktion.

Wer wissen möchte, worin die Kunst des französischen Gesangs bestehen kann, an diesem Abend kann er es erfahren. In der Akzentsetzung auf dem Frankophonen, die der Spielplan der Saison 2024/25 andeutet, findet die Opéra de Lausanne anregenden Kontrast zu dem eher international ausgerichteten Programm des Grand Théâtre de Genève. Wenn ab der Spielzeit 2026/27 Alain Perroux, bis vor kurzem der Chef von Claude Cortese,  als Nachfolger Aviel Cahns von Strassburg nach Genf kommt, könnte die bekanntlich nicht ganz konfliktreiche Beziehung zwischen beiden Kantonshauptstädten auch auf dem Gebiet des Musiktheaters richtig spannend werden.

Reduziert – und umso schärfer

«Liebesgesang», eine neue Oper von Georg Friedrich Haas auf ein Libretto von Händl Klaus, an den Bühnen Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Robin Adams (Er) und Claude Eicheberger (Sie) im Liebesgesang / Bild Tanja Dorendorf, Bühnen Bern

Er ist einer, der die Welt der Kunstmusik gerne auf den Kopf stellt. Der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas tut das immer wieder – immer wieder überraschend und immer wieder fruchtbar. Als im Jahre 2000 die FPÖ in die Regierung des ÖVP-Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel eintrat, komponierte er das mittlerweile legendäre Ensemblestück «In vain», das über längere Strecken in völliger Dunkelheit gespielt werden muss. Ein Jahrzehnt später trat er bei den Donaueschinger Musiktagen mit dem Konzert «Limited Approximations» in Erscheinung, bei dem sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere nach der Art von Streichern zu glissandieren schienen, während das Orchester in den Tonhöhen so festgefügt wirkte wie ein Klavier. Seine jüngste Grenzbegehung nun trägt den Titel «Liebesgesang» und ist eine Oper, von der nicht feststeht, ob es sich dabei um eine Oper handelt.

Das von den Bühnen Bern in Auftrag gegebene und jetzt aus der Taufe gehobene Stück, wie «Bluthaus» von 2011, «Thomas» von 2013 und «Koma» von 2016 in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Händl Klaus entstanden, sieht zwei Partien vor, Sie und Er, mehr nicht. Mutterseelenallein steht das Paar über die neunzig Minuten Spieldauer im Rampenlicht, ein Orchester gibt es nicht und darum auch keinen Dirigenten, wie überhaupt jede instrumentale Mitwirkung ausgespart bleibt. Auch eine Bühne im eigentlichen Sinn fehlt. Im Stadttheater Bern, einem Logentheater nach italienischem Vorbild, hat der Ausstatter Rainer Sellmaier den Orchestergraben zugedeckt mit einer blendend weiss ausgestrichenen Wanne, in der das Paar von den Regisseuren Tobias Kratzer und Matthias Piro geführt wird – um nicht zu sagen: gehalten wird wie die Tiere im nahegelegenen Bärengraben. Das Parkett ist geschlossen, nur die höher gelegenen Sitzreihen stehen dem Publikum offen, denn nur von dort hat man Einblick in die weisse Wanne. Dafür ist auf der Bühne eine Empore mit zusätzlichen Sitzplätzen aufgebaut. Dort nimmt unter anderen Zuschauern eine Dame Platz, die einem nicht ganz unbekannt vorkommt.

Tatsächlich erhebt sich besagte Dame bald nach Beginn des Abends von ihrem Platz – es handelt sich bei ihr um Claude Eichenberger in der Partie der Sie. Über Treppenstufen und eine Leiter steigt sie hinab in die Wanne, wo Robin Adams als Er, ebenfalls ganz schwarz gekleidet, am Boden liegend mit entsetzlichen Lauten des Schmerzes und Verzweiflung auf sich aufmerksam gemacht hat. Schritt für Schritt erhellt sich die Lage – einen Zeitverlauf im eigentlichen Sinn ergibt sich im Werk von Händl Klaus und Georg Friedrich Haas nicht. «Liebesgesang» öffnet vielmehr einen in seiner Intimität und seiner Intensität erschreckenden, ja erschütternden Blick in eine Beziehung, die denkbar schweren Strapazen ausgesetzt ist. Sie habe ihm ein besonders schönes Zimmer zuteilen lassen, sie bringe ihm sein Lieblingsbrot mit, ausserdem ein Buch mit den schönsten seiner Tierbilder – Christian, sein Name kommt ganz beiläufig ins Spiel, ist ein Tierphotograph, der an einer Psychose leidet und in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt ist; Luz, so ruft Er seine Frau, ist zu Besuch gekommen.

Zu einem Besuch, der rasch implodiert. Sie wird von Ihm als eine Architektin vorgestellt, die ein Haus für die gemeinsame Zukunft oder eher für sich selbst gebaut hat. Und als eine selbstbewusste, doch keineswegs egozentrische Frau, deren Kinderwunsch einer Krebserkrankung zufolge nicht in Erfüllung gegangen ist. Er hingegen leidet an Verfolgungsängsten und Versagensgefühlen, die er geheimzuhalten versuchte, und so türmen sich die Vorwürfe bis zur Katastrophe auf. Die Katastrophe freilich ist, so nennen es das Libretto wie die Partitur, eine «rauschhafte Begegnung», in der sich das Paar in der Erinnerung an die vibrierende Körperlichkeit ihrer Anfänge findet. Danach löst sich alles auf, verlässt sie über Leitern und hinweg durch den Zuschauerraum das Krankenzimmer. Wohl für immer. Und stösst er am Ende einen markerschütternden Schrei aus.

Das alles wird in einer Drastik sondergleichen und zugleich einer ausgefeilten Künstlichkeit vorgeführt. Die von Händl Klaus im Libretto gepflegte Sprache lebt von einer kunstvollen, in ganz eigener Weise poetischen Verfremdung. Und Georg Friedrich Haas schöpft bei der Gestaltung der beiden Vokalpartien aus dem Vollen seiner mikrotonalen Erfahrung wie aus dem mutigen Ausgreifen in stimmliche Extrembereiche. Der Blick in die Partitur lässt die Frage aufkommen, wie denn all diese Töne, die um einen Sechstel- oder einen Achtelton modifiziert sind, wie auch die Momente an reinen Terzen und Quinten realisiert werden können. Der Komponist schreibt dazu im Vorwort: «Kein Dirigat. Freiheit. Selbstverantwortung». Claudia Chan, welche die musikalische Leitung des Abends versieht, war an der Vorbereitung der Produktion beteiligt, während der Vorstellung beschränkt sich ihre Aufgabe jedoch darauf, einem Inspizienten gleich jene Lichtsignale zu steuern, die für ein Minimum an Koordination sorgen. Alles andere ist der Darstellerin, dem Darsteller überlassen. Explizit weist die Partitur immer wieder darauf hin, Sie und Er sollten die Freiräume im Rahmen des ihnen Möglichen nutzen, das aber stets in enger Abstimmung aufeinander tun.

Das ist, so der Eindruck nach der Uraufführung, in der glücklichsten Weise gelungen. Entstanden ist ein Stück Musiktheater, das einen schwer trifft und nicht so rasch wieder loslässt. Der Verzicht auf das Gepränge, das die Oper zur Oper macht, und die Fokussierung auf die vokale Linie, zu der die Sprache des Librettos geworden ist, führen in ihrer Reinheit zu einer Verdichtung der Wahrnehmung, wie sie in dieser appellativen Art äusserst selten auftritt. Nicht zuletzt geht das auf die stupenden Leistungen von Claude Eichenberger und Robin Adams zurück, die singend, keuchend, stammelnd, schreiend ihr Letztes hergeben, die zudem über eine szenische Präsenz der Extraklasse verfügen und den ja nicht unbeträchtlichen Kubus des Berner Zuschauerraums bis in die hinterste Ritze mit Spannung erfüllen. Dass sich Georg Friedrich Haas in der von Ricordi verlegten Partitur immer wieder deutlich von Händl Klaus distanziert, dass zum Jubel des Schlussbeifalls nur der Komponist, nicht aber der Librettist vor den Vorhang trat, darf zum Menschlichen, Allzumenschlichen dieser singulären Produktion gezählt werden.

Von der Kraft des Widerstands

«Guillaume Tell» von Rossini in St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Guillaume Tell in Aktion / Bild Edyta Dufaj, Theater St. Gallen

Gerade häufig erscheint «Guillaume Tell» nicht auf der Bühne. Die letzte Oper Gioachino Rossinis leidet, so wird rapportiert, an zwei bis drei Nachteilen. Zum einen soll sie in vollständiger Version rund sechs Stunden dauern, sehr lang also, länger noch als die Hauptteile von Wagners «Ring». So muss denn eine gekürzte Fassung erstellt werden, was manche Erleichterung schafft, was ausserdem insofern Legitimität geniesst, als der Komponist selbst bei der von ihm dirigierten Pariser Uraufführung von 1829 zum Rotstift gegriffen hat. Zum anderen aber ist «Guillaume Tell» nicht eben einfach zu besetzen. Die zentrale Partie des Arnold von Melchtal liegt extrem hoch, um sie rankt sich die Legende vom «do di petto», dem viergestrichenen c (in Ausnahmefällen sogar dem viergestrichenen cis), das von dem französischen Tenor Gillbert Duprez kurze Zeit nach der Uraufführung von «Guillaume Tell» zum ersten Mal ohne Wechsel in die Kopfstimme, sondern in der Bruststimme gesungen wurde – was seither üblich, in der Realisierung aber nicht einfacher geworden ist. Vor allem fordert «Guillaume Tell» die Opernhäuser jedoch durch die Massenszenen der Grand Opéra mit ihren Chören, Balletten, Tableaus und Kostümfesten, mithin enormem Aufwand.

Nun erscheint «Guillaume Tell» wieder einmal auf der Bühne: im Theater St. Gallen, einem Mehrspartenhaus, das für ein solches Unternehmen nicht eben prädestiniert erscheint. Möglich geworden ist das Projekt, weil in St. Gallen auf die raumgreifende Geste der Grand Opéra weitgehend verzichtet und weil kräftig gekürzt worden ist. Die Aufführungsdauer beläuft sich noch auf knapp dreieinhalb Stunden, eine Pause eingeschlossen. Und szenischer Effekt ist reduziert, «Guillaume Tell» ist von der Ausschmückung weitgehend befreit, vielmehr auf die reine Geschichte zurückgeführt, und das ist spannend genug – zumal der gedankliche Weg von den Ur-Schweizern, die sich mit individuellem Mut gegen die Besatzung durch die Habsburger zu wehren wussten, hin zu einem wehrhaften Volk dieser Tage nicht eben weit ist.

In der Inszenierung von Julien Chavaz, dem Bühnenbild Jamie Vartan und den Kostümen von Severine Besson bleibt der in hellem Beige gehaltene Bühnenraum leer. Für Bewegung sorgen mobile Wände und Neonschienen, die hier Blitze, dort Häuser andeuten, ausserdem der erweiterte, von Filip Paluchowski seriös vorbereitete Chor des Theaters St. Gallen und die von Nicole Morel erdachte Choreographie. Dass die Ouvertüre, ein fulminantes Konzertstück, das vom Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung des Gastdirigenten Michael Balke fabulös gemeistert wird, von vier Tänzerinnen bereichert wird, wirkt allerdings reichlich altbacken; Rossinis Musik ist doch so packend, dass man sie sich sehr gerne einfach nur anhört – in der St. Galler musikalischen Auslegung, die von zündenden Rhythmen und heller Farbigkeit lebt, gilt das erst recht. Und die vier von den Tänzerinnen dargestellten Schafe, die in entscheidenden Momenten die Bühne queren, bringen etwas von jenem Postkarten-Kitsch ein, der sich bei diesem Stoff vielleicht doch nicht vermeiden lässt.

Ganz so abwegig ist der Einsatz der süssen Tiere jedoch nicht. Julien Chavaz sieht das Schweizervolk als eine Versammlung von Menschen, die in direkter, ungebrochener Verbindung mit der Natur leben – in einer Naivität, die, wenn sie von aussen gestört wird, ungeheure Kraft entwickeln kann. Dieser Kraft begegnen die ganz in Rot gewandeten Bösewichte Gessler (der sonore Hüne Kristián Jóhannesson) und sein Assistent Rudolf (Christopher Sokolowski) mit seinen Mannen. Ihnen gegenüber steht der von einem genuinen Selbstbehauptungswillen geprägte, im Moment des Apfelschusses aber auch seine verletzliche Seite zeigende Tell – Theodore Platt verkörpert seine Partie überaus eindrucksvoll. An seiner Seite steht zum Beispiel, und nun kommt die Rede auf das «do di petto», der junge Arnold von Melchtal, der mit seinem hellen, zugleich körperreichen Tenor die Höhen mühelos meistert, auch seine Not und die Befreiung daraus glaubwürdig darstellt. Die Not heisst Mathilde. Sie ist eine Prinzessin aus dem Hause Habsburg, die Gessler in die Schranken weist und schliesslich unter Verzicht auf ihren sozialen Status zu den Schweizern überläuft – Athanasia Zöhrer schafft da, auch mit ihrer Sicherheit in den Koloraturen, ein prachtvolles Rollenporträt. Lustig zudem Tells Sohn, der bei Rossini Jemmy heisst; Kali Hardwick gibt diese Hosenrolle vital und brillant. Nicht zuletzt bleibt anzumerken, dass die Diktion – Rossinis Oper wird in der französischsprachigen Originalfassung geboten – nichts zu wünschen übrig lässt.

Die dreieinhalb Stunden sind jedenfalls im Nu vorüber.

Oper ohne Gesang

«Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy als Sinfonische Dichtung in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Als Ende Februar 2020 Covid-19 um sich zu greifen begann, mussten die kulturellen Institutionen ihre Häuser schliessen. Zur Untätigkeit gezwungen war auch Jonathan Nott – doch der britische Dirigent aus der Schweiz, seines Zeichens musikalischer und künstlerischer Direktor des Orchestre de la Suisse Romande in Genf, liess sich dadurch nicht in die Enge treiben. Er zog sich zurück auf die Musik an sich und versenkte sich in sein Herzensstück seit früher Zeit, in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy. Warum nicht, das war seine Frage.

Genauer: Warum nicht das Drame lyrique von 1902 für den Konzertsaal gewinnen? Natürlich nicht auf dem Weg der konzertanten Aufführung, sondern vielmehr in der Form eines eigenen Werks: als eine zusammenhängende Folge von Abschnitten aus der durchkomponierten Oper. Einrichtungen solcher Art waren in den Jahren vor und nach 1900 an der Tagesordnung, man denke etwa an das Ballett «Daphnis et Chloé» von Maurice Ravel, aus dem der Komponist selbst zwei Suiten zum Gebrauch im Konzertsaal zog. Auch zu «Pelléas et Mélisande» gibt es derlei Einrichtungen, die berühmteste unter ihnen stammt von dem österreichischen Dirigenten Erich Leinsdorf. Die Bearbeitungen dieser Art gehen von den zahlreichen instrumentalen Teilen in Debussys Partitur aus. Jonatan Nott hatte jedoch etwas anderes im Sinn.

Er wollte die Oper als eigenen, vollgültigen Kosmos auf dem Konzertpodium verankern, und dies in rein instrumentaler Ausführung. Kürzung auf eine in der Praxis vertretbare Konzertlänge war also angesagt – und zugleich eine Erweiterung der Orchesterpartitur durch all das an Ausgesprochenem, Angedeutetem und vor allem leitmotivisch Notwenigem, was inneren Zusammenhang schafft. Trotz der Kürzungen sollte die Oper in ihrer Ganzheit, in ihrer immanenten Spannung, auch dramaturgischen Logik erlebbar werden. In welchem Masse das gelungen ist, erwies eine noch im November 2020 entstandene Aufnahme, deren besonderer Reiz ausserdem darin besteht, dass das kondensierte und intensivierte Werk Debussys mit dem fast zu gleicher Zeit entstandenen Poem «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönbergs kombiniert ist – was zu spannenden Vergleichen einlädt.

Auf dem Markt fand das zwei Compact Discs umfassende Projekt aus dem Hause Pentatone gute Resonanz. Es kam sogar auf die Vierteljahresliste im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Und auch im Netz ist die Aufnahme greifbar, selbst, was offenbar noch nicht bis zur Administration des Orchesters durchgedrungen ist, auf dem französischen Portal Qobuz und bei dem bedeutenden, auf klassische Musik spezialisierten Anbieter Idagio. Inzwischen jedoch, beinahe drei Jahre nach der Aufnahme, ist «Pelléas et Mélisande» in der von Jonathan Nott stammenden Einrichtung als Sinfonische Dichtung auch im Konzert vorgestellt worden – als Uraufführung notabene in der Genfer Victoria Hall. Ein grosser, mit lebendiger Zustimmung aufgenommener Moment.

Die Live-Aufführung stellt den Effekt, den die rein orchestrale Erzählung der Oper Debussys intendiert, in besonders helles Licht. Zumal sich das Orchestre de la Suisse Romande und sein Musikdirektor in Bestform präsentiert haben. Jonathan Nott hat die Musik Debussys in der Tiefe seines Inneren verankert; die Verdichtung erlaubt ihm, innerhalb einer knappen Stunde sehr nah an den Kern des Werks heranzukommen. Und die seine Musikalität prägende Neigung zum Dramatischen tut in einem solchen Moment das Ihre. In geschmeidigen Tempi und natürlichem Zug entfaltete sich die schauerliche Geschichte; die Seelenzustände, die der alte, verzweifelte Golaud, die ganz junge, scheue Mélisande und der naiv feurige Pelléas exponieren, sie waren förmlich mit Händen zu greifen – und dies in einem Wechselbad zwischen aufschäumender Liebe, bedrohlichem Misstrauen und Tod. Unerhört spannend geriet das, geradewegs zum Anhalten des Atems. Allerdings, je besser man die Oper Debussys kennt, desto mehr kann man in der Sinfonischen Dichtung erleben.

So ausgezeichnet gelungen ist die Aufführung, weil das Orchester und sein Dirigent auf der gesicherten Basis einer deutlich hörbaren Gemeinsamkeit agieren. Alle atmen sie gemeinsam, alle streben nach Identifikation, alle geben ihr Bestes. In einem warmen, geradezu üppigen Gesamtklang finden die einzelnen Farben zu leuchtender Präsenz; reich ist das Ausdrucksspektrum zwischen der Sensibilität der klanglichen Feinzeichnung und der dramatischen Eruption – wobei auch in den Momenten der Kraft Balance und Schönheit gewahrt bleiben. Bekanntlich versteht sich das gerade keineswegs von selbst.

Vorzüge solcher Art bestätigten sich, nun in ganz anderer Sprache, bei Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. In Kit Armstrong war hier sehr kurzfristig ein geradezu sensationeller Einspringer für die aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Maria João Pires gefunden worden. Der sagenhaft begabte, auch stilistisch in hohem Ausmass versierte Pianist überraschte mit sorgfältiger Lesart der Partitur und manch überraschender Artikulation, ausserdem mit einem leichten, hellen Ton am Steinway. Während Orchester wie Dirigent ihm in berührender Weise nahe blieben.

Allein, genau jetzt, da das Orchestre de la Suisse Romande und Jonathan Nott definitiv in die gleiche Strasse eingebogen sind und die Fruktifizierung ihren Lauf genommen hat, wird von der Trägerschaft des Orchesters mitgeteilt, dass der 2017 als unbefristet geschlossene Vertrag zwischen den beiden Partnern auf den 1. Januar 2026 beendet werden soll. Im März 2026 soll noch eine Tournee folgen, Jonathan Nott wird sie dann aber als «chef invité» leiten. Fast ein Jahrzehnt an der Spitze eines Orchesters sind genau das Richtige, am besten geht man, wenn es am schönsten ist – derlei lässt sich dazu sogleich anführen. Nur: Die Trennung von Jonathan Nott erfolgt in einem nicht unproblematischen Klima.

Vor eineinhalb Jahren trug ein regionaler Fernsehsender die (gewiss hohe, aber keineswegs unübliche) Gage des Dirigenten an die Öffentlichkeit getragen, was eine lebhafte, wenn auch wenig produktive Debatte auslöste – ist hier etwa ein Kesseltreiben in Gang gesetzt worden? Der Verdacht liegt darum nahe, weil sich beim Orchestre de la Suisse Romande in den vergangenen zwei Jahrzehnten eigenartige Personalbewegungen gehäuft haben – vom missglückten Versuch, dem Orchester einen seinem Niveau nicht entsprechenden Dirigenten aufzudrängen über die zahllosen, raschen Wechsel in der Geschäftsführung bis hin zu dem kostspieligen Abgang eines Orchesterdirektors schon nach wenigen Monaten der Tätigkeit. Welcher Art die Gründe hinter der jüngsten Personalie seien, ob der Wechsel am Grand Théâtre auf die Saison 2026/27 eine Rolle spiele, es muss offen bleiben. Klar ist nur, dass ein künstlerisches Projekt abgebrochen wird, das dem Orchester eine neue Perspektive wie kaum mehr seit der Ära mit Armin Jordan verschafft hat.

Mit Charles Gounod zwischen Himmel und Erde

«Roméo et Juliette» im Stadttheater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Zwölf Opern hat Charles Gounod geschrieben. Praktisch nichts davon ist geblieben, keines dieser Werke hat die Popularität der Cäcilienmesse oder gar des «Ave Maria» zum C-Dur-Präludium aus dem ersten Band von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier erreicht. Eine einzige Ausnahme gibt es – leicht zu erraten: «Roméo et Juliette». Das fünfaktige Drame-lyrique, 1867 in erster Fassung in Paris, im Théâtre-Lyrique an der Place du Châtelet, aus der Taufe gehoben, wird von allen Seiten geliebt, nicht zuletzt von den Sängerinnen und Sängern, aber auch vom Publikum, das sich der Emotionalität des Stoffes wie der musikalischen Schönheit von Gounods Partitur immer wieder lustvoll hingibt.

Wie es jetzt wieder im Berner Stadttheater geschieht, in dem die Bühnen Bern eine Inszenierung von «Roméo et Juliette» zeigen, die für die Pariser Opéra-Comique entworfen und gemeinsam mit den Theatern in Bern, Rouen, Washington und Bari koproduziert wurde. Die Herkunft aus Paris erklärt auch den Umstand, dass die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann aus zwei einander in erbitterter Feindschaft gegenüberstehenden Familien in keiner Weise mit der aktuellen Situation im Nahen Osten in Verbindung gebracht ist. Der Theaterkünstler Eric Ruf, zurzeit Direktor der Comédie-Française, siedelt das Geschehen vielmehr in Italien an, nicht gerade in Verona, eher in Apulien. Darauf schliessen lassen die mächtigen, wenn auch deutlich bröckelnden Türme, mit denen Ruf als sein eigener Bühnenbildner die unterschiedlichen Spielorte gliedert. Und damit für Atmosphäre sorgt.

Bild Janosch Abel, Bühnen Bern

Sogar eine Art Balkon wie jener in Verona kommt vor; es ist eine ganz in der Höhe liegende Umfassung, auf die sich Juliette hinauswagt – nur leicht bekleidet und barfuss, also ungeschützt, in Wirklichkeit aber zweifellos durch ein unsichtbares Seil gesichert. Die Szene, von ferne erinnert sie an eine ähnliche Stelle in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», sorgt für Schauder und Berührung. Erst recht gilt das für das Finale der Oper, das in einer süditalienischen Totenkammer spielt. In den prächtigsten Gewändern – die unerhört wirkungsvollen Kostüme hat der Modeschöpfer Christian Lacroix entworfen – hängen dort die vor sich hintrocknenden Leichen, auch die nur in tiefsten Schlaf versenkte Juliette, zu deren Füssen Roméo den Gifttrank zu sich nimmt, während sie, erwacht, schliesslich zum Dolch greift.

Über allem herrscht der Geist soliden Handwerks und genuinen Theatersinns. Weniger gilt das für die Ausgestaltung der einzelnen Figuren, die da und dort Luft nach oben offenlässt. Recht eigentlich misslungen wirkt der Einstieg ins Stück mit einer polternden, vom Dirigenten Sebastian Schwab weder dynamisch noch klangfarblich hinreichend kontrollierten Ouvertüre, einer durch waberndes Vibrato gezeichnete Nummer des von Zsolt Czetner einstudierten Chors sowie dem vom Berner Symphonieorchester einigermassen klobig begleiteten Walzer der Juliette. «Je veux vivre» singt da die junge Russin Inna Demenkova, wie es Violetta Valéry in der wenige Jahre vor «Roméo et Juliette» entstandenen «Traviata» von Giuseppe Verdis tut; sie zeigt dabei forsche Kraft zeigt und formt die Spitzentöne gern in einen Schrei um – nicht gerade das, was à la française wäre. Wesentlich näher an den meist feingliedrigen Ton Gounods kommt Ian Matthew Castro. Als Roméo gelingt dem ebenfalls jungen Tenor aus Puerto Rico eine vorzügliche Leistung; er bringt ein leichtes, offenes Timbre von hellem Glanz ein, das ihn die Höhe mühelos erreichen lässt. Und das zu manchem ergreifendem Moment führt.

Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr nähert sich Inna Demenkova einer idiomatisch adäquaten Auslegung der Juliette (wiewohl ihr Französisch ein unverständliches Kauderwelsch bleibt). Die vier zentralen Duette der Oper gelingen jedenfalls eindrucksvoll. Ebenfalls plausibel gelöst sind die grossen Szenen zwischen dem Ball des Anfangs und der fatalen Hochzeit am Ende. Und die von Stéphano, der ausgezeichneten Evgenia Asanova, provozierten Kampfszenen mit ihren zwei Toten sind von Glysleïn Lefever ebenso geschickt wie effektvoll choreographiert. Rasch ist der Abend vorbei – das ist, bei allen Einschränkungen im Einzelnen, das denkbar beste Zeichen.