Klamauk der Extraklasse und bitter-süsse Traurigkeit

Lehárs «Lustige Witwe» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Nun ja, sie hat keinen besonderen Ruf: die Operette im Allgemeinen und im Speziellen «Die lustige Witwe». Man muss sich nicht eigens auf Theodor W. Adorno berufen, es war schon so, als die Operette Franz Lehárs kurze Zeit nach ihrer sensationellen Uraufführung Ende Dezember 1905 am Theater an der Wien vom Stadttheater Zürich auf den Spielplan genommen wurde. Im dritten Morgenblatt vom Dienstag, den 4. Dezember 1906, brachte die «Neue Zürcher Zeitung» unter der Rubrik «Lokales» einen handfesten Verriss. «Fürchterlich gelangweilt» habe ihn diese Operette, und es gebe bekanntlich «nichts Schlimmeres als eine langweilige Operette» – worauf der Autor E.F. gleich freimütig zugibt, nach dem zweiten Akt das Weite gesucht zu haben. Der Text lasse Geist wie Anstand vermissen, während die Musik fast durchwegs von «gemeiner Trivialität» sei: «Die Dürftigkeit in der Anlage und die Liederlichkeit in der Ausführung der einzelnen Stücke» seien nicht zu überbieten.

Bös gebrüllt, Löwe – aber hat er nicht Recht, ein bisschen wenigstens? Wie in der «Fledermaus» von Johann Strauss (Sohn), wo die Spannung nach dem Auftritt des trunkenen Gefängniswärters Frosch rasch nachlässt, dreht sich «Die lustige Witwe» besonders im dritten Akt merklich (und nicht allzu schnell) im Kreis – das Opernhaus Zürich vermag es nicht zu ändern. Und das musikalische Material, von Lehár aus dem Kern einer aufsteigenden Quart heraus entwickelt, zeigt immer wieder Erschöpfungszustände. Abhilfe schüfe da vielleicht ein entschiedener, wenn nicht zuspitzender interpretatorischer Zugriff, doch das scheint Patrick Hahns Sache nicht zu sein. Der junge Dirigent hält das Geschehen ordentlich zusammen, überlässt die Philharmonia Zürich aber weitgehend sich selber. Er führt zu wenig und schafft dort, wo es möglich und sogar sinnvoll wäre, nicht ausreichend Transparenz. So dominiert neben den feschen Ensemblenummern eine leicht verstaubte Larmoyanz.

Dazu kommt, dass das Paar im Zentrum des Stücks nicht mit glücklicher Hand besetzt ist. Was für ein überragender Hans Sachs in Richard Wagners «Meistersingern», was für ein düsterer Golaud in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy, doch hier, als Danilo, wirkt Michael Volle darstellerisch eigenartig ungelenk und stimmlich oftmals zu massiv, bisweilen gar dröhnend. Das fällt umso mehr auf, als Marlis Petersen, die grandiose Lulu vom Dienst, die überragende Medea in der Wiener Uraufführung von Aribert Reimanns gleichnamiger Oper, die Partie der begüterten, kurz nach der Verehelichung zur Witwe gewordenen Hanna Glawari mit Noblesse angeht, die Lineaturen sorgsam auszeichnet und ohne jeden Druck agiert – eben ganz aus ihrem Inneren heraus. Das passt haargenau zur Spielanlage, die sich der Regisseur Barrie Kosky, ein Operetten-Spezialist erster Güte, für seine Zürcher Inszenierung der «Lustigen Witwe» ausgedacht hat.

In vollkommener Dunkelheit beginnt der Abend. Erhellt sich die Bühne ganz leicht, gleitet, einem Traumbild gleich, auf der Drehbühne ein Flügel heran, an ihm und auf ihm eine nachsinnende Frau mit Marlene Dietrich-Frisur. «Wie von Zauberhand bewegt», so der Werbeslogan von damals, erklingen Erinnerungen an «Die lustige Witwe», hier gespielt von Franz Lehár selbst und wiedergegeben von einem Reproduktionsklavier. Erstaunlich die exorbitanten Freiheiten, die sich der Komponist genommen haben soll, gerade in der Nuancierung der Tempi und in der Ausformung des Dreivierteltakts – der Dirigent hätte sich davon eine Scheibe abschneiden können. Hier aber geht es nicht um die musikalische Anregung, sondern um die treffliche szenische Metapher, welche die eine Ebene von Koskys Auslegung bildet. Es ist die einer tiefen, unauflösbaren Melancholie.

Doch dann bricht unvermittelt das Operettengetriebe aus. Stürmen sie herein, die Herren in ihren Fräcken, die sich um die gar nicht lustige, aber vielversprechend ausstaffierte Witwe balgen – hinreissend, was die Tänzer, später auch die Tänzerinnen, durch den Choreographen Kim Duddy unvorstellbar auf Trab gehalten, an Agilität hergeben. Das ist die andere Ebene, die Kosky zeigt: der Klamauk und das Schaugepränge, zumal in den verspielten, opulenten Kostümen, die Gianluca Falaschi entworfen hat. Zu den Hauptdarstellern gehört hier ein bühnenhoher, vollkommen geräuschlos und ohne jedes Stocken auf einer schneckenförmig gewundenen Schiene laufender Vorhang, der die Bühne teilt und der Situation entsprechende Räume schafft – der Bühnenbildner Klaus Grünberg hatte die Idee, die Technik brachte das Knowhow ein, dem Publikum blieb das Staunen.

Getragen wird der Klamauk von der im Stück angelegten, von Barrie Kosky in der für ihn kennzeichnenden Drastik herausgearbeiteten Spannung zwischen Frauen, die wissen, was sie wollen und was nicht, und Pappkameraden von Männern, die von einem Fettnapf in den anderen geraten. Herübergebracht wird diese Spannung von einem hochmotivierten Ensemble. Zu ihm gehört Martin Winkler, der die Figur des vertrottelten Gesandten Mirko Zeta mit einer grandiosen Begabung für den Slapstick verkörpert. Ihm tanzt seine Frau Valencienne quicklebendig auf der Nase herum, mit ihrem strahlkräftigen Timbre und ihrer Spielfreude führt es Katharina Konradi blendend vor. Eine Nummer für sich ist ihr Geliebter Camille de Rosillon – denn Andrew Owens besticht durch einen glänzenden, obertonreichen Tenor und darüber hinaus durch ein absolut stupendes artistisches Geschick.

Ob das Bild der emanzipierten Frau, welche die Männer in ihrer patriarchalen Selbstgewissheit und ihren Unfähigkeiten hinter sich zurücklässt, tatsächlich den Grund für den sagenhaften kommerziellen Erfolg der «Lustigen Witwe» abgab, mag dahingestellt bleiben. In seiner starken, persönlichen Deutung vertritt Barrie Kosky diese Ansicht. Das ist sein gutes Recht, auch wenn es ihm damit nicht gelingt, aus der «Lustigen Witwe» ein besseres Stück zu machen. Von starker Wirkung ist jedoch die Fokussierung auf das in die Jahre gekommene Paar, das in seine Erinnerungen verstrickt ist und am Ende dennoch zueinander findet. In Zürich mündet das nicht in den furiosen Schlussgesang der Partitur, sondern in ein ganz zartes Geigensolo, das dorthin entschwindet, woher anfangs der Flügel gekommen ist. Auch das noch einmal einer jener Theatereffekte, für die Barrie Kosky geliebt wird.

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Alte weise Männer – fast

Auftritte des Tonhalle-Orchesters Zürich
und des Berner Symphonieorchesters

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konstellation war zu verlockend. Wie es beim Tonhalle-Orchester Zürich nun mal so Sitte ist, war David Zinman, der erfolgreiche Chefdirigent zwischen 1995 und 2014 und heutige Ehrendirigent, für einen Abend nach Zürich eingeladen. Vorgesehen war Anton Bruckners Sinfonie Nr. 5, später ist daraus die Nr. 4 geworden. Für fast denselben Zeitpunkt war beim Berner Symphonieorchester dessen langjähriger Chefdirigent Mario Venzago für einen Abend des Wiedersehens angekündigt. Auch bei ihm stand eine Sinfonie Bruckners auf dem Programm, nämlich die Dritte, die Venzago vor fast zehn Jahren mit dem Berner Orchester aufgenommen hat. Im Raum stand also ein reizvoller Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Kunst des Dirigierens und das Lebensalter auf der Basis der bekanntlich nicht gerade einfachen Musik des Meisters von Sankt Florian.

Allein, es hat nicht sollen sein. David Zinman, inzwischen 86 Jahre alt, war von ärztlicher Seite empfohlen worden, auf die Reise nach Europa und den Auftritt auf dem Konzertpodium zu verzichten, was der Dirigent so selbstverständlich wie bedauerlicherweise respektierte. In aller Eile musste denn auch für Ersatz gesorgt werden; gefunden wurde er in der Person des 27-jährigen Österreichers Patrick Hahn, der schon in vieler Munde ist und jetzt in der Grossen Tonhalle Zürich debütiert hat. Derzeit wirkt er in Wuppertal, und dort lässt er sich als «jüngster Generalmusikdirektor im deutschsprachigen Raum» vorstellen. Aus dem Spaziergang mit zwei alten weisen Männern wurde darum nichts, es kam vielmehr zur Begegnung zwischen einem hocherfahrenen Könner und einem Nachrückenden, der mit Mut nicht nur das Konzert, sondern sogar das Programm gerettet hat.

An sich will das Lebensalter nichts heissen. Legt ein junger Dirigent Wert auf seine Jugendlichkeit und wagt er sich an ein Stück wie die Vierte Bruckners, hört man jedoch mit besonderer Genauigkeit hin. Zu sagen ist: Sehr ordentlich, wie Patrick Hahn die wohl beliebteste der Sinfonien Bruckners gemeistert hat, aber für eine Erleuchtung reichte es nicht; es kam zu einer respektablen Wiedergabe, aber nicht zu einer Interpretation im eigentlichen Wortsinn. Mit seinem abgespreizten kleinen Finger an der rechten, den Taktstock führenden Hand gab sich Patrick Hahn als ein Dirigent alter Schule zu erkennen, der dem Orchester distinguiert, aus einer Position der Übersicht heraus vorangeht. Wirklich im Griff hatte Patrick Hahn die Zürcher Formation allerdings nicht, und die Konturen einer Meinung des Dirigenten zum Werk blieben merklich unscharf.

Zu wünschen übrig liess etwa die Balance. Die Posaunen bliesen sich immer wieder in den Vordergrund, was nun einmal ausgesprochen unschön klingt. Und in den letzten Takten der Sinfonie war der berühmte Hornruf, der das Werk eröffnet hat und sich an dieser Stelle als Krone auf das dreifache Forte des gesamten Orchesters zu setzen hätte, nicht der Spur nach zu vernehmen. Die Zeichengebung mit den beiden meist parallel geführten Händen, die Fokussierung der Blickrichtung des Dirigenten auf die Ersten Geigen, die Beiläufigkeit der Phrasierung, die auf wenig Gespür für das Atmen der Musik zurückgeht, der brave Umgang mit den Tempi – Symptome solcher Art zeigen, dass es hier noch reichlich Luft nach oben gibt. An der Begabung Patrick Hahns ist freilich kein Zweifel.

An jener der Geigerin Noa Wildschut erst recht nicht. Keck ging die erst 22-jährige Musikerin aus den Niederlanden das Violinkonzert Nr. 5 in A-Dur, KV 219, an: im Kopfsatz mit noch etwas viel Mainstream-Vibrato, im weiteren Verlauf aber mit immer mehr überraschenden Einfällen, zum Beispiel mit spannend gestalteten Trillern. Auch wenn noch nicht alles restlos gefasst erschien, trat da doch ein ganz eigener Ansatz zutage; er nimmt viel von jenen Energien auf, die das Mozart-Bild im späten 20. Jahrhundert so entschieden aufgefrischt haben. Wie genuine Vitalität in Kunst übergeführt werden kann, erwies aber ganz besonders Sol Gabetta. Innig verbunden mit dem Berner Symphonieorchester und Mario Venzago gab sie das selten gespielte, weil technisch wie gestalterisch anspruchsvolle Cellokonzert Nr. 2 in d-Moll, p. 119, von Camille Saint-Saëns. Dass das Stück als etwas spröde gilt, konnte man gleich vergessen, so überzeugend, mit so viel Schwung, so reichem Klangspektrum, so vielfach differenziertem Vibrato und ausserdem ohne jedes unnötige Portamento bewältigte sie ihren Part.

Eröffnet wurde der Abend im Berner Stadtcasino – er hätte schon längst stattfinden sollen, musste der Pandemie wegen aber verschoben werden – mit der Uraufführung von «Hymnus», einem Auftragswerk des Baslers Balz Trümpy: einer Verneigung vor Anton Bruckner und einer Reminiszenz an die Avantgarde von ehedem in persönlicher Handschrift. So lag denn nahe, dass nach der Pause Bruckners Dritte, in d-Moll wie das Cellokonzert von Saint-Saëns, auf den Pulten lag. Keineswegs von selbst versteht sich die Individualität, in der Mario Venzago an die Musik Anton Bruckners herangeht. An Klangfülle fehlte es nicht in der an Wagner orientierten Sinfonie, doch blieb das Blech jederzeit sinnvoll ins Ganze eingebunden und erschien die Farbenpracht der Partitur in hellem Licht. Nicht wenig zum lebendigen Bild beigetragen hat die Erhitzung der Spannungsverläufe durch die Arbeit mit Tempo und Attacke, eine Anleihe an Auffassungen des frühen 20. Jahrhunderts, und andererseits durch die Integration des geraden, ohne Vibrato versehenen Tons, wie er in der alten Musik wiederentdeckt worden ist. Mario Venzago ist ein wacher Geist, offen für die Geschichte wie die Gegenwart, und seine langjährige Erfahrung lässt ihn aus einem opulenten Fundus schöpfen – als ein alter weiser Mann.