Freud und Leid der Tradition

Wagners «Rheingold» in Stuttgart und Bern

 

Von Peter Hagmann

 

«Rheingold» in Bern: Wotan und die Seinen vor der neuen Burg / Bild Rob Lewis, Bühnen Bern

Wie viele Werke aus dem Repertoire des Musiktheaters warten nicht jahre-, jahrzehntelang auf eine Aufführung. Nicht so Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Hier stellt sich gerade umgekehrt das Problem, angesichts der Vielzahl an Produktionen und der dementsprechend reichen Rezeptionsgeschichte nochmals einen plausibel deutenden Weg durch die Tetralogie zu finden, und zwar im Musikalischen wie im Szenischen. Mit dem Projekt «Wagner-Lesarten» in der Kölner Philharmonie ist das wieder einmal beispielhaft gelungen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21); die konzertante Aufführung von «Rheingold» mit dem Dirigenten Kent Nagano, dem Barockorchester Concerto Köln und einer exquisiten Vokalbesetzung stiess Türen in einen ganz neu ausgestalteten Raum der Wagner-Rezeption auf. Da gab es fürwahr ungewöhnliche Dinge zu hören.

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Beim neuen «Ring» der Bühnen Bern schien es, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen, in eine ähnliche Richtung zu gehen. Jedenfalls am Anfang, in den Tiefen des Rheins. Dort schlug Nicholas Carter, Chefdirigent und, zusammen mit dem Dramaturgen Rainer Karlitschek, Operndirektor unter dem neuen Intendanten Florian Scholz, nicht nur leise Töne, sondern auch langsame Tempi an, die er bis zum Einsatz der drei Rheintöchter unmerklich auf das in diesem Moment angebrachte Zeitmass steigerte. Nicht nur ein langsames Crescendo, sondern damit verbunden auch ein langsames Accelerando, so wie es zu Wagners Zeit gepflegt wurde. Das versprach viel – leider zu viel, wie sich in der Folge zeigen sollte. Die Ursache dafür liegt vor allem bei der Verwendung der Orchesterfassung von Gotthold Ephraim Lessing (nicht zu verwechseln mit dem berühmten Namensvetter) aus dem Kriegsjahr 1943. Der deutsche Dirigent, der damals das Sinfonieorchester Baden-Baden leitete, reduzierte massvoll die Zahl der Bläser, beliess bei den Streichern aber die von Wagner geforderte Grossbesetzung – eine eigenartige Lösung, denn in welchem Orchestergraben lassen sich neunzig Pulte unterbringen? In Bern jedenfalls nicht.

Die Folgen waren hörbar – und das geht aufs Konto des Dirigenten. Über weite Strecken dominierten die Bläser, während die Einbettung in den Streicherklang oft kaum wahrzunehmen war – eine Frage der Balance, an der sich bekanntlich arbeiten lässt. Auch im Einzelnen blieb in Bern das aufgelockerte Klangbild zu wenig genutzt; Gewiss, manches Detail war zu hören, doch nicht selten waren es Nebensachen. Umso heftiger fuhr der massive Ton des Berner Symphonieorchesters ein; wie nach zweieinhalb Stunden die Götter in ihre Burg einzogen, erfüllte er sich in einem rohen, wenig gestalteten Fortissimo. Die Erfahrung von Köln im Ohr machte bewusst, dass die Berner «Rheingold»-Premiere klanglich ein altväterisches Wagner-Bild bot. In Biel und Solothurn, zwei noch wesentlich kleineren Häusern, gab es vor bald zwei Jahren (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.02.20) eine exemplarische Aufführung von Béla Bartóks Einakter «Herzog Blaubart Burg». Die ausladende Orchesterbesetzung hatte Eberhard Kloke reduziert – äusserst raffiniert. Es gibt also durchaus andere Wege.

Altväterische Züge, aber nicht nur, offenbarte auch die vokale Seite des Abends. Den mit Giada Borrelli, Evgenia Asanova und Sarah Mehnert charakteristisch besetzten Rheintöchtern begegnet mit Alberich ein körperlich verletzter, seelisch versehrter Kriegsheimkehrer; Robin Adams legt seine Aggression eins zu eins in Lautstärke um, was à la longue erheblich nervt – gerade gegenüber der nonchalanten Zielstrebigkeit des hier jugendlich wirkenden Wotan (Josef Wagner) und dem agilen Loge von Marco Jentzsch, der freilich etwas allzu freigiebig mit dem tenoralen Schluchzer im Stil von ehedem umgeht. Auch die Diktion, auf die Wagner so viel Wert gelegt hat, hat noch Luft nach oben, etwa bei dem stets fröhlichen, selbst im Brudermord unbekümmerten Fafner von Mattheus França. Nicht aber bei Masabane Cecilia Rangwanasha, die ein ganz und gar ungewöhnliches Rollenporträt der Freia zeichnet – eines im Zeichen der Diversität. Zumal Christel Loetzsch, die an die Stelle der erkrankten Claude Eichenberger getreten ist, eine stolze, aufrechte Fricka gibt, die ähnlich wie Erda (Veronika Dünser) dem selbstgewissen Wotan die Stirn bietet.

Das alles in einer Inszenierung, die verspielt daherkommt, ironisch mit den szenischen Zeichen umgeht, die in die Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» eingegangen sind, und vielfältige Anregung bietet. Sie stammt von der jungen Polin Ewelina Marciniak, die bisher im Schauspiel brilliert hat und jetzt mit Wagners Tetralogie im Musiktheater debütiert. Der «Ring» ist für sie ein Spiel mit Mythen, aber auch, durchaus im Geiste Wagners, ein Entwurf, der seine Zeit kritisch in den Blick nimmt. Das tut auch die Regisseurin – und so fehlt es nicht an edlem Metall. Ein ganzer Vorhang aus Gold deutet die Fluten des Rheins an, er ist aber aus simplem Plastik gefertigt und wird von Tänzern nach den Ideen der Choreographin Dominika Knapik (und nicht ohne Anleihen bei der Gestensprache Robert Wilsons) bewegt. Oben und unten sind in den Kostümen von Julia Kornacka klar voneinander geschieden, während das Bühnenbild von Mirek Kaczmarek mit wenigen Strichen den Duft der Gründerzeit evoziert. Lebendig sind die Figuren gezeichnet, markant tritt die Interaktion zwischen ihnen heraus – und auch für den guten Theatereffekt ist gesorgt. Nicht mit einem riesigen, feuerspeienden Drachen aus der Bayreuther Werkstatt Wolfgang Wagners, sondern mit einer schwarzen Schlange, einer Tänzerin, die Wotan bedenklich nahekommt. Sehr lustig die welkenden Götter, die vom Mangel an Äpfeln Freias kündend ihren Ebenbildern gegenübertreten. Warum allerdings die Kröte, in die sich Alberich dummerweise verwandelt, als Patient am Infusionsgestell erscheint, darüber darf nachgedacht werden.

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In Stuttgart werden nicht gar so viele Gedanken evoziert. An der dortigen Staatsoper hat ebenfalls eine Produktion der Tetralogie begonnen. Anders als in Bern steht hier in allen vier Teilen derselbe Dirigent am Pult steht, sind für die vier Abende aber je andere Regisseure vorgesehen. So war es schon beim letzten Stuttgarter «Ring» vor zwei Jahrzehnten, und wie als Reminiszenz an jene goldenen Tage wird bei «Siegfried» die Inszenierung von Jossi Wieler wiederbelebt. Das neue Stuttgarter «Rheingold» nun hat Stephan Kimmig szenisch betreut – mit mässigem Erfolg, um ehrlich zu sein. Die Bühne von Katja Hass und die Kostüme von Anja Rabes versetzen die Geschichte vom zweifachen Raub des Goldes in eine Manege. Wotan (Goran Jurić) ist ein in die Jahre gekommener, mehr an der Flasche als an seiner Umgebung interessierter Zirkusdirektor, Donner (Paweł Konik) und Froh (Moritz Kallenberg) durchmessen die Bühne mit Autoscootern, Fasolt (David Steffens) und Fafner (Adam Palka) stehen ihnen mit ihren blinkenden Gabelstaplern in nichts nach. Auch Erda (Stine Marie Fischer) verfügt über ein Gefährt: ein Herrenfahrrad, weil sie ja Jackett und Krawatte trägt. Der Deutungsansatz wirkt dünn: beliebig, weil auf das Eigentliche übergestülpt. Wie er aufgehen soll, das kann vielleicht Miron Hakenbeck erklären; er hat beide Produktionen, jene von Stuttgart wie jene von Bern, als Dramaturg begleitet.

Zwei hervorragende Auftritte verzeichnet das Stuttgarter «Rheingold» immerhin. Leigh Melrose gibt, stimmlich untadelig, einen temperamentvoll aufbrausenden, aber gleichwohl nie schreienden Alberich; bevor er am Ende den Ring wieder verliert, wird er gerädert – nicht einmal das behindert den Sänger. Matthias Klink wiederum, als Loge jeder Situation gewachsen, gewinnt sein Profil dadurch, dass er seine Partie sehr ausgeprägt deklamiert, bisweilen fast spricht – da wird auch ohne Übertitel jedes Wort verständlich. Und das, obwohl der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister auf vollen Ton setzt. Das Staatsorchester Stuttgart tritt in grosser Besetzung auf und erzeugt einen fest in sich ruhenden, strahlenden Klang, aus dem die Leitmotive als integrierte Teile eines Ganzen heraustreten – Probleme der Balance stellen sich hier keine. In einem grossen Haus wie der Stuttgarter Staatsoper ist das nicht nur möglich, es drängt sich geradezu auf, stehen hier doch neben dem Orchestergraben reichlich Raumreserven zur Verfügung. Das musikalische Wagner-Bild, das in Stuttgart präsentiert wird, fügt sich nahtlos ein in die Tradition, wie sie durch die Bayreuther Festspiele, den «Jahrhundert-Ring» mit Pierre Boulez ausgenommen, repräsentiert wird und wie sie etwa in den Jahren 2010/11 durch Philippe Jordan an der Pariser Opéra zu prägnanter Gegenwart gebracht worden ist. Eine Tradition, die neben der Kölner Innovation zu bestehen vermag.

«Rheingold» in Stuttgart: Fricka (Rachel Wilson) im Zirkus (Bild Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart)

Wagners «Ring» – wie anno dazumals?

«Rheingold» historisch informiert in Köln

 

Von Peter Hagmann

 

«Der Ring des Nibelungen» hat Konjunktur. An mindestens vier Häusern sind derzeit neue Projekte mit der Tetralogie Richard Wagners angesagt. Eine Neuinszenierung hat die Staatsoper Stuttgart in Angriff genommen; wie beim letzten «Ring» an diesem Haus in den Jahren 1999 und 2000 leitet der Stuttgarter Generalmusikdirektor, es ist inzwischen Cornelius Meister, alle vier Teile, während die Regisseure wechseln. Für den gesamten «Ring» gleich bleibt das Produktionsteam in Zürich, wo Andreas Homoki sein Wirken am Opernhaus mit einer Neuinszenierung der Tetralogie innerhalb der letzten vier Spielzeiten seiner Intendanz zu krönen sucht und dafür mit dem neuen Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda zusammenarbeitet. Gleich bleibt das Team auch an den Bühnen Bern; dort wenden sich der neue Operndirektor und Chefdirigent Nicholas Carter gemeinsam mit der jungen Polin Ewelina Marciniak dem «Ring des Nibelungen» zu. Für besonderes Aufsehen sorgt indes das Concerto Köln, das mit dem Dirigenten Kent Nagano in der Kölner Philharmonie eine konzertante Aufführung der Tetralogie in Angriff genommen hat.

Wie bitte? Das bekannte Barockorchester aus Köln legt sich Wagner auf die Pulte? So ist es. Kent Nagano, das ist vielleicht nicht in jedermanns Bewusstsein, arbeitet oft und gern mit dem Concerto Köln – so wie es René Jacobs, Marcus Creed und andere Kollegen aus dem Bereich der alten Musik tun. Nagano kennt keine Berührungsängste. Mit seinen inzwischen siebzig Jahren gehört er zu einer älteren Schicht an Dirigenten, sein ästhetischer Horizont gleicht aber durchaus jenem jüngerer Vertreter seines Standes wie etwa Pablo Heras-Casado, der Praetorius so anregend interpretiert wie Eötvös, Beethoven so gut wie Verdi. Auch Nagano ist klar im klassisch-romantischen Kernrepertoire verankert, bekannt geworden ist er jedoch als Schüler und Vertrauter des Komponisten und Organisten Olivier Messiaen; mit gutem Grund veröffentlicht darum der Bayerische Rundfunk zum 70. Geburtstag Naganos eine 3-CD-Box mit Werken Messiaens, die Dirigent mit dem hauseigenen Symphonieorchester erarbeitet hat. Von Messiaen aus hat sich Nagano ein Profil als Vertreter des Neuen zugelegt. Dass er aber auch über einen Draht zur historisch informierten Aufführungspraxis verfügt, dass er seit geraumer Zeit mit dem Concerto Köln verbunden ist, vom Ensemble gar zum Ehrendirigenten ernannt wurde, das ist weniger verbreitet.

Warum er mit ihnen nicht einmal ein Stück aus seinem Kernrepertoire erarbeite, wurde Nagano in einer Probe mit dem Concerto Köln von einem Kontrabassisten des Ensembles gefragt. Was denn, soll der Dirigent zurückgefragt haben, vielleicht etwa Wagner? Das war die Initialzündung. Beide Seiten nahmen die Herausforderung an: das Orchester aus seiner sprichwörtlichen Neugierde heraus, der Dirigent als exzellenter Musiker, aber auch als äusserst regsamer Intellektueller – wovon sein ebenfalls zum runden Geburtstag erschienenes Buch «10 Lessons of my Life» einmal mehr Zeugnis ablegt. «Der Ring des Nibelungen» in historisch informierter Aufführungspraxis, nicht weniger als das war das Ziel. Um es zu erreichen, wurden die Voraussetzungen für vertiefte Grundlagenarbeit geschaffen. Gegründet wurden 2017 die «Wagner-Lesarten», eine von der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und zahlreichen weiteren Geldgebern getragene Forschungsstelle, die sich im Rahmen von Symposien und im Netz frei zugänglichen Publikationen den weitreichenden Fragen rund um die Interpretation von Wagners «Ring» im Stil seiner Entstehungszeit zuwandte. Was die Forschung hervorbrachte, wurde sodann in Workshops praktisch erprobt. Nach vier Jahren der Vorbereitung konnte jetzt ein erstes Zwischenergebnis vorgelegt werden: «Rheingold», der Vorabend, wie er zu Lebzeiten Wagners geklungen haben könnte.

Sehr anders geklungen hat es in Köln. An die Stelle der satten Homogenität und der oft merklich angehobenen Lautstärke trat ein lichtes, ziseliertes Klangbild, aus dem die charakteristisch eingesetzten instrumentalen Farben und das Netzwerk der Leitmotive deutlich heraustraten. Zum Einsatz kam trotz dem grossen Konzertsaal mit seinen gut zweitausend Plätzen nicht die volle Besetzung, die Wagner verlangt hat. Die Streicher blieben bei einem Aufbau mit vierzehn Ersten Geigen, bei den Harfen gab es deren fünf statt deren sieben. Dementsprechend gelang in der klanglichen Balance nicht alles befriedigend. Die Ambosse in Alberichs unterirdischer Werkstatt, deren sechzehn schrieb Wagner vor, waren kaum zu hören und schon gar nicht in ihrer vertrackten Rhythmik zu verstehen. Ähnliches gilt für die Harfen im Orchester; sie waren ihrer vier, aber noch immer zu leise, während die eine Harfe der Bühnenmusik so positioniert war, dass sie zusammen mit den klagenden Rheintöchtern am Ende des Abends viel zu sehr in den Vordergrund trat. Trotz solcher Einschränkungen war der von Spiellust und Engagement geprägte Auftritt des Concerto Köln, der hohe Aufmerksamkeit auf sich zog, dem vokalen Teil aber allen Raum liess, von erregender Wirkung.

Erzielt wurde diese Wirkung durch die Verwendung von Instrumenten, die der Entstehungszeit von «Rheingold» entsprechen; einige Instrumente sollen sogar eigens nachgebaut worden sein. Schade nur, dass das Instrumentarium im Abendprogramm nicht angeführt war; wenn eine Aufführung so explizit, wie es hier der Fall war, auf dem Beizug chronologisch adäquater Instrumente aufbaut, sollten deren Provenienzen ausgewiesen gemacht werden – wie es etwa bei CD-Aufnahmen alter Musik längst die Regel ist. Nicht nur die Instrumente waren besonders, ungewöhnlich war auch deren Platzierung auf dem Podium. Das Orchester war sozusagen doppelchörig aufgestellt; nicht nur die beiden Geigengruppen standen sich gegenüber, für viele Bläser galt das Nämliche. Die Verbindung wurde hergestellt durch die Reihe der zehn Celli, die sich wie ein roter Faden durch das Orchester zog. Unterstützt wurde die klangliche Aufspreizung durch den ganz selbstverständlichen Verzicht auf das Vibrato als Grundlage der Tonerzeugung bei den Streichern, was zum Beispiel die liegenden Töne herrlich schärfte, sowie durch die explizite Gewichtsetzung, die zum Beispiel ans Licht brachte, wie viele der wichtigen Leitmotive von den Bratschen vorgetragen werden. Vielleicht hatte das aber auch damit zu tun, dass Kent Nagano der Bratsche mit besonderer Empathie begegnet…

So zeigte Wagners Orchester im Kölner «Rheingold» ein ganz anderes Gesicht als gewohnt. Die Sängerinnen und Sänger – sie bildeten übrigens ein exzellentes Ensemble – waren zweifellos dankbar dafür; sie brauchten nirgends zu drücken. Auch sie waren Teil des Forschungsprojekts, denn zuallererst fokussierten die «Wagner-Lesarten» auf den Gesang, vielmehr auf die Beziehung zwischen Text und Musik, also auf die geeignete Aussprache. Wagner hat sich eingehend zur vokalen Gestaltung, insbesondere zur Deklamation geäussert: durch Notizen in den Dirigierpartituren wie durch entsprechende Texte. Seine Musik solle von der Sprache her gehört werden, weshalb der Text jederzeit gut verständlich sein müsse, schrieb der Komponist, und er gab gleich an, wie das zu erzielen sei – durch rollendes «r» beispielsweise und durch die klare Unterscheidung zwischen «g» und «ch», aber auch durch die klare Akzentsetzung («wéhè», nicht «wéhē», wie es in der Schlamperei des Opernalltags üblich ist. Auch auf dieser Ebene wurde versucht, von der erforschten Theorie möglichst viel in die Praxis der Aufführung überzuführen, und auch hier kam es im Kölner «Rheingold» zu unerwarteten Erlebnissen.

Gleich zu Beginn etwa, beim Auftritt der drei Rheintöchter, die mit Ania Vegry (Wolginde), Ida Aldrian (Wellgunde) und Eva Vogel (Flosshilde) von der Unterschiedlichkeit der Timbres her ideal besetzt waren. Dort, wo Woglinde erläutert, dass ans Rheingold nur komme, wer der Liebe entsage, klang das Orchester ganz eben und fiel die Sängerin in den Sprechgesang, was eine unerhörte Unterstreichung zur Folge hatte – eine Praxis, die auf die von Wagner sehr geschätzte Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient zurückgehen soll. Bald schlug aber die Stunde Alberichs, und hier erschien mit Daniel Schmutzhard ein Sänger, der Drang und Not des Aufsteigers allein durch seine musikalische Präsenz zu vermitteln verstand. Mit seinem unerhört klangvollen Bass gab Derek Welton einen fast jederzeit gelassenen Wotan – dem Stefanie Irányi als Fricka selbstbewusst entgegentrat und dem Gerhild Romberger in ihrem eindrücklichen Auftritt als Erda die Leviten las. Sehr überzeugend auch Thomas Ebenstein als Mime, Tijl Faveyts und Christoph Seidl als die Riesen Fasolt und Fafner, Sarah Wegener als Freia sowie Johannes Kammler und Tansel Akzeybek als Donner und Froh. Überraschungsgast des Abends war freilich Thomas Mohr, der die Partie des Loge kurzfristig vom erkrankten Julian Prégardien übernommen hatte und sich deshalb nicht in die Forschungsergebnisse einarbeiten konnte; der deutsche Tenor ist mit seiner Partie jedoch so verwachsen und als Bühnenmensch von derart bezwingender Ausstrahlung, dass seine Auftritte zu Momenten reinen Vergnügens wurden.

«Rheingold» ist ein Spass, der menschlich-allzumenschlichen Götter, der Stabreime, überhaupt der sprachlichen Erfindungen Wagners, nicht zuletzt der szenischen Effekte wegen. Zu Bewusstsein kommt das selten, weil schon der Vorabend vor den drei Tagen im «Ring» vokal wie instrumental oft schwergewichtig daherkommt. Das muss nicht sein. Die historisch informierte Aufführung von «Rheingold» hat vorgeführt, was der helle, farbenreiche Ton, die Präsenz des Textes, die Flüssigkeit der Tempi, die Geschmeidigkeit der Artikulation bewirken. Wenn sie so launig erzählt werden, wie sie geschaffen sind, können diese zweieinhalb Stunden enorm Spass machen. Das darf, bei aller Ernsthaftigkeit der «Wagner-Lesarten», auch sein.

Kent Nagano: 10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt. Unter Mitarbeit von Inge Kloepfer. Berlin-Verlag, Berlin 2021. 206 S.

Olivier Messiaen: La Transfiguration de notre Seigneur Jésus-Christ, Poèmes pour Mi, Chronochromie. Jenny Daviet (Sopran), Pierre-Laurent Aimard (Klavier), Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München, Kent Nagano (Leitung). BR Klassik 900203 (3 CD, Aufnahmen 2017-2019, Publikation 2021).

«…alles für Freuden erwacht»

Die Bamberger Symphoniker und ihr Chefdirigent Jakub Hrůša glänzen mit Mahlers Vierter

 

Von Peter Hagmann

 

Inzwischen sind sie schon gut zusammengewachsen, die Bamberger Symphoniker und ihr im Herbst 2016 angetretener Chefdirigent Jakub Hrůša. Und nun, nach Auseinandersetzungen mit Smetana sowie mit Brahms und Dvořák in etwas eigenartiger Kombination, haben sie für ihre Aufnahmeprojekte Gustav Mahler in den Blick genommen. Das zeugt deshalb von Mut, weil die Gesamteinspielung der Sinfonien Mahlers mit Jonathan Nott, dem Vorgänger Hrůšas in Bamberg zwischen 2000 und 2016, Marksteine gesetzt hat, die nicht vergessen sind. Aber gesperrt ist der Komponist natürlich nicht – weshalb die Bamberger und Hrůša im Januar 2020 mit Mahlers Vierter auf Tournee gegangen sind. Wenig später trat der Lockdown in Kraft, und da war auch in Bamberg guter Rat teuer. Der Möglichkeit beraubt, Konzerte zu geben, suchte das Orchester nach Wegen, gleichwohl tätig zu sein – mit Aufnahmen eben. Schutzkonzepte wurden entworfen, der Joseph-Keilberth-Saal in Bamberg etwas adaptiert, damit die vorgegebenen Abstände eingehalten werden konnten. Im Juli 2020 wurde Mahlers Vierte mit leicht reduzierter Streicherbesetzung – das Bild im Booklet zeigt elf Mitglieder der Ersten Geige – in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet. Und so aufgezeichnet, dass der Höreindruck absolut gültig wirkt.

Die Aufnahme wartet mit manch blendend gelungener Lösung, auch manch überraschender Anregung auf. Hrůša wählt langsame Tempi, allerdings nicht so grossartig gemessene und konsequent durchgehaltene wie Riccardi Chailly in seiner Aufnahme mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest von 1999. Hrůša steigt sehr gezügelt in den Kopfsatz ein, bleibt aber nicht im gewählten Zeitmass, sondern steigert es mächtig. Und den ersten schnelleren, mit «frisch» überschriebenen Teil lässt er nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg über ein Accelerando eintreten. Solche auch andernorts auftretenden Massnahmen unterlaufen die plötzlichen Gemütswechsel, ja die Brüche, die dem Werk auch eingeschrieben sind, und führen zu Verharmlosungen. Im Ganzen ist die äusserst belebte, von Mahler detailliert eingeforderte Tempopalette jedoch ausgezeichnet getroffen – dies in Verbindung mit einem hellen, sehr durchhörbaren Ton. Das erlaubt dem Dirigenten, die kontrapunktischen Reize der Partitur in aller Klarheit hörbar zu machen – und in der Durchführung des Kopfsatzes das von der Zweiten Trompete vorgetragene Schicksalsmotiv, mit dem später dann die Fünfte Sinfonie anheben sollte, erschütternd heraustreten zu lassen. Übrigens sind in dieser Einspielung die Trompeten, die in Smetanas «Vaterland», der 2016 erschienenen Debütaufnahme Hrůšas mit den Bambergern, noch arg amerikanisch herausstachen, makellos ins klanglich Ganze eingebunden.

Sehr scharf gezeichnet kommt das das Scherzo des zweiten Satzes daher. Mit seinem bewusst verstimmten Instrument wird der Konzertmeister hier zu einem echten Teufelsgeiger, die Holzbläser sorgen mit aufgerichteten Schalltrichtern für grelle Farben, während die von Mahler vorgeschriebenen Glissandi in ihrer Ausdrücklichkeit schräge Akzente setzen. Das Trio beantwortet die Szenerie dann in wunderschöner Langsamkeit. Ruhig ausgesungen auch der dritte Satz, in dem sich eine ebenso durchdachte wie natürlich wirkende Tempodramaturgie entfaltet. Eindrücklich der Höhepunkt des Satzes, an dem die hervorragend aufgestellten Bamberger ein Tutti von grossartiger Klangpracht bieten. Und dann das Finale mit dem Sopransolo. Anna Lucia Richter erscheint hier nicht so frei wie bei der denkwürdigen Aufführung von Mahlers Vierter mit Bernard Haitink zur Eröffnung des Lucerne Festival 2015. Sie pflegt ein fast übertriebenes Legato, das durch ebenfalls zugespitzte Konsonanten unterteilt wird; gefragt wäre hier engelsgleiche, auch von der Sprache ausgehende Leichtigkeit, wie sie Camilla Tilling oder Mojca Erdmann, Christine Schäfer oder Christine Whittlesey geboten haben. Im weiteren Verlauf lässt Anna Lucia Richter den Manierismus des Satzbeginns jedoch glücklich hinter sich, so dass am Ende der Sinfonie tatsächlich «alles für Freuden erwacht».

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4. Anna Lucia Richter (Sopran), Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša (Leitung). Accentus 30532 (CD, Aufnahme 2020, Produktion 2021).

Zwei Mal Bruckners Achte

Aufnahmen mit Andris Nelsons und dem Gewandhausorchester sowie mit Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern lassen hören, was Differenzen im Detail bewirken.

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit der Pultstars ist vorbei, Figuren am Dirigentenpult wie Herbert von Karajan, Leonard Bernstein oder Lorin Maazel sind weit und breit keine mehr zu erkennen. Interpreten jedoch, sie treten nach wie vor ans Licht; sie tragen ihre naturgemäss ganz persönlichen Ansichten mit Entschiedenheit vor. Besonders gut zu beobachten ist das dieser Tage, da auf dem Marktplatz der aufgezeichneten Musik, im CD-Katalog und in den Streaming-Diensten, kurz hintereinander zwei Konzertmitschnitte von Anton Bruckners Symphonie Nr. 8 in c-Moll erschienen sind – zwei Deutungen, die in mancher Hinsicht miteinander verwandt sind, die dem monumentalen Werk aber doch ganz unterschiedliche Konturen verleihen.

Sowohl Andris Nelsons am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters – er verfolgt mit dem von ihm geleiteten Orchester für die Deutsche Grammophon eine Gesamtaufnahme der Symphonien Bruckners und ist in diesem Projekt schon weit vorangeschritten – als auch Christian Thielemann, den sich die Wiener Philharmoniker für einen gleichartiges Vorhaben bei Sony Classical ausgewählt haben, erweisen sich als Dirigenten der Jetztzeit. Der kantige, ja steinerne, an die Wiener Ringstrassenarchitektur gemahnende Bruckner-Ton früherer Zeiten – als Beispiel dafür kann der Name Eugen Jochums genannt werden – hat in den Vorstellungen der beiden Dirigenten keinen Platz; in je eigener Weise bringen sie die weit ausschwingenden Spannungsbögen, von denen Bruckners Achte lebt, in weich gezeichnete, flexibel atmende Verläufe. Auch in den Tempi stehen sie einander nah; 82 Minuten benötigen Nelsons wie Thielemann – der eine in diesem Satz, der andere in jenem eine Spur länger.

Dennoch stehen sich da zwei absolut unterschiedliche Erscheinungen von Bruckners Achter gegenüber. Schon allein vom Klangbild her – soweit sich das bei Aufnahmen beurteilen lässt. Das Leipziger Orchester geht in seiner Sonorität von einem soliden, ausgeprägten Bassfundament aus; sein Ton lebt von Wärme, Rundung und optimaler Vermischung der Farben – und wie Andris Nelsons, inzwischen in seiner vierten Saison als Gewandhauskapellmeister, das Potential zu nutzen versteht, spricht von einer grossartig gewachsenen, ja symbiotisch erscheinenden Verbindung zwischen dem Orchester und seinem inzwischen 42 Jahre alten Chefdirigenten.

Anders die Wiener Philharmoniker, der private Verein, der sich aus dem Orchester der Wiener Staatsoper rekrutiert und der keinen Chefdirigenten, nur Lieblingsdirigenten kennt. Zu ihnen gehört Christian Thielemann. In den Wienern findet er den belebenden Kontrast zur Staatskapelle Dresden, der «Wunderharfe» Richard Wagners, der Thielemann, heute 61 Jahre alt, seit neun Jahren vorsteht. Liess er in seinen jungen Jahren die Energien gerne entfesselt aufrauschen, darf er mittlerweile als ein Meister der Feinzeichnung gelten, auch und gerade an Stellen der Kraftentfaltung. Mit ihrem hellen Grundton, ihren leichten Bässen, dem Silberglanz ihrer Streicher und ihren charakteristischen Bläsern bieten ihm die Wiener die optimalen Voraussetzungen.

Das kennzeichnet denn auch die Einspielung von Bruckners Achter. Licht und geschmeidig ist der Klang, schlank kommen die Lineaturen daher, zumal jene der Wiener Oboe. Auffällig erscheint aber auch das bisweilen penetrante Vibrato der hohen Streicher. Es kann zu befremdlicher Larmoyanz führen, etwa im Adagio des dritten Satzes, wo sich nach einer ersten Gruppe von vier Takten das Geschehen von Dur nach Moll wendet und sich der leise wiegende, der Begleitung dienende Grundakkord für einen Augenblick schluchzend in den Vordergrund drängt. Mag sein, dass das einer Unaufmerksamkeit geschuldet ist – denn an solchen Versehen fehlt es nicht. Noch und noch kommt es zu mehr oder weniger verwackelten Einsätzen, was auch auf die erklärte Abneigung der Wiener gegen den präzisen Schlag zurückgehen kann. Besonders eigenartig wirkt, dass im Adagio nach dem zweiten Beckenschlag, der in einen abrupten, von einer einsamen Oktave der Violinen beleuchteten Einbruch der Stille führt, das dort von Bruckner notierte Ausklingen der Harfen fehlt.

Auf die Partitur, die der Aufführung zugrunde lag, geht das nicht zurück, anderes aber sehr wohl. Denn für seine Interpretation von Bruckners Achter hat Christian Thielemann doch tatsächlich die Edition von Robert Haas verwendet – ein Ausfluss schlechter Wiener Tradition, der auch Pierre Boulez bei seiner Einspielung des Werks mit den Wiener Philharmonikern 1996 zum Opfer gefallen ist. Die Ausgabe, die der langjährige Leiter der Musiksammlung in der Österreichischen Nationalbibliothek erstellt hat, läuft zwar unter dem Titel «Originalfassung», bietet die Symphonie jedoch in einer von Bruckner weder intendierten noch autorisierten Version. Sie reichert vielmehr die zweite Fassung der Partitur, die der Komponist 1890 erstellt hat, mit einzelnen, vom Herausgeber als notwendig, besonders sinnfällig oder schön erachteten Stellen aus der ersten Fassung von 1887 an; sie enthält ausserdem willkürlich gesetzte Aufführungsvorschriften, die vom Komponisten sorgfältig gebaute Spannungsverläufe stören. Mit ihren ungerechtfertigten Eingriffen in die Struktur der nun einmal in zwei Versionen bestehenden Symphonie setzt Haas’ Edition den bedenklichen Umgang früherer Zeiten mit den Werken Bruckners fort; im Konzertsaal von heute hat sie nichts mehr verloren.

So versteht sich, dass Andris Nelsons für seine Aufführung der Achten Bruckners in der Fassung von 1890 die neue, quellenkritische Edition von Leopold Nowak zur Hand genommen hat. Damit entfallen die strukturellen Ungereimtheiten, die sich in der Einspielung der Wiener Philharmoniker finden. Dazu kommt die technische Zuverlässigkeit, die möglicherweise mit Hilfe von Korrektursitzungen hergestellt ist, die aber gerade so gut auf das gemeinsame Atmen von Orchester und Dirigent zurückgehen kann. Prägend tritt aber vor allem die Empathie heraus, mit der Nelsons den Gesten begegnet, die Bruckners Kosmos bilden. Ganz am Anfang der Sinfonie werden die absteigenden Halbtonschritte, treten sie in Oboe und Klarinette auf, dergestalt unterstrichen, dass sie als Klage, als Erinnerung an den barocken Passus duriusculus fühlbar werden. In der Folge gelingt das zweite Thema sehr warm und kantabel, auch wieder sehr von anteilnehmendem Gefühl durchdrungen; und wenn dann die Flöten so wunderbar dazu treten, wie es hier geschieht, stellt sich erfülltes Glück ein.

Das alles geschieht auf der Basis genauer Partiturlektüre – so hat es Nelsons von seinem Mentor Mariss Jansons gelernt. Und es gehorcht spürbar einer immanenten Logik, wo bei Thielemann eher die Subjektivität des Moments überwiegt. Die Generalpausen und die langen Liegetöne im ersten Satz, die gerne verkürzt werden, sie sind in der Leipziger Aufzeichnung sauber ausgeführt und belassen die Musik für den Hörer in ihrem Schlag; Thielemann dagegen nimmt diese Stelle agogisch bewegt, was auch seinen Reiz hat, aber den Rezipienten taumeln lässt. Ob einfach punktiert oder doppelt, wie es zu Beginn des dritten Satzes notiert ist, bei Nelsons macht es einen klaren Unterschied, selbst in dem opulenten, dunkel verschleierten Piano, den das Gewandhausorchester hier einbringt. Und die berühmten Beckenschläge? Bei Thielemann treten sie nach einer kleinen Kunstpause ein, die ihren Effekt vergrössert, während sie Nelsons in strenger Logik direkt anschliesst und sie damit als Vollendung des Vorangegangenen erscheinen lässt.

Beide Dirigenten gehören zu den bedeutenden Vertretern ihres Fachs. Beide Orchester gehören zur Weltklasse. Dennoch ziehe ich die Aufnahme mit dem Gewandhausorchester und Andris Nelsons vor. Sie klingt spätromantisch, ist in ihrem interpretatorischen Habitus aber ganz der Gegenwart verpflichtet. Bei den Wiener Philharmonikern und Christian Thielemann ist es gerade umgekehrt.

 

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 8 (zweite Fassung von 1890). Anton Bruckner: Symphonie Nr. 2 (zweite Fassung von 1877). Richard Wagner: «Die Meistersinger von Nürnberg», Vorspiel zum I. Aufzug. Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons (Leitung). Deutsche Grammophon 4839834 (2 CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 8 (Mischfassung von Robert Haas). Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung). Sony Classical 786582 (CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).

 

Italianità aus Dresden – mit Marek Janowski

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Das lag nun nicht eben nahe. Der Dirigent Marek Janowski wird als Spezialist für das deutsche Repertoire geschätzt, seine Beschäftigung mit Richard Wagners «Ring des Nibelungen» zum Beispiel setzte Marksteine. Auch der französischen Musik hat er sich genähert, wozu er als langjähriger Chefdirigent des Orchestre philharmonique de Radio France reichlich Gelegenheit hatte. Aber nun: «Cavalleria rusticana» von Pietro Mascagni in einer Aufnahme aus Dresden und Marek Janowski als Maestro concertatore e direttore d’orchestra ganz all’italiana. Die Überraschung ist perfekt – und gelungen. Mascagnis Einakter erklingt in hohem Masse idiomatisch und zugleich in jener feurigen Präzision, die Janowskis Wirken auszeichnet.

So untypisch, wie sie erscheint, ist die Wahl des Werks allerdings nicht. In der «Cavalleria rusticana» spielt das Orchester, zusammen mit dem eher klangmalerisch eingesetzten Chor, die Hauptrolle. Bevor das gut einstündige Stück in Gang kommt, nimmt sich Mascagni eine Viertelstunde lang Zeit für eine ausserordentlich vielgestaltige Zeichnung der Atmosphäre. Das alte Kirchlein mit seiner Orgel und seinem hohem Glöckchen, die Orangenbäume mit ihren überreifen Früchten, das naive Gottvertrauen und die damit verbundene strenge Ordnung der Gesellschaft – all das wird hier nach der Art eines mit musikalischen Mitteln gestalteten Bühnenbilds ausgelegt. Und meisterlich ausgelegt wird es, denn die Dresdner Philharmonie, das Orchester der Stadt, das 2017 im Kulturpalast einen hochmodernen Konzertsaal erhalten hat, erweist sich als ein Klangkörper von mitreissender Ausstrahlung – und der von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitete MDR-Chor aus Leipzig steht ihm in nichts nach.

Auch nach der Einleitung entfaltet sich keine grosse Geschichte, vielmehr folgt der Katastrophe erst einmal jenes «intermezzo sinfonico», das in den Wunschkonzerten gern gesehener Gast ist. Enorm ist freilich die auf engstem Raum erzeugte dramatische Spannung. Turiddu hat seine Braut Santuzza mit der Gattin Lora des Fuhrhalters Alfio hintergangen. Mitten im Ostergottesdienst verrät es die Betrogene dem Gehörnten – der natürlich Rache schwört. Wie die Gläubigen aus der Kirche strömen, begegnen sich die beiden Herren; Alfio beisst Turiddu ins rechte Ohr, was der Tunichtgut ohne Umschweife versteht. Das hinter der Bühne ausgetragene Duell überlebt er nicht.

Musikalisch wird das in blühenden Farben geschildert. Marek Janowski entlockt der Dresdner Philharmonie, der er seit einem knappen Jahr als Musikdirektor vorsteht, opulenten, reich abgestuften Klang; er baut grosse Bögen, die er mit geschmeidiger Nuancierung der Tempi belebt, und sorgt für prägende rhythmische Präzision. Und die fünf Rollen im Spiel sind, wiewohl mehrheitlich amerikanischer Herkunft, ausgezeichnet besetzt. Fünf der Rollen sind es, weil mit der alten Lucia, der Mutter Turiddus, eine Vertrauensperson ins Spiel kommt, die das Scharnier des Geschehens bildet – und was Elisabetta Fiorillo hier bietet, lässt erfahren, was eine italienische Altstimme sein kann. Der Tenor Brian Jagde gibt den Turiddu mit sinnlichem Schmelz, Melody Moore die Santuzza mit leuchtendem, vibratogesättigtem Sopran. Der in der Tiefe verankerte Bariton von Lester Lynch bringt die düstere Ehrbarkeit des Alfio zur Geltung, während Roxana Constantinescu mit ihrem hellen Mezzosopran eine gefährlich verführerische Lola einbringt.

Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana. Mit Melody Moore (Santuzza), Brian Jagde (Turiddu), Roxana Constantinescu (Lola), Lester Lynch (Alfio), Elisabetta Fiorillo (Lucia), dem Chor des MDR Leipzig, der Dresdner Philharmonie und dem Dirigenten Marek Janowski. Pentatone 5186772 (CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).

Streichquartett mit Singstimme und Geistertönen

Auf Entdeckungsreise zu den Badenweiler Musiktagen

 

Von Peter Hagmann

 

«Frühling. Erwachen.», so das Motto der Musiktage Badenweiler. Und fürwahr: Welches Frühlings-Erwachen stellte sich an diesem 1. Mai 2019 ein – einem Prachtstag, auf den am frühen Abend ein Konzert der Extraklasse folgte: ein Liederabend mit dem Bariton Christian Gerhaher und mit Gerold Huber, seinem langjährigen Partner am Klavier. Lieder von Robert Schumann und Johannes Brahms standen auf dem Programm, von jenem die «Dichterliebe» und weniger Bekanntes, von diesem zum Beispiel der «Regenlied»-Zyklus in seiner Frühfassung. Ein fulminanter Einstieg; der Saal war randvoll.

In seiner Weise nicht weniger aufsehenerregend geriet der Auftritt des Deutschen Frank Dupree. Seiner jungen Jahre zum Trotz ist er kein Unbekannter, zwei CD-Publikationen und eine Reihe hochrangiger Preise haben auf den Schlagzeuger, Pianisten und Dirigenten aufmerksam gemacht. Vom perkussiven Element in der Musik ausgehend, hat er am Klavier eine spezifische Sensibilität für das Rhythmische entwickelt. Und so präsentierte er in seinem unprätentiös moderierten Auftritt amerikanische Musik, die dem Jazz nahesteht. Zum Beispiel drei Stücke des deutschstämmigen Amerikaners George Antheil, die mit dem Gattungsbegriff der Sonate spielen, dabei aber erfrischend wider den Stachel löcken, mit unanständigen Sekundreibungen reizen und immer wieder den Blues anklingen lassen

Das ist die Welt, die Frank Dupree liebt – und darum bewunderte er schon als Jugendlicher «An American in Paris», die Sinfonische Dichtung von George Gershwin aus dem Jahre 1928, die der Pianist in denkbar brillanter Weise für sein Instrument eingerichtet hat. Grandios, was Dupree alles in den Klaviersatz eingebracht hat. Und blendend, mit welcher Agilität er die Erinnerung eines Amerikaners an die französische Kapitale seinem deutschen Publikum nahegebracht hat. Nicht ohne Interesse nahm es auch die so gut wie unbekannten «Phrygian Gates» entgegen, eine anregende minimalistische Studie des 72-jährigen Amerikaners John Adams. Das Randständige wie das Neue gehörte schon immer zu den Musiktagen in Badenweiler.

Besonders eindrücklich war es beim Kammerkonzert mit dem Quatuor Béla aus Lyon zu erleben. Die «Intimen Briefe», das Streichquartett Nr. 2 von Leoš Janáček, wollte den beiden Geigern Julien Dieudegard und Frédéric Aurier, dem Bratscher Julian Boutin und dem Cellisten Luc Dedreuil nicht restlos gelingen; die Wiedergabe trug Züge des al-fresco-Spiels und entbehrte der Dringlichkeit, die bei diesem Stück möglich wäre. Umso besser gelang zum Schluss Ludwig van Beethovens letztes Streichquartett, das Opus 135 in F-Dur. Leicht und hell im Ton, auch lebendig in der Artikulation die beiden ersten Sätze, sehr berührend das in aller Ruhe und mit Wärme ausgesungene Assai lento in Des-Dur, erheiternd dann das Finale, das in einem einleitenden Grave die Frage stellt, ob es denn wirklich sein müsse, dieses Finale, und das darauf im Allegro die lapidare Antwort gibt: «Es muss sein.»

Im Zentrum der Begegnung mit dem Quatuor Béla, einem der auf neue Musik und erweiterte Präsentationsformen spezialisierten Ensembles, stand «Strings» von Robert HP Platz, ein Stück für Streichquartett, Singstimme und Elektronik. Live-Elektronik, mit deren Hilfe der Klang von Instrumenten transformiert und in Echtzeit über Lautsprecher in den Raum verteilt wird – das ist inzwischen hoch entwickelt und geläufig. Im Stück von Platz kommt freilich kein einziger Lautsprecher zum Einsatz, verwendet wird vielmehr ein Transducer – ein kleines, über Kabel mit einem Computer verbundenes Gerät, das an den Instrumenten des Quartetts befestigt ist und auf ihnen elektronische Signale in hörbare Wellen umsetzt. Das Streichinstrument wird somit zur doppelten Klangquelle; es erzeugt sowohl den eigenen als auch einen sozusagen fremden Ton. Dabei wird dieser fremde Ton vorab eingespielt und von einem Techniker im richtigen Moment an das Instrument gesendet; die Computertechnik ist noch nicht so weit entwickelt, dass die Prinzipien der Live-Elektronik auch beim Transducer zur Verwendung kommen könnten.

Was nach einer technischen Spielerei aussah, war in der Aufführung des Streichquartetts von Robert HP Platz von frappanter Wirkung. Dies umso mehr, als die vier Streicher im René-Schickele-Saal des Kurhauses Badenweiler, einem akustisch überraschend guten Raum, verteilt waren. Als Zuhörer hatte man wahrhaft zu tun, man musste die Ohren spitzen und sich in die verhaltenen Klänge einhören – bis dann mit einem Mal von fern her kommende Geisterstimmen dazu traten. Erst erschienen sie als verfremdete Echos, später wurden sie zu eigenständigen Begleitern, indem sie Obertöne aufnahmen und weiterführten; ein Pizzicato etwa erhielt dadurch eine Art Glöckchen umgehängt und empfing so subtile klangliche Erweiterung. Der Erste, der eine solche Horizonterweiterung versucht hat, war Arnold Schönberg, der in seinem zweiten Streichquartett (fis-Moll, op. 10, 1907/08) eine Singstimme einsetzt. Mit dem Beizug einer Singstimme in «Strings» schliesst Robert HP Platz an diesen historisch bedeutsamen Moment an. Tatsächlich war da buchstäblich Unerhörtes zu erleben. Die Sopranistin Julia Wischniewski und das Quatuor Béla hatten daran ganz wesentlichen Anteil.

In einem halben Jahr geht es weiter in diesem Stil – dem Badenweiler Stil, der durch Klaus Lauer begründet worden ist und durch seine Nachfolgerin Lotte Thaler in eigener Handschrift weitergeführt wird. «Spätlese» verheisst die Herbstausgabe der Musiktage. Sie findet zwischen dem 7. Und dem 10. November 2019 statt. Der grossartige französische Pianist Bertrand Chamayou bietet ein Programm, das von selten gespielten Werken französischer Provenienz ausgeht, um in Prélude, Choral et Fugue von César Franck zu kulminieren. Im zweiten Teil stehen sich Wolfgang Rihm und Franz Liszt gegenüber, von dem die in jeder Hinsicht anspruchsvollen «Réminiscences de Don Juan» erklingen. Am zweiten Abend spielt das vielversprechende amerikanische Dover Quartet Streichquartette von Paul Hindemith und Johannes Brahms. Die beiden Kammerkonzerte des Wochenendes bringen die Begegnung mit dem Atos-Trio, einem deutschen Klaviertrio, das an den hundertsten Geburtstag des Komponisten Mieczyslaw Weinberg erinnert und sich im Finale für eine Abfolge von Raritäten um die Bratscherin Tabea Zimmermann und ihre Freunde schart. Programme, wie sie Lotte Thaler im Verein mit ihren Gästen ersinnt, gibt es nur in Badenweiler.

Erwin Schulhoff: Streichquartett Nr. 1. Pavel Haas: Streichquartett Nr. 2. Hans Krása: Thema und Variationen. Quatuor Béla. Klarthe K077 (Aufnahme 2017).

Grenzüberschreitungen

Die Badenweiler Musiktage im Herbst 2018

 

Von Peter Hagmann

 

Badenweiler ist und bleibt die Reise wert. Im lieblichen Markgräflerland gelegen, einer südlich anmutenden Gegend mit herrlichen Weinen, nutzt der Kurort das Heilwasser, das auf den Anhöhen eines kleinen Seitentals zur Oberrheinischen Tiefebene entspringt. Vom Ortszentrum aus blickt man hinunter zum Rhein und hinüber ins Elsass, bei Föhn bis nach Mulhouse und Colmar. Da und dort stösst man im Ort auf den Namen des Schriftstellers René Schickele, eines deutschsprachigen Elsässers aus der ersten Hafte des 20. Jahrhunderts, der sich mit Weitblick jener kulturellen Schnittstelle zuwandte, von der die Gegend bestimmt wird. Und gleich denkt man an Colmar, wo bis heute Jean-Jacques Waltz dominiert, der zur gleichen Zeit wie Schickele unter dem Künstlernamen Hansi fürs Elsass stritt – allerdings für die französische Sache. Womit wir mittendrin wären in den Badenweiler Musiktagen.

Nämlich bei der Osmose zwischen dem Deutschen und dem Französischen, die seit jeher einen Grundpfeiler des kleinen, aber äusserst feinen Festivals für alte und neue Kammermusik bildet. Es war so bei Klaus Lauer, seinem Gründer und langjährigen Leiter. Und es bleibt so bei Lotte Thaler, die seit diesem Jahr die künstlerische Verantwortung für die inzwischen von der Thermenverwaltung der Stadt getragene, durch zahlreiche Sponsoren unterstützte Einrichtung trägt – dabei aber sehr persönlichen Akzente setzt. Diesen Herbst verwirklichte sich der Dialog zwischen den beiden Kulturkreisen in der Begegnung von Claude Debussy, der vor hundert Jahren gestorben ist, mit Bernd Alois Zimmermann, der ebenfalls vor einem Jahrhundert zur Welt gekommen ist.

Mit Jean-Efflam Bavouzet, einem ganz aussergewöhnlichen, hierzulande freilich wenig bekannten Pianisten aus Frankreich, erarbeitete Lotte Thaler ein überaus spannendes Programm, das neben dem zweiten Band der «Préludes» von Claude Debussy zwei Klaviersonaten von Joseph Haydn und dazu Debussys «Hommage à Haydn» sowie drei Stücke aus dessen späten Etüden enthielt. Gerade diese horribel schweren Stücke sind im Konzert so gut wie nie zu hören, Bavouzet bewältigte sie in bewundernswerter Bravour. Nicht weniger brillant meisterte er den zweiten Band der «Préludes», der ebenfalls weniger häufig auf den Programmen steht als der erste. Schon die technische Seite seines Spiels löste ungläubiges Staunen aus, erst recht gilt das für das von ihm erzeugte Farbenspektrum, das einen Klangrausch sondergleichen auslöste, und sein erzählerisches Temperament, das die bisweilen etwas distanziert wirkende Musik Debussys ganz nah an den Zuhörer heranbrachte.

Bernd Alois Zimmermann wiederum kam mit seinen «Monologen» für zwei Klaviere zu Wort, die das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher auf dem Programm hatten – einem Programm übrigens, das so beziehungsreich gestaltet war, wie es in Badenweiler Sitte ist. Gleichsam persönlich trat Zimmermann ins Licht bei einer Gesprächsveranstaltung zu dem dieses Jahr erschienenen Band «Con tutta forza», in dem Bettina Zimmermann ihren Vater porträtiert. So vielgestaltig wie das Buch, das mit Schilderungen der Autorin, mit Bildern aus dem Familienarchiv, Briefen und Erinnerungen von Weggefährten durch das Leben des Komponisten führt, so bewegt und bewegend war die Gesprächsrunde, bei der Lotte Thaler mit Bettina Zimmermann sprach und Rainer Peters zusammen mit der Autorin aus dem Buch vorlas. Dass über Musik kundig gesprochen, dass dieser Kunst durchaus aktiv verstehend begegnet werden kann, das hat diese Matinee in aller Eindringlichkeit fassbar gemacht.

Überhaupt nimmt – darin liegt eines der Kennzeichen des Festivals – das Nachdenken und Sprechen über die erklingende Musik in Badenweiler einen bedeutenden Stellenwert ein. Diesen Herbst zum Beispiel war Stefan Litwin zu Gast, der deutsche Pianist, der sich mit seinen Lecture Recitals einen Namen gemacht hat. Litwin hatte den Variationenzyklus «The People United Will Never Be Defeated» von Frederic Rzewski mitgebracht, den er im zweiten Teil seiner Matinee so souverän und so sprechend darbot, dass der Spannungsbogen über der knappen Stunde Musik in voller Kraft zur Geltung kam. Davor aber sprach Litwin über das, was er danach vorzutragen gewillt war – und er tat das in freier Rede, packend von A bis Z. Er ging auf die Entstehung des Zyklus ein, wies auf das politische Statement hin, das seine Uraufführung 1976 im Kontext der 200-Jahr-Feiern der USA abgab, und führte dann mit Hörbeispielen durch die 36 Variationen, die das chilenische Revolutionslied «El pueblo unido jamás será vencido» in postmoderner Vielfalt beleuchten. Kein Blatt nahm Litwin vor den Mund, als er die Umstände schilderte, deretwegen Sergio Ortega das von Rzewski verarbeitete Lied komponiert hat: die Wahl Salvador Allendes zum Staatspräsidenten Chiles 1970 und dessen von den USA betriebenen Sturz durch den in der Folge zum Diktator beförderten General Augusto Pinochet drei Jahre später. Mit Schaudern konnte man dabei an die heutigen Verhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent denken.

Debussy, Zimmermann, Rzewski – das ist kein Zufall. Bei den Badenweiler Musiktagen hört die Musik nicht 1914 auf, sie geht in ungebrochener Kontinuität und aller Selbstverständlichkeit weiter bis in unsere Tage. Davon zeugte diesen Herbst der Abend mit dem Arditti String Quartet. Kompromisslos wiesen Irvine Arditti und Ashot Sarkissjan (Violinen), Ralf Ehlers auf seiner eigenhändig gebauten Viola und der Cellist Lucas Fels darauf hin, wie unbändig modern das frühe Streichquartett op. 3 (1910) von Alban Berg klingen kann. Im fünften Streichquartett Hans Werner Henzes fand sich dann auch die Quelle für das Motto dieses Badenweiler Herbstes; «Echos, Erinnerungen, ganz von fern» nennt sich der fünfte Satz dieses immer wieder erstaunlichen Werks. Ein Glanzlicht ergab sich jedoch durch familiäre Verbindungen, denn mit dem ganz ausgezeichneten Countertenor Jake Arditti gesellte sich der Sohn des Primarius zum Quartett. Und sang dort mit den «Canciones lunáticas» (2008/09) der Mexikanerin Hilda Paredes ein attraktives Werk seiner offenkundig herzlich geliebten Stiefmutter. Den Schluss machte «Cosa resta» für Streichquartett und Countertenor – bitte beachten Sie die Reihenfolge – von Salvatore Sciarrino, eine witzige, in die charakteristische Handschrift des Italieners gefasste Aufzählung der Gegenstände, die der Renaissance-Maler Andrea del Sarto bei seinem Tod hinterlassen haben soll.

War nicht Richard Strauss der Meinung, ein zünftiger Komponist müsse auch das Telephonbuch vertonen können? Wie auch immer, danach schritt man frohgemut zum weissen Wein, denn nach allen Abendkonzerten des Festivals schenkt einer der Winzer aus der Gegend eine Spezialität aus seinem Keller aus. Auch das gehört, natürlich, zu den Badenweiler Musiktagen.

*

Die nächste Ausgabe der Badenweiler Musiktage findet vom 1. bis zum 4. Mai 2019 statt. «Frühling. Erwachen» heisst das Thema. Zur Eröffnung gibt es einen Liederabend mit dem Bariton Christian Gerhaher und dem Pianisten Gerold Huber. Das Béla-Quartett aus Lyon interpretiert unter anderem ein Streichquartett des Kölners Robert HP Platz, während der junge deutsche Pianist Frank Dupree etwa Werke von George Antheil spielt und sich das Boulanger-Trio zusammen mit dem Klarinettisten Kilian Herold einem rein französischen Programm widmet.

Bettina Zimmermann: «Con tutta forza». Bernd Alois Zimmermann – ein persönliches Portrait. Unter Mitwirkung von Rainer Peters. Wolke-Verlag, Hofheim 2018. 464 S., 34 Euro / 52 Franken.

Alt und Neu gesellt sich gern

Badenweiler Musiktage im Frühling 2018

 

Von Peter Hagmann

 

Es geht also weiter. Fast 45 Jahre lang hat Klaus Lauer die von ihm 1973 ins Leben gerufenen Badenweiler Musiktage geleitet. Letzten Herbst har er sich von dieser Aufgabe zurückgezogen und die Leitung des zwei Mal im Jahr durchgeführten, hochstehenden Kammermusik-Festivals im südlichen Schwarzwald seiner Nachfolgerin Lotte Thaler übergeben (vgl. Mittwochs um zwölf vom 15.11.17). Sehr zu Recht hat die Musikologin und Journalistin Kontinuität in Aussicht gestellt; zugleich hat sie jetzt, in ihrer ersten Ausgabe, erkennen lassen, in welcher Weise sie eigene Akzente zu setzen vermag. «Heut’ und ewig» hiess das Motto, das in seiner poetischen Formulierung ein Gefühl für das Vergehen der Zeit und, auf der anderen Seite, für das Bestehenbleiben, zum Beispiel singulärer Leistungen, evoziert. Es entstammt einem Gedicht Goethes, dessen Vertonung Wolfgang Rihm 2007 abgeschlossen hat – und Rihm, einer der bedeutendsten Komponisten unserer Tage und regelmässiger Gast bei den Badenweiler Musiktagen, durfte hier nicht fehlen. «Heut und ewig» schien nämlich auch zu bedeuten, dass es auch mit der komponierten Musik weitergeht, jedenfalls sprachen die Programme mit ihren kreativen Verbindungen von Alt und Neu in aller Deutlichkeit davon.

Zum Beispiel an jenem unerhört eindrucksvollen Liederabend, an dem sich nicht nur der Bariton Hans Christoph Begemann und der Pianist Thomas Seyboldt trafen, sondern auch Wolfgang Rihm und Franz Schubert. Und dies in zwei Werkgruppen: mit Gedichten von Goethe einerseits, mit solchen von Heine andererseits. Der Komponist von heute, der Texte aus dem 19. Jahrhundert vertont, wie es sein gut 150 Jahre zuvor geborener Kollege tat, das mag einen bildungsbürgerlichen Zug tragen. Bei Rihm fällt das aber nicht ins Gewicht. Rihm sah sich immer in einem grossen Traditionsstrom und leugnete bei aller Eigenheit seiner Handschrift nie seine innige Verbindung mit Altvorderen. Er kann sich das erlauben, weil sein Vorrat an musikalischen Ideen unerschöpflich scheint und weil, auch wenn er sich aktiv der Tradition nähert, stets so viel Neues auf Tapet kommt, dass kein Déjà-vu entsteht. Vor allem aber sind die von Rihm ausgewählten Texte so besonders, dass sich die kompositorische Beschäftigung mit ihnen geradezu aufdrängt. Die im Vokalen ausserordentlich textgenaue und im Instrumentalen hochgradig farbenreiche Präsentation durch Begemann und Seyboldt liess an all dem keinen Zweifel.

Bei den Goethe-Liedern wurde der Block mit den Vertonungen Schuberts eingerahmt von «Sehnsucht und Nachtgesang» (2014), «Heut’ und ewig» sowie am Ende der äusserst speziellen «Harzreise im Winter» von 2012. Im Falle Heines folgten die sechs einzigen Lieder, die Schubert auf Texte dieses Dichters komponiert hat, sie stammen alle aus dem «Schwanengesang», dem Zyklus «dort wie hier» (2015), bei dem Wolfgang Rihm, die Idee muss man erst haben, ein Gedicht Heines sieben Mal in unterschiedlicher Weise vertont hat. Da kam es zum Höhepunkt des Abends, denn Begemann wie Seyboldt, ein durch langjährige Übung bestens aufeinander eingespieltes Duo, sind Virtuosen im Umgang mit dem Leisen – und «dort wie hier» soll ja als eine Meditation im Pianissimo aufgeführt und gehört werden. Bei Schubert dagegen konnte es vital, ja dramatisch werden, etwa in dem drängenden Zug, den «Rastlose Liebe» entwickelte, oder im Grauen des «Doppelgängers», dessen Nachspiel radikale Konturen annahm. Überhaupt beeindruckten hier die enorme Diversität der Ausdrucksformen und die Einlässlichkeit, mit der sowohl der Sänger als auch der Pianist den Stücken auf den Grund gingen. Dass es dabei bisweilen, zumal in den Schlussmomenten der Lieder, zu einer Art Zelebrieren kam, musste und konnte mit etwas Nachsicht hingenommen werden.

Nicht weniger anregend waren die Verzahnungen in einem Programm, das an den hundertsten Geburtstag Bernd Alois Zimmermanns erinnerte. Die drei Solosonaten für Geige, Bratsche und Cello, die Zimmermann zwischen 1951 und 1960 komponiert hat, erscheinen selten im Konzertsaal – was wenig erstaunt, sind sie doch von kaum zu bewältigender Schwierigkeit. Grossartig, wie Ilya Gringolts die Virtuosität der Geigensonate blitzen liess und wie James Boyd die schwarze Depression der Bratschensonate zur Geltung brachte; die Cellosonate mit David Eggert, der kurzfristig für den erkrankten Thomas Demenga eingesprungen war, musste für uns leider einer unumgänglichen Reisedisposition weichen. Der Moment geriet ohne Zweifel nicht weniger hochstehend, denn der aus Kanada stammende Cellist trug massgeblich zur Wirkung des Trios in B-dur, D 471, von Schubert bei – einem Fragment, das ganz im Geiste Mozarts geschrieben ist. Mozart selbst war mit seinem grossen Duo in G-dur, KV 423, vertreten, in dem Gringolts und Boyd impulsiv mit dem Tempo arbeiteten und sorgsam artikulierten – mithin zu äusserst lebendigem Dialogisieren fanden. Zum Schluss gab es Ludwig van Beethovens Streichtrio in D-dur, op. 9, Nr. 2. Zimmermann und schönste Musik im Tonfall der Klassik, das machte den Reiz dieser blendend komponierten und grandios interpretierten Werkfolge aus.

Starke Gegensätze prägten auch das Eröffnungskonzert; es stand im Zeichen der Verbindung zwischen dem deutschsprachigen und dem französischsprachigen Kulturraum, die Klaus Lauer zu einer wichtigen Schiene in seinen Programmen ausgebaut hatte und die Lotte Thaler nun fortführt. Mit dem Diotima-Quartett aus Paris war eines der führenden Ensembles im Bereich der neuen Musik verpflichtet, und dass dieser Ruf gerechtfertigt ist, erwies das Streichquartett in g-moll (1893) von Claude Debussy, das Yun-Peng Zhao und Constance Ronzatti (Violinen), Franck Chevalier (Viola) und Pierre Morlet (Violoncello) in einer Sinnlichkeit sondergleichen aufblühen liessen. Ganz anders das zwölf Jahre später entstandene Streichquartett Nr. 1 in d-moll, op. 7, von Arnold Schönberg, das die Chromatik bis kurz vor die Atonalität hochtreibt, das in mancher Hinsicht aber an die späten Streichquartette Beethovens anschliesst und nicht ohne Druck auskommt. Geriet dieses Stück dem Diotima-Quartett klanglich und dynamisch etwas pauschal, so fesselte das Ensemble in der Mitte des Programms mit «sogni, ombre e fumi», einem 2016 entstandenen Streichquartett von Tristan Murail. In einen fast tonlos gehauchten Beginn wirft die Bratsche Pizzicati und weiche Akkorde ein, die übrigen Instrumente reagieren mit kurzatmigen Bewegungen, dazu kommen bald mikrotonal verfärbte Klänge, bis sich alles in einem Unisono der beiden Geigen beruhigt – so haptisch gestaltet Murail eine Folge von Verläufen, die von klaren Konturen leben und den Zuhörer auf Anhieb gefangen nehmen. Auch das gibt es: neue Musik, die sich verständlich macht, ohne auf Anbiederung zu setzen. In Badenweiler ist sie zu hören.

«Echos – Ferne Erinnerungen» – so ist die Herbstausgabe der Badenweiler Musiktage überschrieben. Sie findet vom 8. bis zum 11. November statt. Und bringt etwa das Streichquartett op. 1 von Glenn Gould mit dem Minguet-Quartett, einen Auftritt des Arditti-Quartetts mit dem Countertenor Jake Arditti sowie die «Monologe» von Bernd Alois Zimmermann und Ferruccio Busonis «Fantasia contrappuntistica» mit dem Klavierduo Grau-Schumacher.

Alle sechzehn, keinesfalls weniger

Die Streichquartette Beethovens und ein Epochenwechsel bei den Badenweiler Musiktagen

 

Von Peter Hagmann

 

Besonders, nämlich fordernd und anregend, waren die Badenweiler Musiktage jederzeit. Als ich zum ersten Mal in die liebliche Gegend etwas nördlich von Basel kam, vor knapp dreissig Jahren, fanden sie noch im Hotel Römerbad statt und hiessen darum «Römerbad-Musiktage». Klaus Lauer, ihr Erfinder und spiritus rector, wirkte von Berufs wegen als Geschäftsführer des hochkarätigen Hauses in Badenweiler, hatte zugleich aber eine ausgeprägte Schwäche für klassische Musik. Weil dem Hotelier missfiel, dass in den trüben Novembertagen die Gäste ausblieben, trat der Melomane auf den Plan. 1973 gründete Lauer die Römerbad-Musiktage als ein kleines, aber eben besonderes Festival von wenigen Tagen eines verlängerten Wochenendes; es sollte die Auslastung des Hauses fördern und gleichzeitig eine ungewöhnliche Art Begegnung mit der Musik bieten. Bis 2007 leitete er das über die Jahre hin vielfach erweiterte Festival, dann zog es ihn weg: aus dem Hotel wie aus dem Schwarzwaldstädtchen. 2008 ging er für vier Jahre nach Bad Reichenhall, wo er die künstlerische Leitung des Festivals Alpenklassik besorgte; 2013 kehrte er nach Badenweiler zurück, um die Intendanz der neu gegründeten Badenweiler Musiktage zu übernehmen.

Bild Badenweiler Musiktage

In der Grundidee ging es den damaligen Römerbad-Musiktagen darum, das Erlebnis der gehobenen Hotellerie mit einem hochstehenden musikalischen Angebot zu verbinden. Da die von Lauer eingeladenen Künstler ebenfalls im Hotel wohnten, geschah diese Verbindung in intimem Rahmen. Wer sich auf einen Spaziergang aufmachte, konnte im Vorbeigehen mit dem (inzwischen verstorbenen) Pianisten Zoltan Kocsis ein Wort wechseln. Wer spät am Abend noch auf ein Glas in die Bar ging, konnte dort auf Mitsuko Uchida stossen, die am Flügel nicht genug bekommen konnte von Schubert. Die ungewohnte Nähe zwischen dem Künstler und seinen Zuhörern, sie beförderte im Publikum die Intensität der Auseinandersetzung wie den Mut, sich auf Neues einzulassen. So bildete sich hier eine Stammklientel, die sich ganz und gar dem Geist des Festivals verschrieb – die spezielle Konstellation und ihre anhaltend geglückte Konkretisierung ermöglichten es.

Zu dem in Badenweiler gelebten Geist gehörte nicht nur die Offenheit in ästhetischer Hinsicht, sondern auch intellektuelle Regsamkeit. Einführungen genossen alle Aufmerksamkeit, bisweilen waren auch Proben offen, und die kritische Anteilnahme fand auf hohem Niveau statt. Nicht zu unterschätzen war aber auch die ganz eigene Sinnlichkeit der Veranstaltung. Mag sein, dass die südbadischen Weine ihre Rolle spielten. Ebenso von Bedeutung war die im «Römerbad» gepflegte Kulinarik; nicht von ungefähr erinnere ich mich mit einigem Wohlgefallen daran, wie in den letzten Momenten der Konzerte die Düfte des anschliessenden Abendessens verbreiteten. Und kein Wunder, hat sich Heinz Josef Herbort, der damalige Musikkritiker der «Zeit», in einem Herbst nicht seinem Metier hingegeben, sondern sich als Hilfskraft in der Hotelküche verdingt – und dafür in einer kleinen Zeremonie ein Diplom sowie die vereinbarte Gage in der Höhe von einer Deutschen Mark überreicht bekommen.

Das Zentrum des Geists von Badenweiler bildete indessen eine im positiven Sinne elitäre Grundhaltung. Nur das Beste, nur das Interessanteste sollte gut genug sein. Erstklassige Vertreter ihrer Kunst waren zugegen. 1989, die Berliner Mauer war eben gefallen, konnte man Kontakt aufnehmen mit dem Komponisten György Kurtág und seiner Gattin Márta, der Pianistin, beide im Westen noch so gut wie unbekannt. Im Jahr zuvor war Elliott Carter zu Gast gewesen, der damals schon achtzigjährige Komponist aus den USA, der hierzulande selten gehörte Musik im Geist der europäischen Avantgarde schrieb. Zentralfiguren waren Wolfgang Rihm und Pierre Boulez. Als er den berühmten Komponisten und Dirigenten für einen Auftritt in Badenweiler angefragt habe, so Klaus Lauer, sei die Antwort ein glattes Nein gewesen; für ein einzelnes Konzert komme er nicht, es müsse schon eine ganze Woche sein. So kam es 1990 zu jener denkwürdigen Ausgabe der Musiktage, bei der Boulez mit dem damals noch von ihm selbst geleiteten Pariser Ensemble Intercontemporain einen denkbar breiten Horizont moderner Musik ausschritt.

Mit dem Abschied Klaus Lauers von seinem Hotel und, wenigstens vorläufig, von seinem Festival war das dahin. Allerdings nicht ein für alle Mal, wie inzwischen feststeht. 2013 wurden das Festival wiederbelebt, nun unter der Bezeichnung «Badenweiler Musiktage» und durchgeführt von der örtlichen Therme zusammen mit der Gemeinde und einer Gruppe von Sponsoren, aber nach wie vor mit zwei Ausgaben, einer im Frühjahr, einer im Herbst. Die Atmosphäre des grossbürgerlichen Hotels ist Vergangenheit, nicht aber der Geist. Einführungen gibt es weiterhin. Und am Ende der Konzerte wird jeweils ein Glas badischen Weissweins gereicht, was der Kontaktnahme förderlich ist – zum Beispiel jener mit den Musikern, die sich bald unters Publikum mischen. Und was die Programmgestaltung betrifft, ist bei den Badenweiler Musiktagen auch heute manches möglich, was andernorts ausgeschlossen wäre.

Wer wäre schon in der Lage, eine integrale Aufführung der sechzehn Streichquartette Ludwig van Beethovens an sechs Abenden aufs Programm zu setzen, die Grosse Fuge op. 133 eingeschlossen, und das dargeboten von einem einzigen Streichquartett? Bei Klaus Lauer ist so etwas möglich; er hat es seinem Publikum, aber auch sich selbst geschenkt – zum Abschluss, zum Abschied, denn mit dieser Herbst-Ausgabe des Festivals zieht sich Lauer von der Leitung der Badenweiler Musiktage zurück. Mitgetragen hat das wagemutige Projekt das Danel-Quartett, das französisch geprägte Ensemble mit Sitz in Brüssel, das schon seit 1991 besteht, im deutschsprachigen Kulturkreis aber viel zu wenig bekannt ist.

Das ist zu bedauern, handelt es sich hier doch um eine sehr spezielle, weil sehr persönlich wirkende Gruppierung. Seine Mitglieder unterscheiden sich erheblich voneinander. Der Cellist Yovan Markovich, seit 2013 mit dabei, bleibt jederzeit, auch in heikelsten Momenten, souverän und makellos, bringt zugleich aber ungeheure musikalische Energie ins Ensemble ein. Ihm zur Seite der Bratscher Vlad Bogdanas, der, wenn er denn heraustreten darf, eine Innigkeit eigenen Zuschnitts hören lässt. Noch mehr gilt das für Gilles Millet, der an der zweiten Geige den ruhenden Pol bildet, dabei aber keineswegs im Schatten bleibt, weil er so viel unaufgeregte Genauigkeit beisteuert. Das braucht es, denn Marc Danel als Primarius ist ein Feuerteufel erster Güte. Er legt sich unheimlich in den Klang und seine Verläufe hinein, und dabei zieht es ihm bisweilen vor lauter Spannung die Beine hoch – wann hat man Derartiges schon gesehen, ja gehört? Die Vielfarbigkeit der vier Musikerpersönlichkeiten findet nun aber zu einer Übereinstimmung, die nur staunen lassen kann; so eng sind sie miteinander verbunden, dass alles wie aus einem Guss, wie aus einer Geste heraus klingt.

Ein geradezu orchestraler Zugriff bestimmt die Auslegung der drei Quartette op. 59, die Beethoven für den Fürsten Rasumowsky geschrieben hat. Das heisst freilich nicht, dass die verrückten Zuspitzungen, die der Komponist hier gesucht hat, in der Fülle des Wohlklangs untergingen – nein, sie kommen erst recht als solche zur Geltung. Viele Einzelheiten bleiben dabei in Erinnerung, etwa die rhythmische Prägnanz, die, vom Primarius mit seiner fast perkussiven Bogenführung ausgelöst, das F-dur-Quartett op. 59, Nr. 1 kennzeichnet, oder das sensationell stimmende Tempo im Scherzo und im Trio des C-dur-Quartetts op. 59, Nr. 3. Im Vergleich zur Extravaganz von Opus 59 boten die drei nächsten Quartette, F-dur op. 74, f-moll op. 95 und Es-dur op. 127, spielfreudige Entspannung. Mit historisch informierter Aufführungspraxis hat das Danel-Quartett nichts am Hut. Dennoch wurde in der Maestoso-Einleitung zum Kopfsatz von Opus 127 ebenso sorgfältig wie phantasievoll mit dem Einsatz des Vibratos gearbeitet. Während sich in dem unglaublich ausladenden Adagio dieses Quartetts wieder Wunder an Tempogestaltung ereigneten.

Bild Badenweiler Musiktage

Der gewaltige Schlusspunkt war ein Abschied ganz nach dem Geschmack von Klaus Lauer. Im kommenden Frühjahr geht es jedoch mit neuer Energie weiter. In der Musikologin Lotte Thaler, noch für kurze Zeit als Musikredaktorin beim SWR tätig und als langjährige Besucherin, bisweilen Mitwirkende, mit den Badenweiler Musiktagen vertraut, ist genau die richtige Nachfolgerin gefunden worden. Auch wenn sie ihre eigenen Akzente setzt, bleibt sie dem Geist von Badenweiler treu. «Heut’ und ewig» lautet das Motto ihrer ersten Ausgabe – was heisst, dass das Kernrepertoire seine Bedeutung bewahrt, dem Hergebrachten aber Neues beigesellt wird. Indem sie an den hundertsten Todestag von Claude Debussy und den hundertsten Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann erinnern, führen die Badenweiler Musiktage im Frühjahr 2018 die traditionelle Verbindung zwischen dem Deutschen und dem Französischen weiter. Das Pariser Quatuor Diotima wird Tristan Murail spielen und das Streichquartett Debussys, aber auch das erste Quartett Arnold Schönbergs. Der Bariton Hans Christoph Begemann wird Lieder von Franz Schubert mit solchen von Wolfgang Rihm kombinieren. Ilya Gringolts wird mit James Boyd und Thomas Demenga unter anderem die drei für ihre Instrumente geschriebenen Solosonaten vorstellen, während Alexander Melnikov auf nicht weniger aus drei Instrumenten Klaviermusik zwischen Schubert und Strawinsky einbringt. Nicht wenig, was dieser Auftakt verspricht.

Die nächsten Badenweiler Musiktage, die ersten unter der Leitung von Lotte Thaler, finden vom 28. April bis zum 1. Mai 2018 statt. Informationen unter www.badenweiler-musiktage.de.