Wo steht das Streichquartett?

Begegnungen mit dem Cuarteto Casals, dem Ulysses Quartet und dem Chiaroscuro Quartet

 

Von Peter Hagmann

 

Seit eh und je, und das gilt bis heute, wird das Streichquartett als Inbegriff der musikalischen Kunst erlebt: als «Königsdisziplin», wie gerne gesagt wird. Tatsächlich wird im Zusammenwirken von vier Stimmen und vier Instrumenten in unterschiedlicher Höhe, aber vergleichbarer Farbe das musikalische Geschehen in einer Reinheit und einer Nähe wie nirgendwo sonst erfahrbar. Das interessiert nicht alle Musikfreunde gleichermassen; diejenigen unter ihnen, die sich davon angesprochen fühlen, sind jedoch mit besonderer Hinwendung, auch mit auffallender Kompetenz dabei. Besonders angezogen von der Gattung fühlten und fühlen sich zudem die Komponisten; bis heute werden von den bedeutenden Vertretern dieser Zunft Werke für zwei Geigen, Bratsche und Cello vorgelegt; von Wolfgang Rihm zum Beispiel stammen nicht weniger als fünfzehn Streichquartette, entstanden zwischen 1966 und 2011. Auch an Interpreten fehlt es nicht – gerade heutzutage nicht, da die Musikhochschulen allüberall höchstqualifizierte Instrumentalisten auf den Markt werfen, wo sie nicht eben mit offenen Armen empfangen werden. Jedenfalls sind in den letzten Jahrzehnten Streichquartette in Menge gegründet worden. Nur mit der Kommerzialisierung will es nicht recht klappen. Auftritte von Streichquartetten sind nun einmal für kleinere Räume gedacht und werden von einer geringeren Zahl an Zuhörern besucht, während die Kosten, darunter aber nicht die Gagen, beständig steigen. Den Kassenwarten bereitet das wenig Freude.

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Dennoch: In der Nische des Streichquartetts herrscht pralles Leben, es darf einmal mehr betont werden. Zu den Bannerträgern gehört hier die Gesellschaft für Kammermusik Basel, die seit 1926 im Basler Stadtcasino Streichquartetten ihr Podium bietet. Klein, aber fein ist dieser private, allein von den Mitgliederbeiträgen, den Konzerteinnahmen und den Zuwendungen von Sponsoren lebende Verein. Dank seiner stolzen Vergangenheit und dank seinen derzeit acht Konzerten pro Saison stösst er auf internationale Beachtung – jedenfalls kommen die führenden Ensembles der Szene regelmässig nach Basel. Wenn das Quatuor Ebène zu Gast ist (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 03.11.22), ist der Hans Huber-Saal mit seinen knapp fünfhundert Plätzen voll besetzt und herrscht in dem altersmässig gut durchmischten Publikum zuerst knisternde Spannung, dann eine Begeisterung sondergleichen. Nämliches gilt für den Abend mit dem Cuarteto Casals, das vor einem Vierteljahrhundert in Madrid gegründet wurde und längst zur ersten Garde der Streichquartette gehört.

Anders als die meisten der berühmten Ensembles früherer Zeit lebt das Cuarteto Casals Flexibilität der Besetzung und Freiheit im interpretatorischen Zugang. Vera Martínez Mehner, in der Besetzungsliste des Ensembles als Primgeigerin genannt, und Abel Tomàs Realp als Zweiter Geiger wechseln regelmässig ihre Funktionen; einmal spielt sie, einmal er die Erste Geige. Das hat insofern seinen besonderen Reiz, als da zwei sehr gegensätzliche musikalische Persönlichkeiten alternieren. Gerade Abel Tomàs Realp tritt als unerhört impulsiver, klanglich phantasievoller Geiger in Erscheinung, der viel Energie ins Ensemble leitet. Sie wird vom Cellisten Arnau Tomàs Realp, vor allem aber von dem rechts vorne sitzenden Bratscher Jonathan Brown kraftvoll aufgenommen – die Viola erhält dadurch herausgehobenes Profil und straft die über dies Instrument noch immer kursierenden Klischees entschieden Lügen.

Auch gegenüber den Erkenntnissen der historisch informierten Aufführungspraxis zeigt sich das Cuarteto Casals offen. Darmsaiten verwenden sie nicht, schon allein aus Gründen der Praktikabilität nicht, aber für ältere Musik kommen klassische Bögen zum Einsatz. So zum Beispiel für die vier Stücke aus der «Kunst der Fuge» Johann Sebastian Bachs, die in Basel den «Reflections on the Theme B-A-C-H» der mittlerweile 91-jährigen, seit langem in Deutschland lebenden Russin Sofia Gubaidulina vorangingen – neue Musik gehört beim Cuarteto Casals ebenso selbstverständlich dazu wie die alten Bögen. Indessen wird die historische Praxis nicht ideologisch, sondern pragmatisch eingesetzt. In Joseph Haydns Streichquartett in A-dur, op. 20 Nr. 6, gerät das Adagio darum so empfindsam, weil der Klang, dafür sorgen die Tongebung und der subtile Umgang mit dem Vibrato, ganz ruhig wird, während das Finale mit seinem Fugencharakter leicht und spritzig daherkommt. Ebenfalls mit einer Fuge schliesst das Klavierquintett in Es-dur von Robert Schumann, für das sich der Pianist Claudio Martínez Mehner zum Ensemble gesellte. Grosse Kammermusik mit offenem gestalterischem Blick gab es da.

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Das ist Kunst. Kunstmusik. Sie verdankt sich natürlich der technischen Grundlage, und mehr noch dem Imaginationsvermögen in der Spontaneität des Moments, vor allem aber reicher Erfahrung. So weit ist das Ulysses Quartet aus New York noch nicht – aber das heisst wenig. Vier junge Leute haben da 2015 zusammengefunden, so wie viele andere auch, eine Einrichtung wie die für 2024 wieder angekündigte Streichquartett-Biennale von Amsterdam erzählt von diesen Entwicklungen. Sehr amerikanisch, um das Klischee zu bemühen. Unkompliziert, frisch-fröhlich treten sie auf. Christina Bouey, das Temperamentsbündel an der Ersten Geige, singt auch sehr ordentlich, wie sie im «Sonett CXXVIII» für Sopran und Violine des hierzulande unbekannten, im Konzert anwesenden Komponisten Joseph Summer zusammen mit Rhiannon Banerdt an der Zweiten Geige bewies. Als ebenfalls vorne rechts sitzender Bratscher, Schlagzeuger und Podiumstechniker in einer Person bewährte sich Colin Brookes, während Grace Ho am Cello die Ruhe selbst war. Und alle sprachen sie zum Publikum, teils in liebevollen Versuchen auf Deutsch, teils in rasantem US-Englisch; sie dankten fürs Zuhören, lobten den Saal und charakterisierten die Stücke.

Zum Beispiel das Streichquartett Nr. 2, op. 7, von Pavel Haas, welches das Ulysses Quartet nach dem einleitenden Werk «Raegs» der Aserbaidschanerin Frangis Ali-Sade und dem Werk von Joseph Summer darboten. Der in Auschwitz ermordete Schüler Leoš Janáčeks schildert in dieser energiegeladenen Programmmusik eine Reise durch das mährische «Affengebirge» mit Blicken in die Weite der Landschaft, mit Kutschenfahrt und Mondaufgang wie einer wilden Nacht. Das Ulysses Quartet gab sich all dem mit drängender Leidenschaft hin – von mitreissender Wirkung war das. Für Ludwig van Beethovens Streichquartett in a-moll, op. 132, namentlich für dessen weit ausholenden «Dankgesang eines Genesenen in der lydischen Tonart», reicht Leidenschaft allein freilich noch nicht. Bei allem Respekt vor dem Ausloten der Extreme: Um die Zerklüftungen der Partitur Musik werden zu lassen, um über die Brüche hinaus Zusammenhänge zu schaffen, braucht es mehr – mehr an Vermögen, Strukturen klanglich erfahrbar zu machen, aber auch mehr an musikalisch wirksamer Empathie, vor allem aber mehr an interpretatorischem Weitblick. Die Kunst des Musizierens im Streichquartett hat sich in den letzten Jahrzehnten doch beträchtlich verändert; beim Ulysses Quartet ist das erst in Spurenelementen angekommen. Eine Laufbahn als Streichquartett mit diesem Stück zu beginnen, wie die Geigerin Rhiannon Banerdt verriet, zeugt von jugendlicher Verwegenheit. Dass daraus etwas wird, steht noch in den Sternen, ist jedoch, gute Beratung vorausgesetzt, nicht auszuschliessen.

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Spitzenleistung beim Cuarteto Casals, Jugendfrische beim Ulysses Quartet – die Avantgarde des Streichquartetts allerdings, die wird durch ein Ensemble verkörpert, das seine Wurzeln in der alten Musik und in deren Aufführung durch adäquate Mittel der Darstellung findet. Die Rede ist vom Chiaroscuro Quartet. Es verwendet Instrumente mit Baujahren zwischen 1570 und 1780, es spielt auf Darmsaiten und tut das mit den entsprechenden Bögen. Das ergibt ein gänzlich anderes als das gewohnte Klangbild des Streichquartetts – ein hochattraktives, weil es dem künstlerischen Anspruch der Gattung besonders nahekommt. Hell, leicht, schlank und dementsprechend transparent klingt das 2005 in London gegründete Ensemble. Da lässt sich tief in die Musik hineinhören. Auf dieser Basis kann auch die Bandbreite der Tempi vergrössert werden und lässt sich eine Attacke pflegen, die federnde Energie versprüht, aber nie Druck oder Grobheit empfinden lässt. Was das heisst, hat das Chiaroscuro Quartet in zahlreichen Aufnahmen dokumentiert: mit Werken von Haydn und solchen von Mendelssohn oder Schubert, jüngst mit Quartetten von Beethoven und Mozart (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 23.11.22).

Darum war die Stadtkirche Brugg, in der das Chiaroscuro Quartet auf Einladung der Konzertreihe Stretta vor kurzem aufgetreten ist, genau der falsche Ort. Was das Ensemble zu bieten hat, ging, so jedenfalls der Eindruck auf einem Platz zuhinterst in der Kirche, im reichlichen Hall und der diffusen Abstrahlung unter – dennoch nahmen die jubelnden Reaktionen des Publikums in der so gut wie vollbesetzten Kirche enorme Ausmasse an. Trotz der hinderlichen Rahmenbedingungen war eben zu spüren, mit welcher besonderen Auffassung von Balance das Quartett zu Werke geht. Die Primgeigerin, die seit langem in London lebende Russin Alina Ibragimova, ist eine Solistin ersten Ranges; sie spielt Neustes ebenso wie Klassisch-Romantisches, und sie wechselt, wie sie vor einiger Zeit im Gespräch erläuterte, von einem Tag zum anderen umstandslos von Darm- zu umsponnenen Stahlsaiten, vom klassischen zum modernen Bogen. Als Solistin wirkt sie auch im Quartett, nicht dominierend, sondern freundschaftlich motivierend und mitziehend. Sie kann das problemlos tun, weil ihr in der Französin Claire Thirion eine Cellistin gegenübersitzt, die den Bass als solides Fundament markiert und ihn als Gegenpart zum Diskant herausstellt – das alles ohne Kraftgehabe, das verhindert der Gesamtklang des Ensembles. Dazu kommen die ebenfalls pointiert konturierten Mittelstimmen mit dem Spanier Pablo Hernán Benedí an der Zweiten Geige und der Schwedin Emilie Hörnlund an der Bratsche. Übrigens tritt das Quartett in der traditionellen Aufstellung auf, aber ausser beim Cello im Stehen. Und gespielt wird aus dem iPad, man ist keineswegs von gestern.

Das Programm, das die Vier in Brugg vorstellten, nahm sich konventionell aus, doch welche Entdeckungen waren im Zuhören zu machen. Aufhorchen liess schon der Kopfsatz von Haydns Streichquartett in B-dur, op. 33 Nr. 4. Als sich dort die Exposition auf die Durchführung hin zu einer kleinen Stretta auswuchs, wurde offenkundig, dass das Quartett die Freiheiten der Tempogestaltung, die sich neuerdings als eine althergebrachte Praxis wieder zu verbreiten beginnt, mit Lust und Gewinn aufnimmt. Sehr berührend das zarte Trio zum Scherzo, erst recht der in schlichtem geradem Ton genommene Einstieg ins Largo. Und unerhört witzig das abschliessende Presto, das in hohem Mass von der leichtfüssigen Virtuosität der Primgeigerin lebte. Ähnliches ist zu Beethovens Streichquartett in f-moll, op. 95, zu berichten, wo im Kopfsatz die Oktavparallelen zwischen Violine eins und zwei in grossartiger Reinheit erklangen, wo das Cello im Allegretto des zweiten Satzes die absteigenden Gesten klar phrasierte und wo im dritten Satz dank der Darmsaiten die dynamischen Kontraste haptisch, aber niemals schwer heraustraten. Zum Ereignis wurde dann aber das späte G-dur-Quartett Franz Schuberts, dessen enorme Dimension meisterhaft gefasst und in eine Erzählung voller Geheimnisse übergeführt wurde. Nichts wurde verharmlost; im Kopfsatz kam es zu Einbrüchen des Geschehens von erschreckender Drastik – die dynamische und klangliche Spannweite ermöglichte es. Und wo im zweiten Satz auf drei Takte mit ruhigen Akkordwiederholungen im Pianissimo punktierte Ausbrüche im Fortissimo folgen, schüttelte es einen förmlich durch. Nebenbei: Was so etwas Simples wie ein Dreiklang sein kann, einmal ohne, einmal dann aber mit Vibrato – hier, mit dem Chiaroscuro Quartet, war es zu erleben. In der Nische kann manch Bekanntes ein überraschend neues Gesicht zeigen.

Neues vom Chiaroscuro-Quartett

Mozarts «Preussische» Quartette
und Beethovens Opus 18

 

Von Peter Hagmann

 

Warum schauen sie auf dem Cover ihrer jüngsten Veröffentlichung nur so trüb in die Welt, die vier jungen Leute vom Chiaroscuro-Quartett? Hat sie die Aufnahmesitzung, hat sie der Fototermin erschöpft? Oder dachten sie an die deplorablen Lebensumstände, unter denen Wolfgang Amadeus Mozart seine «Preussischen» Streichquartette, wohl im Auftrag Friedrich Wilhelms II., in den Jahren 1789/90 komponiert hat? Keine Ahnung; Grund zu Missmut gibt es jedenfalls keinen. Das Ensemble mit Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola) und Claire Thirion gehört nach wie vor zu den bedeutendsten, weil zukunftsweisenden Streichquartetten dieser Tage. Besonders fassbar wird das im Repertoirebereich der Wiener Klassik. Vor fünf Jahren begannen sie mit Joseph Haydn – und dort mit nicht weniger als den späten, anspruchsvollen Quartetten op. 76, Hob. III:75-80 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.20 und vom 03.02.21). Sie liessen damals erleben, wie feinsinnig und berührend diese Musik klingen kann – keine Spur von Papa Haydn, keine Rede von der angeblichen Verzopftheit des Streichquartetts. Vielmehr pulsierendes Leben.

Inzwischen ist das Chiaroscuro-Quartett weitergegangen zu Ludwig van Beethoven. Hier nun allerdings nicht zu Stücken aus dem schwierigen, widerständigen Spätwerk, sondern zu den weitherum geliebten sechs Streichquartetten des Opus 18. Die Nummer 3 zum Beispiel in D-dur, die vermutlich 1798 als erstes der sechs für den Fürsten Lobkowitz komponierten Quartette entstand: leicht und hell ist da der Ton der alten, mit Darmsaiten bespannten und mit klassischen Bögen gespielten Instrumente, federnd die Artikulation, spritzig die Akzentsetzung. Was die historisch informierte Spielweise, zu der etwa der nuancierte, bewusste Gebrauch des Vibratos gehört, an Gewinn einbringt, es ist etwa an den liegenden Dreiklängen zu hören, die mit ihrer Schönheit ganz unerhört in die Ohren dringen – so ist es eben, wenn solche Akkorde mit geraden Tönen gespielt werden und im Zusammenklingen perfekt austariert sind. Wunderbar ausschwingend zudem die Kantilenen der Primgeige, die sich mit unaufdringlichem Espressivo und zartem Rubato über die von den drei anderen Instrumenten gebildete Harmonie legen.

Und nun also Mozart, der zusammen mit Haydn dem jungen Beethoven so viel Respekt vor dem Streichquartett abgenötigt hat. Rückt das Chiaroscuro-Quartett das Opus 18 Beethovens klanglich in die Nähe zu Haydn, so gibt es die «Preussischen» Streichquartette Mozarts in selbstbewusstem, ja stolzem, festlichem Klang. Natürlich herrscht auch hier, in der Auslegung der drei Quartette in D-dur (KV 575), B-dur (KV 589) und F-dur (KV 590), letzte Genauigkeit gegenüber dem Notentext. Und lebt eine Kultur des Zusammenspiels, in der bei allem klanglichen Ausgleich die vier Stimmen ihre je eigene Individualität pflegen. Auffällig ist aber auch, wie sich das Quartett in der Auseinandersetzung mit Mozart vom streng durchgehaltenen Puls emanzipiert und sich, auch das ist historisch legitim, Freiheiten in der Tempogestaltung nimmt, die wesentlich zur Vitalität des musikalischen Geschehens beitragen – ausserordentlich spannend ist das. In der allgemeinen Wirksamkeit der Musik Mozarts stehen die Streichquartette, wie übrigens auch die Lieder, in einem hinteren Glied. Zu Unrecht, wie die anregende Lektion mit dem Chiaroscuro-Quartett lehrt.

Wolfgang Amadeus Mozart: Die «Preussischen» Streichquartette in D-dur (KV 575), in B-dur (KV 589) und in F-dur (KV 590). Chiaroscuro-Quartett. BIS 2558 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2022)

Ludwig van Beethoven: Sechs Streichquartette op. 18. Chiaroscuro-Quartett. BIS 2488 und 2498 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021)

Joseph Haydn: Streichquartette op. 76. Chiaroscuro-Quartett. BIS 2348 und 2358 (2 CD Aufnahmen 2017 und 2018, Publikation 2020)

Reiz und Gewinn der Unvernunft

Das Quatuor Ebène bei der Kammermusik Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Ein voller Saal, das Publikum durchmischt mit Alt und Jung, Beifall von geradezu stürmischer Intensität, und das nach György Ligetis Streichquartett Nr. 1 aus den Jahren 1953/54 – sieht so das Ende des Konzerts, der Kammermusik, der «klassischen» Musik überhaupt aus? Dieses Ende wird gern herbeigeredet, zumal von jenen, die nichts mit Musik als Kunst am Hut haben; es steht aber keineswegs vor der Tür, der jüngste Abend bei der Kammermusik Basel führte es vor. Angesagt war ein alles andere als einfaches, gar eingängiges Programm, allerdings mit einem der allerersten Streichquartette dieser Tage. Nur hatte das Quatuor Ebène ein Problem, hatte sich Raphaël Merlin, der Cellist des Ensembles, doch vor kurzer Zeit den Ellbogen gebrochen. Er konnte ersetzt werden durch Simon Dechambre, den Cellisten des Quatuor Hanson – und dieses Ensemble hat nicht nur beim Quatuor Ebène seinen Feinschliff erhalten, sondern hat das frühe Streichquartett Ligetis auf CD aufgenommen. Ein Glücksfall, wie er nicht jeden Tag eintritt.

Ungewöhnlich schon die Eröffnung des Abends mit sechs Streicherfantasien von Henry Purcell aus dem Jahre 1680. Nicht einfach zu hören, diese Musik; sie gibt sich tonal, steht aber noch ausserhalb der harmonischen Tonalität, wie sie sich damals auszubilden begann, bis nach dem Ersten Weltkrieg dominierte und bis heute unser Hören prägt. Auch spielen lassen sich diese Stücke nicht mit links; sie warten mit manch überraschendem Harmoniewechsel auf, sie enden nicht selten auf der Dominante, an einem Punkt also, an dem für heutige Ohren noch ein Ende folgen sollte, und sie fordern die vier Interpreten mit teilweise höchst anspruchsvollem Laufwerk. Besondere Anforderungen stellt hier jedoch die Reinheit der Intonation, und das bei einem Spiel, das in der Regel ohne Vibrato auskommt. Grossartig, mit welcher Präzision das Quatuor Ebène mit seinem temporären Cellisten diese Anforderungen meisterte. Und klar, warum das Ensemble seinen Auftritt mit diesen Stücken anheben liess: Sie bringen die Vier auf eine Linie und schweissen sie zusammen.

Das war auch dringend geboten, denn das Streichquartett Nr. 1 von György Ligeti, noch vor seiner Emigration in den Westen nach dem Volksaufstand 1956 erfunden, verlangt alles, was von einem Streichquartett verlangt werden kann – wenn nicht noch mehr. In zwölf Schritten führt das verrückte Stück durch ein irres Spiegelkabinett. Seine dynamische Bandbreite reicht vom fast unhörbaren Wispern zum explosiven Aufschrei inklusive Bartók-Pizzicato, von gleichförmig liegenden Flächen zu rasenden Läufen – und das alles in denkbar komplexer Verbindung zwischen den vier Stimmen. In der Begegnung mit diesem Stück blieben nur das Staunen ob der Phantasie eines Komponisten, der in seiner durch die Kommunisten beherrschten Heimat von den Strömungen der Avantgarde weitgehend abgeschnitten war, und die Bewunderung der geradezu zirzensischen Agilität, mit der das Quatuor Ebène das Dickicht dieses Urwalds durchstreifte. Klar führend war dabei der Primarius Pierre Colombet, als zentrale Figur, kommunikativ wie musikalisch, wirkte aber Gabriel Le Magadure an der Zweiten Geige, während Marie Chilemme an der Bratsche ungewöhnliche, begeisternde Präsenz zeigte.

Nachdem es durch Purcell zusammengefunden und bei Ligeti die Extremregionen erkundet hatte, war das Quatuor Ebène in seiner ganz eigenen Art bereit für das Streichquartett Nr. 1 in a-moll aus dem Opus 41 von Robert Schumann. Auch hier: ein besonderer Moment. Schon allein deshalb, weil von Schumann der Liederfrühling, die «Davidsbündlertänze» oder die Sinfonien geliebt werden, seine Streichquartette jedoch so gut wie nie auf die Programme kommen. Dabei bietet das a-moll-Quartett enorm viel Anregung – durch den kreativen Umgang mit dem Zusammenfügen von vier Einzelstimmen zu einem Ganzen, vor allem aber auch durch die Auseinandersetzung mit dem Vorbild Mendelssohn. In mancher Wendung scheint dessen Handschrift durch, handgreiflich am Schluss des Werks, wo der Dudelsack an die Schottland-Reise des um ein Jahr älteren Kollegen und ihre musikalischen Echos erinnert.  Das Quatuor Ebène stellte die Komposition in helles Licht, indem es, was das Ausdrucksspektrum betrifft, keinerlei Kompromisse zuliess, die Verläufe vielmehr nach Massen ausleuchtete und in mutiger Zuspitzung zur Geltung brachte. Dass das Streichquartett nicht nur ein Gespräch unter vier vernünftigen Leuten vorführt, sondern auch recht unvernünftig werden kann und gerade darum ganz nah an die musikalische Substanz führt – hier war es zu erleben.

Das Quatuor Ebène tritt am 4. Dezember in der Kammermusikreihe des Tonhalle-Orchesters Zürich auf. Es spielt dort dasselbe Programm mit Werken von Purcell, Ligeti und Schumann.

Zwei Mal Vier

Mendelssohns Oktett in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Auch im kleineren Format kann sich Grösseres ereignen. Sehr Grosses sogar. So geschehen vor kurzer Zeit in der Kleinen Tonhalle Zürich, in der Kammermusikreihe des Tonhalle-Orchesters, die an diesem frühen Sonntagabend helle Scharen anzog. Kein Wunder: Auf dem Programm stand das Oktett für Streicher von Felix Mendelssohn Bartholdy – der so ungemein packende und darum immer gern gehörte, freilich nicht eben häufig gespielte, weil unerhört anspruchsvolle Geniestreich. Und das nicht mit irgendwem, sondern in einer Formation mit dem Quatuor Ebène und dem Belcea-Quartett. Das hatte seinen pikanten Zug, denn die beiden Ensembles heben sich ästhetisch doch merklich voneinander ab – ja, sie nehmen geradezu gegensätzliche Positionen ein: temperamentvoll aufschäumend das Belcea-Quartett, ziseliert und nach innen horchend das Quatuor Ebène. Wie das wohl aufgehen würde?

Sensationell ist es aufgegangen. Die Aufführung gelang als ein Akt musikalisch-menschlicher Freundschaft – auf anderer als solcher Basis lässt sich diese Partitur nicht bewältigen. Sie stand auch für eine stupende Verbindung von musikalischer Individualität und Ensemblegeist. Für das Oktett Mendelssohns – beim zweiten Stück des Abends, beim Streicheroktett von Georges Enescu, war es dann umgekehrt – nahm das Quatuor Ebène die ersten Positionen ein. Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure spielten die Violinen eins und zwei, Marie Chilemme versah die Erste Viola, Raphaël Merlin das Erste Violoncello. Um die Geigen drei und vier kümmerten sich dagegen Corina Belcea und Axel Schacher, während die zweite Bratsche Krzysztof Chorzelsi und das zweite Cello Antoine Lederlin anvertraut war. Die gleichsam hinteren Positionen sind allerdings keineswegs von nachrangigem Gewicht – im Gegenteil, man muss nur an das kurze, aber wichtige Solo der Geige IV im langsamen Satz und, ganz besonders, an den Anfang des Finales denken, wo sich das Cello II einer sehr speziellen Anforderung gegenübersieht. Jedenfalls hat sich das Belcea-Quartett all dieser Aufgaben mit seiner ganzen Kompetenz und mit letztem Engagement angenommen. Und sich ohne Federlesens an die auch an diesem Abend wieder superben stilistischen Prämissen des Quatuor Ebène angeschlossen.

Dass hier zwei Ensembles zusammenkamen, welche dieselbe Spitzenqualität vertreten, zugleich aber für ganz unterschiedliche interpretatorische Zugänge stehen, das hat der Auslegung von Mendelssohns Frühwerk aus der Zeit der Sommernachtstraummusik ihre aufregende Kontur verliehen. Zu hören war nämlich, dass das Stück nicht nur als ein Oktett, sondern ebenso sehr als ein Doppelquartett in Erscheinung tritt. Ganz deutlich wurde, dass sich bisweilen zwei Blöcke herausbilden, die miteinander dialogisieren – das haben die beiden Quartette in aller Sorgfalt herausgearbeitet und so eine selten erreichte Spannung ins Geschehen gebracht. Dazu kamen Intensität und Kompromisslosigkeit, auch und gerade im Leisen. Federleicht und duftig hob der Kopfsatz an, über den Tremoli und den Synkopen zog der Primgeiger seinen aufsteigenden Verlauf mit aller Energie nach oben und liess den abschliessenden Akzent nicht aus, blieb dabei aber stets im vorgeschriebenen Piano – alles in hinreissend silberhellem Ton und so feingliedrig, dass auch das nachfolgende Crescendo nirgends grob wurde. Herrlich, wie die Bratschen die Durchführung grundierten und wie das Tutti der acht Instrumente vor dem Einsatz der Reprise zu tanzen begann.

Ein dunklerer, warmer Grundton bestimmte den zweiten Satz, der in einem flüssigen Andante genommen wurde, aber gleichwohl nichts an Emotionalität vermissen liess. Und dann das Scherzo, ein Feuerwerk an Virtuosität; hingetupft die Staccato-Töne, aber nicht maschinell, sondern lebhaft sprechend. Schliesslich das Presto, das sich attacca an das Scherzo anschloss und die Zuhörer förmlich überrumpelte. Das Problem des Satzes wurde freilich nicht gelöst – es kann nicht gelöst werden, auch nicht von so hochkarätigen Musikern wie jenen des Quatuor Ebène und des Belcea-Quartetts. Was das zweite Cello zur Eröffnung des Satzes zu spielen hat, lässt sich nicht verwirklichen; in passendem Tempo gespielt, gehen die einzelnen Töne unter, und wenn sie zu hören wären, passte das Tempo nicht. Der Satz ist vom Klavier her gedacht, wie die von Mendelssohn selbst stammende Einrichtung für Klavier zu vier Händen vorführt. Ebène und Belcea liessen sich dadurch jedoch nicht beirren und brachten die dichte Polyphonie wie die orchestralen Ausrufezeichen zu glanzvollem Effekt.

So stimmig ist Mendelssohns Oktett eigentlich nie zu hören. Auch selten zu erleben ist in der Kleinen Tonhalle Zürich ein Beifall, wie er nach den drei abschliessenden Es-Dur-Akkorden ausbrach. Bravorufe, Stehapplaus, Verbeugungen noch und noch – fast hätte es nicht weitergehen können. Die Musik, selbst die Kammermusik, sie lebt.

Ein Fest der Kammermusik

Das Festival «Zwischentöne» in Engelberg

 

Von Peter Hagmann

 

Nach Engelberg kommt man vielleicht doch nicht jeden Tag. Da könnte man jedoch etwas verpassen – nicht nur des prachtvollen Klosters und seiner berühmten Orgel wegen. Das Dorf am Fuss des Titlis verfügt auch über einen wunderschönen Kursaal, ein Kleinod im Stil der Belle Epoque, das von seiner Dimension und seiner Akustik her für Kammermusik wie geschaffen ist. Zum ersten Mal fand nun das kleine, aber ausgesprochen feine Festival «Zwischentöne» in diesem Saal statt – in den sechs Jahren zuvor waren die Konzerte im Kloster durchgeführt worden. Die Infrastruktur lässt nichts zu wünschen übrig. Reibungslos der Eintritt mit der Zertifikatskontrolle, bequem die Garderobe und was dazugehört, der Saal so eingerichtet, dass man sich auch unter den gegebenen Umständen wohlfühlt – alles ebenso wenig selbstverständlich wie die Professionalität in der Durchführung der Auftritte.

Die Bedingungen stimmen, die Sache selbst allerdings auch, und dies in hohem Mass. Das Festival «Zwischentöne» geht auf eine Idee des Merel-Quartetts zurück, dessen Cellist Rafael Rosenfeld und dessen Primgeigerin Mary Ellen Woodside sich in die künstlerische Leitung teilen. Rosenfeld, bekannt als Stimmführer beim Tonhalle-Orchester Zürich, erweist sich als der interpretatorische Inspirator, seine Gattin leistet die dramaturgische Arbeit, gestaltet also die Programme. Sehr vielfältige, sehr anregende Programme – und solche in ganz unterschiedlichen Besetzungen, wie sie im regulären Konzertbetrieb nicht möglich sind, in spezialisierten Festivals wie zum Beispiel den «Spannungen» im RWE-Kraftwerk im deutschen Heimbach gelebt werden. Eine Linie in die Vielfalt bringt das Thema, unter dem das Programm steht. «Affairs of the Heart» hiess es dieses Jahr, also «Liebe», mit britischem Understatement ausgedrückt.

Genau darum geht es in der «Schönen Müllerin», dem Liederzyklus, den Franz Schubert auf Gedichte von Wilhelm Müller schuf. Im Vergleich zur «Winterreise» mag «Die schöne Müllerin» als harmlos erscheinen, und genau so wurde der Zyklus bis weit ins späte 20. Jahrhundert dargeboten. Ian Bostridge, der «Special Guest» der diesjährigen «Zwischentöne», vertritt hier eine ganz andere Auffassung. Der berühmte englische Tenor tut das nicht nur aus seiner reichen Erfahrung heraus, sondern auch auf der Basis einer speziellen Kompetenz, die er sich als Autor eines hochinteressanten, bisweilen durchaus verstörenden Buches über «Die Winterreise» geschaffen hat. Er sieht die Geschichte des wandernden Müllerburschen, der bei einem Müller Arbeit findet, sich in dessen Tochter verliebt, nach einem Höhenflug an Hoffnungen aber derart getäuscht wird, dass ihm nur der Sprung kühle Nass des an der Mühle vorbeirauschenden Bachs bleibt.

Schon zu Beginn wird die Munterkeit des steten Weiterziehens gebrochen, werden die vom Text angesprochenen Räder und das Wandern durch leichte Verzögerungen ins Licht gehoben. Und drastisch stellt Bostridge die schnippische Haltung der Müllerstochter gegenüber dem Morgengruss des Burschen und die damit verbundenen, tristen Vorahnungen heraus. Tief bewegend die Spannung zwischen der Hochstimmung von «Am Feierabend» und der Enttäuschung im «Tränenregen». Je weiter der Zyklus voranschreitet, desto spürbarer wird die dramatische Spannung. Wie dann der Jäger auftritt, ein Kerl von Mann mit struppigem Bart und ein nicht bezwingbarer Konkurrent, kippt das Geschehen brutal, wird das liebe Grün zum bösen Grün und wandelt sich der Ruf an die Blümlein, den Mai zu spüren und herauszukommen, zu schluchzender Verzweiflung. Erschütternd, wie Ian Bostridge das mit seinen meisterlich ausgebauten vokalen Mitteln zur Geltung brachte. Dies im Verein mit der Pianistin Saskia Giorgini, die einfühlsam auf den Sänger einging, kontrapunktisch mitdachte und die linke Hand auf dem schönen Bösendorfer aus der Werkstatt Bachmann, Wetzikon, sinnvoll zur Geltung brachte.

Nicht weniger spannend geriet im Schlusskonzert – nach einem Zwiegespräch zwischen Robert und Clara Schumann – das Streichquintett in C-Dur, KV 515, von Wolfgang Amadeus Mozart. Scharf ausgeprägt der Dialog zwischen Rafael Rosenfeld, dem in der Mitte sitzenden und nach allen Seiten funkelnden Cellisten, und Mary Ellen Woodside an der Ersten Geige. Edouard Mätzener blieb an der Zweiten Geige alles andere als im Hintergrund, er stiess vielmehr seinerseits Energieschübe an, ohne dass dadurch das wohlgeordnete Klangbild des Ensembles aus den Fugen geriet, und spielte vital zusammen mit Eivind Ringstad, der als Gast zum Merel-Quartett gekommen war. Zu einer Sternstunde kam freilich der Bratscher Alessandro D’Amico, der zunächst so unauffällig mitwirkte, wie es Bratscher bisweilen tun, der dann aber im Andante des dritten Satzes mit seinen witzig, geradezu frech vorgetragenen solistischen Einwürfen der Primgeigerin die Stirn zu bieten suchte. Mozart liebte ja die Bratsche leidenschaftlich hat diesen subversiven Satz ohne Zweifel für sich selber in dieser Weise eingerichtet. War das ein Vergnügen; es erwies, was Kammermusik im besten Fall sein kann.

Mit Klarheit, Einfall und Mut – das Chiaroscuro Quartet

Die zweite Folge der Streichquartette op. 76 von Joseph Haydn

 

Von Peter Hagmann

 

Die Streichquartette Joseph Haydns gehören zum innersten Kern des bildungsbürgerlichen und musikgeschichtlichen Kanons. Allein, so zeitlos sie sind, ist es doch genau diese Verortung, die ihrer heutigen Wirksamkeit im Wege steht. Ein reiferes Alter müsse man erreicht haben, bevor sich einem der Reichtum dieser Werke erschliesse, wurde bis vor noch nicht so langer Zeit gerne behauptet – eine Annahme, die auf unrichtigen Voraussetzungen beruht, wie gerade dieser Tage zu erleben ist. Dies dank dem Chiaroscuro Quartet, einer jungen Formation europäischen Zuschnitts, durch deren Interpretationen diese Musik farbiges Leben erhält, weshalb sie mit einem Mal ganz nah an uns heranrückt. Zu spüren ist das an den sechs späten Streichquartetten des Opus 76, wie sie Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola) und Claire Thirion (Violoncello) verstehen und zum Klingen bringen.

Im vergangenen Sommer sind die ersten drei Quartette erschienen, unter ihnen das berühmte «Kaiser-Quartett», und was damals an dieser Stelle dazu geäussert wurde (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.20) gilt ein zu eins für die zweite Folge mit den Nummern vier bis sechs. Die Aufnahme, die in den nächsten Tagen in den (derzeit leider geschlossenen) Läden und auf den Streaming-Diensten erscheinen wird, steht erneut für höchstes Niveau in Sachen Kammermusik. Das Geheimnis dahinter ist zunächst der Teamgeist. Im Chiaroscuro Quartet stehen nicht nur vier vernünftige Leute miteinander im Gespräch, hier herrscht auch der Geist der Gleichberechtigung. In den Quartetten des Opus 76 kommt es immer wieder zu Momenten, in denen die Erste Geige solistisch aus dem Ensemble heraustritt. Doch selbst dann bleiben die vier Mitglieder des Ensembles in gleicher Weise beteiligt, weil die Begleitung der solistischen Aufschwünge ihrerseits jederzeit klar strukturiert bleibt.

Zu diesem Teamgeist tritt, darin liegt beim Chiaroscuro Quartet die Besonderheit, eine genuine Verankerung in der historisch informierten Aufführungspraxis. Die vier Ensemblemitglieder verwenden Instrumente aus der Entstehungszeit der Kompositionen oder sogar deutlich ältere Exemplare; sie sind mit Darmsaiten bespannt und werden mit klassischen Bögen gespielt. Dazu kommt der Kammerton von wohl 430 Hertz, also ein etwas tieferer Stimmton als die heute üblichen 440 Hertz. Von besonderer Bedeutung sind jedoch die im späten 18. Jahrhundert üblichen Spielweisen, also der sparsame Umgang mit dem Vibrato und damit die Schärfung von Konsonanz wie Dissonanz, die klare, bewusst getroffene Unterscheidung zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, die Respektierung der im Prinzip ganztaktigen, nicht auftaktigen Phrasierungen, ja überhaupt ein Gliedern der musikalischen Verläufe, das sich weniger am durchgehenden Legato als am Atmen des menschlichen Sprechens orientiert.

Auf diesen Prämissen basiert die merklich andere Klanglichkeit des Chiaroscuro Quaret. Die Musik Haydns gewinnt daraus entschieden Gewinn. Ausgezeichnet beobachten lässt es sich am Beginn des Streichquartetts in B-Dur, op. 76 Nr. 4. Über einem liegenden Akkord von Geige zwei, Bratsche und Cello erhebt sich eine sehr speziell gestaltete Linie der Ersten Geige, die von Alina Ibragimova mit aller solistischen Freiheit genommen wird. Bald wird aber deutlich, dass selbst ein liegender Akkord, wenn er denn ohne Vibrato gespielt wird, spezifische Färbungen erhält – Färbungen, die durch die geschärfte Beziehung der einzelnen Töne zueinander geprägt werden. Im weiteren Verlauf emanzipieren sich die unteren Stimmen und beginnen, sich ins Gespräch einzumischen, während umgekehrt die Primaria zusehends Teil des Ganzen wird. So erhalten die musikalischen Vorgänge jene lichte Transparenz, die sich denkbar radikal abhebt von dem eher orchestral determinierten Ansatz, den die berühmten Ensembles aus dem späten 20. Jahrhundert zeigen. Das Chiaroscuro Quartett denkt eben, das wird hier deutlich, pointiert in Stimmen – selbst bei homophonen Verläufen, wie auch der sehr innig gegebene zweite Satz dieses «Sonnenaufgang-Quartetts» hören lässt.

Mit dem Denken in Stimmen verbinden sich die reichen Farben der alten Instrumente und die Freiheit in der Tempogestaltung, selbst auf kleinem Raum. In solchen Aspekten ist denn auch zu erkennen, wie sehr sich die historische Praxis gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten weiterentwickelt hat; wer die vorbildliche Gesamtaufnahme der Streichquartette Haydns durch das ungarische Festetics Quartet von 1998 beizieht und sich vom warmen Ton dieses Ensembles begeistern lässt, kann das umstandslos nachvollziehen. Die Agilität, die Alina Ibragimova, Pablo Hernán Benedí, Emilie Hörnlund und Claire Thirion pflegen, erlaubt ihnen, die Reichhaltigkeit der Erfindung, das Komplexe im Einfachen und den immer wieder aufblitzenden Witz in der Musik Haydns in helles Licht zu stellen. Wenn der Cellist an einer Stelle im Kopfsatz des B-Dur-Quartetts op. 76 Nr. 4 mächtig Anlauf nimmt und sich auf der Stelle in einer Sackgasse findet, weil ihm die drei anderen davongezogen sind, macht das erheiternden Effekt. Staunen lässt dagegen, zu welcher Virtuosität das Chiaroscuro Quartet das eröffnende Allegretto im D-Dur-Quartett op. 76 Nr. 5 zu steigern vermag. Und wie das Ensemble im Finale des Es-Dur-Quartetts op. 76 Nr. 6 die taktgebundenen Schwerpunkte ganz und gar im Schwebezustand zu behalten versteht. Spannend und gegenwärtig ist das – jedenfalls denkbar fern einem wie auch immer gearteten Kanon.

Joseph Haydn: Streichquartette op. 76, Nr. 4 bis 6. Chiaroscuro Quartet. BIS 2358 (CD, Aufnahme 2018, Produktion 2020).

Mozarts «Gran Partita» – prachtvoll philharmonisch

 

Von Peter Hagmann

 

Bisweilen, gerade in diesen nicht eben einfachen Zeiten, stellt sich das Bedürfnis nach Seelenbalsam ein. Da ist die neue Aufnahme der «Gran Partita» Wolfgang Amadeus Mozarts genau das Richtige. Zumal sich die zwölf Bläser des Amsterdamer Concertgebouw Orchestra rund um den Solo-Oboisten Alexei Ogrintchouk zusammen mit dem Kontrabassisten Olivier Thiery ihren Aufgaben mit einer Lust sondergleichen hingeben. Sie pflegen den philharmonischen Ton in voller Pracht (und nehmen die Tempi dementsprechend gemessen), lassen zugleich aber jede Faser in der subtilen Faktur dieser Musik aufleuchten. Das einleitende Allegro zeigt es in exemplarischer Weise; auf Anhieb zieht es einen in das musikalische Geschehen hinein, und es tut das so sehr, dass man die gut fünfzig Minuten währende Serenade nicht mehr verlässt. Weich und füllig, mit einem kleinen Bauch in der Mitte, betritt der eröffnende B-Dur-Akkord die Bühne. Er bildet den Einstieg in eine harmonische Folge, die einem Signal gleich die Aufmerksamkeit des Publikums bündelt – drei Mal, wie bei den «trois coups» im alten französischen Theater. Auf das Signal folgt jeweils ein kleines Klarinettensolo, das von Olivier Patey mit ausgeprägtem musikalischem Gespür ausgestaltet wird – und dann beginnen sich die Stimmen, angeführt von der ersten Oboe, vielfach zu verschlingen. Doch das ist nur der Anfang, denn auf die Einleitung folgt der eigentliche Kopfsatz – ein Molto allegro, das vom Ensemble frisch und knackig genommen wird. Wie sich Sorgfalt und Spontaneität in dieser Darbietung der «Gran Partita» verbinden, erweist das Menuett des zweiten Satzes, dessen Dreiertakt mitreissend geformt wird. Dann aber ist es soweit, dann erklingt das berührende Adagio, das durch «Amadeus», den Mozart-Film von Miloš Forman aus dem Jahre 1984, zu Weltruhm gekommen ist. Hier darf ruhig auf die Wiederholungstaste gedrückt werden, den Satz kann man gut und gerne mehrere Male hintereinander anhören. Der gerundete, herrlich ausbalancierte Ton, das ruhige, auf den Atem der Ensemblemitglieder abgestimmte Ausschwingen, die belebte Ausbildung der Phrasen, all das macht dieses Adagio zum frühen Höhepunkt des Werks. Nicht zu vergessen ist freilich das Thema mit seinen sechs Variationen, in denen die gestalterische Phantasie keine Grenzen zu kennen scheint. Das Ensemble um Alexei Ogrintchouk führt vor, dass das Concertgebouw-Orchester absolut am Leben ist, obwohl es seit der unglücklichen, durch einen abrupten Bruch beendeten Zeit mit Daniele Gatti, nämlich seit Mitte 2018, auf einen Chefdirigenten wartet.

Wolfgang Amadeus Mozart: Serenade Nr. 10 in B-Dur KV 361 («Gran Partita»). Mitglieder des Royal Concertgebouw Orchestra, Alexei Ogrintchouk (Oboe, Leitung). BIS 2463 (CD, Aufnahme 2019, Publikation 2020).

Im Zeichen stolzer Vergangenheit

Welches der heute aktiven Streichquartette blickt auf eine Geschichte von hundert Jahren zurück? Das Winterthurer Streichquartett kann es.

 

Von Peter Hagmann

 

Dass das Gespräch unter vier vernünftigen Leuten vernünftig wird, hängt sehr von den vier Leuten ab – das hat Goethe mit seiner Charakterisierung des Streichquartetts scharf ins Wort gefasst. Darum weisen Streichquartette in der Regel – und auch hier: keine Regel ohne Ausnahme – feste Besetzungen auf, weshalb die Lebenszeit einer solchen Formation ganz ursächlich mit der seiner Mitglieder zusammenhängt. Wenige Jahre nach dem Tod seines Bratschers Thomas Kakuska gab etwa das Alban Berg-Quartett seine Tätigkeit auf. Beim Winterthurer Streichquartett ist das anders. Es gehört zum Musikkollegium Winterthur, dessen Stimmführer der beiden Geigengruppen, der Bratschen und der Celli sich sozusagen ex officio zu diesem Ensemble zusammenfinden – immer und immer wieder. So blickt das Winterthurer Streichquartett auf sage und schreibe hundert Jahre des Bestehens zurück. Es ist damit aller Wahrscheinlichkeit nach das weltweit älteste unter den heute aktiven Streichquartetten.

Gegründet wurde das Winterthurer Streichquartett von Ernst Wolters, der 1918 als Erster Konzertmeister zum damaligen Stadtorchester Winterthur gekommen war. Als Wolters ab 1925 zunehmend am Dirigentenpult in Erscheinung trat, gab er seine Position als Erster Konzertmeister des Orchesters ab, blieb dem Quartett aber als Sekundgeiger verbunden. Eine grosse Zeit erlebte das Winterthurer Streichquartett mit dem 1938 eingetretenen Primarius Peter Rybar, dem Sekundgeiger Clemens Dahinden, der 1934 die Nachfolge von Wolters angetreten hatte, sowie den beiden Gründungsmitgliedern Oskar Kromer (Viola) und Antonio Tusa (Violoncello). Obwohl das Ensemble, da seine Mitglieder ja in erster Linie im Orchester verpflichtet waren, nicht jene Kontinuität und Ausschliesslichkeit leben konnte, die den grossen, reisenden Formationen selbstverständlich waren und sind, stand das Winterthurer Streichquartett damals für eine ganz eigene, wirkungsmächtige Qualität – eine Winterthurer Qualität sozusagen. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass neben der hochstehenden Pflege des klassisch-romantischen Kernrepertoires die Musik der Moderne stand – dies auch unter dem Einfluss des Mäzens Werner Reinhart.

Beide Aspekte, die Teilzeitlichkeit des Tuns und der weite ästhetische Horizont, prägen das Winterthurer Streichquartett bis heute. Als Primarius wirkt inzwischen Roberto Gonzáles Monjas, der 2013 zum Winterthurer Orchester gekommen ist, an der Bratsche tritt seit nicht weniger als 27 Jahren Jürg Dähler auf, am Cello seit 1989 Cäcilia Chmel. Die Position des Zweiten Geigers ist seit dem Altersrückritt von Pär Näsbom vakant. Dasselbe wird demnächst auch für jene des Ersten Geigers gelten, da Roberto Gonzáles Monjas von der kommenden Saison an als Chefdirigent vor dem Musikkollegium Winterthur stehen und darum seine Aufgabe als Erster Konzertmeister zurücklegen wird. Eine gewisse Unsicherheit liegt somit über der ehrenwerten Institution, zumal auch an der Bratsche und am Cello in relativ absehbarer Zeit Wechsel fällig werden dürften. Neue Zusammensetzungen hat das Winterthurer Streichquartett freilich immer wieder erlebt. Es ist deswegen nicht untergegangen, im Gegenteil.

Das Jubiläum des hundertjährigen Bestehens ist nun mit einem sehr charakteristischen, sehr würdigen Konzert im Saal des Winterthurer Stadthauses begangen worden. Der Pandemie wegen musste es vor einem Häuflein von fünfzig Aufrechten stattfinden, denen das Glück in der Verlosung der Plätze gewinkt hatte; für die Öffentlichkeit insgesamt blieb das Streaming. Ergänzt wurde das Konzert durch eine kleine Ausstellung im Foyer des Stadthauses sowie durch eine CD mit Aufnahmen aus der Geschichte des Winterthurer Streichquartetts. Nützlich ausserdem, dass die Konzerteinführung, in der die Historikerin Verena Naegele Stationen aus der Geschichte des Quartetts umreisst, auf der Webseite des Musikkollegiums verfügbar ist. Früher hätte es zu dem doch einzigartigen Jubiläum ein Buch oder wenigstens eine erweiterte Konzert-Broschüre gegeben. Sic tempora mutantur.

Das erste Konzert des Winterthurer Streichquartetts vom 2. Februar 1920 hatte das «Rosamunde-Quartett Franz Schuberts (D 804) mit dem Streichquartett op. 51 Nr. 2 von Johannes Brahms kombiniert; beide Werke stehen in a-Moll. Dazwischen gestellt war das Finale aus dem dritten der «Rasumowsky-Quartette» Ludwig van Beethovens (op. 59, Nr. 3), ein äusserst virtuoser Satz in C-Dur – eine nicht nur tonartlich schöne Abfolge. Auch das Jubiläumskonzert hatte seinen besonderen Mittelteil, nämlich ein «Entr’acte» der New Yorker Geigerin und Komponistin Caroline Shaw. Einen nicht ganz todernsten Zeitvertreib bot das Stück der Pulitzer-Preisträgerin, ein Sammelsurium an Versatzstücken, die wie in einem Kaleidoskop durcheinandergeschüttelt und zu immer wieder neuen Konstellationen gefügt werden. Klassisches bildete dagegen den Rahmen: das «Lobkowitz-Quartett» in F-Dur, Hob. III:82, von Joseph Haydn und, dies als Hommage an das Debütkonzert vor hundert Jahren, das zweite der «Rasumowsky-Quartette» Beethovens, jenes in e-Moll, op. 59 Nr. 2.

Bei Haydn war die Position der Zweiten Geige mit Agata Lazarczyk besetzt, der jungen Polin, die im Sinfonieorchester St. Gallen sowie im Carmina-Quartett spielt. Für Beethoven dagegen sass neben dem Primarius Olivier Blache aus dem Orchestre de chambre de Lausanne. Die beiden Jungen sahen sich in einer Art Probespiel und machten einen einigermassen nervösen Eindruck, sie immerhin etwas weniger als er. Schon das führte zu einem gewissen Ungleichgewicht. Erst recht sorgte dafür aber die unerhörte Präsenz des Primarius Roberto Gonzáles Monjas, dem bei Haydn nicht alles gelang, der bei Beethoven aber seine ganze Höhe erreichte. Jürg Dähler und Cäcilia Chmel an Bratsche und Cello waren zuverlässigste Stützen – nein, mehr noch: sie liessen sich vom Feuer des Primarius voll anstecken und versahen ihre Partien mit grossartiger Energie. Nur schade, dass sie sich stilistisch auf einem anderen Stern befanden als der Primarius, der in hohem Masse sprechend, in kleingliedriger Phrasierung und mit wenig Vibrato spielte. Diesem Ansatz gehört die Zukunft.

Brahms zum Singen gebracht – von Jörg Widmann und András Schiff

 

Von Peter Hagmann

 

Ein wundervolles Album ist das, reich an Poesie, getragen von dichter Atmosphäre, musikalisch auf höchstem Niveau. Ein Album, wie es in Zeiten des Streamings als Ausdruck bewusster Programmgestaltung leider wenig zur Geltung kommt, wie es aber bei ECM unentwegt produziert wird. Die Anlage ist denkbar einfach: Jörg Widmann mit seiner Klarinette und András Schiff am Klavier spielen die beiden späten Klarinettensonaten op. 120 von Johannes Brahms, dazwischen setzt Schiff die fünf Intermezzi für Klavier in Klang, die Widmann, bekanntlich Komponist wie Interpret, 2010 zu Papier gebracht hat.

Aufgeschrieben hat Widmann, was ihn als Nachklang an Musik von Brahms begleitet und was er dann weitergedacht hat. So wie es Wolfgang Rihm tat, als er 2011/12 im Auftrag des Luzerner Sinfonieorchesters seine Assoziationen an die vier Sinfonien Brahms’ in vier kurze Orchesterstücke mit dem Titel «Nähe Fern» einfliessen liess. Brahms’ Musik kann einem nicht nur sehr nahegehen, sondern eben auch lange und nachhaltig im Ohr bleiben, das weiss die Zuhörerin so gut wie der Musiker. In seinen Intermezzi – der Titel schliesst an Brahms’ späte Intermezzi op. 117 an – lässt sich Widmann von Gesten und strukturellen Verfahren aus der musikalischen Handschrift Brahms’ anregen. Gleich das erste, ohne Bezeichnung versehene Stück, zeugt davon; eine knappe Minute lang lebt es von einem kleinen, drei Mal in absteigender Folge wiederholten Motiv und der kontrapunktischen Antwort darauf. Was András Schiff aus dieser Miniatur (und aus den darauf folgenden) macht, schon allein das lässt staunen.

Vollends gilt das für die Auslegung der beiden Klarinettensonaten. Sie werden in umgekehrter Reihenfolge präsentiert: die melancholische Nummer zwei in Es-dur erscheint auf der CD an erster Stelle, die etwas offenere erste in f-moll mit ihrem volkstümlichen Allegretto im Dreivierteltakt und ihrem spritzigen Finale zum Ausklang. Das wirkt vom Spannungsverlauf her plausibel, widerspricht jedoch den biographischen Umständen. Durch die Begegnung mit dem seinerzeit ausserordentlich berühmten Klarinettisten Richard Mühlfeld, von dessen Spiel sich der Komponist verzaubern liess, kam Brahms noch einmal zu einem letzten Schaffensschub, der freilich bald wieder in düstere Gefilde führte. Mit welcher Sensibilität Schiff und Widmann diese Musik in die Hand nehmen, lässt keine Wünsche offen. Mit dunklem, jederzeit geschmeidigem Ton wartet der Pianist auf, weite Bögen und sanfte Artikulation bringt der Klarinettist ein, und beides geschieht in vollkommener Übereinstimmung.

Ganz besonders gelungen ist in dieser Aufnahme die zarte Es-dur-Sonate op. 120 Nr. 2. Beide Musiker sind eben Meister des Leisen, und genau das ist hier gefragt. Hauchzart das Pianissimo, zu dem Jörg Widmann in der Lage ist – ein Pianissimo, das sich vom Piano noch durchaus abhebt. Und in weicher, sinnlicher Kantabilität gehalten das Dolce, das András Schiff seinem von der Bauart her perkussiven Instrument entlockt. Auch in diesem Stück hat der Pianist immer wieder so vollgriffig zu wirken, wie es nun einmal zu Brahms gehört – nur geschieht das hier ohne jeden Lärm, ohne jeden Druck, sondern in schlanker Schönheit des Tons. Und in aller Klarheit der Stimmführung; das Kontrapunktische im Klaviersatz arbeitet Schiff sehr schön heraus, so dass es selbst in dem wie ein Monolog angelegten Kopfsatz dieser Sonate zu lebhaftem Dialog mit Widmann kommt. Nicht zuletzt lässt sich auch in dieser Aufnahme erleben, mit welch diskreter Selbstverständlichkeit Schiff Spielmanieren des späten 19. Jahrhunderts pflegt, das Vorschlagen der Basstöne etwa, das leichte Arpeggieren oder die Simulation einer dynamischen Steigerung durch eine Modifikation des Tempos. Das alles belebt den leisen Ton in hinreissender Weise.

Johannes Brahms: Die zwei Klarinettensonaten op. 120, Jörg Widmann: Intermezzo. Mit Jörg Widmann (Klarinette und András Schiff (Klavier). ECM 4819512. CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020.