Die Noten gelesen

Mascagnis «Cavalleria rusticana»
in ungewohntem Licht

 

Von Peter Hagmann

 

Im Hinblick auf sein Zürcher Konzert habe er sich eine ganz neue, ganz reine Partitur von Beethovens neunter Sinfonie gekauft, verkündete damals der Dirigent Georg Solti. Für welche der diversen Ausgaben er sich denn entschieden habe, war gleich die neugierige Frage. Die Antwort war von entwaffnender Unbekümmertheit: na die, die ihm im Musikgeschäft verkauft worden sei. Inzwischen liegt das gute dreissig Jahre zurück, und immer deutlicher wird, dass die Zeiten des sorglosen Umgangs mit den musikalischen Texten vorbei sind. Das Wirken Nikolaus Harnoncourts hat Früchte getragen. Seit langem schon versteht es sich für einen altgedienten Dirigenten wie Hartmut Haenchen von selbst, Quellenstudium zu betreiben und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen; selbst Jüngere wie der Shooting Star Krzysztof Urbańsky hat, bevor er für die Neunte Dvořáks in die Proben geht, den Notentext kritisch befragt. Für einen Vertreter der alten Musik wie Thomas Hengelbrock gilt das ganz besonders; als er bei in Bayreuth Wagners «Tannhäuser» leitete, verschwand er im Festspiel-Archiv, um die von Wagner annotierten Dirigierpartituren zu studieren – da klang manches etwas anders als gewohnt.

So ist es nun auch bei Pietro Mascagnis Operneinakter «Cavalleria rusticana», den Hengelbrock mit den Kräften des Balthasar Neumann Ensembles und Orchesters für das Festspielhaus Baden-Baden erarbeitet und jetzt bei dem immer wieder für Überraschungen guten Schweizer Label Prospero als CD publiziert hat. Wie heute üblich, ist die Aufnahme auch im Netz greifbar, nur fehlt dort, bei Idagio wie bei Qobuz, das Booklet, so dass sich weder die Namen der beteiligten Vokalsolisten erschliessen lassen noch die Besonderheit der Einspielung zu erfassen ist. Genau das aber hat es in sich, wird das Werk doch nicht in der heute üblichen Fassung dargeboten, sondern vielmehr in einer originalen Version, wie sie von einer Neuausgabe der Partitur aus dem Hause Bärenreiter präsentiert werden soll. Das bringt eine ganze Reihe von Veränderungen mit sich; sie erscheinen als geringfügig, verleihen dem Werk aber doch eine spürbar andere Anmutung.

Tatsächlich hat Mascagni, der seinen Einakter 1889, damals 26 Jahre alt, der Jury eines Kompositionswettbewerbs einreichte, nach der für ihn günstigen Vorentscheidung noch und noch verändert, in der Regel auf Druck von aussen hin. Die Jury war unentschieden, einzelne Mitglieder waren voll der Bewunderung, andere sparten nicht an Kritik, schlugen die Streichung einzelner Passagen, ja ganzer Arien vor. Dazu kam die italienische Tradition, Opernpartituren dem Geschmack der Ausführenden oder des Publikums anzupassen, kam vor allem aber Uraufführung der «Cavalleria rusticana» 1890 in Rom, bei der nicht nur der Chor krass versagt haben soll, sondern auch zwei Hauptdarsteller die Transposition einzelner Arien um einen Halbton, bisweilen gar einen Ganzton nach unten durchgesetzt haben – was den ausgeklügelten Tonartenplan des Einakters durcheinandergebracht hat.

Die Neuausgabe soll das alles zurechtrücken, ein freilich nicht sonderlich konziser Text des Herausgebers Andreas Giger im Booklet setzt das ins Licht (gerade darum ist nicht zu verstehen, warum bei der Präsentation der Neuaufnahme im Netz das Booklet fehlt). Die Veränderungen erschliessen sich mehr dem Kenner der Partitur, fallen aber doch ins Gewicht. Das Stück wirkt harmonisch wie rhythmisch interessanter, vor allem aber: heller, leichter. Nicht zuletzt liegt das an der historisch informierten Aufführung unter der Leitung von Thomas Hengelbrock, der Vergleich mit der ebenfalls sehr schönen, ästhetisch aber ganz anders gelagerten Einspielung der Dresdener Philharmonie mit ihrem damaligen Chefdirigenten Marek Janowski (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 03.06.20) lässt es erfahren. Herrscht bei Janowski üppiger philharmonischer Orchesterklang, zielt Hengelbrock, etwa durch den sorgfältigen Einsatz des Vibratos bei den Streichern, auf Transparenz und Schärfung. Das nimmt der «Cavalleria rusticana» etwas von ihrem als italienisch empfundenen Kolorit, hebt dafür ihre strukturelle Modernität ans Licht.

Das Nämliche gilt für die vokale Seite, die Timbres liegen bei Hengelbrock höher als bei Janowski. Das gilt schon für Carolina López Moreno, die als die betrogene Santuzzza ungeheures Temperament einbringt, aber ebenso sehr licht klingen kann. In der Partie des Liebesbrechers Turiddu, der für seinen Verrat am Ostersonntag mit dem Leben bezahlt, blendet Giorgio Berrugi als ein geschmeidiger italienischer Tenor, während Domen Križaj als der gehörnte Alfio in seiner von Peitschenschlag und Schellengeklingel begleiteten Arie grossartig aufdreht – aber auch er hell, obertonreich. Elisabetta Fiorello gibt die undurchsichtige Mutter Lucia, Eva Zaïcik die kühle Lola. An Anregungen fehlt es nicht.

Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana (Originalversion). Carolina López Moreno (Santuzza), Giorgio Berrugi (Turiddu), Elisabetta Fiorello (Lucia), Domen Križaj (Alfio), Eva Zaïcik (Lola). Balthasar Neumann Chor und Orchester, Thomas Hengelbrock (Leitung). Prospero 0088 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).

Italianità aus Dresden – mit Marek Janowski

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Das lag nun nicht eben nahe. Der Dirigent Marek Janowski wird als Spezialist für das deutsche Repertoire geschätzt, seine Beschäftigung mit Richard Wagners «Ring des Nibelungen» zum Beispiel setzte Marksteine. Auch der französischen Musik hat er sich genähert, wozu er als langjähriger Chefdirigent des Orchestre philharmonique de Radio France reichlich Gelegenheit hatte. Aber nun: «Cavalleria rusticana» von Pietro Mascagni in einer Aufnahme aus Dresden und Marek Janowski als Maestro concertatore e direttore d’orchestra ganz all’italiana. Die Überraschung ist perfekt – und gelungen. Mascagnis Einakter erklingt in hohem Masse idiomatisch und zugleich in jener feurigen Präzision, die Janowskis Wirken auszeichnet.

So untypisch, wie sie erscheint, ist die Wahl des Werks allerdings nicht. In der «Cavalleria rusticana» spielt das Orchester, zusammen mit dem eher klangmalerisch eingesetzten Chor, die Hauptrolle. Bevor das gut einstündige Stück in Gang kommt, nimmt sich Mascagni eine Viertelstunde lang Zeit für eine ausserordentlich vielgestaltige Zeichnung der Atmosphäre. Das alte Kirchlein mit seiner Orgel und seinem hohem Glöckchen, die Orangenbäume mit ihren überreifen Früchten, das naive Gottvertrauen und die damit verbundene strenge Ordnung der Gesellschaft – all das wird hier nach der Art eines mit musikalischen Mitteln gestalteten Bühnenbilds ausgelegt. Und meisterlich ausgelegt wird es, denn die Dresdner Philharmonie, das Orchester der Stadt, das 2017 im Kulturpalast einen hochmodernen Konzertsaal erhalten hat, erweist sich als ein Klangkörper von mitreissender Ausstrahlung – und der von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitete MDR-Chor aus Leipzig steht ihm in nichts nach.

Auch nach der Einleitung entfaltet sich keine grosse Geschichte, vielmehr folgt der Katastrophe erst einmal jenes «intermezzo sinfonico», das in den Wunschkonzerten gern gesehener Gast ist. Enorm ist freilich die auf engstem Raum erzeugte dramatische Spannung. Turiddu hat seine Braut Santuzza mit der Gattin Lora des Fuhrhalters Alfio hintergangen. Mitten im Ostergottesdienst verrät es die Betrogene dem Gehörnten – der natürlich Rache schwört. Wie die Gläubigen aus der Kirche strömen, begegnen sich die beiden Herren; Alfio beisst Turiddu ins rechte Ohr, was der Tunichtgut ohne Umschweife versteht. Das hinter der Bühne ausgetragene Duell überlebt er nicht.

Musikalisch wird das in blühenden Farben geschildert. Marek Janowski entlockt der Dresdner Philharmonie, der er seit einem knappen Jahr als Musikdirektor vorsteht, opulenten, reich abgestuften Klang; er baut grosse Bögen, die er mit geschmeidiger Nuancierung der Tempi belebt, und sorgt für prägende rhythmische Präzision. Und die fünf Rollen im Spiel sind, wiewohl mehrheitlich amerikanischer Herkunft, ausgezeichnet besetzt. Fünf der Rollen sind es, weil mit der alten Lucia, der Mutter Turiddus, eine Vertrauensperson ins Spiel kommt, die das Scharnier des Geschehens bildet – und was Elisabetta Fiorillo hier bietet, lässt erfahren, was eine italienische Altstimme sein kann. Der Tenor Brian Jagde gibt den Turiddu mit sinnlichem Schmelz, Melody Moore die Santuzza mit leuchtendem, vibratogesättigtem Sopran. Der in der Tiefe verankerte Bariton von Lester Lynch bringt die düstere Ehrbarkeit des Alfio zur Geltung, während Roxana Constantinescu mit ihrem hellen Mezzosopran eine gefährlich verführerische Lola einbringt.

Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana. Mit Melody Moore (Santuzza), Brian Jagde (Turiddu), Roxana Constantinescu (Lola), Lester Lynch (Alfio), Elisabetta Fiorillo (Lucia), dem Chor des MDR Leipzig, der Dresdner Philharmonie und dem Dirigenten Marek Janowski. Pentatone 5186772 (CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).