Reduziert – und umso schärfer

«Liebesgesang», eine neue Oper von Georg Friedrich Haas auf ein Libretto von Händl Klaus, an den Bühnen Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Robin Adams (Er) und Claude Eicheberger (Sie) im Liebesgesang / Bild Tanja Dorendorf, Bühnen Bern

Er ist einer, der die Welt der Kunstmusik gerne auf den Kopf stellt. Der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas tut das immer wieder – immer wieder überraschend und immer wieder fruchtbar. Als im Jahre 2000 die FPÖ in die Regierung des ÖVP-Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel eintrat, komponierte er das mittlerweile legendäre Ensemblestück «In vain», das über längere Strecken in völliger Dunkelheit gespielt werden muss. Ein Jahrzehnt später trat er bei den Donaueschinger Musiktagen mit dem Konzert «Limited Approximations» in Erscheinung, bei dem sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere nach der Art von Streichern zu glissandieren schienen, während das Orchester in den Tonhöhen so festgefügt wirkte wie ein Klavier. Seine jüngste Grenzbegehung nun trägt den Titel «Liebesgesang» und ist eine Oper, von der nicht feststeht, ob es sich dabei um eine Oper handelt.

Das von den Bühnen Bern in Auftrag gegebene und jetzt aus der Taufe gehobene Stück, wie «Bluthaus» von 2011, «Thomas» von 2013 und «Koma» von 2016 in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Händl Klaus entstanden, sieht zwei Partien vor, Sie und Er, mehr nicht. Mutterseelenallein steht das Paar über die neunzig Minuten Spieldauer im Rampenlicht, ein Orchester gibt es nicht und darum auch keinen Dirigenten, wie überhaupt jede instrumentale Mitwirkung ausgespart bleibt. Auch eine Bühne im eigentlichen Sinn fehlt. Im Stadttheater Bern, einem Logentheater nach italienischem Vorbild, hat der Ausstatter Rainer Sellmaier den Orchestergraben zugedeckt mit einer blendend weiss ausgestrichenen Wanne, in der das Paar von den Regisseuren Tobias Kratzer und Matthias Piro geführt wird – um nicht zu sagen: gehalten wird wie die Tiere im nahegelegenen Bärengraben. Das Parkett ist geschlossen, nur die höher gelegenen Sitzreihen stehen dem Publikum offen, denn nur von dort hat man Einblick in die weisse Wanne. Dafür ist auf der Bühne eine Empore mit zusätzlichen Sitzplätzen aufgebaut. Dort nimmt unter anderen Zuschauern eine Dame Platz, die einem nicht ganz unbekannt vorkommt.

Tatsächlich erhebt sich besagte Dame bald nach Beginn des Abends von ihrem Platz – es handelt sich bei ihr um Claude Eichenberger in der Partie der Sie. Über Treppenstufen und eine Leiter steigt sie hinab in die Wanne, wo Robin Adams als Er, ebenfalls ganz schwarz gekleidet, am Boden liegend mit entsetzlichen Lauten des Schmerzes und Verzweiflung auf sich aufmerksam gemacht hat. Schritt für Schritt erhellt sich die Lage – einen Zeitverlauf im eigentlichen Sinn ergibt sich im Werk von Händl Klaus und Georg Friedrich Haas nicht. «Liebesgesang» öffnet vielmehr einen in seiner Intimität und seiner Intensität erschreckenden, ja erschütternden Blick in eine Beziehung, die denkbar schweren Strapazen ausgesetzt ist. Sie habe ihm ein besonders schönes Zimmer zuteilen lassen, sie bringe ihm sein Lieblingsbrot mit, ausserdem ein Buch mit den schönsten seiner Tierbilder – Christian, sein Name kommt ganz beiläufig ins Spiel, ist ein Tierphotograph, der an einer Psychose leidet und in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt ist; Luz, so ruft Er seine Frau, ist zu Besuch gekommen.

Zu einem Besuch, der rasch implodiert. Sie wird von Ihm als eine Architektin vorgestellt, die ein Haus für die gemeinsame Zukunft oder eher für sich selbst gebaut hat. Und als eine selbstbewusste, doch keineswegs egozentrische Frau, deren Kinderwunsch einer Krebserkrankung zufolge nicht in Erfüllung gegangen ist. Er hingegen leidet an Verfolgungsängsten und Versagensgefühlen, die er geheimzuhalten versuchte, und so türmen sich die Vorwürfe bis zur Katastrophe auf. Die Katastrophe freilich ist, so nennen es das Libretto wie die Partitur, eine «rauschhafte Begegnung», in der sich das Paar in der Erinnerung an die vibrierende Körperlichkeit ihrer Anfänge findet. Danach löst sich alles auf, verlässt sie über Leitern und hinweg durch den Zuschauerraum das Krankenzimmer. Wohl für immer. Und stösst er am Ende einen markerschütternden Schrei aus.

Das alles wird in einer Drastik sondergleichen und zugleich einer ausgefeilten Künstlichkeit vorgeführt. Die von Händl Klaus im Libretto gepflegte Sprache lebt von einer kunstvollen, in ganz eigener Weise poetischen Verfremdung. Und Georg Friedrich Haas schöpft bei der Gestaltung der beiden Vokalpartien aus dem Vollen seiner mikrotonalen Erfahrung wie aus dem mutigen Ausgreifen in stimmliche Extrembereiche. Der Blick in die Partitur lässt die Frage aufkommen, wie denn all diese Töne, die um einen Sechstel- oder einen Achtelton modifiziert sind, wie auch die Momente an reinen Terzen und Quinten realisiert werden können. Der Komponist schreibt dazu im Vorwort: «Kein Dirigat. Freiheit. Selbstverantwortung». Claudia Chan, welche die musikalische Leitung des Abends versieht, war an der Vorbereitung der Produktion beteiligt, während der Vorstellung beschränkt sich ihre Aufgabe jedoch darauf, einem Inspizienten gleich jene Lichtsignale zu steuern, die für ein Minimum an Koordination sorgen. Alles andere ist der Darstellerin, dem Darsteller überlassen. Explizit weist die Partitur immer wieder darauf hin, Sie und Er sollten die Freiräume im Rahmen des ihnen Möglichen nutzen, das aber stets in enger Abstimmung aufeinander tun.

Das ist, so der Eindruck nach der Uraufführung, in der glücklichsten Weise gelungen. Entstanden ist ein Stück Musiktheater, das einen schwer trifft und nicht so rasch wieder loslässt. Der Verzicht auf das Gepränge, das die Oper zur Oper macht, und die Fokussierung auf die vokale Linie, zu der die Sprache des Librettos geworden ist, führen in ihrer Reinheit zu einer Verdichtung der Wahrnehmung, wie sie in dieser appellativen Art äusserst selten auftritt. Nicht zuletzt geht das auf die stupenden Leistungen von Claude Eichenberger und Robin Adams zurück, die singend, keuchend, stammelnd, schreiend ihr Letztes hergeben, die zudem über eine szenische Präsenz der Extraklasse verfügen und den ja nicht unbeträchtlichen Kubus des Berner Zuschauerraums bis in die hinterste Ritze mit Spannung erfüllen. Dass sich Georg Friedrich Haas in der von Ricordi verlegten Partitur immer wieder deutlich von Händl Klaus distanziert, dass zum Jubel des Schlussbeifalls nur der Komponist, nicht aber der Librettist vor den Vorhang trat, darf zum Menschlichen, Allzumenschlichen dieser singulären Produktion gezählt werden.

Mit Charles Gounod zwischen Himmel und Erde

«Roméo et Juliette» im Stadttheater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Zwölf Opern hat Charles Gounod geschrieben. Praktisch nichts davon ist geblieben, keines dieser Werke hat die Popularität der Cäcilienmesse oder gar des «Ave Maria» zum C-Dur-Präludium aus dem ersten Band von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier erreicht. Eine einzige Ausnahme gibt es – leicht zu erraten: «Roméo et Juliette». Das fünfaktige Drame-lyrique, 1867 in erster Fassung in Paris, im Théâtre-Lyrique an der Place du Châtelet, aus der Taufe gehoben, wird von allen Seiten geliebt, nicht zuletzt von den Sängerinnen und Sängern, aber auch vom Publikum, das sich der Emotionalität des Stoffes wie der musikalischen Schönheit von Gounods Partitur immer wieder lustvoll hingibt.

Wie es jetzt wieder im Berner Stadttheater geschieht, in dem die Bühnen Bern eine Inszenierung von «Roméo et Juliette» zeigen, die für die Pariser Opéra-Comique entworfen und gemeinsam mit den Theatern in Bern, Rouen, Washington und Bari koproduziert wurde. Die Herkunft aus Paris erklärt auch den Umstand, dass die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann aus zwei einander in erbitterter Feindschaft gegenüberstehenden Familien in keiner Weise mit der aktuellen Situation im Nahen Osten in Verbindung gebracht ist. Der Theaterkünstler Eric Ruf, zurzeit Direktor der Comédie-Française, siedelt das Geschehen vielmehr in Italien an, nicht gerade in Verona, eher in Apulien. Darauf schliessen lassen die mächtigen, wenn auch deutlich bröckelnden Türme, mit denen Ruf als sein eigener Bühnenbildner die unterschiedlichen Spielorte gliedert. Und damit für Atmosphäre sorgt.

Bild Janosch Abel, Bühnen Bern

Sogar eine Art Balkon wie jener in Verona kommt vor; es ist eine ganz in der Höhe liegende Umfassung, auf die sich Juliette hinauswagt – nur leicht bekleidet und barfuss, also ungeschützt, in Wirklichkeit aber zweifellos durch ein unsichtbares Seil gesichert. Die Szene, von ferne erinnert sie an eine ähnliche Stelle in Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande», sorgt für Schauder und Berührung. Erst recht gilt das für das Finale der Oper, das in einer süditalienischen Totenkammer spielt. In den prächtigsten Gewändern – die unerhört wirkungsvollen Kostüme hat der Modeschöpfer Christian Lacroix entworfen – hängen dort die vor sich hintrocknenden Leichen, auch die nur in tiefsten Schlaf versenkte Juliette, zu deren Füssen Roméo den Gifttrank zu sich nimmt, während sie, erwacht, schliesslich zum Dolch greift.

Über allem herrscht der Geist soliden Handwerks und genuinen Theatersinns. Weniger gilt das für die Ausgestaltung der einzelnen Figuren, die da und dort Luft nach oben offenlässt. Recht eigentlich misslungen wirkt der Einstieg ins Stück mit einer polternden, vom Dirigenten Sebastian Schwab weder dynamisch noch klangfarblich hinreichend kontrollierten Ouvertüre, einer durch waberndes Vibrato gezeichnete Nummer des von Zsolt Czetner einstudierten Chors sowie dem vom Berner Symphonieorchester einigermassen klobig begleiteten Walzer der Juliette. «Je veux vivre» singt da die junge Russin Inna Demenkova, wie es Violetta Valéry in der wenige Jahre vor «Roméo et Juliette» entstandenen «Traviata» von Giuseppe Verdis tut; sie zeigt dabei forsche Kraft zeigt und formt die Spitzentöne gern in einen Schrei um – nicht gerade das, was à la française wäre. Wesentlich näher an den meist feingliedrigen Ton Gounods kommt Ian Matthew Castro. Als Roméo gelingt dem ebenfalls jungen Tenor aus Puerto Rico eine vorzügliche Leistung; er bringt ein leichtes, offenes Timbre von hellem Glanz ein, das ihn die Höhe mühelos erreichen lässt. Und das zu manchem ergreifendem Moment führt.

Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr nähert sich Inna Demenkova einer idiomatisch adäquaten Auslegung der Juliette (wiewohl ihr Französisch ein unverständliches Kauderwelsch bleibt). Die vier zentralen Duette der Oper gelingen jedenfalls eindrucksvoll. Ebenfalls plausibel gelöst sind die grossen Szenen zwischen dem Ball des Anfangs und der fatalen Hochzeit am Ende. Und die von Stéphano, der ausgezeichneten Evgenia Asanova, provozierten Kampfszenen mit ihren zwei Toten sind von Glysleïn Lefever ebenso geschickt wie effektvoll choreographiert. Rasch ist der Abend vorbei – das ist, bei allen Einschränkungen im Einzelnen, das denkbar beste Zeichen.

Kinderschmerzen, erfolgreich gelindert

«L’Enfant es les sortilèges» von Ravel und Tschaikowskys «Iolanta» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger als noch intakte Teetasse, Michał Prószyński (Teekanne) und Amelie Baier in voller Zerstörungswut / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Natürlich weiss das Kind, dass es seine Hausaufgaben zu erledigen hätte, die Mutter hat es ausdrücklich daran erinnert. Nur hat das Kind darauf absolut keine Lust; Lust hat es vielmehr darauf, böse zu sein, der Mutter die Stirn zu bieten und das wohlgeordnete Heim zu attackieren. Das geht anfangs gut, doch mit einem Mal verändert sich die Umgebung. Sie belebt sich. Die ihres Deckels beraubte Teekanne beginnt zu sprechen (natürlich auf Englisch, der Tea ist ja über das Commonwealth auf uns gekommen), der immer wieder zu Boden geworfene Wecker, der aufgeschlitzte und nach Massen ausgeweidete Teddybär, das zahme, aber nichtsdestotrotz malträtierte Eichhörnchen, sie alle beklagen sich über die ihnen zugemutete Behandlung. Ein Katzenpaar führt dann allerdings vor, wie das geht: lieb sein. Das Kind, nicht wenig erschrocken über sein bisheriges Verhalten, hat ein Einsehen. Ob es die Hausaufgaben erledigt, bleibt offen, aber immerhin zeigt es tatkräftiges Mitleid.

«L’Enfant et les sortilèges», die von Colette erfundene Geschichte, ist und bleibt entzückend, das finden auch die nicht wenigen Kinder, die an diesem Sonntagnachmittag an Vaters und/oder Mutters Hand ins Stadttheater Bern gefunden haben und dort gebannt dem Geschehen folgen. Es wird von den Bühnen Bern in einer sympathisch kindergerechten, zugleich nirgends anbiedernden Weise vorgestellt. Patrick Bannwart (Bühne) und Moana Stemberger (Kostüme) haben das Kinderzimmer, das sich später in einen nächtlichen Garten weitet, so stimmungsvoll eingerichtet, wie es das Libretto andeutet: die Welt der Erwachsenen übergross, die für das Kind erschreckenden Erscheinungen witzig und effektvoll. Und David Bösch führt als Regisseur das grosse, durchwegs ausgezeichnet besetzte Ensemble hin zu lebendiger, aber diskreter Bewegung.

Getragen wird die Aufführung auch von der Musik Maurice Ravels, der in diesem Einakter nicht nur seine Einfallskraft, nicht nur seine Handschrift, sondern vor allem einen prägenden Zug seiner Persönlichkeit herzeigt. Das Kleine, das Verspielte, das Naturhafte, das Kindliche, ja die Kinder überhaupt und mit ihnen die Tiere und die Blumen – all das lag dem Komponisten besonders nahe, und in «L’Enfant et les sortilèges» hat er es in hellen, sehr charakteristischen Klang gefasst. Barockes gesellt sich zum Jazz, die Assonanz an den Opernton zur Revue; manch schräger Ton, manch überraschender Auftritt eines Instruments sorgt für Erheiterung – Postmoderne avant la lettre findet hier statt, freilich fern jeder Nostalgie, vielmehr stets ironisch distanziert. Dass man das so klar wahrnimmt, geht zuvörderst auf das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Nicholas Carter zurück. Trocken geht der Berner Co-Operndirektor die Partitur an, er erzählt sie etwas knorrig, nahe beim Fagott des Grossvaters in Prokofjews «Peter und der Wolf». Amelie Baier als das schreckliche, doch rasch gesundende Kind macht hierbei genau die richtige Figur.

Verity Wingate (Iolanta) in ihrem gläsernen Verliess / Bild Florian Spring, Bühnen Bern

Allein, damit hat es sich nicht, es geht ja noch weiter – und wie. Ganz und gar andersartig, obgleich auf ähnlicher Schiene. Auch die Titelfigur in «Iolanta», dem Einakter von Peter Tschaikowsky, ist ein Kind, ein etwas älteres Kind, eine Königstochter an der Schwelle zur Adoleszenz. Sie sieht nichts, und das ist darum halb so schlimm, weil sie nicht weiss, dass Menschen sehen. Sie darf es nicht wissen, ihr Vater René will es so, und wer gegen diesen Willen verstösst, ist des Todes. Das hat Gewicht, denn der Herrscher über die Provence ist in Bern eine überaus machtvolle Erscheinung. Der König sitzt zwar im Rollstuhl, weil seine Kräfte, wie er von sich selber sagt, zu schwinden beginnen. Aber das bezieht sich keineswegs auf die Stimme, daran lässt Matheus França nicht den geringsten Zweifel. Selten ist derart prachtvoll gerundetes Volumen zu hören wie bei dem 36-jährigen Bass aus Brasiliens. Und kaum je kommt es zu so genuinen Theatermomenten wie hier.

Auch in diesem zweiten Teil der jüngsten Berner Opernproduktion gibt es einen Garten mit duftenden Blumen und ein Zimmer – einen gläsernen Kubus, in dem König René seine Tochter Iolanta in ihrem Unwissen gefangen hält. Doch die Geschichte wendet sich gegen die Autokratie. Der Herrscher hat den maurischen Arzt Ibn-Hakia engagiert; dieser Vertreter des im Mittelalter auch in Spanien ansässigen, kulturell wie wissenschaftlich hochentwickelten Islam, Thomas Lehman gibt ihn mit geschmeidigem, sonorem Bariton, soll die Tochter von ihrer Blindheit erlösen. Zum Teil ist das freilich bereits geschehen. Denn mit Robert, dem Herzog von Burgund (Jonathan McGovern), und seinem beigeordneten Ritter Vaudémont sind angeblich zufällig zwei unerwünschte Gäste in den verbotenen Garten eingedrungen. Iolanta und Vaudémont, das ist ein coup de foudre, wie er im Buch steht. Er eröffnet ihr ihre Blindheit und im gleichen Atemzug seine unbedingte Liebe, sie erwacht und ist voll des Feuers, Blindheit hin oder her – wie das Verity Wingate mit ihrem leuchtkräftigen Sopran und James Ley mit seinem geschmeidigen Tenor darbieten, ist schlechterdings hinreissend.

Kein Wunder, gelingt die Heilung, lässt der König im Rollstuhl auf dringendes Anraten des weitsichtigen Arztes seine Tochter frei und kann das überglückliche Ende eintreten, zu dem auch der von Zsolt Czetner vorbereitete Chor der Bühnen Bern mit seinem klangmächtigen Gotteslob seinen nicht unbeträchtlichen Teil beiträgt. Überhaupt lebt diese «Iolanta» von einer sehr ausgeprägten Musikalität. Engagiert unterstützt durch das Berner Symphonieorchester schlägt Nicholas Carter am Pult einen ganz anderen Ton an als bei Ravel. Warme Homogenität und vibrierende Lebendigkeit stellen sich da ein. Sorgfältig und in souveräner Übersicht steuert der Dirigent die Spannungskurven, aus überzeugender Vorstellung heraus mischt er die Klangfarben, natürlich atmend entfalten und verbinden sich die Tempi – und das alles ohne jeden Druck. Da kann einem die Musik Tschaikowskys fürwahr ans Herz gehen.

Freud und Leid der Tradition

Wagners «Rheingold» in Stuttgart und Bern

 

Von Peter Hagmann

 

«Rheingold» in Bern: Wotan und die Seinen vor der neuen Burg / Bild Rob Lewis, Bühnen Bern

Wie viele Werke aus dem Repertoire des Musiktheaters warten nicht jahre-, jahrzehntelang auf eine Aufführung. Nicht so Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Hier stellt sich gerade umgekehrt das Problem, angesichts der Vielzahl an Produktionen und der dementsprechend reichen Rezeptionsgeschichte nochmals einen plausibel deutenden Weg durch die Tetralogie zu finden, und zwar im Musikalischen wie im Szenischen. Mit dem Projekt «Wagner-Lesarten» in der Kölner Philharmonie ist das wieder einmal beispielhaft gelungen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21); die konzertante Aufführung von «Rheingold» mit dem Dirigenten Kent Nagano, dem Barockorchester Concerto Köln und einer exquisiten Vokalbesetzung stiess Türen in einen ganz neu ausgestalteten Raum der Wagner-Rezeption auf. Da gab es fürwahr ungewöhnliche Dinge zu hören.

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Beim neuen «Ring» der Bühnen Bern schien es, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen, in eine ähnliche Richtung zu gehen. Jedenfalls am Anfang, in den Tiefen des Rheins. Dort schlug Nicholas Carter, Chefdirigent und, zusammen mit dem Dramaturgen Rainer Karlitschek, Operndirektor unter dem neuen Intendanten Florian Scholz, nicht nur leise Töne, sondern auch langsame Tempi an, die er bis zum Einsatz der drei Rheintöchter unmerklich auf das in diesem Moment angebrachte Zeitmass steigerte. Nicht nur ein langsames Crescendo, sondern damit verbunden auch ein langsames Accelerando, so wie es zu Wagners Zeit gepflegt wurde. Das versprach viel – leider zu viel, wie sich in der Folge zeigen sollte. Die Ursache dafür liegt vor allem bei der Verwendung der Orchesterfassung von Gotthold Ephraim Lessing (nicht zu verwechseln mit dem berühmten Namensvetter) aus dem Kriegsjahr 1943. Der deutsche Dirigent, der damals das Sinfonieorchester Baden-Baden leitete, reduzierte massvoll die Zahl der Bläser, beliess bei den Streichern aber die von Wagner geforderte Grossbesetzung – eine eigenartige Lösung, denn in welchem Orchestergraben lassen sich neunzig Pulte unterbringen? In Bern jedenfalls nicht.

Die Folgen waren hörbar – und das geht aufs Konto des Dirigenten. Über weite Strecken dominierten die Bläser, während die Einbettung in den Streicherklang oft kaum wahrzunehmen war – eine Frage der Balance, an der sich bekanntlich arbeiten lässt. Auch im Einzelnen blieb in Bern das aufgelockerte Klangbild zu wenig genutzt; Gewiss, manches Detail war zu hören, doch nicht selten waren es Nebensachen. Umso heftiger fuhr der massive Ton des Berner Symphonieorchesters ein; wie nach zweieinhalb Stunden die Götter in ihre Burg einzogen, erfüllte er sich in einem rohen, wenig gestalteten Fortissimo. Die Erfahrung von Köln im Ohr machte bewusst, dass die Berner «Rheingold»-Premiere klanglich ein altväterisches Wagner-Bild bot. In Biel und Solothurn, zwei noch wesentlich kleineren Häusern, gab es vor bald zwei Jahren (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.02.20) eine exemplarische Aufführung von Béla Bartóks Einakter «Herzog Blaubart Burg». Die ausladende Orchesterbesetzung hatte Eberhard Kloke reduziert – äusserst raffiniert. Es gibt also durchaus andere Wege.

Altväterische Züge, aber nicht nur, offenbarte auch die vokale Seite des Abends. Den mit Giada Borrelli, Evgenia Asanova und Sarah Mehnert charakteristisch besetzten Rheintöchtern begegnet mit Alberich ein körperlich verletzter, seelisch versehrter Kriegsheimkehrer; Robin Adams legt seine Aggression eins zu eins in Lautstärke um, was à la longue erheblich nervt – gerade gegenüber der nonchalanten Zielstrebigkeit des hier jugendlich wirkenden Wotan (Josef Wagner) und dem agilen Loge von Marco Jentzsch, der freilich etwas allzu freigiebig mit dem tenoralen Schluchzer im Stil von ehedem umgeht. Auch die Diktion, auf die Wagner so viel Wert gelegt hat, hat noch Luft nach oben, etwa bei dem stets fröhlichen, selbst im Brudermord unbekümmerten Fafner von Mattheus França. Nicht aber bei Masabane Cecilia Rangwanasha, die ein ganz und gar ungewöhnliches Rollenporträt der Freia zeichnet – eines im Zeichen der Diversität. Zumal Christel Loetzsch, die an die Stelle der erkrankten Claude Eichenberger getreten ist, eine stolze, aufrechte Fricka gibt, die ähnlich wie Erda (Veronika Dünser) dem selbstgewissen Wotan die Stirn bietet.

Das alles in einer Inszenierung, die verspielt daherkommt, ironisch mit den szenischen Zeichen umgeht, die in die Rezeptionsgeschichte von Wagners «Ring» eingegangen sind, und vielfältige Anregung bietet. Sie stammt von der jungen Polin Ewelina Marciniak, die bisher im Schauspiel brilliert hat und jetzt mit Wagners Tetralogie im Musiktheater debütiert. Der «Ring» ist für sie ein Spiel mit Mythen, aber auch, durchaus im Geiste Wagners, ein Entwurf, der seine Zeit kritisch in den Blick nimmt. Das tut auch die Regisseurin – und so fehlt es nicht an edlem Metall. Ein ganzer Vorhang aus Gold deutet die Fluten des Rheins an, er ist aber aus simplem Plastik gefertigt und wird von Tänzern nach den Ideen der Choreographin Dominika Knapik (und nicht ohne Anleihen bei der Gestensprache Robert Wilsons) bewegt. Oben und unten sind in den Kostümen von Julia Kornacka klar voneinander geschieden, während das Bühnenbild von Mirek Kaczmarek mit wenigen Strichen den Duft der Gründerzeit evoziert. Lebendig sind die Figuren gezeichnet, markant tritt die Interaktion zwischen ihnen heraus – und auch für den guten Theatereffekt ist gesorgt. Nicht mit einem riesigen, feuerspeienden Drachen aus der Bayreuther Werkstatt Wolfgang Wagners, sondern mit einer schwarzen Schlange, einer Tänzerin, die Wotan bedenklich nahekommt. Sehr lustig die welkenden Götter, die vom Mangel an Äpfeln Freias kündend ihren Ebenbildern gegenübertreten. Warum allerdings die Kröte, in die sich Alberich dummerweise verwandelt, als Patient am Infusionsgestell erscheint, darüber darf nachgedacht werden.

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In Stuttgart werden nicht gar so viele Gedanken evoziert. An der dortigen Staatsoper hat ebenfalls eine Produktion der Tetralogie begonnen. Anders als in Bern steht hier in allen vier Teilen derselbe Dirigent am Pult steht, sind für die vier Abende aber je andere Regisseure vorgesehen. So war es schon beim letzten Stuttgarter «Ring» vor zwei Jahrzehnten, und wie als Reminiszenz an jene goldenen Tage wird bei «Siegfried» die Inszenierung von Jossi Wieler wiederbelebt. Das neue Stuttgarter «Rheingold» nun hat Stephan Kimmig szenisch betreut – mit mässigem Erfolg, um ehrlich zu sein. Die Bühne von Katja Hass und die Kostüme von Anja Rabes versetzen die Geschichte vom zweifachen Raub des Goldes in eine Manege. Wotan (Goran Jurić) ist ein in die Jahre gekommener, mehr an der Flasche als an seiner Umgebung interessierter Zirkusdirektor, Donner (Paweł Konik) und Froh (Moritz Kallenberg) durchmessen die Bühne mit Autoscootern, Fasolt (David Steffens) und Fafner (Adam Palka) stehen ihnen mit ihren blinkenden Gabelstaplern in nichts nach. Auch Erda (Stine Marie Fischer) verfügt über ein Gefährt: ein Herrenfahrrad, weil sie ja Jackett und Krawatte trägt. Der Deutungsansatz wirkt dünn: beliebig, weil auf das Eigentliche übergestülpt. Wie er aufgehen soll, das kann vielleicht Miron Hakenbeck erklären; er hat beide Produktionen, jene von Stuttgart wie jene von Bern, als Dramaturg begleitet.

Zwei hervorragende Auftritte verzeichnet das Stuttgarter «Rheingold» immerhin. Leigh Melrose gibt, stimmlich untadelig, einen temperamentvoll aufbrausenden, aber gleichwohl nie schreienden Alberich; bevor er am Ende den Ring wieder verliert, wird er gerädert – nicht einmal das behindert den Sänger. Matthias Klink wiederum, als Loge jeder Situation gewachsen, gewinnt sein Profil dadurch, dass er seine Partie sehr ausgeprägt deklamiert, bisweilen fast spricht – da wird auch ohne Übertitel jedes Wort verständlich. Und das, obwohl der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister auf vollen Ton setzt. Das Staatsorchester Stuttgart tritt in grosser Besetzung auf und erzeugt einen fest in sich ruhenden, strahlenden Klang, aus dem die Leitmotive als integrierte Teile eines Ganzen heraustreten – Probleme der Balance stellen sich hier keine. In einem grossen Haus wie der Stuttgarter Staatsoper ist das nicht nur möglich, es drängt sich geradezu auf, stehen hier doch neben dem Orchestergraben reichlich Raumreserven zur Verfügung. Das musikalische Wagner-Bild, das in Stuttgart präsentiert wird, fügt sich nahtlos ein in die Tradition, wie sie durch die Bayreuther Festspiele, den «Jahrhundert-Ring» mit Pierre Boulez ausgenommen, repräsentiert wird und wie sie etwa in den Jahren 2010/11 durch Philippe Jordan an der Pariser Opéra zu prägnanter Gegenwart gebracht worden ist. Eine Tradition, die neben der Kölner Innovation zu bestehen vermag.

«Rheingold» in Stuttgart: Fricka (Rachel Wilson) im Zirkus (Bild Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart)

Verdis «Emilia» – der doch nicht so andere «Otello» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Desdemona (Evgenia Grekova) ringt um Otello (Rafael Rojas), Emilia (Sarah Mehnert) beobachtet / Bild Annette Boutellier, Konzert Theater Bern

Am Schluss, wie die ganze Grausamkeit der Intrige Jagos ans Licht gekommen ist, reisst dessen Frau Emilia das Kreuz von der Wand und schlägt es ihrem Tyrannen in den Rücken, worauf der, tödlich getroffen, zu Boden geht. Endlich, denkt man. Endlich hat sich diese stolze, aber unentwegt gedemütigte, auch geschlagene Frau ihres brutalen Gatten entledigt. Allein, in der Partitur von Giuseppe Verdis später Oper «Otello» steht es anders; der Librettist Arrigo Boito lässt den Bösewicht ganz einfach entweichen. Ein Verstoss gegen den Text also, aber einer, der seine Plausibilität aufweist.

Für die Regisseurin Anja Nicklich, die «Otello» im Konzert-Theater Bern auf die Bühne gebracht hat, waren die üblichen Ansatzpunkte einer szenischen Interpretation von Verdis Oper nicht das Richtige. Die Verkörperung des Negativen an sich durch den Offizier Jago und, auf der anderen Seite, das Leiden des siegreichen Oberbefehlshabers Otello an der tödlichen Intrige seines Untergebenen, das schien ihr verbraucht. Thematisiert wurde, Gottseidank, auch nicht die gesellschaftliche Marginalisierung des Helden aufgrund seiner dunklen Hautfarbe; Otello war denn auch kein schwarzer, nicht einmal ein schwarz angemalter Sänger.

Nein, Anja Nicklich hat eine spezifisch weibliche Sicht gesucht – und was entdeckt diese Sicht? Sie legt einen Fall häuslicher Gewalt frei, er ereignet sich im Hause Jagos – darin liege, so die Regisseurin, die Aktualität des Stücks. So trägt denn der Bösewicht einen überlangen Rosenkranz bei sich, mit dem er, einmal in Rage geraten, erbarmungslos zuschlägt: auf den Boden, auf Säulen, auf Menschen. Die szenische Metapher ist nicht ohne Hintersinn, wenn man die vielen Männer aus anderen Kulturen denkt, die ihre Gebetskette in den Händen halten. Wie auch immer: Jordan Shanahan ist genau der Richtige für diesen Gewalttäter, er gibt die Figur in einer Intensität und einer Durchhaltekraft sondergleichen, freilich auch etwas einseitig auf sein gewaltiges Fortissimo zugespitzt.

Gegen diesen Dämon erhebt sich eine Frau: seine Gattin – eine Schwester der bewundernswerten Frauen in Belarus? Nicht nur das, Emilia wird gar zu einer Art Hauptperson, weil die Geschichte von «Otello» aus ihrem Blickwinkel erzählt werden soll. Der Ansatz der Regisseurin ist bedenkenswert, bleibt jedoch im Programmheft stecken, im Bühnengeschehen nachzuvollziehen ist er nicht wirklich. Zu erleben ist dafür, wie eine kleine Rolle allein durch vokale Kunst und szenische Präsenz in hellstes Licht geraten kann. Sarah Mehnert versieht ihre Partie mit einem warmen, in der Tiefe herrlich strahlenden, in der Höhe unverkrampft zeichnenden Mezzosopran, und sehr genau bringt sie die inneren Regungen Emilias über die Rampe. Verdi und Boito hatten mit dem Gedanken gespielt, ihren «Otello» vielleicht doch eher «Jago» zu nennen. In Bern könnte sie fast als «Emilia» durchgehen.

Konventioneller, als reine Lichtgestalt gezeichnet ist Desdemona – aber wie das Evgenia Grekova Wirklichkeit werden lässt, beeindruckt in hohem Mass. Die russische Sopranistin arbeitet auf der Grundlage einer lyrischen Ausrichtung, was ihr für diesen Abend einen weiten Horizont eröffnet – erst recht dann, wenn sie sich erlaubt, das Vibrato zu dosieren. Natürlich muss sie sich gegen die Verdächtigungen wehren, die Jago ausstreut, und dabei laut werden, aber das kann sie auch. Ihre Stärke ist jedoch das Zurückgenommene, und davon hat es in Verdis Oper mehr als gedacht. Ein armer Pechvogel war dagegen Rafael Rojas als Otello. Eine gesundheitliche Störung verunmöglichte ihm an der Premiere das Singen, er hatte sich aufs Spielen zu beschränken. An der Bühnenseite lieh ihm Aldo Di Toro die Stimme, was umso bewundernswerter gelang, als der Einspringer seine Aufgaben sehr authentisch und mit hoher Emotionalität wahrnahm.

Das alles ereignet sich in einer szenischen Umgebung, die leider etwas angestaubt wirkt. Den Schauplatz Zypern deutet die Bühnenbildnerin Janina Thiel durch eine maurisch angehauchte Gitteranlage an, die im Verlauf des Stücks immer mehr in sich zusammenfällt. Die Kostüme von Gesine Völlm orientieren sich an höfischen Stilen der Renaissance. So weit, so gut – aber dazu kommen Unmengen an Bühnendampf. Sobald die Temperatur steigt, geht seitlich das Gebläse an – das ist doch fürwahr von gestern. Der guten Laune auf allen Seiten tut das keinen Abbruch; unverkennbar das Glücksgefühl, wieder auftreten, wieder singen, wieder spielen zu können. Unter der Leitung von Matthew Toogood, des aus Australien stammenden Musikdirektors ad interim, zaubert das Berner Symphonieorchester, dessen Bläser in Plexiglaskabinen sitzen und dessen Streicher Masken tragen, prächtige Farbenspiele herbei; es zeichnet auch so klar, dass die harmonischen Wagnisse Verdis ungeschmälert zur Geltung kommen. Masken getragen werden auch auf der Bühne – jedenfalls dann, wenn nicht ein grosses Solo ansteht. Dabei offenbart sich eine eigene Virtuosität im Umgang mit diesem neuartigen Kleidungsstück. Durchgehend mit Maske singt der von Zsolt Czetner vorbereitete Chor: ausgezeichnet, gerade in den nicht von übermässigem Vibrato eingetrübten Frauenstimmen. Im Stadttheater Bern, wo auch für das dicht gedrängt sitzende Publikum Maskenpflicht herrscht, wird vorgeführt, dass Oper trotz Corona vollgültig möglich ist.

Fiebertraum eines Künstlers

«Tristan und Isolde» von Richard Wagner in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Christian Kleiner, Konzert-Theater Bern

Es hätte die Abschiedsvorstellung des künstlerisch erfolgreichen, leider vorzeitig und im Unfrieden zurückgetretenen Intendanten Stephan Märki werden sollen. Daraus wurde nichts; Märki hat das Konzert-Theater Bern längst hinter sich gelassen und sich Cottbus zugewandt, wo er auf die Saison 2020/21 hin als Intendant und Operndirektor tätig werden wird. Mit «Tristan und Isolde» hat er den Bernern er ein Projekt zurückgelassen, das die kleine Bühne bis an die Grenzen ihrer Kapazitäten hin gefordert, ihr jetzt aber auch einen auserordentlichen Erfolg beschieden hat.

Kommt Richard Wagners «Handlung in drei Aufzügen» in einem Theater wie jenem in Bern zur Aufführung, stellt sich die Frage nach der vokalen Qualität in zugespitztem Masse. Nicht so hier. Mit Daniel Frank tritt ein Tristan mit lyrisch eingefärbter, intelligent eingesetzter und bis zum Ende uneingeschränkt präsenter Stimme in Erscheinung. Als Isolde steht ihm mit Catherine Foster eine Wagner-Sängerin par excellence zur Seite; in ihrer Diktion gibt es fraglos noch Potential, was die vokale Ausstrahlung und das Volumen betrifft, bleiben jedoch keine Wünsche offen – und die Differenzierung der Seelenzustände vor und nach der Einnahme des Tranks gelingt ihr vorzüglich. Besonderes Aufsehen erregt allerdings Claude Eichenberger, der die Partie der Brangäne auf den Leib geschrieben scheint. In warmer Opulenz und klarer Zeichnung leuchtet ihr Mezzosopran, und was sie darstellerisch, nicht zuletzt mit ihrer sprechenden Mimik, aus ihren Auftritten macht, gehört zu den Glanzpunkten der Produktion. Nicht weniger eindrucksvoll Robin Adams als ein temperamentvoll aufbrausender, im dritten Akt rührend fürsorglicher Kurwenal und Kai Wegner als ein hell klingender, jugendlich wirkender König Marke.

Dass die vokalen Qualitäten so deutlich zur Geltung kommen, ist umso bemerkenswerter, als Kevin John Edusei, der sehr begabte, zum Ende dieser Spielzeit leider ebenfalls abtretende Chefdirigent der Oper, das Berner Symphonieorchester unerhört kraftvoll aufrauschen lässt. Wie es seinerzeit Michael Gielen in Frankfurt und später Lothar Zagrosek in Stuttgart taten, beide beim «Ring des Nibelungen», sichert Edusei dem Instrumentalen seine volle Bedeutung, ohne dass das Vokale je darunter litte. In seiner Deutung legt er den Akzent weniger auf das sehnsüchtig Ziehende als auf das Eruptive, das der unbotmässigen Begegnung zwischen Tristan und Isolde innewohnt. Dies in Übereinstimmung mit dem Regisseur. Sehr zu Recht geht Ludger Engels vom biographischen Moment in Wagners Schaffensprozess aus. Ganz im Geist des Regietheaters verlegt er die Schauplätze in eine Art Atelier, in dem Andries Cloete, der sowohl den jungen Hirten, den etwas manieriert, als auch den alten Hirten singt, als «Der Künstler» das Geschehen imaginiert, es organisiert und es in katzenartiger Beweglichkeit über den ganzen Abend hinweg begleitet. Der Ansatz führt, vor allem auch auf der Ebene des Bühnenbilds (Volker Thiele) und der Kostüme (Heide Kastler) immer wieder zu Brechtscher Distanzierung, schafft aber mannigfache Anregung. Vor allem deshalb, weil an diesem Abend ganz wundervoll Theater gespielt wird.

Mehrfach gemoppelt

«Reigen» von Philippe Boesmans im Theater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Der junge Herr (Nazariy Sadivskyy) und Die junge Frau (Oriane Pons) im Berner «Reigen» / Bild Christian Kleinert, Konzert-Theater Bern

Das Stück bleibt ein Problem. Nicht jenes des Wiener Arztes und Schriftstellers Arthur Schnitzler von 1896/97 – dieser Einakter ist ein Wurf. Er traf die Sache derart, dass seine offizielle Uraufführung 1920 in Berlin einen Theaterskandal der Sonderklasse auslöste. In zehn Szenen, die in strengstem formalem Ablauf gehalten sind, werden zehn Begegnungen zwischen Mann und Frau vorgeführt, die in messerscharfen Dialogen auf das Eine zusteuern und nach dessen Vollzug in postkoitales Elend münden. Jedes der zehn Paare zeigt Egozentrik und Beziehungslosigkeit in eigener Ausprägung. Und in jeder der zehn Momentaufnahmen spiegeln sich gesellschaftliche Gegebenheiten der ausgehenden Gründerzeit. Dass «Reigen», so nennt sich das hinreissende Stück Schnitzlers, mit unseren Tagen nichts mehr zu tun habe, kann wohl nicht behauptet werden.

Nein, das Problem liegt bei der Veroperung, die der Librettist Luc Bondy und der Komponist Philippe Boesmans dem Schauspiel Schnitzlers angetan haben. Bondy, der 1993 auch die Brüsseler Uraufführung der Oper inszeniert hat, glaubte den Text zuspitzen zu müssen. Natürlich musste er kürzend eingreifen, um Raum für die Musik zu schaffen, aber er hat auch vergröbert, hat ans Licht gezerrt, was Schnitzler zwischen den Zeilen andeutet. Wenn sich der Sohn des grossbürgerlichen Hauses (in Bern war das Nazariy Sadivskyy) eines schönen Sommernachmittags am Stubenmädchen (Eleonora Vacchi) zu schaffen macht, wird er anders als bei Schnitzler von der jungen Frau explizit dazu ermuntert. Und wenn die Gattin (Oriane Pons), die in der Szene zuvor den Seitensprung geübt hat, nach erfüllter Pflicht in den Armen ihres Ehemanns (Jordan Shanahan) einschläft, murmelt sie im Libretto den Namen des Geliebten und dann jenen des Gatten – Schnitzler hat das nicht nötig. Und nicht verdient.

Kommt dazu, dass die Musik des heute 82-jährigen Belgiers Philippe Boesmans genau das tut, was Schnitzler nicht wollte. Jede der zehn Szenen ist durch einen Geschlechtsakt geteilt, der im Text Schnitzlers durch eine gestrichelte Linie angedeutet wird. Getreu der Auffassung, dass die Musik das ausspreche, was nicht gesagt werden könne, malt Boesmans jeden dieser zehn wortlosen Akte ausführlich aus, was da und dort zu mühseligen Verlängerungen führt (und eine Pause in dem eigentlich als Einakter konzipierten Stück verlangt). Und nicht zuletzt stellt es die Regisseure vor die undankbare Aufgabe, den sexuellen Moment zu zeigen – was in der Regel zu lächerlichen Verrenkungen führt. Vor allem aber weist die Musik Boesmans‘ nicht eine Kraft auf, die dem Zuhörer, so er denn zuhört, die tieferen seelischen Schichten unter den sexuellen Vorgängen offenbarte. Sie gibt sich gemässigt modern, arbeitet aber echt bildungsbürgerlich mit Zitaten und Assoziationen. Geht es um die Ehe, in der alles seine Zeit habe, ertönt aus dem Orchestergraben ein gutmütiger Dreiklang in Dur.

So verdienstvoll es ist, dass das Stadttheater Bern an Boesmans‘ «Reigen» erinnert, so fatal wirkt sich aus, dass die Produktion den Umgang mit der Vorlage Schnitzlers, den Bondy für sich gewählt hat, aufnimmt und weiterführt. Nicht nur doppelt, sogar mehrfach wird hier gemoppelt. Das Geschehen, das in Schnitzlers Stück mit dem analytischen Scharfblick des Arztes und dem pointierten Talent des Dichters ausgelegt wird, wird auf der Berner Bühne durch manche Unterstreichung angereichert. Das nicht enden wollende Sofa, das Kathrin Frosch erdacht hat, erinnert hübsch an die gestrichelte Linie in Schnitzlers Text wie an ein nicht ganz unumstrittenes Möbelstück, das in Intendantenbüros zu stehen pflegt.

Der Regisseur Markus Bothe dagegen hat zu dem kunstvoll sparsamen Stück Schnitzlers – es erinnert ein wenig an die Musik Anton Weberns – vielfältige szenische Beigaben entwickelt. Im vierten Bild, in dem sich ein junger Herr und eine junge Dame treffen, ist die Rede von einem Schleier, der weggezogen sein möchte – in Bern ist dieser Schleier ein Bärenkostüm. Und das süsse Mädel, dem sich der wohlbestallte Ehemann nach der Nacht mit seiner Gattin auf der Dienstreise zuwendet, ist in dieser Produktion ein stummes Kind aus der Statisterie, während Claude Eichenberger, der diese Partie anvertraut ist,  zwar die Worte des süssen Mädels singt, auf der Bühne aber als dessen Mutter und/oder Kupplerin gezeigt wird. Schwer nachvollziehbar auch, dass der schwächliche Graf (Michal Marhold) heroinsüchtig sein und die Sängerin (Evgenia Grekova) unter den Augen des Dichters (Uwe Stickert) ausführlich vergewaltigen soll. Spielereien solcher Art gehören zum Regietheater älterer Mode.

Das Berner Ensemble hat sich dadurch nicht aus der Fassung bringen lassen. Es glänzt als Team, das von der Summe sehr überzeugender Einzelleistungen lebt. Und in der unerhörten Flexibilität, die seine Mitglieder zeigen (unter ihnen auch Orsolya Nyakas als Dirne und Andries Cloete als Soldat), steht es, das darf noch einmal extra betont werden, für die Lebenskraft des Ensemblegedankens. Am Pult wirkt Kevin John Edusei, der das Berner Symphonieorchester zu warmem Klang animierte und herausholte, was aus der Partitur von Philippe Boesmans herauszuholen ist.

Schubert im Labyrinth der Oper

«Fierrabras» im Stadttheater Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Schuberts «Fierrabras» ist, wie figura zeigt, auch eine Choroper. Auf der Treppe der Wüterich Boland (Young Kwon), schon arg schwach auf den Beinen. Die beiden Damen im Vordergrund, links seine Tochter Florinda (Evgenia Grekova), rechts deren Vertraute Maragon (Claude Eichenberger), bieten ihm die Stirn. / Bild Tanja Dorendorf, Konzert Theater Bern

Bei «Fierrabras» ist einfach nichts zu machen, der neuerliche, sehr ehrenwerte Rettungsversuch durch das Konzert-Theater Bern hat es bestätigt. Mario Venzago, Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters und als solcher immer wieder mit anregenden Produktionen an der Ausstrahlung von Konzert-Theater Bern beteiligt, weiss um die Problematik, liebt Franz Schuberts Oper aber gleichwohl. Zusammen mit dem Regisseur Elmar Goerden ist er zur Auffassung gelangt, dem Schmerzenskind sei aufzuhelfen,  wenn die Musik für die dramatische Wirkung stärker nutzbar gemacht werde. Tatsächlich stehen in «Fierrabras» die zum Teil wunderschönen musikalischen Nummern weitgehend beziehungslos nebeneinander – verbunden durch gesprochene Texte, wie es dem deutschen Singspiel entspricht. Um hier mehr Kitt zu schaffen, hat Venzago, einem musikalischen Vertreter des Regietheaters gleich, auf verschiedenen Ebenen in die Partitur eingegriffen.

Verstärkt wurden zunächst die Effekte der Bühnenmusik, so dass etwa die Trompeten- und Hornsignale deutlicher heraustraten und merklicher an Beethovens «Fidelio» als das grosse Vorbild erinnerten. Auch das Schlagwerk wurde erweitert; die Bedrohlichkeit mancher Stelle wurde durch Pauken- und Trommelwirbel unterstrichen, wie auch das Finale durch Schlagzeugeffekte bereichert wurde – analog zu einer barocken Praxis, die heute von einem Dirigenten wie William Christie gepflegt wird. Vor allem aber wurde an zentralen Stellen der gesprochene Text in Rezitative umgewandelt – in  Musik gesetzt von Mario Venzago nach Franz Schubert. Der Dirigent, seit langem als ein Interpret in des Wortes emphatischem Sinn bekannt und berühmt für seinen kreativen Umgang mit den Notentexten, hat sich in den Entwürfen des Komponisten umgesehen und Material gefunden, das er zu diesem Zweck verwenden konnte – so wie er es schon in seiner Fassung der angeblich unvollendeten h-Moll-Sinfonie Schuberts getan hat.

Stilistisch ist Venzago die Musikalisierung von «Fierrabras» hervorragend gelungen, die Probleme des Stücks gelöst hat sie nicht. Auch in dieser vielschichtigen Produktion bietet das Libretto Joseph Kupelwiesers ein krudes Hin und Her. Und auch hier scheint die Musik Schuberts immer wieder in eigenartiger Weise dem Text zuwiderzulaufen; der Eindruck des Hölzernen, der sich daraus ergibt, wird jedenfalls auch an diesem Abend im Berner Stadttheater nicht beseitigt – trotz dem Schwung, den Venzago erzeugt, auch trotz der engagierten Beteiligung des von Zsolt Czetner einstudierten Chors und des formidabel klingenden Berner Symphonieorchesters. Dass es gleichwohl grossartige Momente gibt, ist unbestritten; es geht nicht zuletzt auf das einmal mehr ausgezeichnet agierenden Vokalensemble zurück.

Voll und ganz erfüllt es die abstrahierende Inszenierung, die Elmar Goerden in der Ausstattung von Silvia Merlo, Ulf Stingl und Lydia Kirchleitner entworfen hat. Sie verfolgt nicht den mit Gewalt ausgetragenen Konflikt zwischen Christen und Muslimen im frühen Mittelalter; ohne zeitliche Fixierung legt sie den Fokus vielmehr auf die Spannung zwischen den Generationen und den Geschlechtern. Karl der Grosse (Kai Wegner) und sein Gegenspieler Boland (Young Kwon) sind alte, abgewrackte Machtmänner, denen die junge Generation mit Emma (Elissa Huber) und Florinda (Evgenia Grekova), auch mit Roland (Todd Boyce) und Eginhard (Uwe Stickert) andere Ideale entgegensetzt. Das ist sorgfältig gedacht und tadellos ausgeführt, erzeugt aber nicht die dramatische Spannung, die der Oper Schuberts fehlt. Und warum sich Fierrabras (Andries Cloete), der in Bern etymologisch korrekt «Fierabras» genannt wird, so qualvoll, wenn nicht masochistisch, der Entsagung verschreibt und gerade dadurch zum heimlichen Sieger aufsteigt, lässt sich auch hier nicht wirklich nachvollziehen.

Die Revolution und die Seelen

«Così fan tutte» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

In der Ausgangskonstellation: Ferrando und Dorabella, Guglielmo und Fiordiligi im Stadttheater Bern / Bild Tanja Dorendorf, Konzerttheater Bern

 

Ein gigantischer Scherbenhaufen – das ist, was am Ende übrig bleibt. Und es ist zugleich, was im Stadttheater Bern den Ausgangspunkt von «Così fan tutte» bildet. Denn während die Ouvertüre zu Wolfgang Amadeus Mozarts Oper aus dem Orchestergraben hervorwirbelt, kehrt Don Alfonso, der in der Inszenierung Maximilian von Mayenburgs kein alter Philosoph, sondern ein ausgesprochen rüstiger Barkeeper ist, vor dem bühnenbreiten Tresen die Scherben der vergangenen Nacht zusammen. Eine Verlobungsfeier war es; an Alkohol hat es nicht gefehlt – die imposante Ansammlung harter Getränke aus der Hand des Bühnenbildners Christoph Schubiger deutet es an. Dorabella und Fiordiligi, die beiden Bräute, schlafen auf den Barhockern ihren Kater aus, die beiden Bräutigame Ferrando und Guglielmo rappeln sich auf und halten sich knapp auf den Beinen. In dieser Lage überrascht sie der Barkeeper mit dem Vorschlag zu einem Experiment. Einem Menschenversuch.

Er führt ins totale Desaster. Wenn im zweiten und letzten Finale die ausladende Bar wieder zu sehen ist, wird gefeiert, was gewöhnlich auf eine Verlobung folgt, eine Hochzeit nämlich – nur geht die in diesem Fall übers Kreuz, was von Don Alfonso alsbald als perfid inszenierte Täuschung offengelegt wird. Schon sind die fürs Festmahl vorbereiteten Teller zu Boden gefallen – und da ist er erneut, der Scherbenhaufen, nun allerdings endgültig. Drastisch zeigt die Inszenierung, wie unbarmherzig das Stück der Katastrophe zustrebt, dem Gegenteil des von der Konvention verlangten «lieto fine». Die Gefühle und die von ihnen getragenen Beziehungen sind in Brüche gegangen, die Gegenwart ist erschreckend geworden, die Zukunft hochgradig unsicher. Die leicht schlüpfrige Tändelei im Rokoko-Kostüm, der bildungsbürgerlich geschilderte Abschied junger Menschen von unbeschwerter Liebe – von edlen Deutungsansätzen solcher Art ist hier keine Rede mehr. In Bern wird «Così fan tutte» zum Zeitstück.

Es ist nicht zu überhören. Kevin John Edusei, der Chefdirigent der Berner Oper, nimmt eine radikale Gegenposition ein zu dem kammermusikalisch aufgelichteten, geglätteten, ja harmlosen Ton, wie er gerade bei dieser Oper Mozarts lange Zeit üblich war. Er raut den Klang auf, indem er die Streicherbesetzung klein hält, den Bläsern Raum schafft und im Blech wie bei den Pauken auf Instrumente nach der Art des späten 18. Jahrhunderts setzt. Zudem spielen die Streicher oft mit wenig Vibrato, was die vielen liegenden Mittelstimmen heraustreten und den Instrumentalsatz in seiner ganzen farblichen Vielfalt leuchten lässt. Edusei ist kein genuiner Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis; dass er die in diesem Bereich gewonnen Erkentnnisse so selbstverständlich zu nutzen weiss, spricht aber sehr für ihn. Und für das Berner Symphonieorchester, das hier ganz ausgezeichnete Figur macht.

Messerscharf fallen die instrumentalen Akzente. Die tiefe Emotionalität des Stücks, die Nikolaus Harnoncourt so meisterhaft ans Licht gehoben hat, scheint allerdings nicht wirklich auf; das berührende Abschiedsquintett im ersten Akt bleibt darum beiläufig – auch weil das Verhaltene noch nicht leise genug klingt. Die Schärfe in der musikalischen Formulierung stimmt freilich überein mit dem szenischen Ansatz, der «Così fan tutte», entstanden 1789/90, als Essay über das Zerbrechen einer Gesellschaftsordnung vorführt. Schon die symmetrische Anlage mit der Bar zu Beginn und zum Schluss, vollends aber das weite Spiegelkabinett, in dem Don Alfonso das Labor für seinen Menschenversuch eingerichtet hat – sie nehmen den abgezirkelten Formverlauf der Oper auf, erinnern aber auch an die strengen französischen Gärten und das straff normierte Hofzeremoniell, die damals als Inbegriff des Ancien Régime galten.

Davon ist nun freilich schon einiges ins Wanken gekommen. Wenn Dorabella und Fiordiligi, wie es sich für Damen ihres Standes geziemt, zum Frühstück feinste heisse Schokolade erwarten und die vorlaute Dienerin Despina stattdessen mit einem billigen Glas Nutella aufkreuzt, ist das natürlich ein Gag, zugleich aber auch ein Fingerzeig darauf, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen Mozarts Oper handelt, schon erheblich verändert haben und sich zweifellos noch weiter verändern werden. Das ist es, was Don Alfonso, ein Aufklärer der ersten Stunde, seinen Schützlingen beibringen möchte. Um sie mit der neuen Welt vertraut zu machen, lässt er sie Brillen aufsetzen – seine Brillen, durch die sie erkennen sollen, was er heraufziehen sieht. Es sind Sonnenbrillen, damit den vier jungen Adligen das Licht der Aufklärung – les lumières – nicht  allzu sehr aufs Auge schlage. Sie haben sie bald nicht mehr nötig, wie auch die diversen Verkleidungen entbehrlich sind. Machen sie mit oder doch eher gute Miene zum bösen Spiel?

Wie dem auch sei: Don Alfonso – der nur ein einziges, kurzes Mal zu einer Arie ansetzt, im übrigen aber beim Rezitativ bleibt – Don Alfonso beherrscht die Szene jederzeit virtuos. Anders als gewöhnlich steht er absolut im Zentrum des Geschehens; mit seinem sonoren Bass und seiner herrlich süffisanten Attitüde lässt Todd Boyce keinen Zweifel an seiner Funktion. Dennoch gelingt der Aufklärungsversuch nur bedingt, die Beteiligten spielen mit unterschiedlichem Feuer mit. Fiordiligi ist eine besonders harte Nuss, sie tut sich schwer, das Neue (oder den Neuen) anzunehmen – was Oriane Pons mit eindrücklicher Gestaltungskraft zum Ausdruck bringt. Zum Beispiel in ihrer grossen Arie im zweiten Akt – bei der dann aber unvermutet Regen ans Fenster schlägt: einer jener nicht ganz seltenen Momente, in denen der Regisseur zum Überschiessen neigt, so als hätte er kein Vertrauen in die Musik.

Dorabella dagegen, von Eleonora Vacchi mit mehr Selbstbewusstsein versehen als gewöhnlich, bricht bald einmal auf. Und Guglielmo ist rasch und bereitwillig zur Stelle – Michal Marhold lässt es mit seinem hellen Bariton hören und mit den roten Unterhosen, die ihm die Kostümbildnerin Marysol del Castillo besorgt hat, unzweideutig sehen. Ferrando, ganz anders veranlagt, macht das schwer zu schaffen; mit seinem geschmeidigen Tenor, aber ohne die geringste Spur von Kitsch bringt Nazariy Sadivskyy seine Probleme auf den Punkt. Am Ende kommt er aber doch ans Ziel – und hat auch er brav zu jenem Scherbenhaufen beigetragen, für dessen Anwachsen Orsolya Nyakas als eine behende, in keinem Augenblick aufs Maul gefallene Despina erfolgreich mitgesorgt hat. In Bern, unter der Verantwortung des Operndirektors Xavier Zuber, wird konsequent dem Ensemblegedanken nachgelebt. Wie erfolgreich das geschehen kann, der Abend mit «Così fan tutte» zeigt es.