Zwei Mal Bruckners Achte

Aufnahmen mit Andris Nelsons und dem Gewandhausorchester sowie mit Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern lassen hören, was Differenzen im Detail bewirken.

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit der Pultstars ist vorbei, Figuren am Dirigentenpult wie Herbert von Karajan, Leonard Bernstein oder Lorin Maazel sind weit und breit keine mehr zu erkennen. Interpreten jedoch, sie treten nach wie vor ans Licht; sie tragen ihre naturgemäss ganz persönlichen Ansichten mit Entschiedenheit vor. Besonders gut zu beobachten ist das dieser Tage, da auf dem Marktplatz der aufgezeichneten Musik, im CD-Katalog und in den Streaming-Diensten, kurz hintereinander zwei Konzertmitschnitte von Anton Bruckners Symphonie Nr. 8 in c-Moll erschienen sind – zwei Deutungen, die in mancher Hinsicht miteinander verwandt sind, die dem monumentalen Werk aber doch ganz unterschiedliche Konturen verleihen.

Sowohl Andris Nelsons am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters – er verfolgt mit dem von ihm geleiteten Orchester für die Deutsche Grammophon eine Gesamtaufnahme der Symphonien Bruckners und ist in diesem Projekt schon weit vorangeschritten – als auch Christian Thielemann, den sich die Wiener Philharmoniker für einen gleichartiges Vorhaben bei Sony Classical ausgewählt haben, erweisen sich als Dirigenten der Jetztzeit. Der kantige, ja steinerne, an die Wiener Ringstrassenarchitektur gemahnende Bruckner-Ton früherer Zeiten – als Beispiel dafür kann der Name Eugen Jochums genannt werden – hat in den Vorstellungen der beiden Dirigenten keinen Platz; in je eigener Weise bringen sie die weit ausschwingenden Spannungsbögen, von denen Bruckners Achte lebt, in weich gezeichnete, flexibel atmende Verläufe. Auch in den Tempi stehen sie einander nah; 82 Minuten benötigen Nelsons wie Thielemann – der eine in diesem Satz, der andere in jenem eine Spur länger.

Dennoch stehen sich da zwei absolut unterschiedliche Erscheinungen von Bruckners Achter gegenüber. Schon allein vom Klangbild her – soweit sich das bei Aufnahmen beurteilen lässt. Das Leipziger Orchester geht in seiner Sonorität von einem soliden, ausgeprägten Bassfundament aus; sein Ton lebt von Wärme, Rundung und optimaler Vermischung der Farben – und wie Andris Nelsons, inzwischen in seiner vierten Saison als Gewandhauskapellmeister, das Potential zu nutzen versteht, spricht von einer grossartig gewachsenen, ja symbiotisch erscheinenden Verbindung zwischen dem Orchester und seinem inzwischen 42 Jahre alten Chefdirigenten.

Anders die Wiener Philharmoniker, der private Verein, der sich aus dem Orchester der Wiener Staatsoper rekrutiert und der keinen Chefdirigenten, nur Lieblingsdirigenten kennt. Zu ihnen gehört Christian Thielemann. In den Wienern findet er den belebenden Kontrast zur Staatskapelle Dresden, der «Wunderharfe» Richard Wagners, der Thielemann, heute 61 Jahre alt, seit neun Jahren vorsteht. Liess er in seinen jungen Jahren die Energien gerne entfesselt aufrauschen, darf er mittlerweile als ein Meister der Feinzeichnung gelten, auch und gerade an Stellen der Kraftentfaltung. Mit ihrem hellen Grundton, ihren leichten Bässen, dem Silberglanz ihrer Streicher und ihren charakteristischen Bläsern bieten ihm die Wiener die optimalen Voraussetzungen.

Das kennzeichnet denn auch die Einspielung von Bruckners Achter. Licht und geschmeidig ist der Klang, schlank kommen die Lineaturen daher, zumal jene der Wiener Oboe. Auffällig erscheint aber auch das bisweilen penetrante Vibrato der hohen Streicher. Es kann zu befremdlicher Larmoyanz führen, etwa im Adagio des dritten Satzes, wo sich nach einer ersten Gruppe von vier Takten das Geschehen von Dur nach Moll wendet und sich der leise wiegende, der Begleitung dienende Grundakkord für einen Augenblick schluchzend in den Vordergrund drängt. Mag sein, dass das einer Unaufmerksamkeit geschuldet ist – denn an solchen Versehen fehlt es nicht. Noch und noch kommt es zu mehr oder weniger verwackelten Einsätzen, was auch auf die erklärte Abneigung der Wiener gegen den präzisen Schlag zurückgehen kann. Besonders eigenartig wirkt, dass im Adagio nach dem zweiten Beckenschlag, der in einen abrupten, von einer einsamen Oktave der Violinen beleuchteten Einbruch der Stille führt, das dort von Bruckner notierte Ausklingen der Harfen fehlt.

Auf die Partitur, die der Aufführung zugrunde lag, geht das nicht zurück, anderes aber sehr wohl. Denn für seine Interpretation von Bruckners Achter hat Christian Thielemann doch tatsächlich die Edition von Robert Haas verwendet – ein Ausfluss schlechter Wiener Tradition, der auch Pierre Boulez bei seiner Einspielung des Werks mit den Wiener Philharmonikern 1996 zum Opfer gefallen ist. Die Ausgabe, die der langjährige Leiter der Musiksammlung in der Österreichischen Nationalbibliothek erstellt hat, läuft zwar unter dem Titel «Originalfassung», bietet die Symphonie jedoch in einer von Bruckner weder intendierten noch autorisierten Version. Sie reichert vielmehr die zweite Fassung der Partitur, die der Komponist 1890 erstellt hat, mit einzelnen, vom Herausgeber als notwendig, besonders sinnfällig oder schön erachteten Stellen aus der ersten Fassung von 1887 an; sie enthält ausserdem willkürlich gesetzte Aufführungsvorschriften, die vom Komponisten sorgfältig gebaute Spannungsverläufe stören. Mit ihren ungerechtfertigten Eingriffen in die Struktur der nun einmal in zwei Versionen bestehenden Symphonie setzt Haas’ Edition den bedenklichen Umgang früherer Zeiten mit den Werken Bruckners fort; im Konzertsaal von heute hat sie nichts mehr verloren.

So versteht sich, dass Andris Nelsons für seine Aufführung der Achten Bruckners in der Fassung von 1890 die neue, quellenkritische Edition von Leopold Nowak zur Hand genommen hat. Damit entfallen die strukturellen Ungereimtheiten, die sich in der Einspielung der Wiener Philharmoniker finden. Dazu kommt die technische Zuverlässigkeit, die möglicherweise mit Hilfe von Korrektursitzungen hergestellt ist, die aber gerade so gut auf das gemeinsame Atmen von Orchester und Dirigent zurückgehen kann. Prägend tritt aber vor allem die Empathie heraus, mit der Nelsons den Gesten begegnet, die Bruckners Kosmos bilden. Ganz am Anfang der Sinfonie werden die absteigenden Halbtonschritte, treten sie in Oboe und Klarinette auf, dergestalt unterstrichen, dass sie als Klage, als Erinnerung an den barocken Passus duriusculus fühlbar werden. In der Folge gelingt das zweite Thema sehr warm und kantabel, auch wieder sehr von anteilnehmendem Gefühl durchdrungen; und wenn dann die Flöten so wunderbar dazu treten, wie es hier geschieht, stellt sich erfülltes Glück ein.

Das alles geschieht auf der Basis genauer Partiturlektüre – so hat es Nelsons von seinem Mentor Mariss Jansons gelernt. Und es gehorcht spürbar einer immanenten Logik, wo bei Thielemann eher die Subjektivität des Moments überwiegt. Die Generalpausen und die langen Liegetöne im ersten Satz, die gerne verkürzt werden, sie sind in der Leipziger Aufzeichnung sauber ausgeführt und belassen die Musik für den Hörer in ihrem Schlag; Thielemann dagegen nimmt diese Stelle agogisch bewegt, was auch seinen Reiz hat, aber den Rezipienten taumeln lässt. Ob einfach punktiert oder doppelt, wie es zu Beginn des dritten Satzes notiert ist, bei Nelsons macht es einen klaren Unterschied, selbst in dem opulenten, dunkel verschleierten Piano, den das Gewandhausorchester hier einbringt. Und die berühmten Beckenschläge? Bei Thielemann treten sie nach einer kleinen Kunstpause ein, die ihren Effekt vergrössert, während sie Nelsons in strenger Logik direkt anschliesst und sie damit als Vollendung des Vorangegangenen erscheinen lässt.

Beide Dirigenten gehören zu den bedeutenden Vertretern ihres Fachs. Beide Orchester gehören zur Weltklasse. Dennoch ziehe ich die Aufnahme mit dem Gewandhausorchester und Andris Nelsons vor. Sie klingt spätromantisch, ist in ihrem interpretatorischen Habitus aber ganz der Gegenwart verpflichtet. Bei den Wiener Philharmonikern und Christian Thielemann ist es gerade umgekehrt.

 

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 8 (zweite Fassung von 1890). Anton Bruckner: Symphonie Nr. 2 (zweite Fassung von 1877). Richard Wagner: «Die Meistersinger von Nürnberg», Vorspiel zum I. Aufzug. Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons (Leitung). Deutsche Grammophon 4839834 (2 CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 8 (Mischfassung von Robert Haas). Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung). Sony Classical 786582 (CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).

 

Gustav Mahler – in der Tonhalle Zürich und beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Viele Wege führen nach Rom, auch in Sachen Mahler – das war dieser Tage wieder in aller Eindrücklichkeit zu erleben. Beim Lucerne Festival, dessen Sommerausgabe übermorgen zu Ende geht, kamen in kurzem Abstand die Sinfonien Nr. 9 (mit dem Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam) und Nr. 3 (mit dem Boston Symphony Orchestra) zur Aufführung, mit der Nr. 9 wiederum eröffnete das Tonhalle-Orchester Zürich seine Saison. Nicht dass, wer die drei Aufführungen vor dem geistigen Ohr durchziehen liesse, mit falschen Ellen mässe. Das Tonhalle-Orchester kann sich sehr gut an der Seite des Concertgebouworkest zeigen. Beide Formationen sind derzeit ohne Leitung. Das Tonhalle-Orchester hatte vier Jahre lang einen schwachen, allerdings selbstgewählten Chefdirigenten, das Concertgebouworkest hat Daniele Gatti eben erst in die Wüste geschickt, nachdem unangebrachtes Verhalten des Dirigenten gegenüber einigen Musikerinnen an die Öffentlichkeit gebracht worden waren.

In geradezu berauschendem Aufwind befindet sich dagegen das Boston Symphony Orchestra – und mit ihm sein Music Director Andris Nelsons, der an der Spitze dieses legendären Klangkörpers unglaublich an Format gewonnen hat. Das Gastspiel der Bostoner im KKL Luzern war schlechterdings umwerfend; es bildete den krönenden (vorläufigen) Abschluss der Perlenkette an Orchestergastspielen, mit denen das Lucerne Festival nach wie vor punktet. Wie in einem Brennspiegel lässt sich an ihnen zuhörend beobachten, was sich in diesem bedeutenden Segment des Musiklebens tut. Und dass sich in Boston sehr vieles tut, gehört mit in die Reihe der erfreulichen Beobachtungen, die sich in der nicht überall gleich überzeugenden, im Ganzen aber äusserst hochstehenden Serie der Luzerner Sinfoniekonzerte anstellen liessen. Mit zur Exzellenz der Luzerner Veranstaltungen gehören übrigens die von der Dramaturgin Susanne Stähr betreuten Programmhefte, die nicht nur informative Texte mit attraktiven Bebilderungen bringen, sondern dieses Jahr, dem Motto des Festivals entsprechend, eine Reihe liebevoll erzählter «Kindergeschichten» enthielten.

Lenkte Jörg Handsteins Werkeinführung im Programmheft die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu Recht auf das nach den ersten Aufführungen vom Komponisten allerdings zurückgezogene Programm zu Mahlers Dritter, so konnte man in der Aufführung selbst auch ganz anders gelagerte Eindrücke gewinnen. Andris Nelsons, der das Orchester mit weniger Bewegungsaufwand als gewohnt, zudem so gut wie einhändig, wenn auch mit äusserst präzisen Zeichen des Taktstocks leitete und der von ihm einfach alles erhielt – Nelsons ist nun einmal ein Ausdrucksmusiker erster Güte. Und er hat in den vier Jahren an der Spitze der fabulösen Sinfoniker aus Boston in dieser Richtung klar zugelegt. Die vom Orchester erzählte Geschichte ist mit festem Strich gezeichnet und nimmt äusserst konkrete Gestalt an, auch wenn sie in der Einzelheit des Inhaltlichen natürlich abstrakt bleibt. Jedenfalls hört man die Musik Mahlers selten so haptisch, so stark in der Evokation von Bildern.

Es sind Klang-Bilder, die von der mächtigen Geste der selbstgewissen, wenn nicht sogar überheblichen Gründerzeit berichten, die mit den unerbittlichen Militärmärschen und den gewalttätigen Ausbrüchen aber auch prophetisch auf das darauf folgende Unheil des Grossen Kriegs vorausweisen. Zugleich künden sie von der Unbeschwertheit eines in den  Menschen selbst verwurzelten Volksmusikguts, vor allem aber auch von jener unstillbaren Sehnsucht nach dem Gestern, die im dritten der sechs Sätze durchbricht. Und schliesslich gelingt es Nelsons, den Finalsatz zu einer Insel des Friedens werden zu lassen – zu einem Ort, an dem alle Fragen beantwortet sind. Darum hat er den Satz auch nicht in eine pompöse Steigerung und zu einem Letzten an Lautstärke geführt, sondern vielmehr in einen Moment überwältigender klanglicher Grösse. Wie Nelsons dabei die Steigerung kontrollierte, wie sorgsam er sich die Spannung aufbauen liess, das zeugte von der tiefen Musikalität des Dirigenten. Das Orchester (und mit ihm die Mezzosopranistin Susan Graham sowie die Chöre aus dem Leipziger Gewandhaus) folgte ihm dabei kompromisslos. Wann ja hat man die Posaunensoli derart kernig, wann das aus den Echokammern in den Saal dringende Posthorn so klangvoll hören können?

Gründlich anders gelagert die in ihrer Qualität nicht minder hochstehende Aufführung von Mahlers Neunter mit dem Tonhalle-Orchester Zürich. Ähnlich, wie es Bernard Haitink mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest beim Lucerne Festival tat, ging Jukka-Pekka Saraste, der für den erkrankten Semyon Bychkov eingesprungen ist, von der Musik als Musik aus. Im Geiste Eduard Hanslicks arbeitete er mit der «tönend bewegten Form» – doch während Haitink auch in der Luzerner Aufführung von Mahlers Neunter das Geschehen ganz aus sich selber erstehen lässt, stellte Saraste seinen pointiert strukturbezogenen Ansatz deutlich in den Saal. In eher flüssigen Tempi zog er die Sätze durch. Gewiss wurde phrasiert und geatmet, doch das Orchesterrubato, das die Expression erhöht, war auch hier seine Sache nicht. Viel eher machte er sich die Differenzierungen im Dynamischen und die Beziehungen zwischen den einzelnen Instrumentalfarben zu eigen.

Drängend entfaltete sich der Kopfsatz, die punktierten Rhythmen wirkten geradezu springend, und schon hier kam es zu glänzenden Soli, etwa zwischen Horn und Flöte. Der Ländler des zweiten Satzes geriet so derb, wie es sich Mahler möglicherweise gewünscht hat, unglaublich wuchtig auch in den rechts vom Dirigenten sitzenden zweiten Geigen, während die Burleske des dritten Satzes in ihrem Schwung fast beängstigende Züge annahm. Sehr fliessend und damit geradezu als ein Stück moderner Musik klingend schliesslich das Finale, das vielleicht etwas vordergründig klang, am Schluss aber zu jener Ruhe fand, die hier geboten ist. In seiner Konsequenz überzeugte der Zürcher Mahler nicht weniger als der Luzerner. Denn: Viele Wege führen nach Rom.

Bruckner in vibrierender Emotionalität

Andris Nelsons als Gewandhauskapellmeister in Leipzig

 

Von Peter Hagmann

 

Da haben sich zwei gefunden. Seit Andris Nelsons im Februar 2018 sein Amt als Gewandhauskapellmeister angetreten hat, hängt am Leipziger Augustusplatz der Himmel voller Geigen. Und das, obwohl das Gewandhausorchester teilen muss: mit dem Boston Symphony Orchestra, dem der heute vierzigjährige Lette seit Herbst 2014 ebenfalls als Musikdirektor vorsteht. Die Intensität, mit der Nelsons rund um ein kleines Festival zum 275-jährigen Bestehen des Leipziger Spitzenorchesters in sein Amt eingeführt worden ist, liess allerdings darauf schliessen, dass hier eine grosse Liebe ausgebrochen ist. Die ersten CD-Produktionen, Live-Aufnahmen von Sinfonien Anton Bruckners aus dem Gewandhaus, bestätigen das nachdrücklich. Ganz besonders gilt das für die Einspielung der 1884 in Leipzig uraufgeführten Siebten Sinfonie; sie ist im März 2018 entstanden, stammt also aus der Zeit der Amtseinführung.

Im Kopfsatz dieser Sinfonie gibt es gleich zu Beginn eine Stelle, die auf Anhieb zu erkennen gibt, ob die Chemie zwischen dem Orchester und dem Dirigenten stimmt – oder anders gesagt: ob die Interpretation auf solidem Fundament steht. Es handelt sich um den Augenblick, da das Hauptthema, das mit einem gebrochenen, nach oben aufsteigenden Dreiklang in E-dur anhebt, ein zweites Mal vorgestellt wird. Dieser zweite Aufstieg ist nicht nur etwas üppiger instrumentiert als der erste ganz zu Beginn, er mündet auch in einen sehr leise ins Geschehen eintretenden E-dur-Akkord der vier Hörner. Wenn das gelingt, wenn die Hörner im gebotenen Pianissimo, jedoch zum genau richtigen Zeitpunkt und ausserdem in der hier erforderlichen Reinheit einsetzen, ergibt sich ein Moment magischer Wirkung. In der Aufnahme mit Nelsons und dem Gewandhausorchester ist die Stelle phänomenal gelungen – so ausgezeichnet, dass sich leuchtende Glücksgefühle einstellen.

Ja, die Chemie scheint zu stimmen. Die Tradition des in der Tiefe verankerten, dunklen, von Wärme getragenen Klangs, die mit dem Gewandhausorchester verbunden ist, und die ästhetischen Vorstellungen Andris Nelsons‘, die nicht zuletzt auf seinen langjährigen Mentor Mariss Jansons zurückgehen, sie sind so gut wie deckungsgleich. Anders als bei Nelsons‘ Vorgänger Riccardo Chailly, der das Gewandhausorchester zu einem modernen Klangkörper zu formen versuchte – und damit gescheitert ist. Nelsons ist kein Bilderstürmer. Die Aufnahme von Bruckners Siebter, für die er die problematische alte Ausgabe von Robert Haas aus dem Jahre 1994 benützt, stürzt nichts um, sie sucht auch nicht das Unerhörte, sie bleibt vielmehr im Rahmen des Hergebrachten; dort aber will sie das Beste, nicht weniger. Phantastisch, wie Nelsons mit dem klanglichen Angebot, das ihm das Gewandhausorchester macht, umzugehen weiss. Er ist ja ein Farbenmagier der ersten Qualität, in den Proben versteht er die klanglichen Qualitäten äusserst differenziert gegeneinander auszutarieren, und im Konzert ergibt sich eine Art organischer Osmose, die im Fall des Gewandhausorchesters zu aufregenden Ergebnissen führt – die Aufnahme von Bruckners Siebter lässt es hören.

Und dann die Bögen. Hatte Andris Nelsons bei seinen Auftritten mit dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem er einen Korb gab, und mit dem Lucerne Festival Orchestra, von dem er verschmäht wurde, bisweilen überemphatisch, wenn nicht gar hektisch gewirkt, so verbreitet er jetzt, rein akustisch wahrgenommen, alle denkbare Ruhe. Und spannt er auf der Basis einer ebenso spontan wirkenden wie ausgeklügelten Tempodramaturgie Bögen von unerhörter Weite. Und dies in durchaus langsamen Grundtempi. Mit einer Konsequenz sondergleichen werden sie durchgehalten, so dass es etwa am Ende des ersten Satzes zu majestätischer Erhabenheit kommt. Sorgfältig werden sie aber auch nuanciert; dem überraschenden Harmoniewechsel im zweiten Satz begegnet Nelsons mit liebevoller Achtsamkeit, weshalb sich vibrierende Emotionalität einstellt. Dazu kommt vor allem aber die Klangkultur des Gewandhausorchesters, die hier einzigartige Höhe erreicht. Herrlich präsent und zugleich wunderbar eingebettet die Blechbläser, unter denen die vier Wagner-Tuben und die Kontrabasstuba besonders vorteilhaft auffallen. Gerundet und homogen, strahlt das Fortissimo Kraft aus, ohne dass sich Grelles einmischte. Und die einzelnen Orchestergruppen stellen sich mit äusserst charakteristischen Beiträgen ins Licht. Ein starker Auftritt, fürwahr.

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7 in E-dur. Richard Wagner: Trauermarsch aus der «Götterdämmerung». Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons (Leitung). Deutsche Grammophon 4798494 (1 CD).

Lucerne Festival (1) – Das Lucerne Festival Orchestra

 

Bernard Haitink im Sommer 2015 in Luzern - Bild Stefan Deuber, Lucerne Festival
Bernard Haitink im Sommer 2015 in Luzern / Bild Stefan Deuber, Lucerne Festival

 

Peter Hagmann

Trauer auf Erden, himmlischer Trost

Das Eröffnungskonzert mit dem Lucerne Festival Orchestra und Bernard Haitink

 

Sechsundachtzig ist er jetzt. Doch Bernard Haitink ist aktiv wie eh und je, und dabei strahlt er ungebrochene Präsenz aus. Fest hält er das Lucerne Festival Orchestra in der Hand – gründlich anders als Claudio Abbado, der die Zügel zwar auch nicht schleifen liess, den Musikerinnen und Musikern aber doch explizit Freiraum schuf und auf ihr autonomes Handeln setzte. Indes, so klar Haitink den Weg vorgibt, so sehr herrscht bei ihm eine Ruhe, die alles und jedes wie von selbst geschehen zu lassen scheint. Aus sich selbst heraus und ohne jede Unterstreichung durch den Interpreten. Und das ist nun doch wieder sehr nah bei Abbado.

Strukturbezogen und emotional

Haitinks interpretatorische Zurückhaltung ist ebenso Charaktersache, wie sie ästhetischer Prämisse entspricht. In den Proben, die von zielgerichteter Unaufgeregtheit geprägt sind, ordnet er den Verband, sorgt er für die Präzision des Zusammenspiels und die klangliche Balance. Um Fragen des Ausdrucks geht es kaum, da versteht sich, wie er immer wieder betont, manches von selbst, während sich anderes im Augenblick des Konzerts ergibt und sich das Wesentliche ohnehin nonverbal, auch nicht über die Körpersprache vermittelt. Auffassungen solcher Art wurzeln in der Herkunft. Musikalisch aufgewachsen und zum Dirigenten geworden ist Haitink nach 1955 beim Concertgebouworkest Amsterdam, wo zehn Jahre zuvor der Übervater Willem Mengelberg nach einem halben Jahrhundert an der Spitze des Klangkörpers seinen Posten hatte räumen müssen. Mengelberg hatte sich nicht nur politisch korrumpiert, er war auch ausgeprägt romantischen Auffassungen von Interpretation verhaftet, was nach dem Zweiten Weltkrieg als inopportun galt. Dass Haitink als junger, suchender Musiker dazu auf Distanz ging und sich modernen Strömungen anschloss, liegt nahe.

Doch anders als der wenig ältere Pierre Boulez, der als Komponist die Avantgarde und als Dirigent die mit ihr verbundene Sachlichkeit vertrat, war Haitink immer auch ein hochemotionaler Musiker. Mit der skrupulösen Genauigkeit im Lesen des Notentextes und dem moderaten Einsatz der Ausdrucksmittel in dessen Formulierung verbinden sich bei Haitink ein inneres Glühen, ein Mitschwingen und ein Mitempfinden – mit einem Wort: eine vibrierende Empathie. Sichtbar wird sie nicht, sie öffnet sich ausschliessliche dem Hören und dem Mitgehen. Das war schon in den siebziger Jahren so, als Haitink in voller Vitalität dem Amsterdamer Concertgebouworkest als Chefdirigent vorstand und die Wiederentdeckung der Musik Gustav Mahlers als eigentlicher Antipode des überschäumenden Amerikaners Leonard Bernstein vorantrieb. Im hohen Alter des Dirigenten hat sich diese besondere Art der Innerlichkeit noch verstärkt. Denn hinzu traten nun das Charisma gelebten Lebens und der Reichtum der Erfahrung. Haitink dringt damit in Bereiche der Emotionalität vor, die nicht vielen Menschen offenstehen.

Mahlers Vierte

Das alles hat die Aufführung von Mahlers vierter Sinfonie in G-Dur, mit der das Eröffnungskonzert des Lucerne Festival im Sommer schloss, zu einem Moment von magischer Wirkung werden lassen. Tief berührend war das. Für den Dirigenten selbst dürfte der Auftritt ebenfalls eine besondere Dimension besessen haben, denn vor fast fünfzig Jahren, im Sommer 1966, hat Haitink am Pult des Schweizerischen Festspielorchesters in Luzern debütiert – und dabei hat er die Vierte Mahlers zur erstmaligen Aufführung in den Programmen des Festivals gebracht. Und nun das Lucerne Festival Orchestra, an dessen Pult er eineinhalb Jahre nach dem Tod seines Gründers Claudio Abbado trat, ganz ähnlich wie er es im Sommer 2000 getan hat, als er Abbado, der damals schwer erkrankt war, in den beiden Luzerner Konzerten der Berliner Philharmoniker vertreten hat. Für Rührseligkeit war allerdings kein Platz, das ist gerade nicht die Art Haitinks. Das verhinderte auch die ausserordentlich Virtuosität des Orchesters.

Keine Frage: Es ist je länger, desto weniger das Orchester Abbados. Viele der Musikerinnen und Musiker, die explizit aus Freundschaft zu Abbado mitgewirkt haben, sind nicht mehr dabei, die Cellistin Natalia Gutman etwa, der Kontrabassist Alois Posch oder die Klarinettistin Sabine Meyer. Ein besonderes Orchester ist es dennoch geblieben, denn das dem Wirken Abbados entstammende Mahler Chamber Orchestra bildet nach wie vor seinen Kern, und in einem Orchester sind Traditionen bekanntlich nicht an einzelne Mitglieder gebunden. Das war klar zu hören – beispielsweise in der ultraleisen Leichtigkeit, mit der die Celli und die Bässe ihre Sechzehntel-Bewegungen zu Beginn der Sinfonie Mahlers durchmassen, vor allem aber in dem unglaublichen Pianissimo, mit dem Orchester im dritten Satz aufwartete: vor dem explosiven Ausbruch kurz vor Schluss, der darum umso heftiger einfuhr, und im Verdämmern am Ende.

Überhaupt wurde deutlich, wie dieser langsame Satz das Zentrum des Werks bildet – jenseits der künstlichen, nämlich vorgespiegelten Naivität der Sinfonie, jenseits auch ihrer grotesken Brüche, die der Konzertmeister Gregory Ahss mit seiner umgestimmten Geige drastisch herausstellte, und somit jenseits dessen, was sich an diesem Stück als Ausdruck eines wie auch immer gearteten Humors wahrnehmen lässt. Haitink liess den Satz ganz rein erklingen, als ein Geschehen verdichteter, nach innen gewandter Emotionalität. Eindrücklich seine absolut stringente Tempodramaturgie. Langsam ging er den Satz an, wie er es schon im Kopfsatz getan hatte, sorgsam führte er die Tempoveränderungen ein, in aller Ruhe horchte er dem Geschehen nach. Ganz natürlich trat darum zur Trauer über das Vergehen der Zeit und die Endlichkeit eines jeden Daseins ein aus der Transzendenz erwachsender Trost. Grossartig, wie die junge deutsche Sopranistin Anna Lucia Richter im vierten und letzten Satz aufnahm, sich anverwandelte und weiterführte, was die Takte zuvor ausgelegt haben: mit leichter und doch körperreicher Tongebung, mit geschmeidiger und zugleich markanter Formung der Konsonanten wie strahlenden Vokalen und einem herrlichen Legato.

Erstaunlich auch, was sich vor der Pause ereignet hatte. Die Musik Joseph Haydns gehört weder zu den Schwerpunkten im Repertoire von Bernard Haitink, noch ist sie in den grossen Konzertsälen wirklich heimisch. Sie ist vielmehr längst von der historischen Aufführungspraxis absorbiert worden und hat durch sie, wenn auch in einer Nische, neue Konturen erhalten. Viel aus diesem Bereich des Musizierens war in der famosen Aufführung der Sinfonie in C-dur, Hob. I:60, durch das Lucerne Festival Orchestra vorhanden: die kleine Besetzung in deutscher Aufstellung, der sparsame, bewusste Einsatz des Vibratos, die nuancierte, bisweilen zugespitzte Artikulation, die nachdrückliche Zeichnung der einzelnen Gesten – Bernard Haitink steht zwar hoch in den Jahren, aber gleichwohl ganz am Puls der Zeit. Die sechs Sätze umfassende Sinfonie ist ja eigentlich eine Schauspielmusik; sie wartet denn auch mit derben Einfällen auf wie zum Beispiel dem Stimmen der Geigen kurz nach dem Beginn des rasanten Finales. Haitink spielte diese Effekte aus, blieb aber auch dabei nüchtern. Mehr Aufmerksamkeit schenkte er den eher impliziten, im Tonsatz versteckten Witzen – wie viel die Musik Haydns durch adäquate Interpretation gewinnt, an diesem Abend war es einmal mehr zu erfahren. Und Interpretation ist, auch, eine Frage von Persönlichkeit.

Neue Perspektiven

 Das ist es, was das Lucerne Festival Orchestra an seinem Pult braucht, soll es – nicht das Orchester Abbados, wohl aber jener besondere Klangkörper bleiben, zu dem es sein Gründer hat werden lassen: eine Persönlichkeit. Zur Persönlichkeit wird der Mensch aber erst im Verlauf von Jahren. Darum hat die Begegnung mit einem ganz in sich ruhenden, ausstrahlungsmächtigen Dirigenten wie Bernard Haitink dem Orchester neue Perspektiven eröffnet. Seine Mitglieder sind allesamt so gut, dass jenes Quentchen, das ihnen der Dirigent voraus haben muss, erheblich und ausserdem nicht leicht zu finden ist. Michael Haaefliger, der Intendant des Lucerne Festival, scheint es nun aber doch gefunden zu haben.

Vom kommenden Sommer an wird Riccardo Chailly an der Spitze des Lucerne Festival Orchestra stehen; einen auf fünf Jahre ausgelegten Vertrag hat der 1953 in Mailand geborene Gewandhauskapellmeister und Musikdirektor der Scala soeben unterschrieben. Gut Ding will Weile haben, und diese Wahl ist ein gut Ding. Nicht nur werden hier Traditionen weitergeschrieben, war Chailly doch in frühen Jahren Assistent Abbados an der Scala. Es ist hier auch ein Dirigent angekündigt, der über ein äusserst scharfes Profil als Programmgestalter wie als Interpret verfügt. Das Orchester wird sich auf eine neue Ausrichtung einlassen müssen – aber auch können. Und dass Chailly in seinem ersten Konzert 2016 jene achte Sinfonie Mahlers dirigieren wird, die Abbado nachlassender Kräfte wegen nicht mehr zu bewältigen imstande war, dass er also den Luzerner Mahler-Zyklus Abbados vollenden wird, lässt sich eine schönere Hommage denken?