Wagners «Ring» – wie anno dazumals?

«Rheingold» historisch informiert in Köln

 

Von Peter Hagmann

 

«Der Ring des Nibelungen» hat Konjunktur. An mindestens vier Häusern sind derzeit neue Projekte mit der Tetralogie Richard Wagners angesagt. Eine Neuinszenierung hat die Staatsoper Stuttgart in Angriff genommen; wie beim letzten «Ring» an diesem Haus in den Jahren 1999 und 2000 leitet der Stuttgarter Generalmusikdirektor, es ist inzwischen Cornelius Meister, alle vier Teile, während die Regisseure wechseln. Für den gesamten «Ring» gleich bleibt das Produktionsteam in Zürich, wo Andreas Homoki sein Wirken am Opernhaus mit einer Neuinszenierung der Tetralogie innerhalb der letzten vier Spielzeiten seiner Intendanz zu krönen sucht und dafür mit dem neuen Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda zusammenarbeitet. Gleich bleibt das Team auch an den Bühnen Bern; dort wenden sich der neue Operndirektor und Chefdirigent Nicholas Carter gemeinsam mit der jungen Polin Ewelina Marciniak dem «Ring des Nibelungen» zu. Für besonderes Aufsehen sorgt indes das Concerto Köln, das mit dem Dirigenten Kent Nagano in der Kölner Philharmonie eine konzertante Aufführung der Tetralogie in Angriff genommen hat.

Wie bitte? Das bekannte Barockorchester aus Köln legt sich Wagner auf die Pulte? So ist es. Kent Nagano, das ist vielleicht nicht in jedermanns Bewusstsein, arbeitet oft und gern mit dem Concerto Köln – so wie es René Jacobs, Marcus Creed und andere Kollegen aus dem Bereich der alten Musik tun. Nagano kennt keine Berührungsängste. Mit seinen inzwischen siebzig Jahren gehört er zu einer älteren Schicht an Dirigenten, sein ästhetischer Horizont gleicht aber durchaus jenem jüngerer Vertreter seines Standes wie etwa Pablo Heras-Casado, der Praetorius so anregend interpretiert wie Eötvös, Beethoven so gut wie Verdi. Auch Nagano ist klar im klassisch-romantischen Kernrepertoire verankert, bekannt geworden ist er jedoch als Schüler und Vertrauter des Komponisten und Organisten Olivier Messiaen; mit gutem Grund veröffentlicht darum der Bayerische Rundfunk zum 70. Geburtstag Naganos eine 3-CD-Box mit Werken Messiaens, die Dirigent mit dem hauseigenen Symphonieorchester erarbeitet hat. Von Messiaen aus hat sich Nagano ein Profil als Vertreter des Neuen zugelegt. Dass er aber auch über einen Draht zur historisch informierten Aufführungspraxis verfügt, dass er seit geraumer Zeit mit dem Concerto Köln verbunden ist, vom Ensemble gar zum Ehrendirigenten ernannt wurde, das ist weniger verbreitet.

Warum er mit ihnen nicht einmal ein Stück aus seinem Kernrepertoire erarbeite, wurde Nagano in einer Probe mit dem Concerto Köln von einem Kontrabassisten des Ensembles gefragt. Was denn, soll der Dirigent zurückgefragt haben, vielleicht etwa Wagner? Das war die Initialzündung. Beide Seiten nahmen die Herausforderung an: das Orchester aus seiner sprichwörtlichen Neugierde heraus, der Dirigent als exzellenter Musiker, aber auch als äusserst regsamer Intellektueller – wovon sein ebenfalls zum runden Geburtstag erschienenes Buch «10 Lessons of my Life» einmal mehr Zeugnis ablegt. «Der Ring des Nibelungen» in historisch informierter Aufführungspraxis, nicht weniger als das war das Ziel. Um es zu erreichen, wurden die Voraussetzungen für vertiefte Grundlagenarbeit geschaffen. Gegründet wurden 2017 die «Wagner-Lesarten», eine von der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und zahlreichen weiteren Geldgebern getragene Forschungsstelle, die sich im Rahmen von Symposien und im Netz frei zugänglichen Publikationen den weitreichenden Fragen rund um die Interpretation von Wagners «Ring» im Stil seiner Entstehungszeit zuwandte. Was die Forschung hervorbrachte, wurde sodann in Workshops praktisch erprobt. Nach vier Jahren der Vorbereitung konnte jetzt ein erstes Zwischenergebnis vorgelegt werden: «Rheingold», der Vorabend, wie er zu Lebzeiten Wagners geklungen haben könnte.

Sehr anders geklungen hat es in Köln. An die Stelle der satten Homogenität und der oft merklich angehobenen Lautstärke trat ein lichtes, ziseliertes Klangbild, aus dem die charakteristisch eingesetzten instrumentalen Farben und das Netzwerk der Leitmotive deutlich heraustraten. Zum Einsatz kam trotz dem grossen Konzertsaal mit seinen gut zweitausend Plätzen nicht die volle Besetzung, die Wagner verlangt hat. Die Streicher blieben bei einem Aufbau mit vierzehn Ersten Geigen, bei den Harfen gab es deren fünf statt deren sieben. Dementsprechend gelang in der klanglichen Balance nicht alles befriedigend. Die Ambosse in Alberichs unterirdischer Werkstatt, deren sechzehn schrieb Wagner vor, waren kaum zu hören und schon gar nicht in ihrer vertrackten Rhythmik zu verstehen. Ähnliches gilt für die Harfen im Orchester; sie waren ihrer vier, aber noch immer zu leise, während die eine Harfe der Bühnenmusik so positioniert war, dass sie zusammen mit den klagenden Rheintöchtern am Ende des Abends viel zu sehr in den Vordergrund trat. Trotz solcher Einschränkungen war der von Spiellust und Engagement geprägte Auftritt des Concerto Köln, der hohe Aufmerksamkeit auf sich zog, dem vokalen Teil aber allen Raum liess, von erregender Wirkung.

Erzielt wurde diese Wirkung durch die Verwendung von Instrumenten, die der Entstehungszeit von «Rheingold» entsprechen; einige Instrumente sollen sogar eigens nachgebaut worden sein. Schade nur, dass das Instrumentarium im Abendprogramm nicht angeführt war; wenn eine Aufführung so explizit, wie es hier der Fall war, auf dem Beizug chronologisch adäquater Instrumente aufbaut, sollten deren Provenienzen ausgewiesen gemacht werden – wie es etwa bei CD-Aufnahmen alter Musik längst die Regel ist. Nicht nur die Instrumente waren besonders, ungewöhnlich war auch deren Platzierung auf dem Podium. Das Orchester war sozusagen doppelchörig aufgestellt; nicht nur die beiden Geigengruppen standen sich gegenüber, für viele Bläser galt das Nämliche. Die Verbindung wurde hergestellt durch die Reihe der zehn Celli, die sich wie ein roter Faden durch das Orchester zog. Unterstützt wurde die klangliche Aufspreizung durch den ganz selbstverständlichen Verzicht auf das Vibrato als Grundlage der Tonerzeugung bei den Streichern, was zum Beispiel die liegenden Töne herrlich schärfte, sowie durch die explizite Gewichtsetzung, die zum Beispiel ans Licht brachte, wie viele der wichtigen Leitmotive von den Bratschen vorgetragen werden. Vielleicht hatte das aber auch damit zu tun, dass Kent Nagano der Bratsche mit besonderer Empathie begegnet…

So zeigte Wagners Orchester im Kölner «Rheingold» ein ganz anderes Gesicht als gewohnt. Die Sängerinnen und Sänger – sie bildeten übrigens ein exzellentes Ensemble – waren zweifellos dankbar dafür; sie brauchten nirgends zu drücken. Auch sie waren Teil des Forschungsprojekts, denn zuallererst fokussierten die «Wagner-Lesarten» auf den Gesang, vielmehr auf die Beziehung zwischen Text und Musik, also auf die geeignete Aussprache. Wagner hat sich eingehend zur vokalen Gestaltung, insbesondere zur Deklamation geäussert: durch Notizen in den Dirigierpartituren wie durch entsprechende Texte. Seine Musik solle von der Sprache her gehört werden, weshalb der Text jederzeit gut verständlich sein müsse, schrieb der Komponist, und er gab gleich an, wie das zu erzielen sei – durch rollendes «r» beispielsweise und durch die klare Unterscheidung zwischen «g» und «ch», aber auch durch die klare Akzentsetzung («wéhè», nicht «wéhē», wie es in der Schlamperei des Opernalltags üblich ist. Auch auf dieser Ebene wurde versucht, von der erforschten Theorie möglichst viel in die Praxis der Aufführung überzuführen, und auch hier kam es im Kölner «Rheingold» zu unerwarteten Erlebnissen.

Gleich zu Beginn etwa, beim Auftritt der drei Rheintöchter, die mit Ania Vegry (Wolginde), Ida Aldrian (Wellgunde) und Eva Vogel (Flosshilde) von der Unterschiedlichkeit der Timbres her ideal besetzt waren. Dort, wo Woglinde erläutert, dass ans Rheingold nur komme, wer der Liebe entsage, klang das Orchester ganz eben und fiel die Sängerin in den Sprechgesang, was eine unerhörte Unterstreichung zur Folge hatte – eine Praxis, die auf die von Wagner sehr geschätzte Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient zurückgehen soll. Bald schlug aber die Stunde Alberichs, und hier erschien mit Daniel Schmutzhard ein Sänger, der Drang und Not des Aufsteigers allein durch seine musikalische Präsenz zu vermitteln verstand. Mit seinem unerhört klangvollen Bass gab Derek Welton einen fast jederzeit gelassenen Wotan – dem Stefanie Irányi als Fricka selbstbewusst entgegentrat und dem Gerhild Romberger in ihrem eindrücklichen Auftritt als Erda die Leviten las. Sehr überzeugend auch Thomas Ebenstein als Mime, Tijl Faveyts und Christoph Seidl als die Riesen Fasolt und Fafner, Sarah Wegener als Freia sowie Johannes Kammler und Tansel Akzeybek als Donner und Froh. Überraschungsgast des Abends war freilich Thomas Mohr, der die Partie des Loge kurzfristig vom erkrankten Julian Prégardien übernommen hatte und sich deshalb nicht in die Forschungsergebnisse einarbeiten konnte; der deutsche Tenor ist mit seiner Partie jedoch so verwachsen und als Bühnenmensch von derart bezwingender Ausstrahlung, dass seine Auftritte zu Momenten reinen Vergnügens wurden.

«Rheingold» ist ein Spass, der menschlich-allzumenschlichen Götter, der Stabreime, überhaupt der sprachlichen Erfindungen Wagners, nicht zuletzt der szenischen Effekte wegen. Zu Bewusstsein kommt das selten, weil schon der Vorabend vor den drei Tagen im «Ring» vokal wie instrumental oft schwergewichtig daherkommt. Das muss nicht sein. Die historisch informierte Aufführung von «Rheingold» hat vorgeführt, was der helle, farbenreiche Ton, die Präsenz des Textes, die Flüssigkeit der Tempi, die Geschmeidigkeit der Artikulation bewirken. Wenn sie so launig erzählt werden, wie sie geschaffen sind, können diese zweieinhalb Stunden enorm Spass machen. Das darf, bei aller Ernsthaftigkeit der «Wagner-Lesarten», auch sein.

Kent Nagano: 10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt. Unter Mitarbeit von Inge Kloepfer. Berlin-Verlag, Berlin 2021. 206 S.

Olivier Messiaen: La Transfiguration de notre Seigneur Jésus-Christ, Poèmes pour Mi, Chronochromie. Jenny Daviet (Sopran), Pierre-Laurent Aimard (Klavier), Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München, Kent Nagano (Leitung). BR Klassik 900203 (3 CD, Aufnahmen 2017-2019, Publikation 2021).

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