Streichquartett mit Singstimme und Geistertönen

Auf Entdeckungsreise zu den Badenweiler Musiktagen

 

Von Peter Hagmann

 

«Frühling. Erwachen.», so das Motto der Musiktage Badenweiler. Und fürwahr: Welches Frühlings-Erwachen stellte sich an diesem 1. Mai 2019 ein – einem Prachtstag, auf den am frühen Abend ein Konzert der Extraklasse folgte: ein Liederabend mit dem Bariton Christian Gerhaher und mit Gerold Huber, seinem langjährigen Partner am Klavier. Lieder von Robert Schumann und Johannes Brahms standen auf dem Programm, von jenem die «Dichterliebe» und weniger Bekanntes, von diesem zum Beispiel der «Regenlied»-Zyklus in seiner Frühfassung. Ein fulminanter Einstieg; der Saal war randvoll.

In seiner Weise nicht weniger aufsehenerregend geriet der Auftritt des Deutschen Frank Dupree. Seiner jungen Jahre zum Trotz ist er kein Unbekannter, zwei CD-Publikationen und eine Reihe hochrangiger Preise haben auf den Schlagzeuger, Pianisten und Dirigenten aufmerksam gemacht. Vom perkussiven Element in der Musik ausgehend, hat er am Klavier eine spezifische Sensibilität für das Rhythmische entwickelt. Und so präsentierte er in seinem unprätentiös moderierten Auftritt amerikanische Musik, die dem Jazz nahesteht. Zum Beispiel drei Stücke des deutschstämmigen Amerikaners George Antheil, die mit dem Gattungsbegriff der Sonate spielen, dabei aber erfrischend wider den Stachel löcken, mit unanständigen Sekundreibungen reizen und immer wieder den Blues anklingen lassen

Das ist die Welt, die Frank Dupree liebt – und darum bewunderte er schon als Jugendlicher «An American in Paris», die Sinfonische Dichtung von George Gershwin aus dem Jahre 1928, die der Pianist in denkbar brillanter Weise für sein Instrument eingerichtet hat. Grandios, was Dupree alles in den Klaviersatz eingebracht hat. Und blendend, mit welcher Agilität er die Erinnerung eines Amerikaners an die französische Kapitale seinem deutschen Publikum nahegebracht hat. Nicht ohne Interesse nahm es auch die so gut wie unbekannten «Phrygian Gates» entgegen, eine anregende minimalistische Studie des 72-jährigen Amerikaners John Adams. Das Randständige wie das Neue gehörte schon immer zu den Musiktagen in Badenweiler.

Besonders eindrücklich war es beim Kammerkonzert mit dem Quatuor Béla aus Lyon zu erleben. Die «Intimen Briefe», das Streichquartett Nr. 2 von Leoš Janáček, wollte den beiden Geigern Julien Dieudegard und Frédéric Aurier, dem Bratscher Julian Boutin und dem Cellisten Luc Dedreuil nicht restlos gelingen; die Wiedergabe trug Züge des al-fresco-Spiels und entbehrte der Dringlichkeit, die bei diesem Stück möglich wäre. Umso besser gelang zum Schluss Ludwig van Beethovens letztes Streichquartett, das Opus 135 in F-Dur. Leicht und hell im Ton, auch lebendig in der Artikulation die beiden ersten Sätze, sehr berührend das in aller Ruhe und mit Wärme ausgesungene Assai lento in Des-Dur, erheiternd dann das Finale, das in einem einleitenden Grave die Frage stellt, ob es denn wirklich sein müsse, dieses Finale, und das darauf im Allegro die lapidare Antwort gibt: «Es muss sein.»

Im Zentrum der Begegnung mit dem Quatuor Béla, einem der auf neue Musik und erweiterte Präsentationsformen spezialisierten Ensembles, stand «Strings» von Robert HP Platz, ein Stück für Streichquartett, Singstimme und Elektronik. Live-Elektronik, mit deren Hilfe der Klang von Instrumenten transformiert und in Echtzeit über Lautsprecher in den Raum verteilt wird – das ist inzwischen hoch entwickelt und geläufig. Im Stück von Platz kommt freilich kein einziger Lautsprecher zum Einsatz, verwendet wird vielmehr ein Transducer – ein kleines, über Kabel mit einem Computer verbundenes Gerät, das an den Instrumenten des Quartetts befestigt ist und auf ihnen elektronische Signale in hörbare Wellen umsetzt. Das Streichinstrument wird somit zur doppelten Klangquelle; es erzeugt sowohl den eigenen als auch einen sozusagen fremden Ton. Dabei wird dieser fremde Ton vorab eingespielt und von einem Techniker im richtigen Moment an das Instrument gesendet; die Computertechnik ist noch nicht so weit entwickelt, dass die Prinzipien der Live-Elektronik auch beim Transducer zur Verwendung kommen könnten.

Was nach einer technischen Spielerei aussah, war in der Aufführung des Streichquartetts von Robert HP Platz von frappanter Wirkung. Dies umso mehr, als die vier Streicher im René-Schickele-Saal des Kurhauses Badenweiler, einem akustisch überraschend guten Raum, verteilt waren. Als Zuhörer hatte man wahrhaft zu tun, man musste die Ohren spitzen und sich in die verhaltenen Klänge einhören – bis dann mit einem Mal von fern her kommende Geisterstimmen dazu traten. Erst erschienen sie als verfremdete Echos, später wurden sie zu eigenständigen Begleitern, indem sie Obertöne aufnahmen und weiterführten; ein Pizzicato etwa erhielt dadurch eine Art Glöckchen umgehängt und empfing so subtile klangliche Erweiterung. Der Erste, der eine solche Horizonterweiterung versucht hat, war Arnold Schönberg, der in seinem zweiten Streichquartett (fis-Moll, op. 10, 1907/08) eine Singstimme einsetzt. Mit dem Beizug einer Singstimme in «Strings» schliesst Robert HP Platz an diesen historisch bedeutsamen Moment an. Tatsächlich war da buchstäblich Unerhörtes zu erleben. Die Sopranistin Julia Wischniewski und das Quatuor Béla hatten daran ganz wesentlichen Anteil.

In einem halben Jahr geht es weiter in diesem Stil – dem Badenweiler Stil, der durch Klaus Lauer begründet worden ist und durch seine Nachfolgerin Lotte Thaler in eigener Handschrift weitergeführt wird. «Spätlese» verheisst die Herbstausgabe der Musiktage. Sie findet zwischen dem 7. Und dem 10. November 2019 statt. Der grossartige französische Pianist Bertrand Chamayou bietet ein Programm, das von selten gespielten Werken französischer Provenienz ausgeht, um in Prélude, Choral et Fugue von César Franck zu kulminieren. Im zweiten Teil stehen sich Wolfgang Rihm und Franz Liszt gegenüber, von dem die in jeder Hinsicht anspruchsvollen «Réminiscences de Don Juan» erklingen. Am zweiten Abend spielt das vielversprechende amerikanische Dover Quartet Streichquartette von Paul Hindemith und Johannes Brahms. Die beiden Kammerkonzerte des Wochenendes bringen die Begegnung mit dem Atos-Trio, einem deutschen Klaviertrio, das an den hundertsten Geburtstag des Komponisten Mieczyslaw Weinberg erinnert und sich im Finale für eine Abfolge von Raritäten um die Bratscherin Tabea Zimmermann und ihre Freunde schart. Programme, wie sie Lotte Thaler im Verein mit ihren Gästen ersinnt, gibt es nur in Badenweiler.

Erwin Schulhoff: Streichquartett Nr. 1. Pavel Haas: Streichquartett Nr. 2. Hans Krása: Thema und Variationen. Quatuor Béla. Klarthe K077 (Aufnahme 2017).

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.