Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

«…alles für Freuden erwacht»

Die Bamberger Symphoniker und ihr Chefdirigent Jakub Hrůša glänzen mit Mahlers Vierter

 

Von Peter Hagmann

 

Inzwischen sind sie schon gut zusammengewachsen, die Bamberger Symphoniker und ihr im Herbst 2016 angetretener Chefdirigent Jakub Hrůša. Und nun, nach Auseinandersetzungen mit Smetana sowie mit Brahms und Dvořák in etwas eigenartiger Kombination, haben sie für ihre Aufnahmeprojekte Gustav Mahler in den Blick genommen. Das zeugt deshalb von Mut, weil die Gesamteinspielung der Sinfonien Mahlers mit Jonathan Nott, dem Vorgänger Hrůšas in Bamberg zwischen 2000 und 2016, Marksteine gesetzt hat, die nicht vergessen sind. Aber gesperrt ist der Komponist natürlich nicht – weshalb die Bamberger und Hrůša im Januar 2020 mit Mahlers Vierter auf Tournee gegangen sind. Wenig später trat der Lockdown in Kraft, und da war auch in Bamberg guter Rat teuer. Der Möglichkeit beraubt, Konzerte zu geben, suchte das Orchester nach Wegen, gleichwohl tätig zu sein – mit Aufnahmen eben. Schutzkonzepte wurden entworfen, der Joseph-Keilberth-Saal in Bamberg etwas adaptiert, damit die vorgegebenen Abstände eingehalten werden konnten. Im Juli 2020 wurde Mahlers Vierte mit leicht reduzierter Streicherbesetzung – das Bild im Booklet zeigt elf Mitglieder der Ersten Geige – in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet. Und so aufgezeichnet, dass der Höreindruck absolut gültig wirkt.

Die Aufnahme wartet mit manch blendend gelungener Lösung, auch manch überraschender Anregung auf. Hrůša wählt langsame Tempi, allerdings nicht so grossartig gemessene und konsequent durchgehaltene wie Riccardi Chailly in seiner Aufnahme mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest von 1999. Hrůša steigt sehr gezügelt in den Kopfsatz ein, bleibt aber nicht im gewählten Zeitmass, sondern steigert es mächtig. Und den ersten schnelleren, mit «frisch» überschriebenen Teil lässt er nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg über ein Accelerando eintreten. Solche auch andernorts auftretenden Massnahmen unterlaufen die plötzlichen Gemütswechsel, ja die Brüche, die dem Werk auch eingeschrieben sind, und führen zu Verharmlosungen. Im Ganzen ist die äusserst belebte, von Mahler detailliert eingeforderte Tempopalette jedoch ausgezeichnet getroffen – dies in Verbindung mit einem hellen, sehr durchhörbaren Ton. Das erlaubt dem Dirigenten, die kontrapunktischen Reize der Partitur in aller Klarheit hörbar zu machen – und in der Durchführung des Kopfsatzes das von der Zweiten Trompete vorgetragene Schicksalsmotiv, mit dem später dann die Fünfte Sinfonie anheben sollte, erschütternd heraustreten zu lassen. Übrigens sind in dieser Einspielung die Trompeten, die in Smetanas «Vaterland», der 2016 erschienenen Debütaufnahme Hrůšas mit den Bambergern, noch arg amerikanisch herausstachen, makellos ins klanglich Ganze eingebunden.

Sehr scharf gezeichnet kommt das das Scherzo des zweiten Satzes daher. Mit seinem bewusst verstimmten Instrument wird der Konzertmeister hier zu einem echten Teufelsgeiger, die Holzbläser sorgen mit aufgerichteten Schalltrichtern für grelle Farben, während die von Mahler vorgeschriebenen Glissandi in ihrer Ausdrücklichkeit schräge Akzente setzen. Das Trio beantwortet die Szenerie dann in wunderschöner Langsamkeit. Ruhig ausgesungen auch der dritte Satz, in dem sich eine ebenso durchdachte wie natürlich wirkende Tempodramaturgie entfaltet. Eindrücklich der Höhepunkt des Satzes, an dem die hervorragend aufgestellten Bamberger ein Tutti von grossartiger Klangpracht bieten. Und dann das Finale mit dem Sopransolo. Anna Lucia Richter erscheint hier nicht so frei wie bei der denkwürdigen Aufführung von Mahlers Vierter mit Bernard Haitink zur Eröffnung des Lucerne Festival 2015. Sie pflegt ein fast übertriebenes Legato, das durch ebenfalls zugespitzte Konsonanten unterteilt wird; gefragt wäre hier engelsgleiche, auch von der Sprache ausgehende Leichtigkeit, wie sie Camilla Tilling oder Mojca Erdmann, Christine Schäfer oder Christine Whittlesey geboten haben. Im weiteren Verlauf lässt Anna Lucia Richter den Manierismus des Satzbeginns jedoch glücklich hinter sich, so dass am Ende der Sinfonie tatsächlich «alles für Freuden erwacht».

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4. Anna Lucia Richter (Sopran), Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša (Leitung). Accentus 30532 (CD, Aufnahme 2020, Produktion 2021).

Auf Erfolgskurs

Zu Besuch im LAC Lugano

 

Von Peter Hagmann

 

Lugano ist definitiv die Reise wert. Am Ende der Via Nassa findet sich die Kirche Santa Maria degli Angioli aus dem frühen 16. Jahrhundert; sie birgt ein grandioses Fresko mit der Passionsgeschichte von Bernardino Luini von 1529 – der Besuch drängt sich jedes Mal auf. Doch nur wenige Schritte weiter, und schon steht man auf der ausladenden Piazza, die zu dem 2015 eröffneten LAC, dem Kulturzentrum «Lugano Arte e Cultura» gehört. Der Blick von diesem Platz auf den Lago di Lugano raubt einem den Atem. Im Innern gibt es ein Museum mit einer permanent gezeigten Sammlung und temporären Ausstellungen sowie die akustisch vorzügliche Sala Teatro, in der nicht nur Schauspiel, sondern auch Musik geboten wird. Klassische Musik.

Und was für welche. Eben erst waren die Berliner Philharmoniker mit dem Gastdirigenten Daniel Harding da, vor ihnen gaben sich die Wiener Philharmoniker mit Michael Tilson Thomas die Ehre. Das Orchestre des Champs-Elysées trat mit seinem Dirigenten Philippe Herreweghe und der Geigerin Isabelle Faust auf, Claudio Abbados Orchestra Mozart kam mit Bernard Haitink, das Bayerische Staatsorchester mit Kirill Petrenko und Patricia Kopatchinskaja an der Violine. Der Altmeister Maurizio Pollini spielte Klavier, die Newcomers Daniil Trifonov und Igor Levit folgten ihm. In Residenz eingeladen ist der Schweizer Emmanuel Pahud, der wohl bekannteste Flötist unserer Tage; engagiert war er zum Beispiel mit dem mit dem glanzvoll auferstandenen Orchestre de la Suisse Romande und seinem Chefdirigenten Jonathan Nott. Als ein über die gesamt Spielzeit gespanntes Festival erscheint das Programm.

Verantwortlich dafür ist Etienne Reymond, der als Intendant von Lugano Musica nun in seiner vierten Saison steht und das Angebot mächtig erweitert hat. Sein Handwerk gelernt und sein Netzwerk aufgebaut hat er beim Tonhalle-Orchester Zürich, wo er lange Jahre das künstlerische Betriebsbüro geleitet hat. Im LAC schöpft er aus dem Vollen – und das dergestalt, dass Lugano inzwischen zu einem grossen Punkt auf der musikalischen Landkarte gekommen ist. Der akustisch hervorragende Saal, das reizvolle Ambiente und die künstlerische Linie – das das sind die Assets, die Reymond in die Waagschale werfen kann. Riccardo Muti war mit seinem Orchestra Cherubini da und auf Anhieb begeistert; er komme wieder, soll er gesagt haben, dann aber mit dem Chicago Symphony Orchestra. Reymond geht es aber nicht um eine Perlenkette grosser Namen; was ihm vorschwebt, ist eine umfassende, nach vielen Seiten offene künstlerische Idee.

Das zeichnet sich jetzt mehr und mehr ab. Inzwischen gibt es einen roten Faden, der durch die Programme führt. Die Zwanziger Jahre sind es in dieser Saison, wofür etwa ein «concert salade» mit Werken aus dem Umkreis des Groupe des Six mit Musikern aus dem Tessin stand. Ja, auch Kammermusik hat ihren Platz bei Lugano Musica, zum Beispiel das bereits gut etablierte Streichquartett-Wochenende im März, das einen Blick in eine sehr lebendige Szene wie auf den Reichtum des Repertoires werfen lässt. Und stark gewachsen ist das Angebot an Nebenveranstaltungen – eine Art der Bereicherung, welche die Musik in Verbindung bringt mit ihrer eigenen Geschichte, mit anderen Künsten, mit intellektuellen Strömungen. Einen solchen Ansatz verfolgt Etienne Reymond mit «Pasqua a Lugano», einem seit 2018 durchgeführten Festival. Es bietet nicht nur hochstehende Konzerte, sondern auch ein «Caffè degli Artisti», das im grosszügigen Foyer des LAC zusammen mit den Interpreten und auswärtigen Referenten die aufgeführten Werke in ihren zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen sucht.

Quicklebendig erscheint die Atmosphäre in den Konzerten von Lugano Musica, das erwies auch das Gastspiel der Bamberger Symphoniker mit ihrem inzwischen in seiner dritten Saison stehenden Chefdirigenten Jakub Hrůša. «Mein Vaterland», die sechsteilige Folge Sinfonischer Dichtungen von Friedrich Smetana, die man selten als Ganzes hört, war angesagt. Das Orchester befindet sich in ausgezeichneter Verfassung. Allerdings klingt es nicht mehr so hell, beweglich und transparent wie unter Hrůšas Vorgänger Jonathan Nott; es weist wieder mehr Grundtönigkeit auf und operiert mit einem kompakten Gesamtklang, der von kräftigen, bisweilen scharfen Blechbläsern dominiert wird. Genau darin lag die Schwäche der Aufführung von «Mein Vaterland» in Lugano: Es gab zu viel von der immergleichen Wucht, zu wenig Differenzierung in der klanglichen Balance und damit zu wenig strukturelle Klarheit. Etwas extravertiertes, um nicht zu sagen: Amerikanisches lag über der Wiedergabe. Keine Frage jedoch, dass sich die Bamberger nach wie vor zu den besten Orchestern Europas zählen dürfen.

Beim Label Tudor sind Aufnahmen mit den Bamberger Symphonikern und ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša erhältlich. Unter ihnen Friedrich Smetana: Mein Vaterland, Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4 und Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 sowie Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 3 und Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8.

Zwischen Bamberg und Genf

 

11 Jonathan Nott_2011_ Paul Yates
Jonathan Nott, hier noch in Bamberg, an der Arbeit / Bild Bamberger Symphoniker, Paul Yates

 

Peter Hagmann

Die Musik als Ganzes

Abschluss der Ära Jonathan Nott bei den Bamberger Symphonikern

 

Am Ende gingen die Emotionen hoch. Gab es Reden, Geschenke, Stehapplaus noch und noch. Bamberg, die Symphoniker der Stadt und ihr Publikum nahmen fröhlich und dankbar Abschied von Jonathan Nott, der nach sechzehn Jahren des Wirkens als Chefdirigent weiterzieht: zum Orchestre de la Suisse Romande in Genf, wo ihn ein anspruchsvoller Neubeginn erwartet. Welches Glück das Westschweizer Orchester hat, bei dem Bamberger Abschiedsabend war es mit Händen zu greifen. Wenn die Chemie stimmt, vermag Nott ein Orchester in einer besonderen Weise zusammenzuschweissen. Unter seiner Leitung agieren die Bamberger Symphoniker als ein Klangkörper im eigentlichen Sinn: geschlossen im Klang, dabei hochgradig agil und leuchtend bis weit in die Verästelungen der Binnenstimmen hinein. Dazu kommt, dass Nott eine ganz eigene Art der Gegenwärtigkeit erzielt – «Ein Heldenleben», die Sinfonische Dichtung von Richard Strauss, liess es zum Schluss des Bamberger Abschiedskonzerts noch einmal hören. Plastisch durchgeformt war das, geradezu körperlich in der klanglichen Ausstrahlung, dazu von einer Transparenz sondergleichen. Das Bamberger Orchester gab dem scheidenden Chefdirigenten sein Bestes.

Von Ligeti zu Purcell und zurück

Eine Carte blanche hatte Jonathan Nott für diesen Abend erhalten, und so stellte das Programm heraus, was diesen grossartigen Musiker auszeichnet. Der virtuosen Spätromantik gingen im ersten Teil alte und neue Musik in enger Verzahnung voraus. Für Nott beginnt die Musik nicht erst bei Haydn, und sie endet nicht mit Strauss. Weshalb es denn drei Orchesterstücke von György Ligeti gab, in die alternierend Fantasien für Gambenconsort von Henry Purcell eingelassen waren. Neue Musik ist Nott selbstverständlich, zu Beginn seiner Amtszeit in Bamberg war er ja auch noch Chefdirigent des von Pierre Boulez gegründeten Pariser Ensemble intercontemporain; und mit Ligeti ist er besonders vertraut, hat er doch dessen Orchesterwerke mit den Berliner Philharmonikern auf CD eingespielt. Bei «Atmosphères», einer ruhig liegenden und zugleich fein bewegten Klangfläche, aus der bisweilen einzelne Lineaturen heraustreten, liessen Nott und das fabelhaft ausbalancierte Orchester die ganze Schönheit dieser Partitur aus den sechziger Jahren aufleben. Die vorzügliche Aufführung machte hörbar, welch ungeheuren Tabubruch Ligeti (und gleichzeitig mit ihm, aber unabhängig von ihm Friedrich Cerha) hier herbeiführte. Einen krasseren Widerspruch zwischen dieser auf Sinnlichkeit setzenden Musik und der ganz auf das Strukturelle ausgerichteten Avantgarde ist schwer vorstellbar.

Während man diesem Gedanken nachsinnen konnte, dunkelte das Licht auf dem Orchesterpodium in der Konzerthalle Bamberg ab und fiel gleichzeitig ein Kegel auf das ganz oben postierte Gambenquartett von Hille Perl, Frauke Hess, Julia Vetö und Christian Heim. Nicht grösser und nicht reizvoller hätte der Gegensatz zwischen der schillernden Pracht Ligetis und der in ganz anderer Weise klangvollen Strenge Purcells ausfallen können. Das Quartett um Hille Perl verlieh den ungewohnten Modulationen und den kontrapunktischen Verästelungen Purcells Sinn und Reiz zugleich. Dass nach erneutem Lichtwechsel, aber ohne Unterbrechung durch Beifall, Ligetis «Lontano» aus dem letzten Ton Purcell herauswuchs, unterstrich die Botschaft, dass die Musik ein Ganzes bilde, das von vorgestern bis heute reiche. So hat es Jonathan Nott auch bei der Gesamtaufführung der Sinfonien Franz Schuberts angelegt, denen als Reflexe neue, eigens für die Bamberger Symphoniker geschriebene Werke begegneten.

Im Zeichen der Nachhaltigkeit

Nach dem zweiten Einwurf mit Purcell kam noch die «San Francisco Polyphony» Ligetis, dann war Pause, und schliesslich folgte das «Heldenleben» in der für dieses Stück fast zwingenden deutschen Orchesteraufstellung mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten. Mit Jonathan Nott ist das ohnehin gute Orchester, das 1946 aus ehemals in Prag tätigen Musikern deutscher Kultur gebildet wurde, noch einen Schritt besser geworden. Zahlreich sind die Höhepunkte in den 650 Abenden, die Nott am Pult der Bamberger gestanden hat – bis hin zu dem schon legendären «Ring des Nibelungen», der halbszenischen Produktion beim Lucerne Festival im Wagner-Jahr 2013. Von der auf Nachhaltigkeit angelegten Aufbauarbeit zeugt auch die von dem Schweizer Label Tudor neu aufgelegte CD-Box mit den Aufnahmen der Sinfonien Gustav Mahlers, die Jonathan Nott und die Bamberger Symphoniker in den Jahren 2005 bis 2011 erstellt haben. Vom merklich gewachsenen Selbstbewusstsein des Orchesters berichtet der liebevolle, grossformatige Bildband, den die Schriftstellerin Nina Gomringer und der Photograph Andreas Herzau bei Hatje Cantz in Berlin vorgelegt haben. Stolz ist allerdings am Platz, das bekräftigt auch die von der Deutschen Grammophon vorgelegte Geschichte des Orchesters in einer Box mit achtzehn CDs.

Jetzt ist dann Sommerpause. Danach geht es unter neuen Vorzeichen weiter. Die alles andere als einfache Nachfolge Jonathan Notts tritt der erst 34-jährige Tscheche Jakub Hrůša an. Und Nott zieht nach Genf, woher 1985 der nachmalige Ehrendirigent Horst Stein nach Bamberg gekommen ist. Allseits viel Glück.