Vielschichtig, farbenreich: Mahlers Vierte

Eine neue Aufnahme mit Les Siècles und François-Xavier Roth

 

Von Peter Hagmann

 

In der jüngsten Nummer der «Schweizer Musikzeitung» klagt Alfred Brendel darüber, dass heute manche Streicherin, mancher Streicher mit wenig, bisweilen gar keinem Vibrato spiele. Das sei legitim für Musik aus der Barockzeit, nicht aber für solche aus dem späten 18. Jahrhundert (und somit auch aus dem darauffolgenden Säculum). Die Einschränkung des Vibratos führe zu einem Verlust an Persönlichkeit, auch zu einem Mangel an Wärme und Farbe, Charakter und Nuance. Über 91 Jahre alt, darf der berühmte Pianist, der inzwischen Streichquartette in Musik von Beethoven und Schubert unterweist, durchaus dieser Meinung sein – auch wenn sie überholt ist.

Sie basiert auf Prämissen aus dem mittleren 20. Jahrhundert und ist durch die Erkenntnisse der historisch informierten Spielweise doch merklich relativiert worden. Das bewusst und mit Geschmack als Verzierung eingesetzte, nuanciert angewandte Vibrato auf der Basis des geraden Tons gehörte in früheren Zeiten zu den Grundpfeilern der musikalischen Praxis, bis es in der jüngeren Vergangenheit durch die Auffassung ersetzt wurde, dass nur ein vibrierter Ton ein schöner Ton sei. Mittlerweile haben zahlreiche Interpretinnen und Interpreten jedoch vorgeführt, dass das Dauervibrato nicht sein muss, dass der gerade Ton keineswegs Gegenteil von Mangelerscheinungen, vielmehr zu ganz ausserordentlichen Hörerlebnissen führt.

Zu diesen Interpreten gehört François Xavier Roth. Als Kölner Generalmusikdirektor hat der gut fünfzigjährige Franzose das Gürzenich-Orchester fabelhaft vorangebracht; in der Branche ist er ebenfalls gut verankert, auch als Spezialist der neuen Musik, als der er sich an der Spitze des ehemaligen SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg einen Namen gemacht hat. Vor allem aber hat er mit dem von ihm 2003 gegründeten «Originalklang-Orchester» Les Siècles bemerkenswerte Auslegungen auch und gerade der Musik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erarbeitet. Auslegungen, die nicht zuletzt vom sorgfältigen Einsatz des Vibratos leben – wie sich jetzt wieder, in der neuen Aufnahme von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 4 in G-dur erweist.

Schon im Kopfsatz wird an zahlreichen Stellen deutlich, welchen Zuwachs an Charakterisierung der gerade Ton auszulösen vermag – etwa beim Übergang von der Exposition zur Durchführung, in dem sich Geschehen beruhigt. Vollends gilt es für den traumverlorenen dritten Satz, der in der Aufnahme mit Les Siècles in einer gläsernen Durchsichtigkeit und einer Zartheit erklingt, die einem noch und noch Schauer über den Rücken schickt. Im fröhlichen Finale, einem nur scheinbar naiven, weil höchst kunstvollen Satz, schliesst sich die Sopranistin Sabine Devieilhe dem sensiblen Umgang mit dem Vibrato an. Der streng zuschauende Sankt Peter im Himmel bekommt gerade Töne, die Englein, die das Brot backen, und die zweifellos üppige Sankt Martha in der Küche werden durch das Vibrato ausgezeichnet.

Zum sorgsamen, sinnreichen Umgang mit diesem heiklen Ausdrucksmittel kommen die Instrumente aus der Entstehungszeit der Komposition, die den Mitgliedern von Les Siècles zur Verfügung stehen; sie schaffen einen hellen, leichten, farbenreichen Ton – zu dem das schlanke Timbre von Sabine Devieilhe, die übrigens auch im Deutschen eine ausgezeichnete Diktion pflegt, hervorragend passt. Doch nicht nur die sogenannten Originalinstrumente, auch nicht die vergleichsweise kleine Besetzung des Streicherkörpers macht die Besonderheit der Aufnahme aus. Mit dem historisch informierten Zugang verbindet sich vielmehr ein Blick auf die Partitur, der tief ins Innere dringt und Schichten freilegt, die andernorts im Sound untergehen. An Emotion fehlt es darob freilich keineswegs.

Den vom Komponisten als bedächtig und gemächlich bezeichneten Eröffnungssatz nimmt François-Xavier Roth so flüssig, wie es seinerzeit Pierre Boulez tat. Damit muss, ja kann man sich abfinden. Es ist nun einmal so, dass sich der der eher gemütliche österreichische Lebensrhythmus und der eher schnelle französische Puls grundlegend voneinander unterscheiden, das ist auch bei den Märschen und den Walzern zu beobachten. Auf der Basis des behenden Zeitmasses entwickelt sich nun allerdings eine da und dort überraschende, im Ganzen aber bemerkenswert stringent wirkende Tempodramaturgie, die das Diskontinuierliche der Partitur ans Licht hebt. Noch mehr fällt ins Gewicht, wie der Dirigent die Aufmerksamkeit auf die Spannungen im Inneren der musikalischen Vorgänge richtet. Treten wenige Takte nach Beginn der Sinfonie die Hörner heraus, stellen sich sogleich und deutlich akzentuiert die Fagotte dazu – das zu hören macht Lust.

Ebenso ausgeprägt sind die Dialoge zwischen den Ersten und den Zweiten Violinen gestaltet; darin liegt der Vorteil der deutschen Tradition, gemäss der die beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten sitzen. Und mit geradezu dramatischem Aplomb erscheint kurz vor der Reprise des Kopfsatzes jene Trompeten-Fanfare, mit der Mahler zwei Jahre später seine fünfte Sinfonie eröffnen wird. In gleicher Weise nachdrücklich wird mit den zahllosen Glissandi umgegangen, die nie unterspielt werden. Sie sind weder technischem Unvermögen noch dem Zufall geschuldet, sondern vom Komponisten bewusst als Anklang an den Kitsch eingesetzt.

Etwas umgewöhnen muss man sich schon, wenn man Mahlers Vierter in der anregenden Deutung von François-Xavier Roth begegnet. Wohliges Zurücklehnen, wie es mit dieser gerne als naiv, wenn nicht gar kindlich empfundenen Sinfonie verbunden wird, bietet sich hier nicht an. Schon eher das Glück der Entdeckung – der Erkundung eines viel reicher gegliederten Tonsatzes als üblicherweise empfunden, des Vergnügens an überraschenden Einwürfen und prägnanten Instrumentalfarben. Nicht wenig trägt dazu das Orchester Les SIècles bei, eine voll ausgebaute sinfonische Formation aus der Richtung der historischen Praxis, die, was die technische Kompetenz und die klangliche Agilität betrifft, keine Wünsche offen lässt.

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4 in G-dur. Sabine Devieilhe (Sopran), Les Siècles, François-Xavier Roth (Leitung). Harmonia mundi 905357 (CD, Aufnahme 2021, Produktion 2022).

«…alles für Freuden erwacht»

Die Bamberger Symphoniker und ihr Chefdirigent Jakub Hrůša glänzen mit Mahlers Vierter

 

Von Peter Hagmann

 

Inzwischen sind sie schon gut zusammengewachsen, die Bamberger Symphoniker und ihr im Herbst 2016 angetretener Chefdirigent Jakub Hrůša. Und nun, nach Auseinandersetzungen mit Smetana sowie mit Brahms und Dvořák in etwas eigenartiger Kombination, haben sie für ihre Aufnahmeprojekte Gustav Mahler in den Blick genommen. Das zeugt deshalb von Mut, weil die Gesamteinspielung der Sinfonien Mahlers mit Jonathan Nott, dem Vorgänger Hrůšas in Bamberg zwischen 2000 und 2016, Marksteine gesetzt hat, die nicht vergessen sind. Aber gesperrt ist der Komponist natürlich nicht – weshalb die Bamberger und Hrůša im Januar 2020 mit Mahlers Vierter auf Tournee gegangen sind. Wenig später trat der Lockdown in Kraft, und da war auch in Bamberg guter Rat teuer. Der Möglichkeit beraubt, Konzerte zu geben, suchte das Orchester nach Wegen, gleichwohl tätig zu sein – mit Aufnahmen eben. Schutzkonzepte wurden entworfen, der Joseph-Keilberth-Saal in Bamberg etwas adaptiert, damit die vorgegebenen Abstände eingehalten werden konnten. Im Juli 2020 wurde Mahlers Vierte mit leicht reduzierter Streicherbesetzung – das Bild im Booklet zeigt elf Mitglieder der Ersten Geige – in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet. Und so aufgezeichnet, dass der Höreindruck absolut gültig wirkt.

Die Aufnahme wartet mit manch blendend gelungener Lösung, auch manch überraschender Anregung auf. Hrůša wählt langsame Tempi, allerdings nicht so grossartig gemessene und konsequent durchgehaltene wie Riccardi Chailly in seiner Aufnahme mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest von 1999. Hrůša steigt sehr gezügelt in den Kopfsatz ein, bleibt aber nicht im gewählten Zeitmass, sondern steigert es mächtig. Und den ersten schnelleren, mit «frisch» überschriebenen Teil lässt er nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg über ein Accelerando eintreten. Solche auch andernorts auftretenden Massnahmen unterlaufen die plötzlichen Gemütswechsel, ja die Brüche, die dem Werk auch eingeschrieben sind, und führen zu Verharmlosungen. Im Ganzen ist die äusserst belebte, von Mahler detailliert eingeforderte Tempopalette jedoch ausgezeichnet getroffen – dies in Verbindung mit einem hellen, sehr durchhörbaren Ton. Das erlaubt dem Dirigenten, die kontrapunktischen Reize der Partitur in aller Klarheit hörbar zu machen – und in der Durchführung des Kopfsatzes das von der Zweiten Trompete vorgetragene Schicksalsmotiv, mit dem später dann die Fünfte Sinfonie anheben sollte, erschütternd heraustreten zu lassen. Übrigens sind in dieser Einspielung die Trompeten, die in Smetanas «Vaterland», der 2016 erschienenen Debütaufnahme Hrůšas mit den Bambergern, noch arg amerikanisch herausstachen, makellos ins klanglich Ganze eingebunden.

Sehr scharf gezeichnet kommt das das Scherzo des zweiten Satzes daher. Mit seinem bewusst verstimmten Instrument wird der Konzertmeister hier zu einem echten Teufelsgeiger, die Holzbläser sorgen mit aufgerichteten Schalltrichtern für grelle Farben, während die von Mahler vorgeschriebenen Glissandi in ihrer Ausdrücklichkeit schräge Akzente setzen. Das Trio beantwortet die Szenerie dann in wunderschöner Langsamkeit. Ruhig ausgesungen auch der dritte Satz, in dem sich eine ebenso durchdachte wie natürlich wirkende Tempodramaturgie entfaltet. Eindrücklich der Höhepunkt des Satzes, an dem die hervorragend aufgestellten Bamberger ein Tutti von grossartiger Klangpracht bieten. Und dann das Finale mit dem Sopransolo. Anna Lucia Richter erscheint hier nicht so frei wie bei der denkwürdigen Aufführung von Mahlers Vierter mit Bernard Haitink zur Eröffnung des Lucerne Festival 2015. Sie pflegt ein fast übertriebenes Legato, das durch ebenfalls zugespitzte Konsonanten unterteilt wird; gefragt wäre hier engelsgleiche, auch von der Sprache ausgehende Leichtigkeit, wie sie Camilla Tilling oder Mojca Erdmann, Christine Schäfer oder Christine Whittlesey geboten haben. Im weiteren Verlauf lässt Anna Lucia Richter den Manierismus des Satzbeginns jedoch glücklich hinter sich, so dass am Ende der Sinfonie tatsächlich «alles für Freuden erwacht».

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4. Anna Lucia Richter (Sopran), Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša (Leitung). Accentus 30532 (CD, Aufnahme 2020, Produktion 2021).