Seiner Entstehungszeit verhaftet und doch so gegenwärtig

«Intolleranza 1960» von Luigi Nono an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Maarten Vanden Abeele / Salzburger Festspiele

Die Pandemie ist alles andere als überstanden – die komplexe, aber mit landesüblicher Gelassenheit durchgeführte Eingangskontrolle, die Ermahnungen, für welche die Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler höchstselbst zum Mikrophon gegriffen hat, die allgegenwärtigen FFP2-Masken in den bis auf den letzten Platz besetzten Sälen liessen keinen Zweifel daran. In der Sache selbst sind sich die Salzburger Festspiele aber treu geblieben – und dies in einem Mass, das Vorbildcharakter trägt. Dafür spricht das Memorandum, das zum Jubiläum seines hundertjährigen Bestehens im letzten Sommer von seinen leitenden Gremien für das Festival proklamiert worden ist. Mehr noch zeugt vom selbstbewussten Überlebenswillen das Programm, das es an Reichhaltigkeit und Eindringlichkeit nicht fehlen liess. Es wurde für 2020 entworfen, konnte damals der Umstände wegen jedoch nur in Teilen realisiert werden und wurde darum, ebenfalls partiell, in diesen Sommer übernommen.

«Von allem das Höchste!» – das war die Devise, die sich die Festspielgründer Max Reinhart und Hugo von Hofmannsthal vorgegeben hatten. Sie gilt noch heute, nicht nur auf dem Papier des Memorandums, sondern und erst recht in der Salzburger Dramaturgie Markus Hinterhäusers, der als Intendant in seinem fünften Sommer steht. Offenheit und Beziehungsreichtum prägen sein Programm im Gesamten wie im Einzelnen. Christian Thielemann war da, mit Strauss und Bruckner, Riccardo Muti durfte sich zu seinem achtzigsten Geburtstag und seinem fünfzigsten Salzburger Sommer feiern lassen, Cecilia Bartoli und Anna Netrebo reichten sich die Klinke. Anwesend waren und sind aber auch Johann Sebastian Bach und Morton Feldman, beide auf den ihnen gewidmeten Inseln des Innehaltens mitten im brummenden Betrieb. Von Feldman gab es mit der Sopranistin Sarah Aristidou, dem ORF-Radiosymphonieorchester Wien und dem Dirigenten Roland Kluttig mit «Neither» die 1977 uraufgeführte Nicht-Oper auf einen Text von Samuel Beckett. Und wer für die fabelhafte Aufführung die Kollegienkirche betrat, sah sich mitten im Bühnenbild zu «Don Giovanni» in der Lesart des italienischen Theaterkünstlers Romeo Castellucci. Schade nur, dass die für 2020 geplanten «Moments musicaux» nicht in diesen Sommer übernommen werden konnten. In dieser neuen, reizvoll flexiblen Konzertreihe sollten jeweils nur der Name eines Interpreten sowie Datum, Zeit und Ort bekannt sein; was von wem vorgetragen werde, sollte erst zu Konzertbeginn bekannt werden.

Nicht fehlen durfte in dem um ein Jahr verlängerten Jubiläumsprogramm Luigi Nono, der 1990 verstorbene Komponist aus Venedig, mit dem die Salzburger Laufbahn Markus Hinterhäusers vor bald drei Jahrzehnten begonnen hat. Auf «Prometeo» (1993 und 2011) sowie «Al gran sole carico d’amore» (2009) folgte als drittes der drei Musiktheaterprojekte Nonos diesen Sommer «Intolleranza 1960», die 1961 im Teatro La Fenice Venedig zu tumultuöser Uraufführung gekommene «azione scenica» auf ein vom Komponisten selbst zusammengestelltes Libretto. Das Stück atmet durch und durch den Geist seiner Entstehungszeit, textlich wie musikalisch. Als es entstand, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Vergangenheitsbewältigung in Italien noch kaum in Gang gekommen, waren vielmehr, zumal für die hochsensibilisierten linken Kreise, Spuren der faschistischen Mentalität noch mit Händen zu greifen. «Intolleranza 1960» erzählt keine Geschichte, wiewohl die Rede ist von einem ausgewanderten Bergmann, der in seine Heimat zurückzukehren sucht, auf dem Weg zu einem unschuldigen Opfer von Polizeigewalt wird und schliesslich an einer Flut scheitert. Dieser minimale Erzählstrang wird zum Anlass genommen zu einem Aufschrei gegen die Brutalität, mit der Menschen gegen Menschen vorgehen – dargestellt mit den musikalischen Mitteln der Darmstädter Avantgarde, die sich Nono in sehr persönlicher Weise zu eigen gemacht hat.

In der heftigen Anklage und dem dringenden Aufruf zu einer auf gegenseitigem Respekt beruhenden Gemeinschaftlichkeit bildet «Intolleranza 1960» den radikalen Gegenentwurf zu Mozarts «Don Giovanni» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21), wo das entfesselte Ich herrscht – dieser Kontrast darf sich fürwahr Programmgestaltung nennen. Nonos Stück ist zwar hohe Kunst, und es ist Kunst aus einer Phase der Musikgeschichte, über die man heute gern mit Nachsicht hinweggeht, aber es trifft den Zuhörer, die Zuschauerin von heute mit aller Macht – eindeutiger könnte das Ausrufezeichen einer Institution wie der Salzburger Festspiele nicht ausfallen. Sehr wohl geht das auch auf die grandiose Realisierung in der räumlichen Weite der Felsenreitschule zurück. Am Pult der nicht nur im Orchestergraben, sondern auch auf zwei Emporen über der Spielfläche positionierten Wiener Philharmoniker sowie der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor behält der Dirigent Ingo Metzmacher die klanglichen Massierungen optimal unter Kontrolle. Als der im Mittelpunkt stehende Emigrant bringt Sean Panikkar einen blendenden hohen Tenor ins Spiel, während Anna Maria Chiuri als die erste, zurückgelassene Geliebte ihrem Zorn klangmächtig Ausdruck verleiht. Besondere Eindrücke hinterlässt Sarah Maria Sun, die als die zweite, neugewonnene Partnerin nicht nur grandios singt, sondern auch als eine äusserst sportliche Tänzerin in Erscheinung tritt.

Das alles in einer Inszenierung, die der belgische Theaterkünstler Jan Lauwers als Regisseur und Bühnenbildner (die Kostüme gehen auf Lot Lemm zurück) entworfen hat. Wie beim «Don Giovanni» von Romeo Castellucci herrschen auch hier weit ausschwingende choreographische Verläufe. Tänzerinnen und Tänzer von Needcompany, Bodhi Project und der Salzburg Experimental Academy of Dance sorgen für elegante optische Wirkungen und mehr noch für Ausbrüche körperlicher Energie, welche die musikalischen Verläufe optimal spiegeln. Ob die Szene, in welcher der zufällig in eine Demonstration geratene und dort verhaftete Emigrant gefoltert wird, so explizit gezeigt werden muss, darf offenbleiben – gerade in einer Zeit wie der heutigen, da auf dem Netz noch ganz andere Szenen konsumiert werden können. Ich glaube, dieses Kitzels bedarf es nicht, die Musik sagt genug dazu. Weitaus stärker wirkt der Moment, da der von Lauwers ins Stück eingelassene Dichter (Victor Afung Lauwers) seine Donnerstimme erhebt und ernste Fragen stellt, die vom Volk auf der Bühne mit höhnischem Gelächter beantwortet werden. Das ist, das vermag Theater.

Zwei Mal Bruckners Achte

Aufnahmen mit Andris Nelsons und dem Gewandhausorchester sowie mit Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern lassen hören, was Differenzen im Detail bewirken.

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit der Pultstars ist vorbei, Figuren am Dirigentenpult wie Herbert von Karajan, Leonard Bernstein oder Lorin Maazel sind weit und breit keine mehr zu erkennen. Interpreten jedoch, sie treten nach wie vor ans Licht; sie tragen ihre naturgemäss ganz persönlichen Ansichten mit Entschiedenheit vor. Besonders gut zu beobachten ist das dieser Tage, da auf dem Marktplatz der aufgezeichneten Musik, im CD-Katalog und in den Streaming-Diensten, kurz hintereinander zwei Konzertmitschnitte von Anton Bruckners Symphonie Nr. 8 in c-Moll erschienen sind – zwei Deutungen, die in mancher Hinsicht miteinander verwandt sind, die dem monumentalen Werk aber doch ganz unterschiedliche Konturen verleihen.

Sowohl Andris Nelsons am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters – er verfolgt mit dem von ihm geleiteten Orchester für die Deutsche Grammophon eine Gesamtaufnahme der Symphonien Bruckners und ist in diesem Projekt schon weit vorangeschritten – als auch Christian Thielemann, den sich die Wiener Philharmoniker für einen gleichartiges Vorhaben bei Sony Classical ausgewählt haben, erweisen sich als Dirigenten der Jetztzeit. Der kantige, ja steinerne, an die Wiener Ringstrassenarchitektur gemahnende Bruckner-Ton früherer Zeiten – als Beispiel dafür kann der Name Eugen Jochums genannt werden – hat in den Vorstellungen der beiden Dirigenten keinen Platz; in je eigener Weise bringen sie die weit ausschwingenden Spannungsbögen, von denen Bruckners Achte lebt, in weich gezeichnete, flexibel atmende Verläufe. Auch in den Tempi stehen sie einander nah; 82 Minuten benötigen Nelsons wie Thielemann – der eine in diesem Satz, der andere in jenem eine Spur länger.

Dennoch stehen sich da zwei absolut unterschiedliche Erscheinungen von Bruckners Achter gegenüber. Schon allein vom Klangbild her – soweit sich das bei Aufnahmen beurteilen lässt. Das Leipziger Orchester geht in seiner Sonorität von einem soliden, ausgeprägten Bassfundament aus; sein Ton lebt von Wärme, Rundung und optimaler Vermischung der Farben – und wie Andris Nelsons, inzwischen in seiner vierten Saison als Gewandhauskapellmeister, das Potential zu nutzen versteht, spricht von einer grossartig gewachsenen, ja symbiotisch erscheinenden Verbindung zwischen dem Orchester und seinem inzwischen 42 Jahre alten Chefdirigenten.

Anders die Wiener Philharmoniker, der private Verein, der sich aus dem Orchester der Wiener Staatsoper rekrutiert und der keinen Chefdirigenten, nur Lieblingsdirigenten kennt. Zu ihnen gehört Christian Thielemann. In den Wienern findet er den belebenden Kontrast zur Staatskapelle Dresden, der «Wunderharfe» Richard Wagners, der Thielemann, heute 61 Jahre alt, seit neun Jahren vorsteht. Liess er in seinen jungen Jahren die Energien gerne entfesselt aufrauschen, darf er mittlerweile als ein Meister der Feinzeichnung gelten, auch und gerade an Stellen der Kraftentfaltung. Mit ihrem hellen Grundton, ihren leichten Bässen, dem Silberglanz ihrer Streicher und ihren charakteristischen Bläsern bieten ihm die Wiener die optimalen Voraussetzungen.

Das kennzeichnet denn auch die Einspielung von Bruckners Achter. Licht und geschmeidig ist der Klang, schlank kommen die Lineaturen daher, zumal jene der Wiener Oboe. Auffällig erscheint aber auch das bisweilen penetrante Vibrato der hohen Streicher. Es kann zu befremdlicher Larmoyanz führen, etwa im Adagio des dritten Satzes, wo sich nach einer ersten Gruppe von vier Takten das Geschehen von Dur nach Moll wendet und sich der leise wiegende, der Begleitung dienende Grundakkord für einen Augenblick schluchzend in den Vordergrund drängt. Mag sein, dass das einer Unaufmerksamkeit geschuldet ist – denn an solchen Versehen fehlt es nicht. Noch und noch kommt es zu mehr oder weniger verwackelten Einsätzen, was auch auf die erklärte Abneigung der Wiener gegen den präzisen Schlag zurückgehen kann. Besonders eigenartig wirkt, dass im Adagio nach dem zweiten Beckenschlag, der in einen abrupten, von einer einsamen Oktave der Violinen beleuchteten Einbruch der Stille führt, das dort von Bruckner notierte Ausklingen der Harfen fehlt.

Auf die Partitur, die der Aufführung zugrunde lag, geht das nicht zurück, anderes aber sehr wohl. Denn für seine Interpretation von Bruckners Achter hat Christian Thielemann doch tatsächlich die Edition von Robert Haas verwendet – ein Ausfluss schlechter Wiener Tradition, der auch Pierre Boulez bei seiner Einspielung des Werks mit den Wiener Philharmonikern 1996 zum Opfer gefallen ist. Die Ausgabe, die der langjährige Leiter der Musiksammlung in der Österreichischen Nationalbibliothek erstellt hat, läuft zwar unter dem Titel «Originalfassung», bietet die Symphonie jedoch in einer von Bruckner weder intendierten noch autorisierten Version. Sie reichert vielmehr die zweite Fassung der Partitur, die der Komponist 1890 erstellt hat, mit einzelnen, vom Herausgeber als notwendig, besonders sinnfällig oder schön erachteten Stellen aus der ersten Fassung von 1887 an; sie enthält ausserdem willkürlich gesetzte Aufführungsvorschriften, die vom Komponisten sorgfältig gebaute Spannungsverläufe stören. Mit ihren ungerechtfertigten Eingriffen in die Struktur der nun einmal in zwei Versionen bestehenden Symphonie setzt Haas’ Edition den bedenklichen Umgang früherer Zeiten mit den Werken Bruckners fort; im Konzertsaal von heute hat sie nichts mehr verloren.

So versteht sich, dass Andris Nelsons für seine Aufführung der Achten Bruckners in der Fassung von 1890 die neue, quellenkritische Edition von Leopold Nowak zur Hand genommen hat. Damit entfallen die strukturellen Ungereimtheiten, die sich in der Einspielung der Wiener Philharmoniker finden. Dazu kommt die technische Zuverlässigkeit, die möglicherweise mit Hilfe von Korrektursitzungen hergestellt ist, die aber gerade so gut auf das gemeinsame Atmen von Orchester und Dirigent zurückgehen kann. Prägend tritt aber vor allem die Empathie heraus, mit der Nelsons den Gesten begegnet, die Bruckners Kosmos bilden. Ganz am Anfang der Sinfonie werden die absteigenden Halbtonschritte, treten sie in Oboe und Klarinette auf, dergestalt unterstrichen, dass sie als Klage, als Erinnerung an den barocken Passus duriusculus fühlbar werden. In der Folge gelingt das zweite Thema sehr warm und kantabel, auch wieder sehr von anteilnehmendem Gefühl durchdrungen; und wenn dann die Flöten so wunderbar dazu treten, wie es hier geschieht, stellt sich erfülltes Glück ein.

Das alles geschieht auf der Basis genauer Partiturlektüre – so hat es Nelsons von seinem Mentor Mariss Jansons gelernt. Und es gehorcht spürbar einer immanenten Logik, wo bei Thielemann eher die Subjektivität des Moments überwiegt. Die Generalpausen und die langen Liegetöne im ersten Satz, die gerne verkürzt werden, sie sind in der Leipziger Aufzeichnung sauber ausgeführt und belassen die Musik für den Hörer in ihrem Schlag; Thielemann dagegen nimmt diese Stelle agogisch bewegt, was auch seinen Reiz hat, aber den Rezipienten taumeln lässt. Ob einfach punktiert oder doppelt, wie es zu Beginn des dritten Satzes notiert ist, bei Nelsons macht es einen klaren Unterschied, selbst in dem opulenten, dunkel verschleierten Piano, den das Gewandhausorchester hier einbringt. Und die berühmten Beckenschläge? Bei Thielemann treten sie nach einer kleinen Kunstpause ein, die ihren Effekt vergrössert, während sie Nelsons in strenger Logik direkt anschliesst und sie damit als Vollendung des Vorangegangenen erscheinen lässt.

Beide Dirigenten gehören zu den bedeutenden Vertretern ihres Fachs. Beide Orchester gehören zur Weltklasse. Dennoch ziehe ich die Aufnahme mit dem Gewandhausorchester und Andris Nelsons vor. Sie klingt spätromantisch, ist in ihrem interpretatorischen Habitus aber ganz der Gegenwart verpflichtet. Bei den Wiener Philharmonikern und Christian Thielemann ist es gerade umgekehrt.

 

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 8 (zweite Fassung von 1890). Anton Bruckner: Symphonie Nr. 2 (zweite Fassung von 1877). Richard Wagner: «Die Meistersinger von Nürnberg», Vorspiel zum I. Aufzug. Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons (Leitung). Deutsche Grammophon 4839834 (2 CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 8 (Mischfassung von Robert Haas). Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung). Sony Classical 786582 (CD, Aufnahme 2019, Produktion 2020).

 

Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker – rein medial

 

Von Peter Hagmann

 

Sogar die Wiener Philharmoniker mussten ihren Kotau vor Kaiserin Corona machen. Sie machten ihn agil, wie es ihre Art ist – und so konnte das Neujahrskonzert 2021 trotz allem stattfinden. Im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins wie stets, aber ohne Publikum, ohne Blumenschmuck, wenn auch nicht ohne Zuhörer, nicht ohne Beifall. Millionen von Menschen in über neunzig Ländern der Welt verfolgten die Direktübertragung durch Radio und Fernsehen des Österreichischen Rundfunks, weitere Hunderttausende werden den Anlass in den Streaming Diensten oder über CD und DVD wahrnehmen. Und wer wollte, konnte sogar interaktiv teilnehmen, konnte sich von überall her auf einer Internetseite anmelden, um seinen Beifall durch ein Grazer Unternehmen über sechs leistungsstarke Server und zwanzig hochqualitative Lautsprecher in den Saal übertragen lassen – als Seelenbalsam für das Orchester.

Dennoch: die Aufzeichnung des Konzerts, wie sie jetzt bei Sony greifbar ist, lässt die gedämpfte Atmosphäre deutlich spüren. Ebenso wie auf die Umstände mag das auf den Dirigenten Riccardo Muti zurückgehen, der am Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker seit bald zwanzig Jahren mitwirkt und es heuer, im Jahr seines achtzigsten Geburtstags, zum sechsten Male leitete. Muti hielt vor dem kollektiven Neujahrsgruss eine längere, pathosgesättigte, inhaltlich den sicheren Allgemeinplatz jedoch nicht verlassende Ansprache und sorgte für einen feierlichen, opulenten Grundton. Gut bekommt das vor allem den beiden grossen Walzern aus der Schatzkiste von Johann Strauss (Sohn). Im «Kaiserwalzer» steigert Muti den einleitenden Marsch in goldrichtig gemessenem, aber nicht stur durchgezogenem Tempo zu einem mächtigen, klanglich perfekt ausbalancierten Höhepunkt, der die Würde der durch die Pandemie besonders empfindlich getroffenen musikalischen Kunst kraftvoll ins Licht rückt. Der im Dreivierteltakt gehaltene Hauptteil dann schwankt bewegend zwischen nachdenklicher Melancholie und geradezu trotzigem Diesseitsvertrauen. Dass in einem Vierteljahr, spätestens einem halben Jahr alles wieder anders als jetzt sein mag, das lässt Muti im «Frühlingsstimmenwalzer» anklingen. Auch hier rauscht das Orchester in grossem Ton auf, es spielt jedoch so brillant mit der ihm eigenen rhythmischen Flexibilität, dass die frische Jugendlichkeit dieses ebenfalls von Johann Strauss (Sohn) stammenden Stücks ungeschmälert zur Geltung kommt. Auch wer der übersteigerten Kommerzialität des Neujahrskonzerts distanziert gegenübersteht, wird hier vorbehaltlos anerkennen können, dass kein Orchester der Welt diese Musik besser spielt als die Wiener Philharmoniker.

Zu diesen beiden Grosswerken und dem traditionellen Doppel mit dem «Donauwalzer» von Johann Strauss (Sohn) und dem abschliessenden «Radetzkymarsch» von Johann Strauss (Vater) kam in diesem Neujahrskonzert ein geistreich zusammengestelltes Programm, das in etwas entlegenere Gefilde der Walzerproduktion vorstiess. In der Ouvertüre zu seiner Bühnenmusik «Dichter und Bauer» lässt Franz von Suppé hören, dass auch bei sogenannt leichter Musik Handwerk und Inspiration gefordert sind – in der Auslegung durch die Wiener mit Muti zeigt sich jedenfalls mancher Reiz. Und im Walzer «Bad’ner Mad’ln» gibt Karl Komzák (Sohn), ein einflussreicher k.u.k Marschkomponist, tritt zutage, wie eng das, was wir heute unter dem Stichwort «Wiener Walzer» subsumieren, mit der Militärmusik verbunden ist.

Neujahrskonzert 2021. Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti. Sony 10350162 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2021).

Ein Ende und neue Anfänge

Friedrich Cerha, «die reihe» und Fortsetzungen beim Festival Wien Modern

 

Von Peter Hagmann

 

Ohne Anfang kein Ende, das versteht sich. Weniger gegenwärtig ist die Umkehrung, dass nämlich ohne Ende kein Anfang sei. Das gilt vorab für unsere Wahrnehmung der wirtschaftlichen Zeitläufte. Wächst die Wirtschaft in einer bestimmten Periode weniger stark als in jener zuvor, erzeugt das Sorgenfalten. Selten macht man sich aber bewusst, dass Wachstum nicht unaufhörlich sein kann – die Natur führt es ja vor. Gedanken in dieser Richtung macht sich derzeit das Festival Wien Modern, das seit dem Amtsantritt von Bernhard Günther vor drei Jahren wieder beträchtlich an Profil gewonnen hat. Die 1988 von Claudio Abbado ins Leben gerufene Institution gibt die Richtung gleich selbst vor, indem sie diesen Herbst zwanzig Prozent weniger Anlässe bietet als im vergangenen Jahr. Hundert Konzerte mit ausschliesslich neuer Musik sind in den fünf Wochen des Monats November vorgesehen: ein enormes Angebot, das so nicht existierte, wenn es keine Nachfrage gäbe. Dass die neue Musik ihre Nische längst verlassen hat, ist nicht überall zu spüren, bei Wien Modern jedoch mit aller Macht.

Die Protagonisten von damals: Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik, die Gründer des Ensembles «die reihe», in der Mitte Gertraud Cerha / Bild Markus Sepperer, Wien Modern

Wachstum als Ausdruck von Werden und Vergehen, vor allem auch von Veränderung – dazu setzte Wien Modern jetzt ein klares Zeichen. Das zur Hauptsache im Konzerthaus Wien, aber bei weitem nicht nur dort durchgeführte Festival bot nämlich den Ort, an dem sich das Ensemble «die reihe» mit einem allerletzten Konzert von seinem Publikum verabschiedete. Das war fürwahr ein historischer Moment. Wann gibt es das schon, dass sich eine musikalische Körperschaft aus (mehr oder weniger) freien Stücken aus der Öffentlichkeit zurückzieht? Und dann noch eine Einrichtung wie «die reihe», die sich in einer ganz besonderen Weise um die Verbreitung der neuen Musik in Österreich und weit darüber hinaus verdient gemacht hat? Die Besonderheit an diesem Abschied bestand aber darin, das mit dem 93-jährigen Komponisten und Dirigenten Friedrich Cerha und seinem 84-jährigen Kollegen Kurt Schwertsik die beiden Gründer des Ensembles anwesend waren und in einem hoffnungslos überfüllten Podiumsgespräch vor dem Konzert an ihren Erinnerungen teilhaben liessen.

Diese Erinnerungen haben durchaus heroischen Seiten – Gertraut Cerha, die Gattin des Komponisten, die musikalisch wie organisatorisch eng mit dem Ensemble verbunden war, zeichnet es in einem profunden Beitrag zum dreiteiligen Programmbuch von Wien Modern nach. Man darf nicht vergessen, dass Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg auch kulturell weitgehend am Boden lag: von den internationalen Entwicklungen abgeschnitten und von militant konservativen, wenn nicht alt-nationalsozialistischen Kräften beherrscht. Dass Cerha und Schwertsik 1958 auf der Rückreise von einem Besuch der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik den Entschluss fassten, ein Ensemble zu gründen und mit ihm die neuen Strömungen in der Musik bekannt zu machen, war darum so mutig wie notwendig. Nach intensiven Diskussionen, an denen auch der Komponist György Ligeti, von dem die Bezeichnung des Ensembles stammt, beteiligt war, und langer, entbehrungsreicher Probenarbeit kam es am 22. März 1959 im damals von Egon Seefehlner geleiteten Konzerthaus Wien zum ersten Auftritt der «reihe». «Le Domaine musical», 1953 in Paris von Pierre Boulez gegründet, hatte Nachbarschaft bekommen.

Zahlreich waren die Hindernisse, die zu überwinden waren. Die Ensemblemitglieder mussten technisch hervorragend, ästhetisch offen und finanziell anspruchslos ein – und dennoch bildete sich um Cerha und Schwertsik rasch ein Stammensemble. Und die bürokratischen Schwierigkeiten waren enorm, wovon der legendär gewordene Satz eines Ministerialbeamten zeugt, der auf ein Subventionsgesuch der «reihe» mit der Bemerkung geantwortet haben soll, da könne ja jeder Würstelverkäufer kommen. Die Konzerte waren jedoch so ausserordentlich gut besucht, dass das Konzerthaus bald einen grösseren Saal zur Verfügung stellen musste. Im Mozart-Saal kam es dann Ende 1959 nach einer Aufführung des Klavierkonzerts von John Cage zu einem Tumult, der würdig an das Wiener Skandalkonzert von 1913 anschloss. Danach folgte kontinuierliche Arbeit im Dienst an der Sache, die von wachsendem Erfolg gekrönt war. 1968 floh das Ensemble aus dem Konzerthaus, das in konservative Hände geraten war, zehn Jahre später kehrte es, von Hans Landesmann gerufen, triumphal zurück und bot einen auf fünf Jahre angelegten, sofort ausverkauften Zyklus mit dem Titel «Wege in unsere Zeit». Nicht nur das Neuste vom Neuen, auch das Werden der neuen Musik sollte in ganzer Breite gezeigt werden. 1983 gab Friedrich Cerha die Leitung des Ensembles ab, Schwertsik und HK Gruber übernahmen – und damit griff eine ganz andere Vorstellung von neuer Musik. Das war einer der Gründe, warum Beat Furrer 1985 die «Association de l’art acoustique» gründete, die 1989 zum Klangforum Wien wurde.

Eine bewegte Geschichte – das von Gertraud Cerha konzipierte Abschiedskonzert im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses liess sie anschaulich Revue passieren. Auf die «Intégrales» von Edgar Varèse, die HK Gruber sehr massiv anging, folgten die Sechs Stücke op. 6 von Anton Webern in der Fassung für Kammerorchester sowie «Bruchstück, geträumt» von Friedrich Cerha, mit deren Interpretation sich das Ensemble unter der Leitung von Christian Muthspiel vorteilhaft ins Licht brachte. Äusserst zartgliedrig, atmosphärisch dicht und farbenreich gewandet das 2009 entstandene Stück Cerhas, für das Muthspiel den rechten Sinn aufbrachte. Zu erleben war hier, in welcher Weise das klangliche Denken Weberns weitergeführt und verwandelt wurde. Vom Einschnitt bei der «reihe» nach Cerhas Rücktritt kündete der zweite Teil des Abends mit den «4 Kinder-Toten-Liedern» von Kurt Schwertsik und der «Kleinen Dreigroschenmusik» für Blasorchester von Kurt Weill, die HK Gruber wiederum unerhört grob klingen liess. Am Ende wurden alle Beteiligten gross gefeiert, mit etwas Wehmut gewiss, in erster Linie aber mit viel Respekt vor einem Stück künstlerischer Lebensarbeit.

Protagonistin von heute: die Cellistin Myriam García Fidalgo vom Schallfeld Ensemble / Bild Markus Sepperer, Wien Modern

Ein Abschied, das Gegenteil von Wachstum – aber rund herum spriessen Pflänzchen verschiedenster Art. Zum Beispiel das Schallfeld Ensemble aus Graz, das 2013 von Alumni des Klangforum Wien gegründet worden ist. Im Auftritt der jungen Musikerinnen und Musiker unter der Leitung von Leonhard Garms ging es um das, was heute unter dem Begriff «neue Musik» verstanden werden mag. Die in Zürich lebende Niederländerin Cathy Eck lieferte den Rahmen des Abends, indem sie unter dem Titel «Stumme Diener» die Notenständer als das unentbehrliche Hilfsmittel eines (fast) jeden Konzerts in den Blick nahm. Sie versah einige Exemplare mit Kontaktmikrophonen und liess zwischen den Stücken die Geräusche, die beim Aufstellen und Einrichten der Notenständer entstehen, in den Saal projizieren. Klangkunst nennt sich das, und es verband Werke von Sylvain Marty («Discreet»), Lorenzo Troiani («La fine è senza fine»), Diana Soh («Modicum») und Hannes Kerschbaumer («tektono»), die allesamt mit Geräuschen operierten – Geräuschen, die mit den unterschiedlichsten Mitteln auf den Instrumenten, aber auch auf Alltagsgegenständen erzeugt wurden. Das war eine Entdeckungsreise eigener Art. Inwieweit sie mit Musik zu tun hatte, das darf dahingestellt bleiben.

Erheiternd bissig, farblos schwergewichtig

Salzburger Festspiele (II): Offenbach-Ehrung, Verdi-Flop

 

Von Peter Hagmann

 

Ungewohnt nimmt sich das Bühnenportal im Salzburger Haus für Mozart aus; mit seiner altsilbernen Einkleidung erinnert es an einen Berliner Operettentempel – und das zu Recht. Denn tatsächlich bringen die Salzburger Festspiele diesen Sommer zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren wieder eine Operette heraus. Mit «Orphée aux enfers» von 1858 erinnern sie an den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach, und zugleich fügen sie mit diesem frechen, schwungvollen Zweiakter, der den Beginn der Operette als Gattung markiert, den drei schwergewichtigen Opern mythologischer Ausrichtung das Gewürz des Satyrspiels bei. Nicht zu wenig wird da beigemischt, denn für die Inszenierung zeichnet Barrie Kosky verantwortlich, der Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, der sich in dem Genre wie kein Zweiter auskennt, der seine inszenatorische Handschrift zu einer Virtuosität sondergleichen entwickelt hat und ausserdem keinerlei Berührungsängste kennt.

 

Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele

«Orphée aux enfers» stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was das ehrwürdige Gut der Mythologie überliefert. Eurydike ist keineswegs von vibrierender Liebe erfüllt, sie hat sich vielmehr längst abgewandt von Orpheus, den sie für einen mittelmässigen Geiger und einen Winkelkomponisten hält; lieber vergnügt sie sich mit dem Hirten Aristäos, der in Wirklichkeit Pluto ist und als solcher über das Totenreich herrscht. Orpheus wiederum hält sich schadlos, indem er der treulosen Gattin eine Schlange ins Bett legt, von der sie während des Schäferstündchens mit dem totengöttlichen Hirten erwartungsgemäss gebissen wird – was auch Pluto passt, kann er doch seine Angebetete sogleich ins Totenreich entführen. Dort menschelt es ebenso gewaltig wie auf dem Olymp, was die mythologischen Erzählungen oft genug andeuten, was in der Operette Offenbachs jedoch erheiternd bissig zugespitzt und auf der Salzburger Bühne mit scharfem Witz vorgeführt wird.

Das Problem dabei waren die Dialoge. Wie es sich für die Salzburger Festspiele gehört, sind mit von der Partie nicht nur die Wiener Philharmoniker, die sich unter der Leitung von Enrique Mazzola in den für sie nicht eben alltäglichen Gefilden mit spritzigem Ansatz bewähren, sondern auch ein hochkarätiges Ensemble an Sängerinnen und Sängern, die sich ihrer unterschiedlichen Herkunft wegen für die Dialoge aber nicht einsetzen liessen. Damit sie ihren Witz entfalten können, so Barrie Kosky, müssen die Dialoge in der Landessprache gehalten sein, während die Couplets in der französischen Originalsprache verbleiben können. Gelöst hat das Problem der Berliner Schauspieler Max Hopp, der, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in den glänzend blauen Frack eines Zirkusdirektors gekleidet, den ganzen Abend lang auf der Bühne das Geschehen begleitet. Wenn gesprochen wird, spricht er und nur er. Alle Partien übernimmt er also, die Darstellerinnen und Darsteller bewegen bloss ihre Lippen. Und dazu produziert der Sprecher, der auch singen darf (und es kann…), noch alle anfallenden Geräusche sowie einige mehr. Hochvirtuos ist das. Und hochamüsant.

Bisweilen wird es etwas zu amüsant. Dann zum Beispiel, wenn die Witze nicht nur dick auftragen, sondern auch wiederholt werden. Offenbach war ein zutiefst unanständiger Kerl, der gerade was die gesellschaftlichen Hierarchien betrifft, vor nichts zurückgeschreckt ist. Seine Waffe ist allerdings die scharfe Klinge der Ironie, nicht der Holzhammer, zu dem Barrie Kosky bisweilen greift. Dennoch herrscht an diesem Abend durchgehend gute Laune. Dank der herrlich verzopften Öffentlichen Meinung von Anne Sofie von Otter, dank Kathryn Lewek (Eurydike) und Joel Prieto (Orpheus), dank Marcel Beekman als Pluto, Martin Winkler als Jupiter und Frances Pappas als Juno. Wenn sich die flexible Bühne von Rudolf Didwiszus weitet und die von dem Choreographen Otto Pichler sehr traditionell, aber mitreissend rasant geführten Tänzerinnen und Tänzer in den berühmten Can-Can einfallen, springen die Zapfen wie von selbst von den Champagnerflaschen.

 

Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Es ist exakt dieses Prickeln, das der fünften und letzten Opernpremiere der Salzburger Festspiele 2019 fehlt. «Simon Boccanegra», vielleicht das beste Stück Giuseppe Verdis, erscheint im Grossen Festspielhaus als pflichtschuldig mitprogrammierte B-Produktion. Am Pult der Wiener Philharmoniker: Valery Gergiev, ein guter Dirigent, aber ein zweifelhafter Interpret, der die herrliche Musik Verdis mit den Wiener Philharmonikern schwerblütig, zähflüssig, rhythmisch unsorgfältig und nicht selten zu laut erklingen lässt. Und als Regisseur am Werk: Andreas Kriegenburg, dessen Arbeit ordentlich gelungen, aber nicht mehr geworden ist – jedenfalls nicht das, wodurch sich Festspiele wie jene in Salzburg vom saisonalen Normalbetrieb abheben möchten. Für das heisse Drama Verdis, das war Kriegenburgs Intention, hat Harald B. Thor ein puristisches Bühnenbild in strengen Formen gebaut, das mit seinen lichten Farben und dem durch eine Art Fensterluken durchscheinenden Meer den Spielort Genua leicht assoziieren lässt. Und auch hier ist das Stück, das zeigen die Kostüme von Tanja Hofmann, klar in der Gegenwart verortet. Nicht zu Unrecht übrigens, man muss nur die Zeitung lesen.

Die Geschichte selbst entfaltet jedoch keineswegs die Spannung, die sie erzeugen könnte. Die Ursache dafür liegt vor allem in der mangelhaften Ausgestaltung der Figuren. Als Gabriele Adorno bringt Charles Castronovo einen leuchtkräftigen, wenn auch mit etwas gar viel Schluchzern versüssten Tenor ein, nur steht er so händeringend am Bühnenrand, wie es Sänger italienischer Tradition nun einmal mögen – dem Regisseur ist dagegen kein Mittel eingefallen. Merkwürdig auch die Körperlosigkeit der Inszenierung; wenn sich Simon Boccanegra (Luca Salsi mit einem eher hell timbrierten Bariton) und Amelia Grimaldi (die fabelhafte Marina Rebekka) als Vater und Tochter erkennen, kommt es szenisch zu nicht mehr als einem Handkuss. Vollkommen rollendeckend dafür René Pape in der Partie des Finsterlings Fiesco; welch bedrohliche Schwärze kann in diesem grossartig fundierten Bass anklingen, wie weit gespannt ist das Potential der stimmlichen Ausdifferenzierung. So enttäuschend die Produktion als Ganzes wirkt – in ihren vokalen Höhepunkten erreicht dieser «Simon Boccanegra» das Niveau, das bei den Salzburger Festspielen seine eigene Tradition hat.

Alles Walzer – und weit mehr

Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann

 

Von Peter Hagmann

 

Die Aufregung hätte ruhig ein bisschen merklicher sein können. Was sich nämlich am vergangenen 1. Jänner 2019 punkt elf Uhr im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins ereignet hat, ist nichts anderes als eine Sensation. Nun gut, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker war es – eine liebe Tradition, die der gewöhnlich Sterbliche am Fernseher verfolgt und die er jetzt, Sony sei Dank, auf CD (und demnächst auch auf DVD) nachvollziehen kann. Das ist unbedingt zu empfehlen, denn am Pult stand – Christian Thielemann. Ach der, na ja. Aber gemach. Das Vorurteil steht im Raum, keine Frage, es ist an diesem ersten Vormittag des neuen Jahres jedoch so etwas von gründlich ausgehebelt worden, dass man schnurstracks über die Bücher muss.

Die Wiener und Thielemann, das ist eine Verbindung in innigster Herzensliebe, und auf solcher Basis entsteht Musik. Nicht irgendeine Musik, Sphärenklang vielmehr. All die flauen Neujahrskonzerte der jüngeren Vergangenheit gehen sogleich vergessen, und ein ganz klein wenig, vielleicht etwas zögerlich, aber doch eindeutig mag man an die grossen Momente mit Carlos Kleiber oder Nikolaus Harnoncourt denken. Exzentrik, wie sie diese beiden Herren, jeder in seiner Weise, präsentiert haben, gab es nicht. Stürmte Thielemann ehedem aufs Podium, um sich dort nach zackigem, meist von einer Grimasse begleiteten Verbeugen wild dem Orchester zuzuwenden, erscheint er jetzt als ein aufgeräumter, ganz in sich ruhender Grandseigneur im perfekt sitzenden Cutaway vor dem Orchester und geht dort in aller denkbaren Gelassenheit zu Werk.

Viel tun muss er nicht. Die Wiener wissen, was am Neujahrskonzert Sache ist. Ausserdem hat die Arbeit in den Proben stattgefunden – und schliesslich vertrauen sie sich blind, die Demokratie der Könige und ihr Kaiser. Mit einem kleinen Zeichen gibt Thielemann den Auftakt, und dann hört er zu, wie das Orchester einsetzt: von selbst und in restloser Übereinstimmung. Der Dirigent fügt sich in die musikalische Bewegung ein und nimmt sie auf, weshalb es zu herrlich zurückgehaltenen Einschwingvorgängen, zu sehnsüchtigem Ziehen und spannungsgeladenen Finalwirkungen kommt. Auch eine Petitesse wie der «Schönfeld-Marsch» von Carl Michael Ziehrer, die Nummer eins des Programms, entfaltet da ihren Reiz. Erst recht tun es Raritäten wie die «Transactionen», der Walzer von Josef Strauss, der in seiner dunkel timbrierten Klanglichkeit die Temperatur vorgibt.

Ungewöhnlich der Ton dieses Neujahrskonzerts. Viel Leises gab es zu hören, sehr Leises, viel Melancholisches auch. Und mit mancher Überraschung wartete es auf, zum Beispiel mit dem «Egyptischen Marsch» von Johann Strauss (Sohn), bei dem sich die Herren und mittlerweile auch gar nicht mehr so vereinzelten Damen als ein philharmonisches Chörlein einmischen durften. Reizend der sommernachtsträumende «Elfenreigen» von Joseph Hellmesberger jun., prächtig und in aller Ruhe ausmusiziert die «Nordseebilder» wiederum von Johann Strauss dem Jüngeren oder sein «Lob der Frauen» in Form einer Polka Mazurka. Gab es Sextparallelen, blieben uns Thielemann und die Wiener nichts schuldig – oder fast nichts ausser dem Kitsch. Ja, an Gefühl hat es nicht gefehlt, für Sentimentalität war aber kein Platz. Das ist Kunst.

Kurz und bündig geriet der Neujahrsgruss. Und dann war er wieder einmal da, der heilige Moment der Wandlung – mit dem «Donauwalzer». Worauf der «Radetzkymarsch» von Johann Strauss dem Älteren zum Kehraus blies. Glücklich ist, wer nicht vergisst.

«Von uns wird übrigbleiben Nennenswertes»

Der Komponist Gottfried von Einem in einer Biographie von Joachim Reiber

 

Von Peter Hagmann

 

Ein unerhört spannendes Buch. Und ausserdem hervorragend geschrieben. Joachim Reiber, der aus Stuttgart stammende Historiker, der seit im langem in Wien lebt und dort als Chefredaktor das Monatsmagazin der Gesellschaft der Musikfreunde betreut, also mittendrin steht – Joachim Reiber verfügt über einen ausgesprochen persönlichen Sprachstil und versteht seine Geschichte packend zu erzählen. Als ausgebildeter Historiker weiss er aber auch, wie man recherchiert und mit Quellen umgeht. Zugute kommt das dem österreichischen Komponisten Gottfried von Einem, dessen Geburtstag sich am 24. Januar 2018 zum hundertsten Mal gejährt hat. Aus diesem Anlass (und auf der Basis von Einems Nachlass im Archiv des Musikvereins) hat Reiber eine Biographie erarbeitet, die den Künstler in sehr speziellem Licht erscheinen lässt. Und die vergangenes Wochenende, als die Wiener Staatsoper «Dantons Tod» von Einem in einer neuen Produktion herausbrachte, besondere Aktualität erhielt.

Mit «Dantons Tod» von 1947 hebt die Lebenserzählung nämlich an – nicht etwa mit der Geburt, den Eltern und der Herkunft. Reiber zäumt das Leben am Werk auf: an den acht Opern, die Einem in dem halben Jahrhundert bis zu seinem Tod am 12. Juli 1996 geschrieben hat. Er schliesst sich damit einer Art der Musikgeschichtsschreibung an, die lange verpönt war, inzwischen aber rehabilitiert ist: der Verbindung von Leben und Schaffen, wie sie etwa Constantin Floros im Fall der «Lyrischen Suite» von Alban Berg fruchtbar gemacht hat. Vor allem aber nimmt Reiber einen Faden auf, den der Porträtierte selbst ausgelegt hat; wer die Textbücher seiner Opern lese, so schrieb Einem in seiner 1995 erschienenen Autobiographie, könne erkennen, wer er sei.

Tatsächlich war «Dantons Tod» der wohl entscheidende Paukenschlag in Einems Leben. Mit der Salzburger Uraufführung von 1947 wurde er auf Anhieb bekannt; er kam sogleich in die Direktion der Festspiele, wo er entschieden und hartnäckig gegen Herbert von Karajan kämpfte – gegen die Kulinarik, für die neue Musik. Und das bis 1966, bis er nach seinem vielleicht nicht ganz selbstlosen, immerhin aber mutigen Engagement für den damals staatenlosen Bertolt Brecht mit Schimpf und Schande aus der Festspielleitung entfernt wurde. Reiber nimmt da kein Blatt vor den Mund. Messerscharf zeichnet er nach, wie arg dem Komponisten von Brecht mitgespielt wurde und wie grausig die Politik mit dem zum Bauernopfer gewordenen Künstler umsprang.

Mit unbarmherziger Genauigkeit hebt Reiber allerdings auch an den Tag, was vor dem sensationellen Aufbruch in Salzburg lag. Es ist eine Adoleszenz im Zeichen des Nationalsozialismus. Als der junge Mann zu sich selber finden wollte und sollte, sah er sich von mehr oder weniger dubiosen Figuren umgeben. Von dem (allerdings selbst immer wieder in Schwierigkeiten mit dem Regime geratenden) Boris Blacher, der ihm das Handwerk beibrachte, von dem stramm mitmarschierenden Werner Egk, der die Fraktion der Komponisten in der Reichmusikkammer anführte und den jungen Kollegen als Mitarbeiter wirken liess, von Carl Orff, dem väterlichen Freund. Hitler, dem er während seiner Assistenz bei den Bayreuther Festspielen persönlich begegnete, bewunderte Einem über die Massen; so wie der Führer, er nannte ihn ein Genie, wollte der junge Mann werden. Nun gut, viel anderes blieb Einem, der seit frühen Jahren zu den ganz Grossen aufzuschliessen gedachte, als Vorbild nicht übrig – was noch keinen Freispruch ergibt, aber vielleicht doch mildernde Umstände einbringen mag.

Verdienstvoll, dass sich Reiber Schlussfolgerungen solcher Art versagt. Aus schonungsloser Distanz heraus breitet er die Faktenlage aus, zunächst nichts als das. Dann freilich schreitet er zu kreativer, bisweilen gewagter Interpretation – und macht so deutlich, dass auch die Lebensschilderung durch einen Aussenstehenden Momente des Subjektiven einschliesst. Ein Elternhaus, das ihm Wärme bot und ihn Selbstsicherheit finden liess, kannte Einem nicht. Der leibliche Vater hatte sich nach der Zeugung seines Sohns abgesetzt; der Mann, den der kleine Gottfried Vater nannte, war sein Ernährer – was seine Mutter verheimlichte, durch Zufall dann aber doch ans Licht kam. Die Mutter selbst schildert Reiber als eine undurchsichtige Netzwerkerin mit Beziehungen bis hin zu Hermann Göring – Einem nannte den «Generalfeldmarschall» beim Vornamen. Anwesend war sie kaum, diese Mutter, dafür war Geld in Hülle und Fülle vorhanden – ebenso wie jene Protektion, die den jungen Einem nach Kriegsende ins Zentrum des künstlerischen Neubeginns katapultierte.

Aus diesen Anfängen kondensiert Reiber die psychosoziale Konstellation, in deren Licht er Einems Leben sieht: den Narzissmus, der mit anhaltenden Störungen in der Beziehung zu Frauen einherging, der einen Geltungsdrang und eine Sucht nach öffentlicher Anerkennung mit sich brachte und der am Ende vielleicht sogar die Grundlage für den ästhetischen Konservativismus des Komponisten bildete. Mit der Darmstädter Avantgarde hatte er jedenfalls rein gar nichts am Hut, das verbindet ihn mit dem acht Jahre jüngeren Friedrich Cerha. Doch während Cerha mit eiserner Konsequenz und mit sehr langsam wachsendem, aber nachhaltigem Erfolg seinen eigenen Weg beschritt, gab sich Einem, der wie seine Mutter über eine einzigartige Befähigung zum Netzwerken verfügte, dem Strippenziehen hin. Nicht zuletzt in eigenem Interesse: Als Kurt Waldheim Generalsekretär war, besorgte sich der Komponist einen Auftrag der Uno; später, in der Waldheim-Affäre, stand er dafür dem heftig umstrittenen Bundespräsidenten zur Seite. Die Erinnerung an Momente solcher Art dürften nicht überall auf Gefallen stossen.

Dabei ist nur gesagt, was gesagt werden muss. Und es wird differenziert gesagt. In Reibers Biographie sieht sich Einem nicht einfach zum gnadenlosen Mitläufer gestempelt, es wird auch angeführt, wie der Komponist in einem Hochrisikospiel sondergleichen einem jüdischen Musiker einen lebensrettenden Ausweis besorgt hat. Vor allem zieht das Leben Gottfried von Einems in einer äusserst geschickt gebauten, dicht verwobenen Geschichte am Leser vorbei. Chronologie gibt es keine, strenge thematische Ordnung ebenso wenig. Die Opern, die nur in den Zitaten aus den Besprechungen der Uraufführungsrezensenten Form annehmen, bieten dagegen Anlass, einzelne Aspekte aus des Komponisten Leben zu behandeln oder Momente der ästhetischen Entwicklung wie etwa die von Adorno dominierte Diskussion um den Stellenwert des Schönen in der Musik zu beleuchten. Ein ungeheuer farbiges Panoptikum erwächst aus dieser methodischen Anlage. Man betrachtet es mit ebenso viel Vergnügen wie Gewinn.

Joachim Reiber: Gottfried von Einem. Komponist der Stunde Null. Kremayr & Scheriau, Wien 2017. 253 S., Fr. 32.90.