«…alles für Freuden erwacht»

Die Bamberger Symphoniker und ihr Chefdirigent Jakub Hrůša glänzen mit Mahlers Vierter

 

Von Peter Hagmann

 

Inzwischen sind sie schon gut zusammengewachsen, die Bamberger Symphoniker und ihr im Herbst 2016 angetretener Chefdirigent Jakub Hrůša. Und nun, nach Auseinandersetzungen mit Smetana sowie mit Brahms und Dvořák in etwas eigenartiger Kombination, haben sie für ihre Aufnahmeprojekte Gustav Mahler in den Blick genommen. Das zeugt deshalb von Mut, weil die Gesamteinspielung der Sinfonien Mahlers mit Jonathan Nott, dem Vorgänger Hrůšas in Bamberg zwischen 2000 und 2016, Marksteine gesetzt hat, die nicht vergessen sind. Aber gesperrt ist der Komponist natürlich nicht – weshalb die Bamberger und Hrůša im Januar 2020 mit Mahlers Vierter auf Tournee gegangen sind. Wenig später trat der Lockdown in Kraft, und da war auch in Bamberg guter Rat teuer. Der Möglichkeit beraubt, Konzerte zu geben, suchte das Orchester nach Wegen, gleichwohl tätig zu sein – mit Aufnahmen eben. Schutzkonzepte wurden entworfen, der Joseph-Keilberth-Saal in Bamberg etwas adaptiert, damit die vorgegebenen Abstände eingehalten werden konnten. Im Juli 2020 wurde Mahlers Vierte mit leicht reduzierter Streicherbesetzung – das Bild im Booklet zeigt elf Mitglieder der Ersten Geige – in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet. Und so aufgezeichnet, dass der Höreindruck absolut gültig wirkt.

Die Aufnahme wartet mit manch blendend gelungener Lösung, auch manch überraschender Anregung auf. Hrůša wählt langsame Tempi, allerdings nicht so grossartig gemessene und konsequent durchgehaltene wie Riccardi Chailly in seiner Aufnahme mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest von 1999. Hrůša steigt sehr gezügelt in den Kopfsatz ein, bleibt aber nicht im gewählten Zeitmass, sondern steigert es mächtig. Und den ersten schnelleren, mit «frisch» überschriebenen Teil lässt er nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg über ein Accelerando eintreten. Solche auch andernorts auftretenden Massnahmen unterlaufen die plötzlichen Gemütswechsel, ja die Brüche, die dem Werk auch eingeschrieben sind, und führen zu Verharmlosungen. Im Ganzen ist die äusserst belebte, von Mahler detailliert eingeforderte Tempopalette jedoch ausgezeichnet getroffen – dies in Verbindung mit einem hellen, sehr durchhörbaren Ton. Das erlaubt dem Dirigenten, die kontrapunktischen Reize der Partitur in aller Klarheit hörbar zu machen – und in der Durchführung des Kopfsatzes das von der Zweiten Trompete vorgetragene Schicksalsmotiv, mit dem später dann die Fünfte Sinfonie anheben sollte, erschütternd heraustreten zu lassen. Übrigens sind in dieser Einspielung die Trompeten, die in Smetanas «Vaterland», der 2016 erschienenen Debütaufnahme Hrůšas mit den Bambergern, noch arg amerikanisch herausstachen, makellos ins klanglich Ganze eingebunden.

Sehr scharf gezeichnet kommt das das Scherzo des zweiten Satzes daher. Mit seinem bewusst verstimmten Instrument wird der Konzertmeister hier zu einem echten Teufelsgeiger, die Holzbläser sorgen mit aufgerichteten Schalltrichtern für grelle Farben, während die von Mahler vorgeschriebenen Glissandi in ihrer Ausdrücklichkeit schräge Akzente setzen. Das Trio beantwortet die Szenerie dann in wunderschöner Langsamkeit. Ruhig ausgesungen auch der dritte Satz, in dem sich eine ebenso durchdachte wie natürlich wirkende Tempodramaturgie entfaltet. Eindrücklich der Höhepunkt des Satzes, an dem die hervorragend aufgestellten Bamberger ein Tutti von grossartiger Klangpracht bieten. Und dann das Finale mit dem Sopransolo. Anna Lucia Richter erscheint hier nicht so frei wie bei der denkwürdigen Aufführung von Mahlers Vierter mit Bernard Haitink zur Eröffnung des Lucerne Festival 2015. Sie pflegt ein fast übertriebenes Legato, das durch ebenfalls zugespitzte Konsonanten unterteilt wird; gefragt wäre hier engelsgleiche, auch von der Sprache ausgehende Leichtigkeit, wie sie Camilla Tilling oder Mojca Erdmann, Christine Schäfer oder Christine Whittlesey geboten haben. Im weiteren Verlauf lässt Anna Lucia Richter den Manierismus des Satzbeginns jedoch glücklich hinter sich, so dass am Ende der Sinfonie tatsächlich «alles für Freuden erwacht».

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4. Anna Lucia Richter (Sopran), Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša (Leitung). Accentus 30532 (CD, Aufnahme 2020, Produktion 2021).

Das Konzert als magischer Moment

Lucerne Festival – Bernard Haitink am Pult des Chamber Orchestra of Europe

 

Von Peter Hagmann

 

Verächter des Lucerne Festival – die gibt es – behaupten nach wie vor, nach Luzern brauche man nicht zu reisen, die grossen Orchester, die dort in verdichteter Folge auftreten, könne man in jeder Weltstadt hören: beim Musikfest Berlin oder im Wiener Musikverein, in der Philharmonie de Paris oder einem der Konzertsäle in London. Damit hat es etwas auf sich; vieles, was das Lucerne Festival bietet, basiert auf Tourneen – jetzt zum Beispiel der dreiteilige Monteverdi-Zyklus mit John Eliot Gardiner, der seit April dieses Jahres durch Europa zieht. Was die Verächter jedoch übersehen, ist der Wandel, der sich beim Lucerne Festival in den vergangenen fünfzehn Jahren ereignet hat. Der mit Emphase vertretene Fokus auf neue Musik gehört ebenso dazu wie die Förderung nachrückender Musiker sowie die Pflege junger und jüngster Publikumsschichten – da hat sich rund um die Sinfoniekonzerte ein Angebot ausgebildet, das seinesgleichen sucht. Gewachsen ist aber auch der Anteil an Eigenproduktionen und damit die Stärkung der eigenen Marke, wie sie das Lucerne Festival Orchestra und das Lucerne Festival Academy Orchestra ermöglichen. Eine bedeutsame Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch das Chamber Orchestra of Europe, das seit Jahren als heimliches Residenzorchester am Lucerne Festival mitwirkt.

Und dies nicht nur, aber vor allem, weil Bernard Haitink ebenfalls seit Jahren als heimlicher «Conductor in Residence» bei den Luzerner Festivals auftritt, und das oft und besonders gerne mit dem Chamber Orchestra of Europe. Ganze Zyklen sind so entstanden; die Sinfonien und Instrumentalkonzerte Ludwig van Beethovens, Robert Schumanns und Johannes Brahms‘ hat sich Haitink mit dem 1981 gegründeten, eng mit dem Denken und Wirken Claudio Abbados verbundenen Orchester erarbeitet – animiert durch die Möglichkeiten, die dieser verhältnismässig klein besetzte, agile und ästhetisch offene Klangkörper bietet. Für den hoch in den Jahren stehenden, über eine Erfahrung sondergleichen verfügenden Dirigenten war mit dieser Zusammenarbeit nochmals ein echter Aufbruch verbunden. Und das Orchester, das ist zu sehen wie zu hören, schätzt die Kooperation mit dem alten Meister über die Massen. So haben diese Konzerte, inzwischen fester Bestandteil des Festivals, immer wieder zu tief berührenden Hörerlebnissen geführt – zu Erlebnissen, die so eben nur in  Luzern möglich geworden sind.

Diesen Sommer erreichte das Wechselspiel zwischen dem Chamber Orchestra of Europe und Bernard Haitink eine ganz besondere Qualität. Nicht wegen der Sinfonie in C-dur, KV 425, der «Linzer», von Wolfgang Amadeus Mozart. Die war ein Vorspiel – wenn auch eines, das erkennen liess, in welchem Mass Haitink in der Gegenwart steht, wie offen er sich gegenüber den Strömungen dieser Zeit verhält und wie kreativ er den Wandel der Paradigmen für sich nutzbar macht. Nein, zum Ereignis wurden elf ausgewählte Lieder aus der Sammlung «Des Knaben Wunderhorn» von Gustav Mahler. Sie liessen den Zuhörer, die Zuhörerin sprachlos zurück: existentiell berührt durch Dimensionen der musikalischen Vertiefung, die ganz selten nur zutage treten. Das Konzert als magischer Moment, fürwahr. Was Achim von Arnim und Clemens Brentano in ihrer Sammlung von Gedichten zu Papier gebracht haben, spitzt alltägliche Situationen immer wieder in fast unerträglicher Manier auf Katastrophen hin zu, und Mahler hat das in ungeheuer treffende, mit wenigen Strichen arbeitende Musik gefasst. Zusammen mit der jungen Sopranistin Anna Lucia Richter, die Haitink in Luzern kennen und schätzen gelernt hat, und dem Bariton Christian Gerhaher haben Orchester und Dirigent diese Wunderwerke zu erschütternder Wirkung gebracht.

Zu Beginn, in «Der Schildwache Nachtlied», mochte man fürchten, Christian Gerhaher sei nicht voll bei Stimme, die Schilderung des Lebens im Krieg aus der Sicht des seiner Hoffnungslosigkeit bewussten Soldaten klang wie markiert. Es war aber gerade umgekehrt, Gerhaher befand sich bereits im Modus des Ultraleisen, fast Gesprochenen, das Haitink hier im Sinn hatte, während das Orchester noch eine Spur zu laut war. Bei «Des Antonius Fischpredigt» befanden sich Vokales und Instrumentales dann auf gleicher Ebene, die Ironie des Textes trat ungeschmälert heraus. Äusserst witzig der vom Esel entschiedene Wettbewerb zwischen Kuckuck und Nachtigall, den Anna Lucia Richter mit ihrer hellen und gleichwohl körperhaften Stimme und ihrer fabelhaften Diktion schilderte. Danach wurde es arg und ärger, sang die Sopranistin von der Mutter, die dem hungrigen Kind nicht rechtzeitig ein Stück Brot zu reichen vermag, und schilderte Gerhaher mit seinem einzigartigen Vermögen, die Worte in Klang zu bringen und doch Worte zu lassen, von den Soldaten in Reih und Glied und dem Tambourgesell, der zum Galgen schreitet. Schliesslich: «Urlicht», eine Begegnung mit letzten Dingen. Dieses ebenso niederschmetternde wie tröstliche Gedicht, das hier nicht einer Frauenstimme übertragen war wie in der zweiten Sinfonie, sondern von Gerhaher intoniert wurde – es klang noch leiser als möglich, noch eindringlicher als denkbar. Am Schluss erstarb die Musik und wurde zu jener Stille, aus der sie kommt.

Vgl. auch: Im Garten der Identität. Ein Luzerner Wochenende mit Riccardo Chailly und Heinz Holliger (Bericht aus der NZZ vom 23.08.17)