Wagners «Rheingold» in historischer Praxis,
nun beim Lucerne Festival
Von Peter Hagmann
Knapp zwei Jahre sind vergangen seit jenem aufregenden Abend in der Kölner Philharmonie, der «Das Rheingold», den Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», in ungewohntem Gewand vorstellte. In jenem Gewand nämlich, das dem Komponisten zur Verfügung stand – ja mehr noch: das er sich zum Teil selbst erschaffen hatte. Nicht ein Orchester heute üblicher Art war da am Tun, sondern das Concerto Köln, ein auf Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sowie auf die historisch informierte Aufführungspraxis spezialisiertes Ensemble, das sich um ein Mehrfaches seiner achtzehn Mitglieder umfassenden Stammbesetzung erweitert hatte. Mit von der Partie war ein anderer Novize, denn der Dirigent Kent Nagano war bisher als pointierter Vertreter der neuen Musik und als luzider Interpret des klassisch-romantischen Repertoires bekannt, nicht aber als Leuchtturm im Bereich der historischen Praxis. Ein Wagnis erster Güte war das. Geworden ist daraus ein Coup, dessen Folgen sich noch in keiner Weise absehen lassen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21).
Mir nichts, dir nichts wird ein solches Projekt nicht möglich. So sehr sich die historisch informierte Aufführungspraxis entwickelt hat, so gut es auch schon erste Annäherungen, etwa mit Roger Norrington und Simon Rattle im Konzert, mit Hartmut Haenchen und Thomas Hengelbrock in Bayreuth, gegeben hat – grundsätzlich und umfassend hat sich an Wagner bisher niemand aus dem Bereich der historischen Praxis herangewagt. Vier Jahre der Vorbereitung gingen der konzertanten Aufführung von «Rheingold» in Köln voraus; «Wagner-Lesarten» nannte sich die Forschungseinrichtung, in deren Rahmen Aspekte des Instrumentenbaus im späten 19. Jahrhundert, Fragen der Spielweise und des Gesangsstils, auch solche der Gestik erörtert wurden. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden breit diskutiert und mit Hilfe spezialisierter Workshops in die Praxis übergeführt.
Das alles war mit enormem Aufwand verbunden und führte zu einem Katalog an Aufgaben, der die Möglichkeiten des Concerto Köln bei weitem überstieg. Um den «Ring» als Ganzes in dieser Form zu bewältigen, bedurfte es eines leistungsstarken Partners; gefunden wurde er in den Dresdner Musikfestspielen. Dort gibt es die notwendige Infrastruktur, dort steht mit dem Dresdner Festspielorchester sogar ein historisch informiert arbeitender Klangkörper bereit, und von dort aus konnten auch die erforderlichen finanziellen Mittel beschafft werden. So kam es zu einem Neustart auf erweiterter Basis. Ab 2023 soll jedes Jahr ein Teil der Tetralogie im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis erarbeitet werden. Das Resultat soll jeweils zuerst bei den Dresdner Musikfestspielen vorgestellt werden und danach auf Tournee gehen. So ist dieses buchstäblich unerhörte «Rheingold» diesen Sommer zum Lucerne Festival gekommen – mit überwältigendem Erfolg. Und natürlich besteht die Hoffnung, dass die Luzerner Begegnungen mit diesem einzigartigen Unternehmen in den kommenden Jahren (und auch über den Luzerner Direktionswechsel hinaus) weitergeführt werden. Dies auch gleichsam als Fortsetzung der unvergesslichen Luzerner «Ring»-Abende mit Jonathan Nott und den Bamberger Symphonikern im Wagner-Jahr 2013.
Wer in Köln dabei war, dem bot die Begegnung mit der nun aus Dresden hergekommenen Luzerner Wiederaufnahme von «Rheingold» Erfahrungen ganz eigener Art. Der Ansatz war derselbe, die Konkretisierung unterschied sich aber doch merklich. Schon allein darum, weil neben dem Concerto Köln mit dem von Ivor Bolton betreuten Dresdner Festspielorchester ein zwar schon vor gut zehn Jahren gegründeter, jedoch noch weitgehend unbekannter Klangkörper mit dabei war. Die Farbigkeit des Orchesters, der mit Darmsaiten bezogenen Streicher, der zum Teil eigens rekonstruierten Blasinstrumente, sie schuf auch in Luzern ungeheure Wirksamkeit, zumal im Bereich der Bläser, die ein Spektrum zwischen abgrundtiefer Schwärze und leuchtender Helligkeit ausbreiteten. Als Preis dafür war – besonders ausgeprägt in jenem Moment am Ende, da die von Wotan angeführte Götterschar die Brücke überquert und Walhall in Besitz nimmt – eine befremdende Heterogenität im starken Gesamtklang des Orchesters in Kauf zu nehmen. Scharf, ja grell klang dieses Tutti, und das in stärkerem Ausmass als in Köln. Vielleicht muss es so sein; Instrumente von starker Individualität bilden gerne einen attraktiv wirkenden Spaltklang, fügen sich aber weniger leicht in einen Mischklang. Das kann auch andernorts, etwa bei Les Siècles mit François-Xavier Roth oder beim Orchestre Révolutionnaire et Romantique von John Eliot Gardiner, zu hören sein.
Auch was die klangliche Transparenz betrifft, blieben in Luzern, anders als in Köln, einige Wünsche offen – übrigens auch für Kent Nagano, der gestisch Schwerarbeit leistete, der da dämpfte und dort ermunterte. Mag sein, dass das nicht nur auf die Saalakustik und die Tücke des Moments, sondern auch auf die veränderte Aufstellung des Orchesters zurückzuführen ist. In Köln nämlich waren auch die Streicher doppelchörig aufgestellt – wobei zwei Geigen- und zwei Bratschengruppen durch einen in einem Halbkreis von links nach rechts durchs Orchester reichenden Halbkreis von Celli verbunden waren. Das schuf eigenartig und auffallend viel Raum für die Mittelstimmen und die dort versteckten Bereicherungen, die in gewöhnlichen Aufführungen kaum je so deutlich wahrzunehmen sind. In Luzern dagegen war das Orchester nach der Art der traditionellen deutschen Aufstellung konfiguriert; hier sassen nur die Geigen einander gegenüber, während die Bratschen und die Celli die üblichen Blöcke in der Mitte formten. Das wird gewiss seine Gründe haben, muss aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Von all dem abgesehen bot der Abend Reiz und Anregung in Hülle und Fülle. Kent Nagano sorgte für meist frisch, vielfältig abgestufte und logisch aufeinander bezogene Tempi, die sich nicht an der Schönheit des vokalen Lauts, sondern vielmehr am Duktus der gesprochenen Sprache orientierten – so wie es sich Wagner gewünscht hat. Und Kraft gab es reichlich, wenn auch frei von Bombast und ohne Druck auf die Singstimmen; geprägt durch seine jahrzehntelangen Erfahrungen in den Orchestergräben weiss Nagano ganz genau, wie er das Orchester einen Akzent setzen und dann sogleich wieder zurücktreten lassen kann. Das gegenüber Köln weitgehend veränderte Ensemble der Sängerinnen und Sängern dankte es ihm ebenso wie das Publikum, das die ungewohnte, eben nicht auf dem Schrei basierende Singkunst bei Wagner entdecken konnte. Ania Vegry (Woglinde), Ida Aldrian (Wellgunde) und Eva Vogel (Flosshilde), die drei schon in Köln beteiligten Rheintöchter, gaben es gleich am Anfang zu erkennen: mit nuanciertem Vibrato und, vor allem, mit dem Einsatz der Sprechstimme, wie ihn Wagner bei der von ihm verehrten Wilhelmine Schröder-Devrient gehört haben soll.
Mit Daniel Schmutzhard, ebenfalls aus Köln übernommen, stand den Rheintöchtern ein ungeheuer energiegeladener Alberich gegenüber. Simon Bailey gab demgegenüber einen ganz und gar gelassenen Wotan, an dem sich die argwöhnische Fricka von Annika Schlicht, ebenfalls mit sorgfältigem Einsatz des Vibratos, nach Massen abarbeiten durfte. Als Luzerner stand Mauro Peter am richtigen Platz, für die Partie des Loge ist er aber alles andere als der Richtige; sein warmer, fülliger Tenor erreicht keineswegs jene Agilität im Parlando, die dem einer Flamme gleichenden Halbgott auf den Leib geschrieben ist. Da ging es Gerhild Romberger, die wie schon in Köln die Erda sang, wesentlich besser, konnte sie doch ihrem dunklen Mezzosopran freien Lauf lassen. Kleinere Aufgaben übernahmen Dominik Köninger und Tansel Akzeybek als Donner und Froh, Nadja Mchantaf als Freia und Thomas Ebenstein als Mime sowie Christian Immler und Tilmann Rönnebeck als die Riesen Fasolt und Fafner. Bewundernswert, in wie hohem Mass und mit welcher Zielsicherheit das gesamte Ensemble aus Musik und Sprache heraus agierte, den Text verständlich werden liess und den Klang mit einer neuen Art Emphase versah. Szenisches wurde nur angedeutet, mehr braucht es nicht. Liegt im historisch informierten Ansatz die Zukunft? Als eine gewinnbringende Alternative in jedem Fall – erst recht vielleicht dann, wenn das Modell im verdeckten Graben des Bayreuther Festspielhauses ausprobiert wird.