«Champagne!»

Das Concerto Copenhagen erinnert an
Hans Christian Lumbye

 

Von Peter Hagmann

 

Lumbye? Wer bitte? Heute ist nicht einmal mehr sein Name bekannt, von seiner Musik ganz zu schweigen. Zu seinen Lebzeiten jedoch war der dänische Geiger, Trompeter, Komponist und Dirigent Hans Christian Lumbye (1810-1870) ein Pop-Star. Und dies keineswegs nur in Kopenhagen, dem Zentrum seines Wirkens, sondern auch in musikalischen Metropolen wie Wien, Paris, Berlin, St. Petersburg. Sohn eines Militärmusikers und als ausserordentlich begabt erkannt, lernte Lumbye Geige und Trompete, später nahm er Stunden in Musiktheorie. Um des Lebensunterhalts willen verdingte er sich als Trompeter in einer Regimentskapelle. In seiner Freizeit spielte er mit Kollegen zum Tanz auf, und nicht selten lagen dabei Stücke aus eigener Feder auf den Pulten, deren Aufführung er von der Geige aus leitete.

Wie es der Zufall wollte, besuchte Lumbye 1839 ein Konzert im Hotel d’Angleterre in Kopenhagen. Angesagt war dort der Auftritt eines Ensembles aus der Steiermark, geleitet von einem Musiker aus Wien, und auf dem Programm standen Werke von Johann Strauss Vater (1804-1849) und Joseph Lanner (1801-1843). Lumbye war auf der Stelle Feuer und Flamme für diese Art Walzer und Polkas; er beschloss, was er als Gastspiel gehört hatte, in Kopenhagen als feste Einrichtung zu verankern und gründete zu diesem Zweck gleich ein Orchester. Im Tivoli, dem 1843 eröffneten Vergnügungspark am Stadtrand von Kopenhagen, fand er zusammen mit seinen Musikern das passende Podium. Rasch wurde Lumbye zum Idol, das Publikum strömte herbei – allerdings nur im Sommer. Im Winter, wenn es im Tivoli nichts zu tun gab, ging das Orchester auf Tournee. Zum Beispiel nach Wien, wo sich Johann Strauss Vater und seine Kumpanen vorgenommen hatten, Lumbye auszubuhen. Als die Kumpanen sahen, wie begeistert Strauss seinem dänischen Kollegen applaudierte, fiel der Widerstand in sich zusammen. Man schloss Freundschaft.

Und hier kommt der zweite Zufall ins Spiel. In den Jahren der Pandemie sahen sich das Concerto Copenhagen und sein Leiter Lars Ulrik Mortensen, ein angesagtes dänisches Barockorchester, aller Möglichkeiten des Auftritts beraubt. Zugleich hatte das Ensemble Besuch bekommen von Henrik Engelbrecht, der an einem Buch über Kopenhagens Tivoli und damit über Hans Christian Lumbye arbeitete. Der dänische Musikologe wollte wissen, wie Lumbyes Musik zur Zeit ihrer Entstehung geklungen haben mochte. Auch da sprang der Funke. Man konsultierte die originalen Notentexte, man machte sich auf die Suche nach den adäquaten Instrumenten – was besonders bei den Bläsern und dem reichlichen Schlagzeug, das Lumbye einzusetzen pflegte, mit besonderem Aufwand verbunden war. Schliesslich stand das geforderte Ensemble mit elf Streichern und dreizehn Bläsern, auch mit Pauken und Becken, mit Xylophon und Glockenspiel – alles so originalgetreu wie möglich.

Was es nun in den neun Nummern der bei Dacapo Records erschienenen CD zu hören gibt, macht sensationellen Effekt: Wiener Walzer, um es mit diesem Oberbegriff zu umschreiben, im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Der Klang hat nichts von der heute üblichen Weichzeichnung, er lebt nicht von Homogenität, sondern vielmehr von der Aufspaltung der Farben, was angesichts der Dominanz der Bläser von besonderer Wirkung ist. Frech klingt Lumbyes Musik, bisweilen schräg, immer von zündender Energie getragen, auch von pointierter Artikulation und sehr schönen Tempi. So wird deutlich, dass Lumbye einen würdigen Platz neben den Königen und dem Kaiser des Wiener Walzers für sich beanspruchen darf. Seine Partituren sind von geistreichem Witz und vielschichtiger Erfindung.

Den Auftakt der CD macht der Champagner-Galopp von 1845, das bekannteste Stück von Meister Lumbye. Frisch und knackig kommt es daher, und der von einer eigens zu diesem Zweck erbauten Maschine an genau richtiger Stelle zum Knallen gebrachte Korken sorgt für besonderen Spass. Wenig später im Programm die Verbeugung Lumbyes vor den Ahnen: mit «Die Mozartisten», einem erheiternden Verschnitt aus «Don Giovanni» und «Zauberflöte» von Joseph Lanner, und mit dem Champagner-Walzer von Johann Strauss Vater. Darauf ein bunter Strauss an quicklebendigen Stücken Lumbyes, in denen zur Silbernen Hochzeit des Königspaars getanzt wird und in denen das Vogelgezwitscher wie der Kuckucksruf ihre Auftritte haben. Wer einen Durchhänger hat, mag zu dieser CD greifen oder sie auf einer der Internet-Plattformen auffinden. Es wird ihm alsbald besser gehen.

«Champagne!»: The Sound of Lumbye und His Idols. Concerto Copenhagen, Lars Ulrik Mortensen (Leitung). Dacapo Records 8.224750 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023). Vertrieb: www.musikontaktshop.ch.

Bruckner gestern und heute

Das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet seine neue Saison

 

Von Peter Hagmann

 

Warum nur? Warum nur so laut – auch in der neunten Sinfonie Anton Bruckners, mit der das Tonhalle-Orchester Zürich seine neue Saison eröffnet hat? Die dynamischen Spitzen überstiegen die akustische Kapazität der Grossen Tonhalle am See; auch in der allerhintersten Reihe des Saals, wo sich gross besetzte Stücke besonders gut verfolgen lassen, begann wohl nicht nur beim Berichterstatter das Gehör zu leiden. Und mehr noch: Es war das Werk selbst, das unter der vom Dirigenten Paavo Järvi verordneten Lautstärke Einbussen erlitt. Ein einziges Beispiel dazu. Der dritte und letzte Satz der unvollendeten Neunten Bruckners steht im Zeichen eines mächtigen Akkords, der sich drei Schritten, der Dreieinigkeit gemäss, auf eine Kulmination von unglaublicher Dissonanz hin zubewegt. In diesem Moment, so immer wieder der Eindruck, scheint sich der Himmel zu öffnen und scheint der Komponist verzweifelt nach seinem Schöpfer zu rufen – nach jenem Gott, dem er seine Neunte gewidmet hat. Die Wissenschaft lehnt diese Deutung ab. Doch wer bedenkt, in wie vielen Kirchen, und vor allem barock ausgemalten Kirchen, Bruckner an den Orgelspieltischen sass, von welch genuiner Gläubigkeit der Komponist war und wie ausgeprägt seine Todesahnungen in den letzten Lebensjahren waren, der wird sich einem Verständnis der Kulmination als Blick in die Unendlichkeit des offenen Himmels nicht verschliessen.

Die drei Akkorde bilden das Zentrum der Sinfonie. In der Aufführung durch das Tonhalle-Orchester und seinen Chefdirigenten wurden sie ihrer Lautstärke wegen zum Problem. Zum einen gab es keine Steigerung vom ersten zum dritten der drei Akkorde. Die Akkorde waren nur laut, und alle gleich laut; schon beim ersten war das Pulver verschossen. So standen sie als grobe Blöcke nebeneinander – als ob sie der Organist Bruckner an seinem vergleichsweise starren Instrument gespielt hätte. Zum anderen liessen sie keine harmonisch klare Struktur erkennen; sie wirkten als Tonhaufen, ohne Richtung, ohne Gewichtung. Dem künstlerischen Niveau, welches das Tonhalle-Orchester für sich in Anspruch nimmt, entspricht das in keiner Weise. Ein Forte-Fortissimo, das keine Rücksicht auf die akustischen Bedingungen nimmt, verletzt die Grundlagen des musikalischen Tuns – genau gleich wie ein Akkord, der, weil die Blechbläser in ihrer gleissenden Schärfe alles andere zum Erliegen bringen, durch den Zuhörer nicht verstanden werden kann. Dazu kommt, dass die Vorstellung von Bruckners Musik als einer parataktischen, ja erratischen Kunst überholt ist. So hat man nach dem Zweiten Weltkrieg und bis tief ins 20. Jahrhundert hin gedacht. Inzwischen war eine Generation an Dirigenten am Werk, die bei Bruckner ganz andere Seiten entdeckt hat: das Geschmeidige, das Samtene, das Bewegliche, das Organische, das Wachsen.

Im Bruckner-Bild Paavo Järvis findet sich dafür wenig Platz. Dass das ohne Bedacht, ohne Reflexion so eingerichtet wäre, wage ich nicht anzunehmen. Eher vermute ich eine Absicht dahinter. Auf den beiden Compact Discs mit Bruckners Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, die Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester Zürich beim Label Alpha vorgelegt hat, kann von Problemen mit der Lautstärke keine Rede sein. Das erstaunt nicht. Überschiessendes kann am Mischpult jederzeit und problemlos reguliert werden, den Streichern und den Holzbläsern kann etwas mehr, den Blechbläser etwas weniger Kraft gegeben werden. Zu hören sind auf den Aufnahmen aber auch, und vor allem, die speziellen Farben, welche die Hörner, namentlich jedoch das schwere Blech mit den Trompeten und Posaunen in den Momenten zugespitzter Kraftentfaltung einbringen – das hat seinen eigenen Reiz. Um diese Effekte zu erzielen, kann Järvi allerdings nicht anders, als im Konzert – die Einspielungen werden «live» aufgenommen – auf volle Kraft zu setzen. Die schwer erträgliche Lautstärke also im Interesse der Aufnahme, aber leider auf Kosten der Zuhörer im Saal?

Jenseits dessen zeigt sich das Tonhalle-Orchester Zürich in Bruckners Neunter, wie sie Paavo Järvi versteht, und das gilt mutatis mutandis auch für die Auslegungen der Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, als ein Klangkörper von beachtlich gewachsener Qualität. Der traditionsgemäss grundtönig ausgerichtete Klang ist uneingeschränkt lebendig, er wird getragen von Homogenität, Volumen und Wärme. Dazu gekommen ist eine Reaktionsfähigkeit, die auf das solide Einvernehmen zwischen dem Orchester und seinem Musikdirektor schliessen lässt. Gemäss deutscher Tradition links und rechts vom Dirigenten aufgestellt, finden die beiden Geigengruppen zu lebendigem Dialog – die Zweiten übrigens auf Augenhöhe mit den Ersten Geigen. Die Holzbläser fügen prononcierte Farben in den Gesamtklang ein, sie erhalten allerdings nicht immer ausreichend Raum. Prachtvoll wie stets die vier Hörner und die vier Wagner-Tuben, zu denen sich eine auffallend flexible Solo-Tuba gesellt. Keine Wünsche offen lassen auch Trompeten und Posaunen, nur müssten sie, wie vermerkt, besser im Zaum gehalten sein. Dazu kommt eine ausgeprägte Sorgfalt in der Gliederung der langen Sätze. Die Grundlagen sind gegeben, es scheint auch entschieden an ihnen gearbeitet worden zu sein. Entschiedener jedenfalls als an der Schärfung des interpretatorischen Profils; diesbezüglich war in den vergangenen Wochen beim Lucerne Festival zu hören, wie hoch die Latte liegen kann.

Bei Kian Soltani, diese Saison im Fokus des Tonhalle-Orchesters, sind solche Anmerkungen obsolet. Äusserst persönlich ging er im ersten Teil des Abends das Cellokonzert Robert Schumanns an: mit einem berückend singenden Ton und einer Freiheit in der Tempogestaltung, die nicht nur die Phrasen zeigte, sondern auch enormes Ausdruckspotential freisetzte. Mag sein, dass er da und dort eine Spur zu weit ging; der langsame Mittelsatz geriet bisweilen hart an der Grenze zum Kitschigen. Aber besser zu viel des Guten als korrekt und ein wenig langweilig.

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7 in E-dur. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 932 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2022).
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 c-moll. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 872 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).

Im Fruchtland des Kontrapunkts

Bachs Wohltemperiertes Klavier
mit dem Cembalisten Andreas Staier

 

Von Peter Hagmann

 

Zurückhaltend, ja bescheiden hebt das berühmte Präludium in C-Dur an; die Folge der gebrochenen Akkorde, die Johann Sebastian Bach wie in einem Rausch erfunden zu haben scheint, ist in das gedämpfte Licht des Lautenzugs getaucht. Andreas Staier ist nicht ein Mann der grossen Töne, auch hier nicht, bei seiner Beschäftigung mit dem Wohltemperierten Klavier. Begonnen hat Staier seine nun auf vier Compact Discs vorliegende Arbeit im Aufnahmestudio allerdings nicht mit dem ersten, sondern mit Band II der je vierundzwanzig Präludien und Fugen durch die zwölf Dur- und die zwölf Moll-Tonarten der hierzulande üblichen Tonleiter. 1740 entstanden, ist dieser zweite Band einer Schaffensphase zuzurechnen, in welcher der Komponist Bilanz zu ziehen suchte; anders als der knapp zwanzig Jahre zuvor entstandene Band I, in dem neben der einzigartigen kontrapunktischen Weisheit gerne auch Bachs konzertantes Temperament durchdringt, wirkt dieser zweite Durchgang ernster, intentionaler, daher etwas spröder, auch etwas anspruchsvoller, aber nicht weniger attraktiv. Diesen Stier hat Andreas Staier 2020 bei Teldex in Berlin für das Label Harmonia mundi bei den Hörnern gepackt; im Jahr darauf folgte dann der erste Band.

Anders als dort beginnt in Band II das Präludium in C-Dur – im Wohltemperierten Klavier folgen sich die Stücke ansteigend nach der Ordnung der Klaviertastatur – mit einem klaren Statement: mit einer Oktave auf c in der linken Hand. Bei Staier ist es Paukenschlag. Ans Licht tritt hier eine der Besonderheiten seiner Einspielung. Er verwendet ein grossartiges Instrument, das er grossartig bedient. Viel zu erfahren ist davon leider nicht. Die Booklets vermelden, dass es sich um die Kopie eines 1734 in Hamburg erbauten Cembalos von Hieronymus Albrecht Hass handle, die 2004 von Anthony Sidea und Frédéric Bal in Paris angefertigt worden sei – mehr nicht. Zu hören ist ein Cembalo, das offenkundig mit zwei Manualen und einer Dämpfung nach der Art des Lautenzugs, vor allem aber mit einer 16-Fuss- und einer 4-Fuss-Lage versehen ist, die angespielten die Töne mithin eine Oktave tiefer oder eine höher erklingen lassen kann. Von solchen Instrumenten hat sich die frühe Bewegung der alten Musik ebenso radikal abgewandt wie von der Spielweise etwa Karl Richters. Verächtliche Worte waren da an der Tagesordnung. Bevorzugt und als adäquat angesehen wurden weniger üppig ausgestattete, allerdings gleichwohl hervorragend klingende Cembali allein auf 8-Fuss-Basis.

Nun kommt ein Musiker wie Andreas Staier, der ja keineswegs von gestern, vielmehr klar in der Gegenwart der alten Musik verankert ist und auf dem Stand der aktuellen Erkenntnis agiert – und der effektvoll mit 16-Fuss und 4-Fuss, der Kopplung der Manuale und anderem arbeitet. Die Zeit der ideologischen Scheuklappen ist vorbei, neue Freiheit, die Lust am Spielerischen hat Raum gegriffen – das lässt auch, um nur dies eine Beispiel zu nennen, ein Dirigent wie René Jacobs hören. Basis von Staiers Tun bildet bei aller Freiheit jedoch ganz selbstverständlich die historisch informierte Spielweise mit all ihren Vorzügen. Dazu gehört die klare Unterscheidung zwischen gebundenem und gestossenem Spiel, und mehr noch: die vielfältige Differenzierung dieser Unterscheidung; die Länge des einzelnen Tons innerhalb eines Verlaufs ist auf dem Cembalo (wie auf der Orgel) von ganz besonderer Bedeutung für den musikalischen Ausdruck. Von prägender Wirkung sind ausserdem der ungleichzeitige Anschlag gleichzeitig notierter Töne sowie bisweilen die Abkehr vom regelmässig durchlaufenden Schlag – genauer: die momentane Anpassung der Zeitmasse an die musikalische Struktur oder das Ausdrucksbedürfnis des Interpreten.  Nicht zuletzt gilt das für den sorgsam phantasievollen Umgang mit Verzierungen.

Von all dem lebt die Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers Johann Sebastian Bachs durch Andreas Staier, und dies im Verein mit der phantastischen technischen Versatilität und der enorm ausgebauten Vorstellungskraft des Musikers. Pralles Leben in sinnlichen Klangwelten herrscht da, der kunstvoll gedrechselte Kontrapunkt wird, wie es Bach gewollt, zu unmitttelbar ausstrahlender Musik – wer sich auf diese Welt einlässt, mag nimmer davon lassen. Auf das zarte C-Dur-Präludium am Anfang des ersten Bandes folgt eine vierstimmige Fuge in fürwahr mächtigem Klang – das Cembalo ist in dieser Einspielung von sehr nahe aufgenommen, was der Realität in einem heutigen Konzertsaal wenig entspricht, die Wirkung des Instruments in den viel kleineren Räumen des 18. Jahrhunderts aber sehr wohl spiegelt. Noch majestätischer klingt es im darauffolgenden c-Moll-Präludium, dies durch den Einsatz des besagten 16-Fuss-Registers – und gern führt Staier die Schlussakkorde nicht nur zu deutlicher Kulmination, er lässt sie auch oft lange liegen, wie überhaupt das Nachklingen des Instruments nach dem Abheben der Finger von den Tasten hörbar bleibt.

Immer noch im ersten Band gibt es ein Präludium in Cis-Dur, bei dem zu erleben ist, wie mit Hilfe einer Technik, die den einzelnen Ton in den nächstfolgenden hineinklingen lässt, ein von opulentem Legato getragenes Klangbild entsteht. Etwas Schwierigkeiten mag das Präludium in cis-Moll auslösen; hier nötigt die Stimmung zu einigen Hörkompromissen. Das Wohltemperierte Klavier wird von Staier ja nicht in der heute üblichen Temperierung gespielt, wie es die Pianisten tun; der Stimmer Rainer Sprung hat vielmehr eine, wie es im Booklet heisst, «pragmatische» Mitteltönigkeit verwirklicht, die durch ihre minimalen «Verstimmungen» ein Gefühl dafür aufkommen lässt, welche Revolution das «Wohltemperierte» und somit das Spielen in allen möglichen Tonarten im 18. Jahrhundert bedeutet hat. Äusserst klar in der Folge die fünfstimmige Fuge in cis-Moll, bei deren Wiedergabe die pointierte Artikulation für Durchhörbarkeit sorgt, während zugleich die Arbeit mit dem Tempo für Spannung sorgt – fast möchte man an dieser Stelle von einer Art Steigerungsfuge sprechen. Ausserordentlich virtuos sodann das zweistimmige Präludium in G-Dur wie später das dreistimmige Präludium in A-Dur; Staier geht es frei von Angst vor den nach einem Wechsel in der Gestik eintretenden Sechzehntelketten, jedenfalls in mutig belebtem Tempo an.

Auch im zweiten Band folgt Entdeckung auf Entdeckung, abendfüllend liesse sich davon berichten. Die Rede wäre etwa von der vierstimmigen Fuge in c-Moll, die eine gewaltige Steigerung des Ausdrucks erfährt – dies notabene auf einem Instrument, bei dem man lange Zeit (und vielleicht zu Recht) genau das, die Möglichkeiten des Ausdrucks, als beschränkt moniert hat. Die dreistimmige Fuge in d-Moll: vital artikuliert, auch dort, wo leicht fliessende Triolen dazutreten. Die vierstimmige Fuge in Es-dur: eine Kathedrale in Klängen. Und ganz zum Schluss, ähnlich dem C-Dur-Präludium im ersten Band, die dreistimmige Fuge in h-Moll, die den riesigen Gang zwei Mal durch alle Tonarten ohne Pomp, ein wenig scheu, ja lapidar abschliesst. So ist Andreas Steier: nüchtern und glühend zugleich. Seine Auslegung von Bachs Wohltemperiertem Klavier öffnet ein neues Kapitel in der langen, reichen Interpretationsgeschichte der beiden Bände und stellt der Dominanz der Auslegungen auf dem Klavier ein fulminantes Plädoyer für das Cembalo entgegen.

Johann Sebastian Bach: Das wohltemperierte Klavier. Andreas Staier (Cembalo).
Band 1: Harmonia mundi 902680.81 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023).
Band 2: Harmonia mundi 902682.83 (2 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Geistreiches Vergnügen

A la française – Yaara Tal und
Andreas Groethuysen an zwei Klavieren

 

Von Peter Hagmann

 

Immer noch und immer wieder wissen sie zu überraschen. Unermüdlich durchforsten Yaara Tal und Andreas Groethuysen die Bibliothekskataloge nach Musik für Klavier zu vier Händen oder für zwei Klaviere, und sind sie fündig geworden, tragen sie ihre Schätze mit fulminantem Können und spritzigem Temperament an die Öffentlichkeit. So auch jetzt wieder mit ihrer jüngsten CD-Publikation bei Sony, ihrem Label seit mehr als drei Jahrzehnten, das die Neuerscheinung selbstverständlich auch auf den angesagten Plattformen im Netz greifen lässt. Nach den 18 Studien über Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge», einem anspruchsvollen Werk des Deutschen Reinhard Febel, kommt nun eine sehr hübsch angerichtete Platte mit geistreich unterhaltender Musik aus der spätromantischen Küche Frankreichs auf den Tisch.

Louis Théodore Gouvy – kennen Sie den aus dem Saarland stammenden, in Paris ausgebildeten Komponisten? Vielleicht dem Namen nach. Seine Sonate in d-moll op. 66 von 1876, erst recht aber die kurz danach entstandenen Variationen über das irische Volkslied «Lilli Bulléro» belohnen den hörenden Annäherungsversuch durch individuell geprägten Umgang mit Traditionen, durch speziell gefärbte Harmonik und originelle Einfälle – das alles im Spannungsfeld zwischen deutscher und französischer Kultur. Weiter als Gouvy ging der eine Generation später geborene Théophile Ysaÿe, der heute vergessene, seinerzeit angesehene Bruder des berühmten Geigers. Seine Variationen op. 10 von 1910 durchmessen in der Abfolge der Tonarten zwei Oktaven in Terzschritten, nur ist das kaum wahrzunehmen, denn harmonisch schwebt der musikalische Satz frei im Geiste Debussys. Attraktiv ist das, und was das Stück an technischem Raffinement bereithält, macht staunen.

Im Gegensatz dazu nehmen sich die Variationen über ein Thema Beethovens von Camille Saint-Saëns, sie tragen die Opuszahl 35 und sind 1874 entstanden, klassizistisch aus; sie glänzen jedoch mit sprühendem Witz und untadeligem Handwerk. Das Thema entnahm der Komponist Beethovens Klaviersonate op. 31 Nr. 3. Das Menuett zum Trio dieser Sonate in Es-dur spaltet sein Thema in einen tiefen und einen hohen Bereich, gleichsam in eine Wechselrede zwischen Mann und Frau: die ideale Anlage für eine Verarbeitung auf zwei Klavieren. Der dialogische Effekt geht allerdings etwas verloren, weil die Aufnahme die beiden Klaviere nah zueinander rückt, so wie sie auf dem Podium ja auch aufgestellt sind, darum aber wenig Räumlichkeit erzeugt. Ausgezeichnet ist aber wahrzunehmen, mit welcher Phantasie Saint-Saëns zu Werk geht – wie er das Thema dreht und wendet, es aus hingetupften Akkorden herausscheinen lässt, es zu einem Trauermarsch formt und ihm zum Schluss noch die obligate Fuge abgewinnt. Der «Tourbillon», der Wirbelwind, der Französin Marguerite Méran-Guéroult bietet daraufhin den zündenden Kehraus.

Prickelnd und belebend ist das alles. Und leicht fügt es sich ins Ohr; wer jedoch genauer zuhört, stösst auf manche präzis gesetzte Pointe. Denn Yaara Tal und Andreas Groethuysen gehen mit verschmitzter Spiellust ans Werk. Die geradezu zirzensische Fingerfertigkeit, die hier bisweilen gefordert ist, meistern sie blendend. Und unter ihrem Zugriff klingen ihre beiden Klaviere herrlich opulent, samten in den Bässen, silberhell im Diskant. Viel Vergnügen.

Avec Esprit. Werke für zwei Klaviere. Louis Théodore Gouvy: Sonate in d-moll op. 66, Variationen über das irische Volkslied «Lilli Bulléro» op. 62. Théophile Ysaÿe: Variationen op. 10. Camille Saint-Saëns: Variationen über ein Thema von Beethoven op. 35. Marguerite Méran-Guéroult: Tourbillon. Yaara Tal und Andreas Groethuysen (Klaviere). Sony 196587 10722 (CD, Aufnahme 2022, Produktion 2023).

Vielstimmig im Einstimmigen

Esther Hoppe spielt Sonaten und Partiten Bachs

 

Von Peter Hagmann

 

Sie hat es gewagt. Viele Jahre lang habe sie sich mit den Sonaten und Partiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach beschäftigt, jetzt sei die Zeit gekommen, sagt Esther Hoppe. So hat die Schweizer Geigerin, die seit zehn Jahren eine Professur am Mozarteum Salzburg versieht und auf Beginn der Saison 2024/25 die Leitung der Camerata Zürich übernimmt, ihre Instrumente geschultert und ist ins Aufnahmestudio gegangen. Ihre Instrumente? In der Mehrzahl? Tatsächlich kamen für die Produktion der bei Claves erschienenen 2-CD-Box (sie ist auch im Netz greifbar) zwei Geigen zum Einsatz: zum einen eine Violine von Gioffredo Cappa aus dem Jahre 1690, zum anderen die «De Ahna», eine Stradivari von 1722. Von den zwei Mal drei Stücken sind deren vier in Moll geschrieben, für die steht das Instrument von Cappa ein. In der Sonate Nr. 3 und der Partita Nr. 3 dagegen, beide in Dur gehalten, erklingt die Stradivari aus der Entstehungszeit von Bachs Zyklus. So begegnen sich hier sehr direkt zwei Instrumente unterschiedlicher Herkunft; hat man als Zuhörer die riesige Ciaccona der d-Moll-Partita hinter sich und tritt man in das Adagio der C-Dur-Sonate ein, kommt es denn auch zu einem veritablen Aha-Effekt. Auf den körperreichen, offenen Ton der Cappa-Geige trifft die ganz eigene, samtene Wärme der Stradivari – es ist unglaublich. Wer Ohren hat zu hören, kann in diesem Augenblick erfahren, dass es mit dem Mythos um den berühmtesten der berühmten Geigenbauer sehr wohl etwas auf sich hat.

Alte Instrumente also – aber: eingerichtet und verwendet sind sie sind gemäss heute üblichen Normen. Zur Verwendung kommen also moderne Saiten, moderner Bogen und der Stimmton von 442 Hertz. Allein, wie sich Esther Hoppe der Musik Bachs annimmt, entspricht wiederum klar der historisch informierten Aufführungspraxis – und sie tut das in denkbar phantasievoller, sinnreicher Weise. Das schwungvolle Durchziehen, der üppige Ton, das durchgehende Vibrieren früherer Zeiten, das ist hier kein Thema. Esther Hoppe verzichtet fast ganz auf das Vibrato, was die seltenen Momente, da sie auf einem Spitzenton zart und leicht vibriert, ganz besonders heraushebt. Die Lebendigkeit, die Geschmeidigkeit, ja der Erzählduktus ihres interpretatorischen Ansatzes ergibt sich aus anders gelagerten Ausdrucksmitteln. Zum Beispiel aus einer Artikulation, aus einer vielgestaltigen Differenzierung zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, die sich mit subtilen Tempomodifikationen verbindet. Höchst eindrucksvoll ist das, zumal es sich mit einer Kunst der expliziten Phrasierung einhergeht: der Bildung musikalischer Sätze, die, der Sprache vergleichbar, durch Interpunktionen gegliedert sind. All das geschieht in einer Unaufgeregtheit, die man angesichts der technischen und musikalischen Schwierigkeiten in diesen sechs Suiten nicht hoch genug schätzen kann. In gelöster Einlässlichkeit horcht Esther Hoppe in die Musik Bachs hinein; sie lässt sie gleichsam aus sich selbst heraus entstehen und schafft ihr damit den Raum, in dem sie sich dem Zuhörer, der Zuhörerin in ihrer ganzen Schönheit, auch dem ganzen Raffinement ihrer Erfindung zeigt.

Und Raffinement der Erfindung gibt es reichlich in den je drei Sonaten (mit dem Wechsel zwischen schnellen und langsamen Sätzen) und den drei Partiten (mit einer Folge unterschiedlicher Tanzsätze). Bach, selber nicht nur ein berühmter Virtuose an Tasteninstrumenten, sondern auch ein vorzüglicher Geiger, ging es in diesem Werkkomplex um nichts anderes als den Versuch, die Mehrstimmigkeit und damit die Kunst des Kontrapunkts auch der an sich einstimmigen Geige zu erschliessen. Bis zu vier Stimmen erklingen hier gleichzeitig. Das erfordert eine Griff- und eine Bogentechnik, die immer wieder mit dem natürlich vorangehenden Zeitverlauf in Konflikt gerät; umso mehr glänzt die Souveränität, mit der Esther Hoppe diese Schwierigkeiten bewältigt. Mit weitem Atem und hohem Sinn für klangliche Schönheit geht sie langsame Sätze wie das einleitende Adagio der g-Moll-Sonate BWV 1001 oder, ganz besonders, die Sarabande aus der d-Moll-Sonate BWV 1004 an – und wie sie hier die Wiederholung der ersten Takte verziert, sorgt für eine echte Überraschung. Stupend dann die Kraft, mit sie die gewaltige Chaconne am Ende dieser Sonate unter einen Bogen bringt; ganze Berglandschaften tun sich da auf. Dahinter stehen musikalische Entscheidungen wie die Gestaltung der Kräfte, die in punktierten Verläufen stecken, aber auch das Gefühl für unterschiedliche Spannungszustände. Wenn darauf das Adagio der C-Dur-Sonate BWV 1005 erklingt, öffnen sich zögernde, tastende, ganz weich punktierte Lineaturen. Sehr berührend gelingt in dieser Sonate der langsame Satz in F-Dur – und dann das an Vivaldi gemahnende Brio des Finalsatzes: ein Feuerwerk.

Johann Sebastian Bach: Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001-1006). Esther Hoppe. Claves 50-3035/36 (CD. Aufnahme 2021, Produktion 2022).

Ein Hoch auf die kleine Flöte

Haika Lübcke stellt das Piccolo ins Licht

 

Von Peter Hagmann

 

In wenigen Tagen schlägt wieder die Stunde des Piccolos – dann nämlich, wenn in der Basler Innenstadt um vier in der Früh die Lichter ausgehen und Dutzende von Cliquen, beleuchtet von ihren riesigen Laternen, mit Piccolos und Trommeln den «Morgestraich» anstimmen. An der Basler Fasnacht spielt die seit dem Mittelalter bekannte, in erster Linie mit der Militärmusik assoziierte Kleinflöte ihre ureigene Rolle. Nach den drei schönsten Tagen, die viele Basler in Rausch versetzen, verschwindet das Piccolo wieder in den Alltag des Sinfonieorchesters, wo das Instrument selten, dann aber meist gut vernehmbar in Erscheinung tritt.

Was im Piccolo wirklich steckt, das zeigt jetzt Haika Lübcke, die Vertreterin der hohen Töne im Tonhalle-Orchester Zürich und an der Zürcher Hochschule der Künste. Bei dem Schweizer Spezialitätenlabel Prospero hat sie eine (auch im Streaming verfügbare) CD vorgelegt, die das Piccolo in ungewöhnlichem Licht erscheinen lässt: in einer anregenden Zusammenstellung von Auftritten allein oder in Begleitung eines weitere Instruments. Einen roten Faden liefert der Satyr Marsyas, der eine von Athene weggeworfene Flöte aufhob und sie bald derart gut zu spielen verstand, dass er glaubte, sich mit Apollon höchstselbst messen können; das misslang allerdings so gründlich, dass der Gott dem Satyr die Haut vom lebendigen Leibe abziehen liess. Von der grausigen Strafe ist in der Werkfolge der CD glücklicherweise nicht die Rede, wohl aber vom Flötenspiel und dem waghalsigen Wettstreit. Ausgelegt wird dieser Faden in vielfältigsten musikalischen Formen. Zur Seite stehen der Künstlerin am Piccolo der Pianist Hendrik Heilmann und die Harfenistin Sarah Verrue, beide ebenfalls Mitglieder des Tonhalle-Orchesters Zürich, sowie Pamela Stahel als Duopartnerin auf dem Piccolo.

Herrlich, wie die beiden Musikerinnen ein heiter gelöstes, musikantisch perlendes Divertimento für zwei Piccolos von Bohuslav Martinů zum Besten geben. Nicht weniger packend ein frühes Divertimento dieses Komponisten für Piccolo und Klavier; es lebt vom virtuosen Ton der zwanziger Jahre und reicher Imagination. Zwischen diesen beiden Stücken «Marsyas» von Jan Novák, einem Schüler Martinůs. In fünf sehr charakteristischen Sätzen zeichnet das von 1983 stammende Werk für Piccolo und Klavier die Persönlichkeit des übermutigen Satyrs. Ebenfalls bei Martinů gelernt hat Vítěslava Kaprálová, die 1940, nur 25 Jahre alt, im französischen Exil starb; berührend ihre zwei kurzen Stücke für Piccolo und Klavier.

Dem tschechischen Schwerpunkt stehen ein rumänischer und ein italienischer Komponist gegenüber. In seiner dreisätzigen «Hommage à Marsyas» für Piccolo solo erkundet der 1979 geborene Gabriel Mălăncioiu ungewohnte Ausdrucksweisen für das Instrument – Haika Lübcke brilliert hier mit rhythmischem Aplomb und raschem Wechsel zwischen den Registern. Anders der Flötist und Komponist Leonardo de Lorenzo, der in seiner sinnlichen «Suite mythologique» hören lässt, wie der Ton des Piccolos gleichsam aus jenem der Flöte herauswächst; versteht sich, dass Haika Lübcke als Virtuosin auf dem Piccolo auch die Flöte mit glanzvollem Ton beherrscht.

Immer wieder überrascht die klangliche Spannweite des Instruments. Es kann die hohen Töne nicht bloss als Glanzlicht heraustreten lassen, es kann sie auch singen; und vor allem kann das Piccolo auch in tiefere Lagen gehen und dort seinen Reiz verströmen. Zu hören ist das nicht zuletzt in drei Werken des in New York lebenden Zürchers Daniel Schnyder. Für «Marsyas and Apollo», ein Auftragswerk von Haika Lübcke, wie für «Teiresias» kombiniert er das Piccolo mit der Harfe – ebenso sinnlich wie sinnreich. Und in «Baroquelochness», dem Schlussstein des CD-Programms lässt er, in einem Satz für Piccolo und Klavier, Johann Sebastian Bach dem Ungeheuer Nessie begegnen: Postmoderne im Sinne des Wortes.

Piccolo Legends. Werke von Daniel Schnyder, Bohuslav Martinů, Jan Novák, Vítěslava Kaprálová, Gabriel Mălăncioiu, Leonardo de Lorenzo. Haika Lübcke (Piccolo), Hendrik Heilmann (Klavier), Sarah Verrue (Harfe), Pamela Stahel (Piccolo). Pospero 0053 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).

Der unreine Avantgardist

Bernd Alois Zimmermann, mit Heinz Holliger neu entdeckt

 

Von Peter Hagmann

 

Denkbar schwer waren die Anfänge. 1918 in der Nähe von Köln geboren, wurde der angehende Komponist Bernd Alois Zimmermann 1939 aus dem Studium heraus in den Kriegsdienst eingezogen. Aufgrund einer Verletzung wurde er 1942 entlassen. Er nahm seine Ausbildung wieder auf, konnte sie aber erst 1947 abschliessen; der Eintritt ins Berufsleben erfolgte daher spät, und die Möglichkeiten in den Jahren nach dem Krieg waren beschränkt. So nahm Zimmermann eine Tätigkeit als Hauskomponist beim Nordwestdeutschen Rundfunk an, aus dem 1956 der Westdeutsche Rundfunk (WDR) in Köln hervorging. Viel Ehr brachte das nicht, aber doch etwas Geld, und das konnte Zimmermann als Familienvater sehr gut brauchen.

Auch wenn sie seine Mission, als Komponist neue Werk zu schaffen, bedrängte, öffnete ihm die Beschäftigung als Hauskomponist Blickfelder, die Zimmermann mit Gewinn in seine musikalischen Grundauffassungen einzubauen vermochte. Als Hauskomponist hatte er, und dies oft unter Zeitdruck, Arrangements bestehender Musik zu erstellen – für die Orchester und die Ensembles, mit denen der Rundfunk das darniederliegende Kulturleben wieder anzufachen suchte. Das waren, wie Rainer Peters sagt, der Spezialist für Leben und Werk Bernd Alois Zimmermanns, Galeeren- und Experimentierjahre. Damals hier liess sich der Komponist auf Musik ein, die vielleicht sonst nicht auf seinen Schreibtisch gekommen wäre, zum Beispiel auf «Die drei Zigeuner», das Lied für Singstimme und Klavier von Franz Liszt aus dem Jahre 1860, das Zimmermann 1953 orchestrierte, oder Modest Mussorgskys Klavierstück «Reiseeindrücke aus der Krim» von 1879/80, das der Hauskomponist 1949/50 ebenfalls für Orchester setzte. Selbst mit Sergej Rachmaninow, für jeden zünftigen Avantgardisten ein Graus, befasste sich Zimmermann; eine Romanze in E-dur aus den «Morceaux de salon» von 1894 erweiterte er zu einem Stück für Saxophon und Orchester.

Während die musikalische Avantgarde deutscher Ausprägung nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu doktrinär auf die Reinheit der Kunst und die Entwicklung des Materials fokussiert war, liess sich Zimmermann schon damals ohne Vorurteile von vielen, auch sehr unterschiedlichen Seiten anregen – wofür er heftig gescholten wurde, woraus er jedoch den für sein Schaffen zentralen Pluralismus der Stile schöpfte. Jazz steht neben Cembalo, Dodekaphonie neben südamerikanischem Rhythmusgefühl. Und mag es sich bei all dem um Hervorbringungen eines Brotberufs handeln, so zeigt dieses Segment im Œuvre Bernd Alois Zimmermanns, wie er an diesen Fingerübungen seinen Klangsinn schärfte und seine Phantasie im Umgang mit Instrumenten und ihren Kombinationen entwickelte. Davon zeugen viele der frühen Werke Zimmermanns, etwa das aus einer Hörspielmusik hervorgegangene Ballett Alagoan aus den fünfziger Jahren oder das reizende, mehrteillige Stück «Un petit rien», eine «musique légère, lunaire et ornithologique» von 1964, entstanden neben der Arbeit an der epochalen Oper «Die Soldaten».

Entdecken lassen sich die wenig bekannten Seiten Bernd Alois Zimmermanns in einer dreiteiligen CD-Produktion, die bei Wergo, dem Label des Musikverlags Schott, erschienen ist, aber natürlich auch im Netz zur Verfügung steht. Die Idee dazu hatte Harry Vogt, der beim WDR in Köln die Neue Musik betreute, und gewinnen konnte er dafür Heinz Holliger, der dem Schaffen Zimmermanns seit vielen Jahren und in besonderer Weise zugetan ist. Grundlage für das über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten vorangetriebene Projekt bildeten das Archiv des WDR sowie das von Heribert Henrich auf der Basis von Vorarbeiten Klaus Ebbekes erstellte Verzeichnis der Kompositionen Zimmermanns. Und möglich wurde es nicht zuletzt dank dem Westdeutschen Rundfunk, der das von ihm getragene Sinfonieorchester zur Verfügung stellte. Beteiligt waren aber auch die öffentliche Hand über die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und die dem Schott-Verlag nahestehende Schrecker-Stiftung – eine Kooperation mit Vorbildcharakter, aber auch ein Beispiel dafür, wie wichtig und wertvoll die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Instrument der Kulturförderung auch heute noch ist.

Die Produktion selbst steht im Zeichen von Kompetenz und Exzellenz; sie bietet Aufklärung und Vergnügen in einem, und sie tut das auf höchstem Niveau. In Heinz Holliger, der das WDR-Sinfonieorchester – wie bei den zwischen 2010 und 2015 entstandenen den Aufnahmen bei den Sinfonien Robert Schumanns – zu fabulösen Leistungen führt, stellt sich ein kongenialer, sogar mit Sinn für den Blues versehener Interpret in den Dienst an diesem eindrucksvollen Projekt. Der Aufbau der drei Teile legt Beziehungen offen und spannt Bögen. Sie setzt an bei den südamerikanisch angehauchten Arbeiten, geht weiter zu den «Rheinischen Kirmestänzen» mit ihrem doppelten Boden und findet ezur Sinfonie in einem Satz – dem ersten Auftrag des WDR für ein ganz aus der Feder Zimmermanns stammendes Werk. Das heftige, für grosses Orchester geschriebene Stück erklingt hier nicht in jener verbreiteten Revision, die auf den Dirigenten Hans Rosbaud zurückgeht, sondern in der vom Komponisten selbst noch einmal überholten Originalfassung von 1953. Sein Ende findet das Projekt mit «Stille und Umkehr», dem letzten Orchesterwerk von 1970, dem Todesjahr des Komponisten. Nur gut zwei Jahrzehnte blieben Zimmermann zur Verwirklichung seiner schöpferischen Ideen. Auch das wird einem hier bewusst.

Bernd Alois Zimmermann recomposed. WDR-Sinfonieorchester, Heinz Holliger (Leitung). Wergo 7387-2 (3 CD, Aufnahmen 2000 bis 2018, Publikation 2022)

Neues vom Chiaroscuro-Quartett

Mozarts «Preussische» Quartette
und Beethovens Opus 18

 

Von Peter Hagmann

 

Warum schauen sie auf dem Cover ihrer jüngsten Veröffentlichung nur so trüb in die Welt, die vier jungen Leute vom Chiaroscuro-Quartett? Hat sie die Aufnahmesitzung, hat sie der Fototermin erschöpft? Oder dachten sie an die deplorablen Lebensumstände, unter denen Wolfgang Amadeus Mozart seine «Preussischen» Streichquartette, wohl im Auftrag Friedrich Wilhelms II., in den Jahren 1789/90 komponiert hat? Keine Ahnung; Grund zu Missmut gibt es jedenfalls keinen. Das Ensemble mit Alina Ibragimova und Pablo Hernán Benedí (Violinen), Emilie Hörnlund (Viola) und Claire Thirion gehört nach wie vor zu den bedeutendsten, weil zukunftsweisenden Streichquartetten dieser Tage. Besonders fassbar wird das im Repertoirebereich der Wiener Klassik. Vor fünf Jahren begannen sie mit Joseph Haydn – und dort mit nicht weniger als den späten, anspruchsvollen Quartetten op. 76, Hob. III:75-80 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.20 und vom 03.02.21). Sie liessen damals erleben, wie feinsinnig und berührend diese Musik klingen kann – keine Spur von Papa Haydn, keine Rede von der angeblichen Verzopftheit des Streichquartetts. Vielmehr pulsierendes Leben.

Inzwischen ist das Chiaroscuro-Quartett weitergegangen zu Ludwig van Beethoven. Hier nun allerdings nicht zu Stücken aus dem schwierigen, widerständigen Spätwerk, sondern zu den weitherum geliebten sechs Streichquartetten des Opus 18. Die Nummer 3 zum Beispiel in D-dur, die vermutlich 1798 als erstes der sechs für den Fürsten Lobkowitz komponierten Quartette entstand: leicht und hell ist da der Ton der alten, mit Darmsaiten bespannten und mit klassischen Bögen gespielten Instrumente, federnd die Artikulation, spritzig die Akzentsetzung. Was die historisch informierte Spielweise, zu der etwa der nuancierte, bewusste Gebrauch des Vibratos gehört, an Gewinn einbringt, es ist etwa an den liegenden Dreiklängen zu hören, die mit ihrer Schönheit ganz unerhört in die Ohren dringen – so ist es eben, wenn solche Akkorde mit geraden Tönen gespielt werden und im Zusammenklingen perfekt austariert sind. Wunderbar ausschwingend zudem die Kantilenen der Primgeige, die sich mit unaufdringlichem Espressivo und zartem Rubato über die von den drei anderen Instrumenten gebildete Harmonie legen.

Und nun also Mozart, der zusammen mit Haydn dem jungen Beethoven so viel Respekt vor dem Streichquartett abgenötigt hat. Rückt das Chiaroscuro-Quartett das Opus 18 Beethovens klanglich in die Nähe zu Haydn, so gibt es die «Preussischen» Streichquartette Mozarts in selbstbewusstem, ja stolzem, festlichem Klang. Natürlich herrscht auch hier, in der Auslegung der drei Quartette in D-dur (KV 575), B-dur (KV 589) und F-dur (KV 590), letzte Genauigkeit gegenüber dem Notentext. Und lebt eine Kultur des Zusammenspiels, in der bei allem klanglichen Ausgleich die vier Stimmen ihre je eigene Individualität pflegen. Auffällig ist aber auch, wie sich das Quartett in der Auseinandersetzung mit Mozart vom streng durchgehaltenen Puls emanzipiert und sich, auch das ist historisch legitim, Freiheiten in der Tempogestaltung nimmt, die wesentlich zur Vitalität des musikalischen Geschehens beitragen – ausserordentlich spannend ist das. In der allgemeinen Wirksamkeit der Musik Mozarts stehen die Streichquartette, wie übrigens auch die Lieder, in einem hinteren Glied. Zu Unrecht, wie die anregende Lektion mit dem Chiaroscuro-Quartett lehrt.

Wolfgang Amadeus Mozart: Die «Preussischen» Streichquartette in D-dur (KV 575), in B-dur (KV 589) und in F-dur (KV 590). Chiaroscuro-Quartett. BIS 2558 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2022)

Ludwig van Beethoven: Sechs Streichquartette op. 18. Chiaroscuro-Quartett. BIS 2488 und 2498 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021)

Joseph Haydn: Streichquartette op. 76. Chiaroscuro-Quartett. BIS 2348 und 2358 (2 CD Aufnahmen 2017 und 2018, Publikation 2020)

Rausch und Bogen

Krystian Zimerman spielt Karol Szymanowski

 

Von Peter Hagmann

 

Was für ein Flügel. Ob es wie üblich sein eigener, auch eigenhändig betreuter war? Wie auch immer, als Krystian Zimerman im Juni dieses Jahres ins japanische Fukuyama reiste, um sich dort der wunderbaren, leider viel zu selten gespielten Musik seines Landsmannes Karol Szymanowski (1882-1937) zu widmen, war Steinway & Sons zur Stelle, im Booklet zur jüngsten CD-Veröffentlichung des polnischen Pianisten wird mit speziellem Dank darauf hingewiesen. Es ist also anzunehmen, dass die hohen Anforderungen, die Zimerman ans Instrument stellt, erfüllt worden sind – zumal es ganz danach klingt. Obertonreich und entsprechend hell der Ton, fulminant und orchestral die Bässe, brillant die Präsenz in ihrer Mischung zwischen Direktheit und Räumlichkeit – wozu die akustisch von Yasuhisa Toyota konzipierte Fukushima Hall of Art & Culture, aber natürlich auch die Tontechnik aus den Emil Berliner Studios das Ihre beigetragen haben. Das ist ein Erlebnis eigener Art.

Welche Bedeutung all dem zukommt, wird ohrenfällig im zweiten Schritt der vierteiligen CD. Dort stehen von Karol Szymanowski die «Masques» op. 34 an. Zimerman hat die drei Charakterstücke aus der Zeit des Ersten Weltkriegs schon 1994 in einer Aufnahme festgehalten, die jedoch nie erschienen ist. Für die Einspielung im Kopenhagener Tivoli stand ein ebenfalls sehr ordentlicher Flügel zur Verfügung, nur fehlt seinem Klang viel von dem, was die Besonderheit des Instruments in Fukuyama ausmacht. Etwas enger, im Fortissimo etwas angestrengt erscheint das Klangbild – und gerade Fortissimo braucht es hier reichlich. In «Tantris le Bouffon», dem mittleren der drei Stücke, denkt Szymanowski die Figur des Tristan weiter, der sich seiner Isolde zunächst als Tantris vorstellt. Gefordert sind hier anforderungsreiches Laufwerk, Kraftentfaltung und ein hohes Mass an Koloristik – Krystian Zimerman bietet das alles hinreissendem Mass. Auch für Scheherazade in Nummer eins, die vorliest und zugleich um ihr Leben fürchtet, wie für den grossspurigen, die Gitarre für sein Ständchen stimmenden Don Juan hat Zimerman alle Sympathie.

Nur eben: der Flügel. Die Differenz fällt auf, wenn man die «Masques» von den vier Préludes aus op. 1 her erreicht. Staunenswert, was dem 18-jährigen Komponisten in seinem Erstling gelungen ist; die Anklänge an das grosse Vorbild Chopin sind nicht zu überhören, das Aufkeimen der eigenen Handschrift aber ebenso wenig. Und Zimerman, der leider etwas vernehmlich mitsingt, schenkt diesen frühen Werken seine ganze Liebe. In den vier Beispielen aus den Mazurken op. 50 von 1924/25 ist dann eindrücklich zu erleben, in welche Richtung Szymanowski unter dem Einfluss impressionistischer Anregungen seine Handschrift weiterentwickelt hat. Vielleicht braucht es etwas Zeit, bis man dieser Musik näherkommt, Krystian Zimerman hilft einem dabei aber mit seinem Einfühlungsvermögen und seiner einzigartigen Kunst. Erst recht gilt das für für die Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10 aus den Jahren 1900 bis 1904, ein erstaunliches Frühwerk, das in seiner Grundhaltung bei der von Béla Bartók und Zoltán Kodály gepflegten Auseinandersetzung mit der autochthonen Volksmusik anschliesst. Welch ganz eigenen Weg Szymanowski schon hier einschlägt, wie exzessiv er das Rauschhafte in der Musik pflegt und wie er zugleich einen geradezu dramaturgisch wirkenden Bogen über die zehn Variationen schlägt, in Krystian Zimermans formidabler Auslegung kommt es bester Geltung.

Karol Szymanowski: Préludes op. 1 (Auswahl), Masques op. 34, Mazurken op. 50 (Auswahl), Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10. Krystian Zimerman (Klavier). Deutsche Grammophon 4863007 (CD, Aufnahmen 1994 (Masques) und 2022, Publikation 2022)