Im Zeichen der Freundschaft

Die Berliner Philharmoniker und Seiji Ozawa

 

Von Peter Hagmann

 

Es war im Herbst 2007. Unvergessen der Abend in der Wiener Staatsoper mit Tschaikowskys «Pique Dame» – und mit Seiji Ozawa am Pult des Staatsopernorchesters. Eine ganz und gar eigenartige Musikalität durchzog die Aufführung, eine stark spürbare Empathie, ja eine unerklärliche Art Vibrieren. Obwohl er ab 1973 fast dreissig Jahre lang mit grossem Erfolg an der Spitze des Boston Symphony Orchestra gestanden hatte, war er besonders stolz darauf, 2002 das Amt des Musikdirektors an der Wiener Staatsoper anzutreten. Er erfüllte es bis 2010, bis ihm ein Speiseröhrenkrebs seinen Beruf verunmöglichte. Mit den Wiener Philharmonikern, die sich bekanntlich aus dem Wiener Staatsopernorchester rekrutieren, scheint er sich jedenfalls bestens verstanden zu haben.

Seine eigentliche Heimat waren jedoch die Berliner Philharmoniker. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass Ozawa ein Schüler, ja vielleicht sogar der Lieblingsschüler Herbert von Karajans war. Zu seinem Lehrer blickte er in tiefer Ehrfurcht auf. Weitherum bekannt geworden ist eine Photographie, die ihn zu Füssen Karajans am Boden sitzend zeigt. Karajan sprach er immer als «Meister» und per Sie an, auch wenn ihn Karajan dann jeweils mit dem fast flehenden Ausruf «Herbert» korrigierte; das Du-Wort, so Ozawa, habe er beim besten Willen nicht über die Lippen gebracht.

Nette Kleinigkeiten solcher Art (und natürlich noch manches mehr) erfährt man in dem luxuriösen Buch aus dem orchestereigenen Label, mit dem die Berliner Philharmoniker im Zeichen der Freundschaft an Seiji Ozawa erinnern. Das Buch enthält sechs Compact Discs mit Konzertaufnahmen, die in den Jahren 1979 bis 2016 in der Berliner Philharmonie entstanden sind. Dazu eine Reihe zum Teil sehr berührender Photographien, weiter ein Grusswort von Seira Ozawa, der Tochter des Dirigenten, eine ausgesprochen schöne, persönliche Erinnerung des Schriftstellers Haruki Murakami an seinen Freund Ozawa und ein Porträt von Frederik Hansen. Das alles ist nicht ganz gratis, aber die Aufnahmen sind zum allerdings kleineren Teil auch über die entsprechenden Internet-Portale greifbar.

Und die Aufnahmen, die lassen nachvollziehen, was Seiji Ozawa auf dem Konzertpodium zu erzeugen vermochte. Gut, die C-dur-Symphonie Joseph Haydns, die Nummer 60 mit der Bezeichnung «Il distratto», 1987 aufgenommen, ist serös gemacht, ästhetisch aber von gestern. Kein einziges Staubkorn findet sich dagegen auf der 1988 entstandenen Auslegung der Symphonie Nr. 7, E-dur, von Anton Bruckner. Feurig durchpulst geht es hier zu, wovon auch das Mitkrähen des Dirigenten zeugt. Zugleich aber kann festgehalten werden, dass zu Beginn des Kopfsatzes der Anschluss der Hörner an den Aufstieg der Streicher so perfekt gelungen ist, wie es selten zu hören ist – und das im Rahmen eines Konzerts. Wunderbar gelassen «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, aufgezeichnet 1996, herrlich ausgesungen auch Vorspiel und Liebestod aus Richard Wagners «Tristan und Isolde» von 1979. Er müsse nicht viel erklären, sagte Ozawa, das Orchester reagiere spontan auf seine Körpersprache. So wird es gewesen sein. So ist es zu hören.

Die Berliner Philharmoniker und Seiji Ozawa – eine Hommage. Aufnahmen aus den Jahren 1979 bis 2016. BPHR 240431 (6 CD, 1 Blu-ray Disc)

Die Noten gelesen

Mascagnis «Cavalleria rusticana»
in ungewohntem Licht

 

Von Peter Hagmann

 

Im Hinblick auf sein Zürcher Konzert habe er sich eine ganz neue, ganz reine Partitur von Beethovens neunter Sinfonie gekauft, verkündete damals der Dirigent Georg Solti. Für welche der diversen Ausgaben er sich denn entschieden habe, war gleich die neugierige Frage. Die Antwort war von entwaffnender Unbekümmertheit: na die, die ihm im Musikgeschäft verkauft worden sei. Inzwischen liegt das gute dreissig Jahre zurück, und immer deutlicher wird, dass die Zeiten des sorglosen Umgangs mit den musikalischen Texten vorbei sind. Das Wirken Nikolaus Harnoncourts hat Früchte getragen. Seit langem schon versteht es sich für einen altgedienten Dirigenten wie Hartmut Haenchen von selbst, Quellenstudium zu betreiben und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen; selbst Jüngere wie der Shooting Star Krzysztof Urbańsky hat, bevor er für die Neunte Dvořáks in die Proben geht, den Notentext kritisch befragt. Für einen Vertreter der alten Musik wie Thomas Hengelbrock gilt das ganz besonders; als er bei in Bayreuth Wagners «Tannhäuser» leitete, verschwand er im Festspiel-Archiv, um die von Wagner annotierten Dirigierpartituren zu studieren – da klang manches etwas anders als gewohnt.

So ist es nun auch bei Pietro Mascagnis Operneinakter «Cavalleria rusticana», den Hengelbrock mit den Kräften des Balthasar Neumann Ensembles und Orchesters für das Festspielhaus Baden-Baden erarbeitet und jetzt bei dem immer wieder für Überraschungen guten Schweizer Label Prospero als CD publiziert hat. Wie heute üblich, ist die Aufnahme auch im Netz greifbar, nur fehlt dort, bei Idagio wie bei Qobuz, das Booklet, so dass sich weder die Namen der beteiligten Vokalsolisten erschliessen lassen noch die Besonderheit der Einspielung zu erfassen ist. Genau das aber hat es in sich, wird das Werk doch nicht in der heute üblichen Fassung dargeboten, sondern vielmehr in einer originalen Version, wie sie von einer Neuausgabe der Partitur aus dem Hause Bärenreiter präsentiert werden soll. Das bringt eine ganze Reihe von Veränderungen mit sich; sie erscheinen als geringfügig, verleihen dem Werk aber doch eine spürbar andere Anmutung.

Tatsächlich hat Mascagni, der seinen Einakter 1889, damals 26 Jahre alt, der Jury eines Kompositionswettbewerbs einreichte, nach der für ihn günstigen Vorentscheidung noch und noch verändert, in der Regel auf Druck von aussen hin. Die Jury war unentschieden, einzelne Mitglieder waren voll der Bewunderung, andere sparten nicht an Kritik, schlugen die Streichung einzelner Passagen, ja ganzer Arien vor. Dazu kam die italienische Tradition, Opernpartituren dem Geschmack der Ausführenden oder des Publikums anzupassen, kam vor allem aber Uraufführung der «Cavalleria rusticana» 1890 in Rom, bei der nicht nur der Chor krass versagt haben soll, sondern auch zwei Hauptdarsteller die Transposition einzelner Arien um einen Halbton, bisweilen gar einen Ganzton nach unten durchgesetzt haben – was den ausgeklügelten Tonartenplan des Einakters durcheinandergebracht hat.

Die Neuausgabe soll das alles zurechtrücken, ein freilich nicht sonderlich konziser Text des Herausgebers Andreas Giger im Booklet setzt das ins Licht (gerade darum ist nicht zu verstehen, warum bei der Präsentation der Neuaufnahme im Netz das Booklet fehlt). Die Veränderungen erschliessen sich mehr dem Kenner der Partitur, fallen aber doch ins Gewicht. Das Stück wirkt harmonisch wie rhythmisch interessanter, vor allem aber: heller, leichter. Nicht zuletzt liegt das an der historisch informierten Aufführung unter der Leitung von Thomas Hengelbrock, der Vergleich mit der ebenfalls sehr schönen, ästhetisch aber ganz anders gelagerten Einspielung der Dresdener Philharmonie mit ihrem damaligen Chefdirigenten Marek Janowski (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 03.06.20) lässt es erfahren. Herrscht bei Janowski üppiger philharmonischer Orchesterklang, zielt Hengelbrock, etwa durch den sorgfältigen Einsatz des Vibratos bei den Streichern, auf Transparenz und Schärfung. Das nimmt der «Cavalleria rusticana» etwas von ihrem als italienisch empfundenen Kolorit, hebt dafür ihre strukturelle Modernität ans Licht.

Das Nämliche gilt für die vokale Seite, die Timbres liegen bei Hengelbrock höher als bei Janowski. Das gilt schon für Carolina López Moreno, die als die betrogene Santuzzza ungeheures Temperament einbringt, aber ebenso sehr licht klingen kann. In der Partie des Liebesbrechers Turiddu, der für seinen Verrat am Ostersonntag mit dem Leben bezahlt, blendet Giorgio Berrugi als ein geschmeidiger italienischer Tenor, während Domen Križaj als der gehörnte Alfio in seiner von Peitschenschlag und Schellengeklingel begleiteten Arie grossartig aufdreht – aber auch er hell, obertonreich. Elisabetta Fiorello gibt die undurchsichtige Mutter Lucia, Eva Zaïcik die kühle Lola. An Anregungen fehlt es nicht.

Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana (Originalversion). Carolina López Moreno (Santuzza), Giorgio Berrugi (Turiddu), Elisabetta Fiorello (Lucia), Domen Križaj (Alfio), Eva Zaïcik (Lola). Balthasar Neumann Chor und Orchester, Thomas Hengelbrock (Leitung). Prospero 0088 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).

Ravel – neu beleuchtet

Eine CD des Linos Piano Trio

 

Von Peter Hagmann

 

Immer wieder ist an dieser Stelle von der zunehmenden Verbreitung der historisch informierten Spielweise auch im Bereich der Kammermusik die Rede. Und vom Glück, das diese Veränderung auszulösen vermag. Nachzuprüfen ist das jetzt wieder an einer (auch im Netz greifbaren) CD-Publikation mit Werken von Maurice Ravel: dem Klaviertrio sowie zwei Klavierstücken, welche die Interpreten für ihre Besetzung eingerichtet haben – ein Verfahren, gegen das der Komponist gewiss nichts einzuwenden gehabt hätte, hat er selbst ja zu diesem Mittel gegriffen. Die Interpreten wiederum bilden das Linos Piano Trio, und sie benützen Instrumente, wie sie Ravel hätten vertraut sein können.

Und mehr noch. Das Trio lässt im Booklet die Instrumente genau benennen. Prach Boondiskulchock spielt auf einem Erard-Konzertflügel von 1882, sogar seine Seriennummer 56105 wird angegeben. Konrad Elias-Trostmann dagegen bringt einen von Stefan-Peter Greiner erstellten Nachbau einer 1743 entstandenen Geige von Giuseppe Guarneri zum Klingen, und er tut das auf Darmsaiten, auf drei reinen und einer umwickelten. Vladimir Waltham schliesslich bedient ein von 1880 und aus Neapel stammendes Cello; auch dieses Instrument ist, diesmal halb-halb, mit reinen wie umwickelten Darmsaiten versehen. Dass das Instrumentarium so detailliert beschrieben wird (nur die Bezeichnungen für die verwendeten Bögen fehlen), ist eine Seltenheit, kann aber nicht hoch genug geschätzt werden. Auch dem Hörer, dem diese Angaben vielleicht wenig sagen, können so doch die Ohren geöffnet werden.

Und die solcherart gespitzten Ohren, sie dürfen hier wahre Wunder erleben: Ravel in ganz anderer klanglicher Erscheinung als gewohnt. Der Flügel aus dem Hause Erard klingt warm und weich, fast so intim wie im Selbstgespräch. Zugleich fehlt ihm, wenn es gefordert isr, nichts an effektvollem Ton, nur bleibt auch das Fortissimo ohne Schärfe, auch stets eingebunden ins Ganze. Und die beiden Streicher verbreiten, in je eigener Art, einen Reichtum an Obertönen, einen Silberglanz und eine Feinzeichnung der Lineatur, die Ravels musikalischen Satz in hellem Licht und geschmeidiger Körperlichkeit erscheinen lassen.  Natürlich geht das alles nicht auf die Instrumente allein zurück, sondern ebenso sehr auf die drei Herren, die sie bedienen. Sie tun es fabelhaft.

Was für ein Einstieg in Ravels Trio für Klavier, Violine und Violoncello in a-Moll – mit den zarten dahingleitenden Dreiklängen des Klaviers, über die sich die in die Oktave verdoppelte Oberstimme der Streicher legt. Und was für eine fulminante Steigerung auf den ersten Höhepunkt hin; seine Wirkung findet er nicht in der reinen Lautstärke, sondern in der Gesamtheit der Ausdrucksmittel. Besonders eindringlich gelingt in dieser Aufführung die Passacaglia des dritten Satzes; dunkel, abgründig und riesengross klingt sie. Sie zeugt damit von der Entstehung des Stücks zu Beginn des Ersten Weltkriegs. In seinem sehr anregenden Booklet-Text weist der Pianist Prach Boondiskulchock darauf hin, dass sich Ravel damals der von Camille-Saint-Saëns 1871 gegründeten Société nationale de musique verweigerte, sich mit dieser Passacaglia vielmehr vor dem grossen Deutschen Johann Sebastian Bach verneigte.

Auf das Klaviertrio folgt die 1899 entstandene, liebliche «Pavane pour une infante défunte» in einem ausgesprochen stimmigen Arrangement des Linos Piano Trio. Und vorgetragen mit all dem, was um die vorletzte Jahrhundertwende an Ausdrucksmitteln zur Verfügung stand, zum Beispiel mit sorgsam eingesetztem Vibrato und geschmackvollem Portamento, dem Gleiten vom einen Ton zum anderen. Den Bogen zum Beginn schliesst die ebenfalls vom Ensemble erstellte Fassung des Klavierstücks «Le Tombeau de Couperin», in dem Ravel mit sechs Sätzen einer barocken Suite an sechs in der Grande Guerre gefallene Freunde erinnert. Ganz eigenartig geht das unter die Haut. In Zeiten wie diesen hört man das Stück, wenn es so eindringlich dargeboten wird, wie es hier geschieht, wohl mit besonderer Bewegung.

Maurice Ravel: In Search of Lost Dance – Klaviertrio in a-Moll, Pavane pour une infante défunte (Arr.), Le Tombeau de Couperin (Arr.). Linos Piano Trio: Prach Boondiskulchock (Klavier), Konrad Elias-Trostmann (Violine), Vladimir Waltham (Violoncello). Avi -music 8553526 (CD, Aufnahme 2022, Produktion 2023).

Oper ohne Gesang

«Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy als Sinfonische Dichtung in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Als Ende Februar 2020 Covid-19 um sich zu greifen begann, mussten die kulturellen Institutionen ihre Häuser schliessen. Zur Untätigkeit gezwungen war auch Jonathan Nott – doch der britische Dirigent aus der Schweiz, seines Zeichens musikalischer und künstlerischer Direktor des Orchestre de la Suisse Romande in Genf, liess sich dadurch nicht in die Enge treiben. Er zog sich zurück auf die Musik an sich und versenkte sich in sein Herzensstück seit früher Zeit, in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy. Warum nicht, das war seine Frage.

Genauer: Warum nicht das Drame lyrique von 1902 für den Konzertsaal gewinnen? Natürlich nicht auf dem Weg der konzertanten Aufführung, sondern vielmehr in der Form eines eigenen Werks: als eine zusammenhängende Folge von Abschnitten aus der durchkomponierten Oper. Einrichtungen solcher Art waren in den Jahren vor und nach 1900 an der Tagesordnung, man denke etwa an das Ballett «Daphnis et Chloé» von Maurice Ravel, aus dem der Komponist selbst zwei Suiten zum Gebrauch im Konzertsaal zog. Auch zu «Pelléas et Mélisande» gibt es derlei Einrichtungen, die berühmteste unter ihnen stammt von dem österreichischen Dirigenten Erich Leinsdorf. Die Bearbeitungen dieser Art gehen von den zahlreichen instrumentalen Teilen in Debussys Partitur aus. Jonatan Nott hatte jedoch etwas anderes im Sinn.

Er wollte die Oper als eigenen, vollgültigen Kosmos auf dem Konzertpodium verankern, und dies in rein instrumentaler Ausführung. Kürzung auf eine in der Praxis vertretbare Konzertlänge war also angesagt – und zugleich eine Erweiterung der Orchesterpartitur durch all das an Ausgesprochenem, Angedeutetem und vor allem leitmotivisch Notwenigem, was inneren Zusammenhang schafft. Trotz der Kürzungen sollte die Oper in ihrer Ganzheit, in ihrer immanenten Spannung, auch dramaturgischen Logik erlebbar werden. In welchem Masse das gelungen ist, erwies eine noch im November 2020 entstandene Aufnahme, deren besonderer Reiz ausserdem darin besteht, dass das kondensierte und intensivierte Werk Debussys mit dem fast zu gleicher Zeit entstandenen Poem «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönbergs kombiniert ist – was zu spannenden Vergleichen einlädt.

Auf dem Markt fand das zwei Compact Discs umfassende Projekt aus dem Hause Pentatone gute Resonanz. Es kam sogar auf die Vierteljahresliste im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Und auch im Netz ist die Aufnahme greifbar, selbst, was offenbar noch nicht bis zur Administration des Orchesters durchgedrungen ist, auf dem französischen Portal Qobuz und bei dem bedeutenden, auf klassische Musik spezialisierten Anbieter Idagio. Inzwischen jedoch, beinahe drei Jahre nach der Aufnahme, ist «Pelléas et Mélisande» in der von Jonathan Nott stammenden Einrichtung als Sinfonische Dichtung auch im Konzert vorgestellt worden – als Uraufführung notabene in der Genfer Victoria Hall. Ein grosser, mit lebendiger Zustimmung aufgenommener Moment.

Die Live-Aufführung stellt den Effekt, den die rein orchestrale Erzählung der Oper Debussys intendiert, in besonders helles Licht. Zumal sich das Orchestre de la Suisse Romande und sein Musikdirektor in Bestform präsentiert haben. Jonathan Nott hat die Musik Debussys in der Tiefe seines Inneren verankert; die Verdichtung erlaubt ihm, innerhalb einer knappen Stunde sehr nah an den Kern des Werks heranzukommen. Und die seine Musikalität prägende Neigung zum Dramatischen tut in einem solchen Moment das Ihre. In geschmeidigen Tempi und natürlichem Zug entfaltete sich die schauerliche Geschichte; die Seelenzustände, die der alte, verzweifelte Golaud, die ganz junge, scheue Mélisande und der naiv feurige Pelléas exponieren, sie waren förmlich mit Händen zu greifen – und dies in einem Wechselbad zwischen aufschäumender Liebe, bedrohlichem Misstrauen und Tod. Unerhört spannend geriet das, geradewegs zum Anhalten des Atems. Allerdings, je besser man die Oper Debussys kennt, desto mehr kann man in der Sinfonischen Dichtung erleben.

So ausgezeichnet gelungen ist die Aufführung, weil das Orchester und sein Dirigent auf der gesicherten Basis einer deutlich hörbaren Gemeinsamkeit agieren. Alle atmen sie gemeinsam, alle streben nach Identifikation, alle geben ihr Bestes. In einem warmen, geradezu üppigen Gesamtklang finden die einzelnen Farben zu leuchtender Präsenz; reich ist das Ausdrucksspektrum zwischen der Sensibilität der klanglichen Feinzeichnung und der dramatischen Eruption – wobei auch in den Momenten der Kraft Balance und Schönheit gewahrt bleiben. Bekanntlich versteht sich das gerade keineswegs von selbst.

Vorzüge solcher Art bestätigten sich, nun in ganz anderer Sprache, bei Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. In Kit Armstrong war hier sehr kurzfristig ein geradezu sensationeller Einspringer für die aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Maria João Pires gefunden worden. Der sagenhaft begabte, auch stilistisch in hohem Ausmass versierte Pianist überraschte mit sorgfältiger Lesart der Partitur und manch überraschender Artikulation, ausserdem mit einem leichten, hellen Ton am Steinway. Während Orchester wie Dirigent ihm in berührender Weise nahe blieben.

Allein, genau jetzt, da das Orchestre de la Suisse Romande und Jonathan Nott definitiv in die gleiche Strasse eingebogen sind und die Fruktifizierung ihren Lauf genommen hat, wird von der Trägerschaft des Orchesters mitgeteilt, dass der 2017 als unbefristet geschlossene Vertrag zwischen den beiden Partnern auf den 1. Januar 2026 beendet werden soll. Im März 2026 soll noch eine Tournee folgen, Jonathan Nott wird sie dann aber als «chef invité» leiten. Fast ein Jahrzehnt an der Spitze eines Orchesters sind genau das Richtige, am besten geht man, wenn es am schönsten ist – derlei lässt sich dazu sogleich anführen. Nur: Die Trennung von Jonathan Nott erfolgt in einem nicht unproblematischen Klima.

Vor eineinhalb Jahren trug ein regionaler Fernsehsender die (gewiss hohe, aber keineswegs unübliche) Gage des Dirigenten an die Öffentlichkeit getragen, was eine lebhafte, wenn auch wenig produktive Debatte auslöste – ist hier etwa ein Kesseltreiben in Gang gesetzt worden? Der Verdacht liegt darum nahe, weil sich beim Orchestre de la Suisse Romande in den vergangenen zwei Jahrzehnten eigenartige Personalbewegungen gehäuft haben – vom missglückten Versuch, dem Orchester einen seinem Niveau nicht entsprechenden Dirigenten aufzudrängen über die zahllosen, raschen Wechsel in der Geschäftsführung bis hin zu dem kostspieligen Abgang eines Orchesterdirektors schon nach wenigen Monaten der Tätigkeit. Welcher Art die Gründe hinter der jüngsten Personalie seien, ob der Wechsel am Grand Théâtre auf die Saison 2026/27 eine Rolle spiele, es muss offen bleiben. Klar ist nur, dass ein künstlerisches Projekt abgebrochen wird, das dem Orchester eine neue Perspektive wie kaum mehr seit der Ära mit Armin Jordan verschafft hat.

«Champagne!»

Das Concerto Copenhagen erinnert an
Hans Christian Lumbye

 

Von Peter Hagmann

 

Lumbye? Wer bitte? Heute ist nicht einmal mehr sein Name bekannt, von seiner Musik ganz zu schweigen. Zu seinen Lebzeiten jedoch war der dänische Geiger, Trompeter, Komponist und Dirigent Hans Christian Lumbye (1810-1870) ein Pop-Star. Und dies keineswegs nur in Kopenhagen, dem Zentrum seines Wirkens, sondern auch in musikalischen Metropolen wie Wien, Paris, Berlin, St. Petersburg. Sohn eines Militärmusikers und als ausserordentlich begabt erkannt, lernte Lumbye Geige und Trompete, später nahm er Stunden in Musiktheorie. Um des Lebensunterhalts willen verdingte er sich als Trompeter in einer Regimentskapelle. In seiner Freizeit spielte er mit Kollegen zum Tanz auf, und nicht selten lagen dabei Stücke aus eigener Feder auf den Pulten, deren Aufführung er von der Geige aus leitete.

Wie es der Zufall wollte, besuchte Lumbye 1839 ein Konzert im Hotel d’Angleterre in Kopenhagen. Angesagt war dort der Auftritt eines Ensembles aus der Steiermark, geleitet von einem Musiker aus Wien, und auf dem Programm standen Werke von Johann Strauss Vater (1804-1849) und Joseph Lanner (1801-1843). Lumbye war auf der Stelle Feuer und Flamme für diese Art Walzer und Polkas; er beschloss, was er als Gastspiel gehört hatte, in Kopenhagen als feste Einrichtung zu verankern und gründete zu diesem Zweck gleich ein Orchester. Im Tivoli, dem 1843 eröffneten Vergnügungspark am Stadtrand von Kopenhagen, fand er zusammen mit seinen Musikern das passende Podium. Rasch wurde Lumbye zum Idol, das Publikum strömte herbei – allerdings nur im Sommer. Im Winter, wenn es im Tivoli nichts zu tun gab, ging das Orchester auf Tournee. Zum Beispiel nach Wien, wo sich Johann Strauss Vater und seine Kumpanen vorgenommen hatten, Lumbye auszubuhen. Als die Kumpanen sahen, wie begeistert Strauss seinem dänischen Kollegen applaudierte, fiel der Widerstand in sich zusammen. Man schloss Freundschaft.

Und hier kommt der zweite Zufall ins Spiel. In den Jahren der Pandemie sahen sich das Concerto Copenhagen und sein Leiter Lars Ulrik Mortensen, ein angesagtes dänisches Barockorchester, aller Möglichkeiten des Auftritts beraubt. Zugleich hatte das Ensemble Besuch bekommen von Henrik Engelbrecht, der an einem Buch über Kopenhagens Tivoli und damit über Hans Christian Lumbye arbeitete. Der dänische Musikologe wollte wissen, wie Lumbyes Musik zur Zeit ihrer Entstehung geklungen haben mochte. Auch da sprang der Funke. Man konsultierte die originalen Notentexte, man machte sich auf die Suche nach den adäquaten Instrumenten – was besonders bei den Bläsern und dem reichlichen Schlagzeug, das Lumbye einzusetzen pflegte, mit besonderem Aufwand verbunden war. Schliesslich stand das geforderte Ensemble mit elf Streichern und dreizehn Bläsern, auch mit Pauken und Becken, mit Xylophon und Glockenspiel – alles so originalgetreu wie möglich.

Was es nun in den neun Nummern der bei Dacapo Records erschienenen CD zu hören gibt, macht sensationellen Effekt: Wiener Walzer, um es mit diesem Oberbegriff zu umschreiben, im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Der Klang hat nichts von der heute üblichen Weichzeichnung, er lebt nicht von Homogenität, sondern vielmehr von der Aufspaltung der Farben, was angesichts der Dominanz der Bläser von besonderer Wirkung ist. Frech klingt Lumbyes Musik, bisweilen schräg, immer von zündender Energie getragen, auch von pointierter Artikulation und sehr schönen Tempi. So wird deutlich, dass Lumbye einen würdigen Platz neben den Königen und dem Kaiser des Wiener Walzers für sich beanspruchen darf. Seine Partituren sind von geistreichem Witz und vielschichtiger Erfindung.

Den Auftakt der CD macht der Champagner-Galopp von 1845, das bekannteste Stück von Meister Lumbye. Frisch und knackig kommt es daher, und der von einer eigens zu diesem Zweck erbauten Maschine an genau richtiger Stelle zum Knallen gebrachte Korken sorgt für besonderen Spass. Wenig später im Programm die Verbeugung Lumbyes vor den Ahnen: mit «Die Mozartisten», einem erheiternden Verschnitt aus «Don Giovanni» und «Zauberflöte» von Joseph Lanner, und mit dem Champagner-Walzer von Johann Strauss Vater. Darauf ein bunter Strauss an quicklebendigen Stücken Lumbyes, in denen zur Silbernen Hochzeit des Königspaars getanzt wird und in denen das Vogelgezwitscher wie der Kuckucksruf ihre Auftritte haben. Wer einen Durchhänger hat, mag zu dieser CD greifen oder sie auf einer der Internet-Plattformen auffinden. Es wird ihm alsbald besser gehen.

«Champagne!»: The Sound of Lumbye und His Idols. Concerto Copenhagen, Lars Ulrik Mortensen (Leitung). Dacapo Records 8.224750 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023). Vertrieb: www.musikontaktshop.ch.

Bruckner gestern und heute

Das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet seine neue Saison

 

Von Peter Hagmann

 

Warum nur? Warum nur so laut – auch in der neunten Sinfonie Anton Bruckners, mit der das Tonhalle-Orchester Zürich seine neue Saison eröffnet hat? Die dynamischen Spitzen überstiegen die akustische Kapazität der Grossen Tonhalle am See; auch in der allerhintersten Reihe des Saals, wo sich gross besetzte Stücke besonders gut verfolgen lassen, begann wohl nicht nur beim Berichterstatter das Gehör zu leiden. Und mehr noch: Es war das Werk selbst, das unter der vom Dirigenten Paavo Järvi verordneten Lautstärke Einbussen erlitt. Ein einziges Beispiel dazu. Der dritte und letzte Satz der unvollendeten Neunten Bruckners steht im Zeichen eines mächtigen Akkords, der sich drei Schritten, der Dreieinigkeit gemäss, auf eine Kulmination von unglaublicher Dissonanz hin zubewegt. In diesem Moment, so immer wieder der Eindruck, scheint sich der Himmel zu öffnen und scheint der Komponist verzweifelt nach seinem Schöpfer zu rufen – nach jenem Gott, dem er seine Neunte gewidmet hat. Die Wissenschaft lehnt diese Deutung ab. Doch wer bedenkt, in wie vielen Kirchen, und vor allem barock ausgemalten Kirchen, Bruckner an den Orgelspieltischen sass, von welch genuiner Gläubigkeit der Komponist war und wie ausgeprägt seine Todesahnungen in den letzten Lebensjahren waren, der wird sich einem Verständnis der Kulmination als Blick in die Unendlichkeit des offenen Himmels nicht verschliessen.

Die drei Akkorde bilden das Zentrum der Sinfonie. In der Aufführung durch das Tonhalle-Orchester und seinen Chefdirigenten wurden sie ihrer Lautstärke wegen zum Problem. Zum einen gab es keine Steigerung vom ersten zum dritten der drei Akkorde. Die Akkorde waren nur laut, und alle gleich laut; schon beim ersten war das Pulver verschossen. So standen sie als grobe Blöcke nebeneinander – als ob sie der Organist Bruckner an seinem vergleichsweise starren Instrument gespielt hätte. Zum anderen liessen sie keine harmonisch klare Struktur erkennen; sie wirkten als Tonhaufen, ohne Richtung, ohne Gewichtung. Dem künstlerischen Niveau, welches das Tonhalle-Orchester für sich in Anspruch nimmt, entspricht das in keiner Weise. Ein Forte-Fortissimo, das keine Rücksicht auf die akustischen Bedingungen nimmt, verletzt die Grundlagen des musikalischen Tuns – genau gleich wie ein Akkord, der, weil die Blechbläser in ihrer gleissenden Schärfe alles andere zum Erliegen bringen, durch den Zuhörer nicht verstanden werden kann. Dazu kommt, dass die Vorstellung von Bruckners Musik als einer parataktischen, ja erratischen Kunst überholt ist. So hat man nach dem Zweiten Weltkrieg und bis tief ins 20. Jahrhundert hin gedacht. Inzwischen war eine Generation an Dirigenten am Werk, die bei Bruckner ganz andere Seiten entdeckt hat: das Geschmeidige, das Samtene, das Bewegliche, das Organische, das Wachsen.

Im Bruckner-Bild Paavo Järvis findet sich dafür wenig Platz. Dass das ohne Bedacht, ohne Reflexion so eingerichtet wäre, wage ich nicht anzunehmen. Eher vermute ich eine Absicht dahinter. Auf den beiden Compact Discs mit Bruckners Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, die Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester Zürich beim Label Alpha vorgelegt hat, kann von Problemen mit der Lautstärke keine Rede sein. Das erstaunt nicht. Überschiessendes kann am Mischpult jederzeit und problemlos reguliert werden, den Streichern und den Holzbläsern kann etwas mehr, den Blechbläser etwas weniger Kraft gegeben werden. Zu hören sind auf den Aufnahmen aber auch, und vor allem, die speziellen Farben, welche die Hörner, namentlich jedoch das schwere Blech mit den Trompeten und Posaunen in den Momenten zugespitzter Kraftentfaltung einbringen – das hat seinen eigenen Reiz. Um diese Effekte zu erzielen, kann Järvi allerdings nicht anders, als im Konzert – die Einspielungen werden «live» aufgenommen – auf volle Kraft zu setzen. Die schwer erträgliche Lautstärke also im Interesse der Aufnahme, aber leider auf Kosten der Zuhörer im Saal?

Jenseits dessen zeigt sich das Tonhalle-Orchester Zürich in Bruckners Neunter, wie sie Paavo Järvi versteht, und das gilt mutatis mutandis auch für die Auslegungen der Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, als ein Klangkörper von beachtlich gewachsener Qualität. Der traditionsgemäss grundtönig ausgerichtete Klang ist uneingeschränkt lebendig, er wird getragen von Homogenität, Volumen und Wärme. Dazu gekommen ist eine Reaktionsfähigkeit, die auf das solide Einvernehmen zwischen dem Orchester und seinem Musikdirektor schliessen lässt. Gemäss deutscher Tradition links und rechts vom Dirigenten aufgestellt, finden die beiden Geigengruppen zu lebendigem Dialog – die Zweiten übrigens auf Augenhöhe mit den Ersten Geigen. Die Holzbläser fügen prononcierte Farben in den Gesamtklang ein, sie erhalten allerdings nicht immer ausreichend Raum. Prachtvoll wie stets die vier Hörner und die vier Wagner-Tuben, zu denen sich eine auffallend flexible Solo-Tuba gesellt. Keine Wünsche offen lassen auch Trompeten und Posaunen, nur müssten sie, wie vermerkt, besser im Zaum gehalten sein. Dazu kommt eine ausgeprägte Sorgfalt in der Gliederung der langen Sätze. Die Grundlagen sind gegeben, es scheint auch entschieden an ihnen gearbeitet worden zu sein. Entschiedener jedenfalls als an der Schärfung des interpretatorischen Profils; diesbezüglich war in den vergangenen Wochen beim Lucerne Festival zu hören, wie hoch die Latte liegen kann.

Bei Kian Soltani, diese Saison im Fokus des Tonhalle-Orchesters, sind solche Anmerkungen obsolet. Äusserst persönlich ging er im ersten Teil des Abends das Cellokonzert Robert Schumanns an: mit einem berückend singenden Ton und einer Freiheit in der Tempogestaltung, die nicht nur die Phrasen zeigte, sondern auch enormes Ausdruckspotential freisetzte. Mag sein, dass er da und dort eine Spur zu weit ging; der langsame Mittelsatz geriet bisweilen hart an der Grenze zum Kitschigen. Aber besser zu viel des Guten als korrekt und ein wenig langweilig.

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7 in E-dur. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 932 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2022).
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 c-moll. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 872 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).

Im Fruchtland des Kontrapunkts

Bachs Wohltemperiertes Klavier
mit dem Cembalisten Andreas Staier

 

Von Peter Hagmann

 

Zurückhaltend, ja bescheiden hebt das berühmte Präludium in C-Dur an; die Folge der gebrochenen Akkorde, die Johann Sebastian Bach wie in einem Rausch erfunden zu haben scheint, ist in das gedämpfte Licht des Lautenzugs getaucht. Andreas Staier ist nicht ein Mann der grossen Töne, auch hier nicht, bei seiner Beschäftigung mit dem Wohltemperierten Klavier. Begonnen hat Staier seine nun auf vier Compact Discs vorliegende Arbeit im Aufnahmestudio allerdings nicht mit dem ersten, sondern mit Band II der je vierundzwanzig Präludien und Fugen durch die zwölf Dur- und die zwölf Moll-Tonarten der hierzulande üblichen Tonleiter. 1740 entstanden, ist dieser zweite Band einer Schaffensphase zuzurechnen, in welcher der Komponist Bilanz zu ziehen suchte; anders als der knapp zwanzig Jahre zuvor entstandene Band I, in dem neben der einzigartigen kontrapunktischen Weisheit gerne auch Bachs konzertantes Temperament durchdringt, wirkt dieser zweite Durchgang ernster, intentionaler, daher etwas spröder, auch etwas anspruchsvoller, aber nicht weniger attraktiv. Diesen Stier hat Andreas Staier 2020 bei Teldex in Berlin für das Label Harmonia mundi bei den Hörnern gepackt; im Jahr darauf folgte dann der erste Band.

Anders als dort beginnt in Band II das Präludium in C-Dur – im Wohltemperierten Klavier folgen sich die Stücke ansteigend nach der Ordnung der Klaviertastatur – mit einem klaren Statement: mit einer Oktave auf c in der linken Hand. Bei Staier ist es Paukenschlag. Ans Licht tritt hier eine der Besonderheiten seiner Einspielung. Er verwendet ein grossartiges Instrument, das er grossartig bedient. Viel zu erfahren ist davon leider nicht. Die Booklets vermelden, dass es sich um die Kopie eines 1734 in Hamburg erbauten Cembalos von Hieronymus Albrecht Hass handle, die 2004 von Anthony Sidea und Frédéric Bal in Paris angefertigt worden sei – mehr nicht. Zu hören ist ein Cembalo, das offenkundig mit zwei Manualen und einer Dämpfung nach der Art des Lautenzugs, vor allem aber mit einer 16-Fuss- und einer 4-Fuss-Lage versehen ist, die angespielten die Töne mithin eine Oktave tiefer oder eine höher erklingen lassen kann. Von solchen Instrumenten hat sich die frühe Bewegung der alten Musik ebenso radikal abgewandt wie von der Spielweise etwa Karl Richters. Verächtliche Worte waren da an der Tagesordnung. Bevorzugt und als adäquat angesehen wurden weniger üppig ausgestattete, allerdings gleichwohl hervorragend klingende Cembali allein auf 8-Fuss-Basis.

Nun kommt ein Musiker wie Andreas Staier, der ja keineswegs von gestern, vielmehr klar in der Gegenwart der alten Musik verankert ist und auf dem Stand der aktuellen Erkenntnis agiert – und der effektvoll mit 16-Fuss und 4-Fuss, der Kopplung der Manuale und anderem arbeitet. Die Zeit der ideologischen Scheuklappen ist vorbei, neue Freiheit, die Lust am Spielerischen hat Raum gegriffen – das lässt auch, um nur dies eine Beispiel zu nennen, ein Dirigent wie René Jacobs hören. Basis von Staiers Tun bildet bei aller Freiheit jedoch ganz selbstverständlich die historisch informierte Spielweise mit all ihren Vorzügen. Dazu gehört die klare Unterscheidung zwischen gebundenem und gestossenem Spiel, und mehr noch: die vielfältige Differenzierung dieser Unterscheidung; die Länge des einzelnen Tons innerhalb eines Verlaufs ist auf dem Cembalo (wie auf der Orgel) von ganz besonderer Bedeutung für den musikalischen Ausdruck. Von prägender Wirkung sind ausserdem der ungleichzeitige Anschlag gleichzeitig notierter Töne sowie bisweilen die Abkehr vom regelmässig durchlaufenden Schlag – genauer: die momentane Anpassung der Zeitmasse an die musikalische Struktur oder das Ausdrucksbedürfnis des Interpreten.  Nicht zuletzt gilt das für den sorgsam phantasievollen Umgang mit Verzierungen.

Von all dem lebt die Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers Johann Sebastian Bachs durch Andreas Staier, und dies im Verein mit der phantastischen technischen Versatilität und der enorm ausgebauten Vorstellungskraft des Musikers. Pralles Leben in sinnlichen Klangwelten herrscht da, der kunstvoll gedrechselte Kontrapunkt wird, wie es Bach gewollt, zu unmitttelbar ausstrahlender Musik – wer sich auf diese Welt einlässt, mag nimmer davon lassen. Auf das zarte C-Dur-Präludium am Anfang des ersten Bandes folgt eine vierstimmige Fuge in fürwahr mächtigem Klang – das Cembalo ist in dieser Einspielung von sehr nahe aufgenommen, was der Realität in einem heutigen Konzertsaal wenig entspricht, die Wirkung des Instruments in den viel kleineren Räumen des 18. Jahrhunderts aber sehr wohl spiegelt. Noch majestätischer klingt es im darauffolgenden c-Moll-Präludium, dies durch den Einsatz des besagten 16-Fuss-Registers – und gern führt Staier die Schlussakkorde nicht nur zu deutlicher Kulmination, er lässt sie auch oft lange liegen, wie überhaupt das Nachklingen des Instruments nach dem Abheben der Finger von den Tasten hörbar bleibt.

Immer noch im ersten Band gibt es ein Präludium in Cis-Dur, bei dem zu erleben ist, wie mit Hilfe einer Technik, die den einzelnen Ton in den nächstfolgenden hineinklingen lässt, ein von opulentem Legato getragenes Klangbild entsteht. Etwas Schwierigkeiten mag das Präludium in cis-Moll auslösen; hier nötigt die Stimmung zu einigen Hörkompromissen. Das Wohltemperierte Klavier wird von Staier ja nicht in der heute üblichen Temperierung gespielt, wie es die Pianisten tun; der Stimmer Rainer Sprung hat vielmehr eine, wie es im Booklet heisst, «pragmatische» Mitteltönigkeit verwirklicht, die durch ihre minimalen «Verstimmungen» ein Gefühl dafür aufkommen lässt, welche Revolution das «Wohltemperierte» und somit das Spielen in allen möglichen Tonarten im 18. Jahrhundert bedeutet hat. Äusserst klar in der Folge die fünfstimmige Fuge in cis-Moll, bei deren Wiedergabe die pointierte Artikulation für Durchhörbarkeit sorgt, während zugleich die Arbeit mit dem Tempo für Spannung sorgt – fast möchte man an dieser Stelle von einer Art Steigerungsfuge sprechen. Ausserordentlich virtuos sodann das zweistimmige Präludium in G-Dur wie später das dreistimmige Präludium in A-Dur; Staier geht es frei von Angst vor den nach einem Wechsel in der Gestik eintretenden Sechzehntelketten, jedenfalls in mutig belebtem Tempo an.

Auch im zweiten Band folgt Entdeckung auf Entdeckung, abendfüllend liesse sich davon berichten. Die Rede wäre etwa von der vierstimmigen Fuge in c-Moll, die eine gewaltige Steigerung des Ausdrucks erfährt – dies notabene auf einem Instrument, bei dem man lange Zeit (und vielleicht zu Recht) genau das, die Möglichkeiten des Ausdrucks, als beschränkt moniert hat. Die dreistimmige Fuge in d-Moll: vital artikuliert, auch dort, wo leicht fliessende Triolen dazutreten. Die vierstimmige Fuge in Es-dur: eine Kathedrale in Klängen. Und ganz zum Schluss, ähnlich dem C-Dur-Präludium im ersten Band, die dreistimmige Fuge in h-Moll, die den riesigen Gang zwei Mal durch alle Tonarten ohne Pomp, ein wenig scheu, ja lapidar abschliesst. So ist Andreas Steier: nüchtern und glühend zugleich. Seine Auslegung von Bachs Wohltemperiertem Klavier öffnet ein neues Kapitel in der langen, reichen Interpretationsgeschichte der beiden Bände und stellt der Dominanz der Auslegungen auf dem Klavier ein fulminantes Plädoyer für das Cembalo entgegen.

Johann Sebastian Bach: Das wohltemperierte Klavier. Andreas Staier (Cembalo).
Band 1: Harmonia mundi 902680.81 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023).
Band 2: Harmonia mundi 902682.83 (2 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Geistreiches Vergnügen

A la française – Yaara Tal und
Andreas Groethuysen an zwei Klavieren

 

Von Peter Hagmann

 

Immer noch und immer wieder wissen sie zu überraschen. Unermüdlich durchforsten Yaara Tal und Andreas Groethuysen die Bibliothekskataloge nach Musik für Klavier zu vier Händen oder für zwei Klaviere, und sind sie fündig geworden, tragen sie ihre Schätze mit fulminantem Können und spritzigem Temperament an die Öffentlichkeit. So auch jetzt wieder mit ihrer jüngsten CD-Publikation bei Sony, ihrem Label seit mehr als drei Jahrzehnten, das die Neuerscheinung selbstverständlich auch auf den angesagten Plattformen im Netz greifen lässt. Nach den 18 Studien über Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge», einem anspruchsvollen Werk des Deutschen Reinhard Febel, kommt nun eine sehr hübsch angerichtete Platte mit geistreich unterhaltender Musik aus der spätromantischen Küche Frankreichs auf den Tisch.

Louis Théodore Gouvy – kennen Sie den aus dem Saarland stammenden, in Paris ausgebildeten Komponisten? Vielleicht dem Namen nach. Seine Sonate in d-moll op. 66 von 1876, erst recht aber die kurz danach entstandenen Variationen über das irische Volkslied «Lilli Bulléro» belohnen den hörenden Annäherungsversuch durch individuell geprägten Umgang mit Traditionen, durch speziell gefärbte Harmonik und originelle Einfälle – das alles im Spannungsfeld zwischen deutscher und französischer Kultur. Weiter als Gouvy ging der eine Generation später geborene Théophile Ysaÿe, der heute vergessene, seinerzeit angesehene Bruder des berühmten Geigers. Seine Variationen op. 10 von 1910 durchmessen in der Abfolge der Tonarten zwei Oktaven in Terzschritten, nur ist das kaum wahrzunehmen, denn harmonisch schwebt der musikalische Satz frei im Geiste Debussys. Attraktiv ist das, und was das Stück an technischem Raffinement bereithält, macht staunen.

Im Gegensatz dazu nehmen sich die Variationen über ein Thema Beethovens von Camille Saint-Saëns, sie tragen die Opuszahl 35 und sind 1874 entstanden, klassizistisch aus; sie glänzen jedoch mit sprühendem Witz und untadeligem Handwerk. Das Thema entnahm der Komponist Beethovens Klaviersonate op. 31 Nr. 3. Das Menuett zum Trio dieser Sonate in Es-dur spaltet sein Thema in einen tiefen und einen hohen Bereich, gleichsam in eine Wechselrede zwischen Mann und Frau: die ideale Anlage für eine Verarbeitung auf zwei Klavieren. Der dialogische Effekt geht allerdings etwas verloren, weil die Aufnahme die beiden Klaviere nah zueinander rückt, so wie sie auf dem Podium ja auch aufgestellt sind, darum aber wenig Räumlichkeit erzeugt. Ausgezeichnet ist aber wahrzunehmen, mit welcher Phantasie Saint-Saëns zu Werk geht – wie er das Thema dreht und wendet, es aus hingetupften Akkorden herausscheinen lässt, es zu einem Trauermarsch formt und ihm zum Schluss noch die obligate Fuge abgewinnt. Der «Tourbillon», der Wirbelwind, der Französin Marguerite Méran-Guéroult bietet daraufhin den zündenden Kehraus.

Prickelnd und belebend ist das alles. Und leicht fügt es sich ins Ohr; wer jedoch genauer zuhört, stösst auf manche präzis gesetzte Pointe. Denn Yaara Tal und Andreas Groethuysen gehen mit verschmitzter Spiellust ans Werk. Die geradezu zirzensische Fingerfertigkeit, die hier bisweilen gefordert ist, meistern sie blendend. Und unter ihrem Zugriff klingen ihre beiden Klaviere herrlich opulent, samten in den Bässen, silberhell im Diskant. Viel Vergnügen.

Avec Esprit. Werke für zwei Klaviere. Louis Théodore Gouvy: Sonate in d-moll op. 66, Variationen über das irische Volkslied «Lilli Bulléro» op. 62. Théophile Ysaÿe: Variationen op. 10. Camille Saint-Saëns: Variationen über ein Thema von Beethoven op. 35. Marguerite Méran-Guéroult: Tourbillon. Yaara Tal und Andreas Groethuysen (Klaviere). Sony 196587 10722 (CD, Aufnahme 2022, Produktion 2023).

Vielstimmig im Einstimmigen

Esther Hoppe spielt Sonaten und Partiten Bachs

 

Von Peter Hagmann

 

Sie hat es gewagt. Viele Jahre lang habe sie sich mit den Sonaten und Partiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach beschäftigt, jetzt sei die Zeit gekommen, sagt Esther Hoppe. So hat die Schweizer Geigerin, die seit zehn Jahren eine Professur am Mozarteum Salzburg versieht und auf Beginn der Saison 2024/25 die Leitung der Camerata Zürich übernimmt, ihre Instrumente geschultert und ist ins Aufnahmestudio gegangen. Ihre Instrumente? In der Mehrzahl? Tatsächlich kamen für die Produktion der bei Claves erschienenen 2-CD-Box (sie ist auch im Netz greifbar) zwei Geigen zum Einsatz: zum einen eine Violine von Gioffredo Cappa aus dem Jahre 1690, zum anderen die «De Ahna», eine Stradivari von 1722. Von den zwei Mal drei Stücken sind deren vier in Moll geschrieben, für die steht das Instrument von Cappa ein. In der Sonate Nr. 3 und der Partita Nr. 3 dagegen, beide in Dur gehalten, erklingt die Stradivari aus der Entstehungszeit von Bachs Zyklus. So begegnen sich hier sehr direkt zwei Instrumente unterschiedlicher Herkunft; hat man als Zuhörer die riesige Ciaccona der d-Moll-Partita hinter sich und tritt man in das Adagio der C-Dur-Sonate ein, kommt es denn auch zu einem veritablen Aha-Effekt. Auf den körperreichen, offenen Ton der Cappa-Geige trifft die ganz eigene, samtene Wärme der Stradivari – es ist unglaublich. Wer Ohren hat zu hören, kann in diesem Augenblick erfahren, dass es mit dem Mythos um den berühmtesten der berühmten Geigenbauer sehr wohl etwas auf sich hat.

Alte Instrumente also – aber: eingerichtet und verwendet sind sie sind gemäss heute üblichen Normen. Zur Verwendung kommen also moderne Saiten, moderner Bogen und der Stimmton von 442 Hertz. Allein, wie sich Esther Hoppe der Musik Bachs annimmt, entspricht wiederum klar der historisch informierten Aufführungspraxis – und sie tut das in denkbar phantasievoller, sinnreicher Weise. Das schwungvolle Durchziehen, der üppige Ton, das durchgehende Vibrieren früherer Zeiten, das ist hier kein Thema. Esther Hoppe verzichtet fast ganz auf das Vibrato, was die seltenen Momente, da sie auf einem Spitzenton zart und leicht vibriert, ganz besonders heraushebt. Die Lebendigkeit, die Geschmeidigkeit, ja der Erzählduktus ihres interpretatorischen Ansatzes ergibt sich aus anders gelagerten Ausdrucksmitteln. Zum Beispiel aus einer Artikulation, aus einer vielgestaltigen Differenzierung zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, die sich mit subtilen Tempomodifikationen verbindet. Höchst eindrucksvoll ist das, zumal es sich mit einer Kunst der expliziten Phrasierung einhergeht: der Bildung musikalischer Sätze, die, der Sprache vergleichbar, durch Interpunktionen gegliedert sind. All das geschieht in einer Unaufgeregtheit, die man angesichts der technischen und musikalischen Schwierigkeiten in diesen sechs Suiten nicht hoch genug schätzen kann. In gelöster Einlässlichkeit horcht Esther Hoppe in die Musik Bachs hinein; sie lässt sie gleichsam aus sich selbst heraus entstehen und schafft ihr damit den Raum, in dem sie sich dem Zuhörer, der Zuhörerin in ihrer ganzen Schönheit, auch dem ganzen Raffinement ihrer Erfindung zeigt.

Und Raffinement der Erfindung gibt es reichlich in den je drei Sonaten (mit dem Wechsel zwischen schnellen und langsamen Sätzen) und den drei Partiten (mit einer Folge unterschiedlicher Tanzsätze). Bach, selber nicht nur ein berühmter Virtuose an Tasteninstrumenten, sondern auch ein vorzüglicher Geiger, ging es in diesem Werkkomplex um nichts anderes als den Versuch, die Mehrstimmigkeit und damit die Kunst des Kontrapunkts auch der an sich einstimmigen Geige zu erschliessen. Bis zu vier Stimmen erklingen hier gleichzeitig. Das erfordert eine Griff- und eine Bogentechnik, die immer wieder mit dem natürlich vorangehenden Zeitverlauf in Konflikt gerät; umso mehr glänzt die Souveränität, mit der Esther Hoppe diese Schwierigkeiten bewältigt. Mit weitem Atem und hohem Sinn für klangliche Schönheit geht sie langsame Sätze wie das einleitende Adagio der g-Moll-Sonate BWV 1001 oder, ganz besonders, die Sarabande aus der d-Moll-Sonate BWV 1004 an – und wie sie hier die Wiederholung der ersten Takte verziert, sorgt für eine echte Überraschung. Stupend dann die Kraft, mit sie die gewaltige Chaconne am Ende dieser Sonate unter einen Bogen bringt; ganze Berglandschaften tun sich da auf. Dahinter stehen musikalische Entscheidungen wie die Gestaltung der Kräfte, die in punktierten Verläufen stecken, aber auch das Gefühl für unterschiedliche Spannungszustände. Wenn darauf das Adagio der C-Dur-Sonate BWV 1005 erklingt, öffnen sich zögernde, tastende, ganz weich punktierte Lineaturen. Sehr berührend gelingt in dieser Sonate der langsame Satz in F-Dur – und dann das an Vivaldi gemahnende Brio des Finalsatzes: ein Feuerwerk.

Johann Sebastian Bach: Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001-1006). Esther Hoppe. Claves 50-3035/36 (CD. Aufnahme 2021, Produktion 2022).