Aus der Versenkung geholt

«Guercœur» von Albéric Magnard
an der Opéra national du Rhin in Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Klara Beck, Opéra national du Rhin Strasbourg

Die Idee muss man haben. Die richtigen Künstler sind zu gewinnen. Die Produktion muss gegen Bedenken verteidigt werden. Das alles ist Alain Perroud gelungen – und so hat der derzeitige Intendant der Strassburger Nationaloper (und designierte Nachfolger Aviel Cahns am Genfer Grand Théâtre) seinem Haus einen überwältigenden Erfolg beschert. Und dem Komponisten Albéric Magnard (1865 bis 1914) wie seiner vollkommen vergessenen Oper «Guercœur» (1901) – sie ist seit der Pariser Uraufführung von 1931 in Frankreich nie mehr gespielt worden – möglicherweise den Eintritt ins Repertoire eröffnet.

Magnard? «Guercœur»? Da muss zunächst die Faktenlage geklärt werden, was anhand des umfangreichen, informativen Programmbuchs der Opéra national du Rhin ohne Schwierigkeit getan werden kann. Auf dem Hügel von Montmartre als Sohn eines Pariser Journalisten geboren, wächst Albéric Magnard nach den massiven Umwälzungen von 1870/71 in den turbulenten Jahren der Troisième République auf. Eine grossbürgerliche Jugend. Er studiert Jurisprudenz, absolviert seinen Militärdienst – und fährt 1886 nach Bayreuth, wo er «Tristan» und «Parsifal» hört und sich danach zu einem Leben als Komponist entscheidet. Nach der Ausbildung am Pariser Konservatorium und als Privatschüler bei Vincent d’Indy baut er in stetem Fluss sein Œuvre mit Opern, Sinfonien, Kammermusik, Liedern. Und wird auch aufgeführt. Daneben schreibt er Musikkritiken im «Figaro», der vom Vater als Chefredaktor geleiteten Tageszeitung. Von der Pariser musikalischen Gesellschaft mit ihren Salons und ihren Eitelkeiten hält er sich fern, was sich nach dem frühen Tod des Vaters 1894 rächt – jedenfalls wird dann seine Musik in Paris kaum mehr gespielt.

Mehr und mehr zieht sich Magnard von der tonangebenden Schicht in Paris zurück. Er beendet seine Tätigkeit als Musikkritiker, stellt sich dafür aktiv hinter den Schriftsteller Emile Zola nach dessen Artikel «J’accuse…!», der die von Antisemitismus geprägte Affäre rund um den Offizier Alfred Dreyfus auslöst. Und er schliesst er sich der Schola Cantorum an, unterrichtet kurze Zeit dort und veröffentlicht, um den Musikverlagen aus dem Weg zu gehen, seine Werke im Eigenverlag, dies im Rahmen einer von der Schola betriebenen Genossenschaft. 1904, unterdessen ist die Oper «Guercœur» entstanden, bezieht Magnard mit seiner Familie ein Haus in Baron, einem kleinen Dorf nördlich der Capitale.

Dort ereilt ihn sein tragisches Schicksal. Wie am 4. September 1914, die Familie hatte der Komponist bei Verwandten in Sicherheit gebracht, deutsche Soldaten auf dem Einmarsch in Frankreich vor dem verbarrikadierten Haus erscheinen, erschiesst Magnard deren zwei, worauf die Deutschen das Anwesen in Brand setzen und der Komponist mitsamt einem Grossteil der unveröffentlichten Werke verbrennt. Nach Kriegsende wird er als Held gefeiert, wird die Rue Richard Wagner im Seizième auf Anregung von Anwohnern in Rue Albéric Magnard umbenannt. Seinem Werk bringt das wenig.

Raub der Flammen wurde damals auch die handschriftliche Partitur von «Guercœur». In Abschrift erhalten blieb der zweite von drei Akten, von den Eckteilen gab es nur mehr den Klavierauszug – den der Dirigent Guy Ropartz, ein enger Freund Magnards, aus der Erinnerung orchestrierte und damit eine Aufführung überhaupt erst ermöglichte. Am 24. April 1931 wurde «Guercœur» an der Opéra de Paris aus der Taufe gehoben. Nach elf Vorstellungen verschwand das Werk in der Versenkung. Aus der hat sie die Strassburger Rheinoper nun ans Licht geholt und mit einer mustergültigen, ebenso anregenden wie bewegenden Produktion gezeigt, was für ein Meisterwerk in den Kanon aufzunehmen wäre.

Unter der Leitung von Ingo Metzmacher klingt das Orchestre philharmonique de Strasbourg so akkurat, ja brillant wie schon lange nicht mehr; und keinen Wunsch lässt der von Hendrik Haas trefflich vorbereitete Opernchor offen. Metzmacher spielt Magnards sehr individuelle Reaktion auf die Musiksprache Wagners voll aus, der Dirigent lässt auch den symphonischen Zug der Partitur, die zahlreiche Orchesterzwischenspiele enthält, ungeschmälert zur Geltung kommen. Zugleich arbeitet er aber ebenso sogfältig an der französischen Klanglichkeit, die vielleicht am ehesten in der Behandlung der Bläser zu Ausdruck kommt. Man muss sich etwas einhören; ist das gelungen, kann man hier schönste Musik der französischen Spätromantik entdecken – Musik jenseits des «wagnérisme» eines César Franck, aber auch fern der Tendenzen zum Aufbruch bei Debussy und Ravel. Durchwegs höchststehend auch die Besetzung der Vokalsolisten mit Stéphane Degout an der Spitze, der mit seinem hell strahlenden Bariton und seiner starken szenischen Ausstrahlung die Titelpartie mit einem eindrucksvollen Profil versieht.

Das ist darum von Bedeutung, weil sich in der Figur von Guercœur, der eigenartige Name setzt sich zusammen aus «Krieg» und «Herz», in gewisser Weise der Komponist selbst spiegelt – mit seinem Naturell und seinen Idealen. Das von Magnard selbst erdachte und verfasste Libretto erzählt von einem Mann, der die Liebe seines Lebens gefunden und als Politiker sein Volk von Tyrannei und Knechtschaft befreit hat, der aber auf der Höhe seiner Existenz einen plötzlichen Tod erleidet. «Guercœur» beginnt also mit einem toten Helden, schon das ist ungewöhnlich. Und der erste Akt spielt im Himmel, aber nicht bei Gott und den Engeln, das wäre dem erklärten Laizisten Magnard zuwider gewesen, vielmehr in einem Paradies, in dem Zeit und Raum aufgehoben sind und aus der Mythologie genährte Figuren wie La Vérité (imposant Catherine Hunold), La Bonté (Eugénie Joneau), La Beauté (Gabrielle Philiponet) und La Souffrance (Adriana Bignagni Lesca mit klangvollem Alt) den Ton angeben. Dort, im Kreis der Schatten, ist es Guercœur herzlich langweilig, er möchte zurück ins Leben und seine Mission wiederaufnehmen. Was ihm von La Vérité gewährt wird.

Der Regisseur Christof Loy zeigt diesen Beginn vor einer schwarzen Wand. Quer zieht sie der Bühnenbildner Johannes Leiacker durch den ansonsten leeren Raum. Und in choreographischer Personenführung bewegen sich die von Ursula Renzenbrink gewandeten Darstellerinnen und Darsteller durch das sich langsam entwickelte Geschehen. Umso herber die Rückkehr Guercœurs im seinerseits dreiteilig gehaltenen zweiten Akt, für den die Wand weiss wird und durch einen Spalt ein Stück heiler Natur sehen lässt. Zwei Jahre nach seinem Tod findet der Held seine so innig geliebte Gattin Giselle (Antoinette Dennefeld) in den Armen seines Schülers und Nachfolgers Heurtal (Julien Henric), und der vertritt das Gegenteil der bei seinem Meister erlernten Ideale der Aufklärung. Heurtal ist vielmehr ein Populist, der fies manipuliert, brutal nach der Macht greift und sich vom Volk erst zum Konsul und dann zum Tyrannen ernennen lässt. Was Christof Loy hier an Spannung zwischen den Figuren erschafft , wie er den Akt aufheizt, bis die Masse ihren Retter von ehedem zu Tode schlägt, ist von einer Wirkung sondergleichen. Geläutert kehrt Guercœur ins Paradies zurück, wo ihm La Vérité die Utopie eines wahrhaft menschlichen Daseins vor Augen führt – eines Daseins ohne Konflikte, in einem Gleichgewicht der Kräfte, im Zeichen von Freiheit und Wertschätzung für Nächsten.

Spätestens hier, nach einem intensiven Opernabend, ist nicht zu übersehen, was «Guercœur», das Werk Albéric Magnards von 1901, mit dem hic et nunc zu tun hat.

Rausch und Absturz

«La rondine» von Giacomo Puccini in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ruggero (Benjamin Bernheim) und Magda (Ermonela Jaho) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Die Einleitung erinnert unüberhörbar an das zweite Bild von «La Bohème», an die rauschende Fröhlichkeit von Heiligabend in den Strassen des Quartier Latin. In «La rondine», dem Spätwerk Giacomo Puccinis, ist es fürs erste jedoch bald vorbei mit der Ausgelassenheit. Gehört die Bühne einer jungen Frau, die von der grossen, der wahren Liebe träumt. Es ist Magda de Civry, die von dem begüterten Rambaldo ausgehalten wird, jedoch dringend aus dem goldenen Käfig ausbrechen möchte. Und es ist Ermonela Jaho, die mit ihrer Kunst auf Anhieb in Bann schlägt. Mühelos steigt sie in höchste Höhen, in hauchzartem Pianissimo verharrt sie auf der emotional so aufgeladenen Terzlage, und dazu bebt sie am ganzen Körper – in restloser Identifikation mit dem Moment. Kein Wunder hören Rambaldos Gäste fassungslos zu, und jeder von ihnen tut das in seiner eigenen Weise, denn am Regiepult sass Christof Loy, der wie selten jemand die Kunst beherrscht, aus Sängern Schauspieler werden zu lassen und auch in kleinen Rollen ausgeprägte Charaktere zu schaffen. Die Lust im grossen, durchwegs ausgezeichneten Ensemble ist nicht zu verkennen.

So blicken wir denn, wenn sich im Opernhaus Zürich der rote Theatervorhang nach der Art der Wagner-Gardine angehoben hat, in einen edlen Salon mit doppelter Raumhöhe, gestylten Sitzgelegenheiten und, in einer Ecke, dem Flügel als Zeichen gehobener Bürgerlichkeit – der Bühnenbildner Etienne Pluss hat an diesem hochästhetischen Ort für Weite und ein angenehmes Zusammenspiel von Alt-Rosa und Grautönen gesorgt. Mit allem Raffinement hat die Kostümbildnerin Barbara Drosihn die Dezenz der Form und die Subtilität der Farbe aufgenommen. Viel zu singen hat Vladimir Stoyanov als der diskrete Hausherr und Gastgeber nicht, aber wenn Rambaldo in seinem vollendeten Dreiteiler leicht gelangweilt zur bereits durchgelesenen Tageszeitung greift, richten sich aller Augen auf ihn.

Erheiternd der unerhört selbstgewisse Dichter Prunier und seine Geliebte Lisette, ein Wirbelwind von Dienstmädchen – Juan Francisco Gatell und Sandra Hamoui sorgen für ein von liebevollem Geplänkel getragenes Vorspiel. Wie dann aber unverhofft der junge, ebenso naive wie stolze Ruggero in seiner Bankerkluft zu Besuch kommt, beginnt sich der Knoten zu schnüren. Erst nehmen sie nicht gross Notiz voneinander. Im Café Bullier, wo enorm Trubel herrscht und das Klischee von Paris als der Weltstadt des Flirts ausgelebt wird, verfallen sie einander hoffnungslos, knautscht sie aufgeregt ihr grünes Täschchen, während er nervös an seinem gleichermassen grünen Absinth nippt. Sie und Er, Magda und Ruggero, sie sind das Paar der Stunde, denn Ermonela Jaho mit ihrem dunklen Timbre und Benjamin Bernheim mit seinem obertonreich glänzenden, äusserst flexiblen Tenor sind füreinander geschaffen – wie einst, ebenfalls in der Zürcher Oper, Agnes Baltsa und José Carreras.

Seine allerschönsten Töne hat Puccini in die Notenlinien gezaubert: aufschwingende Melodiebögen und silberhellen Orchesterklang, gefärbt durch oktavierte Geigen, zarte Einwürfe der Holzbläser und, in Momenten der Kulmination, helle Glöckchen. Unter der ebenso inspirierenden wie kundigen Hand des Dirigenten Marco Armiliato blüht die Philharmonia Zürich förmlich auf; das Orchester schwelgt im Spiel der Farben und, vor allem, in den schimmernden Tönen des Leisen. Doch dann und sehr plötzlich steigt die Temperatur. Magdas Mimik spricht von ihren Zweifeln. Ruggero dagegen, nichts ahnend im Versuch, die feurige Beziehung zu festigen, erscheint mit einem Brief, in dem die Mutter in die Eheschliessung einwilligt. Da bricht es aus Magda heraus: Sie sei nicht, was er in ihr sehe, könne weder Gattin noch Mutter sein, sie habe sich für Geld hergegeben, sie könne sein Haus nicht betreten – mit einem Schrei aus der Tiefe ihrer Bruststimme entringt sich Ermonela Jaho dieser letzte Satz.

Benjamin Bernheim steht ihr, was seine lebensgefährliche Verzweiflung ob diesem Geständnis betrifft, in nichts nach. Und Marco Armiliato zeigt, wie grossartig er das Orchester aus dem Duft des Leisen in die volle Kraft zu führen weiss – dort übrigens ohne jede Störung der Balance. Rasch ist das Ende herbeigeführt; Puccini tat sich schwer damit, hat dank seinem Sinn für das Dramatische aber doch den rechten Weg gefunden. Und schon sehen sich die Protagonisten dem tosenden Beifall gegenüber, er mit zusammengebissenen Lippen, sie mit einer Träne, die sie keineswegs verstohlen weggewischt. «La rondine»: ein Meisterwerk, meisterlich dargeboten.

Theater aus Musik

Drei Mal Bartók in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Evelyn Herlitzius (Judith) und Christof Fischesser im Stadttheater Basel (Bild Matthias Baus, Theater Basel)

Exzellent, dieser Abend. Eine Produktion im Zeichen von Musik und Theater und Tanz, und das in sinnreichem, lustvollem Zusammenwirken der drei Sparten – in Zeiten, da die schon sehr lange währenden, gerade jetzt wieder neu aufflammende Diskussion um Grenzen und Grenzüberschreitungen des Regietheaters in der Oper alles andere als selbstverständlich. Gewiss, mit dem am Theater Basel erarbeiteten Projekt mit dem «Wunderbaren Mandarin» und «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók hat sich ein Regisseur verwirklicht. Aber Christof Loy ist ein derart sachbezogener, reflektierter und dazu musikalisch sensibler Bühnenkünstler, dass das Ergebnis zu ausserordentlicher Wirkung kommt. Authentizität eigener Art ist da zu spüren, tiefe Berührung zu erleben.

Wie immer, wenn «Herzog Blaubarts Burg» ins Programm genommen werden soll, stellt sich die Frage nach der Ergänzung zu dem einstündigen Einakter. Christof Loy wollte zu dem dunklen, in Schwärze endenden Stück von 1911, uraufgeführt 1918, eine helle Botschaft stellen: die Botschaft der Liebe, die, wenn sie gelebt wird, gegen alle Widrigkeiten der Umstände ihre Chance haben kann. Und diese Botschaft sollte ebenfalls der Feder Béla Bartóks entstammen. Darum die Tanzpantomime «Der wunderbare Mandarin» – die nun allerdings mit dem Tod des Titelhelden endet, wenn auch mit einem Tod der Erlösung. Wie das Mädchen, das von drei brutalen Zuhältern auf die Strasse geschickt wird, den übel zugerichteten, gleichwohl immer wieder ins Leben zurückkehrenden Mandarin küsst, kann er sterben. Sehr aufhellend ist das nicht, doch kehrt es Loy ins Positive, indem er auf den «Wunderbaren Mandarin» den zarten ersten Satz aus der «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» von 1937 folgen und dazu eine von ihm erdachte (und gemeinsam Johannes Stepanek umgesetzte) Choreographie tanzen lässt. Sie deutet an, was der Kuss des Mädchens auf die Lippen des Mandarins wirklich bedeutet.

Über diese Anlage, vor allem über den Bezug zwischen dem «Mandarin» und «Blaubart», lässt sich füglich nachdenken. Im Moment der Aufführung freilich stellt sich eine unerhört dichte, durch die Musik nicht grundierte oder unterstützte, sondern recht eigentlich aus ihr heraus entwickelte Atmosphäre ein. Das ist Musiktheater im besten Sinn. Zumal dem Sinfonieorchester Basel unter der Leitung seines erstmals am Theater Basel auftretenden Chefdirigenten Ivor Bolton eine hervorragende Auslegung der im «Mandarin» zupackenden, im instrumentalen Stück feingliedrigen Musik Bartóks gelingt. Und was die Tänzer, allen voran Carla Pérez Mora (Mädchen) und Gorka Culebras (Mandarin), aber auch die drei vom Komponisten als Strolche bezeichneten Zuhälter Joni Österlund, Nicky van Cleef und Jarosław Kruczek sowie die beiden Freier Nicolas Franciscus und Mário Branco – was dieses Ensemble zustande bringt, ist in seiner Körperlichkeit und seiner Ausdrücklichkeit schlechterdings hinreissend. Energie sondergleichen herrscht hier, und doch gerät nichts grob. Auch die scharfen Attacken der Zuhälter auf den Mandarin bleiben elegante Kunst, so eindeutig sie vorgeführt werden. Sie lassen dem Zuschauer auch Raum fürs Zuhören.

Wenn das Geschehen nach der Pause wieder anhebt, wird deutlich, dass die beiden Teile durch die Ausstattung eng miteinander verzahnt sind. Wo im «Mandarin» ein dichter Wald drohte, ragt bei «Blaubart» die aus Holz gebaute Burg mit ihren verschlossenen Fenstern; in beiden von Márton Ágh entworfenen Bildern herrscht meist nachtschwarze Dunkelheit, die nur von scharfen Lichtkegeln erhellt wird (Licht: Tamás Bányai). Auch die schlichten Kostüme von Barbara Drosihn betonen die Verbindungen; Blaubart gleicht dem Mandarin bis hin in Einzelheiten der Erscheinung, Judith trägt ein kleines Schwarzes wie das Mädchen, selbst die Verwendung der Schuhe schafft Korrespondenz. All das ist fantasievoll erdacht und sorgfältig ausgeführt. Dazu kommt auch hier die Kostbarkeit des Orchesterparts. Ivor Bolton bringt den Farbenreichtum in Bartóks Partitur zu voller Pracht; durch nuancierte Tongebung, auch durch partiellen Verzicht auf das Vibrato in den Streichern gelingt ihm eine blendende klangliche Erweiterung. Und gekonnt die Kontrolle der Spannung: Den grossen C-dur-Akkord im fünften Bild, da Judith die Weite von Blaubarts Ländereien erblickt, nimmt er laut, aber nicht am lautesten – das ist für den dramatischen Höhepunkt reserviert.

Das Paar selbst: grossartig. Christof Fischesser lässt seinen opulenten Bariton in ganzer Fülle hören. Er setzt ihn aber nicht ein, um die Virilität des Schlossbesitzers mit seiner reichen Vergangenheit ins Licht zu rücken, sondern um den Absturz von der durch vorgespiegelte Souveränität nur wenig verdeckten Unsicherheit runter in die reine Verzweiflung drastisch herauszustellen. Ihm gegenüber steht eine Judith, die das Jungmädchendasein längst hinter sich hat, die Blaubart als eine reife Frau begegnet und als solche genau weiss, was sie vom Mann erwartet: Ehrlichkeit. Evelyn Herlitzius, eine geborene Sängerschauspielerin mit tragender, opulent leuchtender Tiefe und Leichtigkeit in der Höhe, dringt unablässig auf Blaubart ein und sieht sich am Ende vor einem Scherbenhaufen. Was bleibt, ist tiefe Betroffenheit, ja Beunruhigung aus, weil «Herzog Blaubarts Burg», mehr als ein Jahrhundert alt, von heute sein könnte.

Hier galt’s der Kunst

Notizen zu den Salzburger Festspielen 2022

Von Peter Hagmann

 

Im Schatten der Debatten

Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.

 

Endspiele

Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.

Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.

Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.

Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.

 

Sängerinnenkult

Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.

In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.

Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.

 

Zwangsjacke aus grauem Tuch

Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.

Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.

Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.

 

Mozart, ganz in der Jetztzeit

Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.

Wort oder Ton, Ton oder Wort?

Zweimal «Capriccio» von Richard Strauss

 

Von Peter Hagmann

 

Malin Byström als Gräfin (Bild Javier del Real, Teatro Real Madrid)

Beide Häuser hatten das Stück im Angebot, beide konnten es der Pandemie wegen nicht über die Rampe bringen. «Capriccio», die letzte Oper von Richard Strauss, hätte in diesen Wochen und Tagen sowohl in der Semperoper Dresden als auch im Opernhaus Zürich herauskommen sollen. Statt der Premieren wurde in beiden Fällen zum Hilfsmittel der Videoaufzeichnung und der Präsentation im Internet gegriffen. Wobei in Zürich noch einen Schritt weiter gegangen wurde. Geplant gewesen war hier, im Rahmen einer Zusammenarbeit, die Übernahme jener Inszenierung, die Christof Loy 2019 für das Teatro Real in Madrid konzipiert hat. Auf die Aufbereitung dieser Arbeit mit eigener Besetzung und neu erstellten Dekorationen wurde verzichtet; stattdessen stand übers Pfingstwochenende die Originalproduktion aus Madrid im kostenfreien Streaming-Angebot des Opernhauses. In Dresden dagegen war gearbeitet worden; was im Netz geboten wurde, war eine neu erstellte Inszenierung von Jens-Daniel Herzog.

Zweimal dasselbe also, dieses Gleiche aber je ganz anders – auch wenn in beiden Aufführungen die Partie des Haushofmeisters von dem äusserst diskreten und darum äusserst zuverlässigen Torben Jürgens verkörpert wurde. Besonders ins Gewicht fallen die Differenzen im Musikalischen. In Dresden nimmt Christian Thielemann die in dichter Polyphonie gehaltene, im klanglichen Ergebnis licht und transparent gedachte Partitur hochgradig beim Wort. Er sorgt, soweit sich das im Streaming beurteilen lässt, für optimale Durchhörbarkeit, für bewegtes Leben im Einzelnen, ohne das grosse Ganze aus dem Blick zu verlieren. Ein ruhiger Fluss herrscht da, ein instrumentales Parlando sozusagen, auch wenn die herrlich klingende Staatskapelle Dresden, wo es gefordert ist, vollen Ton gibt. Vor allen Dingen aber bleibt Thielemann jederzeit im Schlag, woran sich auch die Sängerinnen und Sänger halten. So ist in dieser Produktion denn zu wahrzunehmen, mit welchem rhythmischen Raffinement Strauss den Text seines Kollegen Clemens Krauss in musikalische Verläufe umgeformt hat. Allerdings tritt dabei auch eine gewisse Künstlichkeit zutage; bisweilen kann man beinah an «Enoch Arden» denken, Strauss‘ Melodram für Sprechstimme und Klavier.

Dem entspricht die szenische Anmutung. Dass der Salon, in dem «Capriccio» spielt, vom Bühnenbildner Mathis Neidhardt in geldadliger Einrichtung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint, dass Daniel Behle als der (untadelig singende) Komponist Flamand in Uniform vom Schlachtfeld zurückkehrt, das verweist auf die Entstehungszeit des Stücks, einer mitten im Zweiten Weltkrieg niedergeschriebenen Reflexion zur Frage, welcher Parameter in der Oper der dominante sei, Wort oder Ton oder allenfalls gar die Szene. Die zeitgeschichtlichen Andeutungen bleiben jedoch Zutat, da sie in der systemimmanenten Anlage des Stücks nicht genutzt werden können. So bleibt «Capriccio» in Dresden eine gewöhnliche Oper, eine leicht heroische zudem. Mit ihrem festgefügten Ton und ihrem kräftigen Vibrato erscheint Camilla Nylund als eine Gräfin hergebrachten Stils; warum sie mit Flamand und dem hier etwas unterbelichtet wirkenden Dichter Olivier (Nikolay Borchev) von zwei jungen Männern sehr eindeutig umgarnt wird, muss man sich selber ausdenken. Und Christa Mayer mit ihrem tiefen Alt gibt eine wohlbestallte, über den Dingen stehende Schauspielerin Clairon. Den Höhepunkt in dieser routinierten, von der Figurenzeichnung her wenig profilierten Inszenierung bildet der grosse Monolog des Theaterdirektors La Roche, den Georg Zeppenfeld stimmlich blendend und darstellerisch grandios auf den fulminanten Schlusspunkt hinsteuert. Das ist gutes altes Operntheater, wenn auch vom Feinsten.

Ganz anders geht der Dirigent Asher Fish in Madrid vor. Mit dem nicht sonderlich sensibel aufspielenden Orchester des Teatro Real erzeugt er ein eher am Duktus der Alltagssprache orientiertes, sich einigermassen frei entfaltendes Klangbild. Die Sängerinnen und Sänger sind an längerer Leine geführt als bei Thielemann, das szenische Geschehen wirkt weniger artifiziell als in der Dresdener Produktion. Das hat durchaus seine Logik, denn Christof Loy zeigt «Capriccio» als ein im Hier und Jetzt angesiedeltes, raffiniert ineinander verschachteltes Spiel im Spiel mit jenen Menschen aus Fleisch und Blut, die der Theaterdirektor La Roche für seine Kunst fordert. Gewiss lässt es der Kostümbildner Klaus Bruns nicht an Rüschen und Reifröcken fehlen, geprobt wird ja eine Scharade zum Geburtstag der jungen, schönen, verwitweten Gräfin – und natürlich überschneiden sich dabei die Zeiten und die Wirklichkeiten. Der Regisseur nimmt damit eine ähnlich eindeutige Haltung ein wie der Komponist, der mit «Capriccio» mitten im Bombenterror ein weltabgewandtes, einer rein ästhetischen Frage gewidmetes Werk geschaffen hat – einen zart gewirkten, ironischen, nostalgisch zurückblickenden Einspruch gegen die unerträgliche Realität der Zeit.

Gerade feinfühlig geht die Produktion mit dem ziselierten Vorlage freilich nicht um. Gesungen wird auch hier mit viel Druck – vielleicht mit mehr, als nötig gewesen wäre. Und gespielt wird hart an der Grenze zum Chargieren. Mimik und Gestik wirken jedenfalls stark überzeichnet. Für den Effekt auf einer grossen Bühne wie jener im Teatro Real mag das als Notwendigkeit gefordert sein, in der Videoaufzeichnung, in der die Gesichter dem Zuschauer immer wieder von ganz nah gezeigt werden, wirkt es aufdringlich, ja auf die Länge öd. Allerdings, «Capriccio» als ein Blick in die turbulenten Prozesse rund um die Entstehung einer szenischen Produktion, in die Theaterwerkstatt mit ihren heftig ausgelebten Eigeninteressen und ihren herben Konfrontationen – das hat seinen erfrischen Reiz, zumal wenn das beteiligte Team so beweglich agiert, wie es hier geschieht.

Dass in «Capriccio» gepflegte Konversation über im Grunde dramaturgische Fragen geführt wird, gerät  bei diesem wirbelnden Spiel in dem schon ziemlich leeren, nur mit einigen barockisierenden Stücken möblierten Salon des Bühnenbildners Raimund Orfeo Voigt in den Hintergrund. Wichtiger ist das erotische Fluidum zwischen der knackigen Gräfin von Malin Byström mit ihrer hellen, leichten Stimme, dem in jeder Hinsicht attraktiven Textdichter Olivier (Andrè Schuen) und dem draufgängerischen Komponisten Flamand (Norman Reinhardt). Stimmig auch die Besetzung der Clairon mit Theresa Kronthaler, deren hoher Mezzosopran den jugendlichen Charakter der von vielen Seiten umworbenen Schauspielerin ausgezeichnet trifft. Als der stimmgewaltige Theaterdirektor La Roche rauft sich Christof Fischesser virtuos die Haare; sein Monolog kommt aber nicht sonderlich zur Geltung, da ihm die Umstehenden nicht ergeben zuhören, sondern immer wieder erregt auf ihn eindringen. Etwas Unterstützung durch die Dramaturgie wäre da möglicherweise sinnvoll gewesen.

«Capriccio» in Dresden (Bild Ludwig Olah, Semperoper Dresden)

Im Ausnahmezustand – die Salzburger Festspiele 2020

Von Peter Hagmann

Salzburg, ein Sommermärchen?

Im Grunde war es der einzig richtige Weg – im Falle der Salzburger Festspiele erst recht. Während sich das Virus rasant verbreitete, das öffentliche Leben Schritt für Schritt stillgelegt wurde und die grossen Musikfestivals Europas die für den Sommer 2020 geplanten Ausgaben absagten, hielt man in Salzburg erst einmal still. Sehr lange hielt man still. Dann aber, am Abend des 25. Mai, nachdem die österreichische Regierung weitgehende Lockerungen des Corona-Stillstands verfügt hatte, gaben die Salzburger Festspiele bekannt, dass die Ausgabe zum Jubiläum ihres hundertjährigen Bestehens tatsächlich stattfinden werde, wenn auch in modifizierter Form: mit einem ausgeklügelten Sicherheitskonzept für alle Beteiligten, mit einem reduzierten Programm, mit einem deutlich verkleinerten Angebot an Sitzplätzen, mit Anlässen, die, ohne Pause und Gastronomie durchgeführt, eine Dauer von zwei Stunden nicht übersteigen sollten. Das mutige Warten und das tatkräftige Umgestalten des Programms haben sich gelohnt. Die Salzburger Festspiele als die ausstrahlungsmächtigste Institution ihrer Art führten damit vor, dass die Pandemie nicht das Ende der Kultur bedeuten muss.

In Salzburg angekommen, nimmt man mit Erleichterung Anzeichen von Courant normal wahr. Die Flaggen auf der Staatsbrücke wehen wie immer, die Kaffeehäuser sind belegt wie stets, an gewissen Orten herrscht das übliche Gedränge. Und doch: So wie jeden Sommer ist es nicht. Die Masken, in Österreich «MNS» oder «Mund-Nasenschutz» genannt, fallen schon auf, zumal in den Festspielhäusern, wo sie obligatorisch sind. Die Getreidegasse ist so leer, dass man für einmal die Möglichkeit hat, ihre architektonischen Schönheiten zu entdecken. Und im «Bazar» kann man, wenn man sich nicht allzu ungeschickt anstellt, sogar einen Tisch finden. Bemerkenswert auch die Belegung der Spielorte, an denen das Publikum nach der Art eines Schachbretts auf die Sitze verteilt ist; so ist es wenigstens im Grossen Festspielhaus, wo auch einander nahestehende Menschen einen Sitz zwischen sich freizulassen haben (in der Felsenreitschule wird das Prinzip offenbar nicht gar so streng gehandhabt). Der Abstand zum Nächsten ist gefordert – was nicht jedermann als Nachteil empfinden wird, was eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele mit ihrer eminenten sozialen Funktion aber schwer trifft.

Indes geht es in Salzburg wohl doch in erster Linie um die Kunst. In dieser Hinsicht stellte die vollkommene Umstellung des Programms einen Drahtseilakt erster Güte dar, freilich auch einen Schritt, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das Angebot musste überdacht und neu disponiert werden. Bisher verkaufte Karten mussten rückvergütet, Plätze für das neue Programm mussten verkauft werden. Ein Sicherheitskonzept war zu entwerfen und zu testen. Und das alles in kürzester Zeit und unter dem Damoklesschwert von Planungsunsicherheit und unklarer Informationslage. So musste denn von dem schön durchdachten, äusserst reichhaltigen Programm zur Jahrhundertfeier der Festspiele Abschied genommen werden. Endgültig ist der Abschied jedoch nicht; weite Teile des Programms sollen zu späteren Zeitpunkten realisiert werden.  Der aussergewöhnlichen Umstände wegen dauert das Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele denn auch bis zum 31. August 2021, das gilt selbst für die anregende Ausstellung «Grosses Welttheater» im Salzburg Museum am Mozartplatz.

«Elektra»

Ausrine Stundyte (Elekttra) und Asmik Grigorian (Chrysothemis) in der Salzburger ,«Elektra» (Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele)

Statt der geplanten vier Neuinszenierungen gab es bei den Salzburger Festspielen 2020 also nur deren zwei. «Elektra» von Richard Strauss, einem der Gründerväter der Festspiele, wurde unverändert aus dem ursprünglichen Programm übernommen – eine herausragende Produktion, die erwies, dass die Pandemie das eine, die Kunst dagegen das andere ist. Die Wiener Philharmoniker traten, so machte es den Anschein, in voller Besetzung auf und liessen die opulente Partitur in ganzer Pracht erklingen. Im Moment der Katastrophe am Ende des knapp zweistündigen Einakters drehte das Orchester ungehemmt auf – und da wurde wieder einmal deutlich, dass das Fortissimo nicht zu Stärken der Wiener gehört, die Krone gebührt diesbezüglich den Berliner Philharmonikern. Aber die Farbenpalette, die aus dem Graben der Felsenreitschule drang, war von betörender Sinnlichkeit. Nicht zuletzt ist das dem Dirigenten Franz Welser-Möst zu danken, der mit ebenso viel Fingerspitzengefühl wie Temperament bei der Sache war.

Täuschte der Eindruck oder legte Welser-Möst den Akzent tatsächlich weniger auf die geschärften Seiten der Partitur als auf ihre klangsinnliche Ausstrahlung? Klang am Ende, wie Elektra den ahnungslosen Ägisth in die Arme ihres blutig rächenden Bruders treibt, nicht sogar ein wenig «Rosenkavalier» an? Nicht zu überhören war jedenfalls, dass des Dirigenten Deutungsansatz Hand in Hand ging mit den vokalen und den szenischen Intentionen. Elektra wird vom Regisseur Krzysztof Warlikowski von Anfang an als eine gebrochene Frau gezeigt. Zu Beginn sieht man sie, verkörpert von einem Double, nackt unter einer Dusche stehen, wo sie unter Aufsicht einer herrischen Zofe Körperpflege zu betreiben hat; später wird sie ihrem Bruder sagen, sie habe im Palast zu Mykene alles hergeben müssen, selbst ihre Scham. Es ist weniger die Obsession als deren Ursache, als der heillose Schmerz, der Elektra zu Boden drückt. Ausgezeichnet spiegelt sich das in Stimme und Darstellung von Ausrine Stundyte. Die Sopranistin aus Litauen ist keine Heroine, ihr Timbre zeichnete eher fein und stellt die verletzte Seite der Figur in den Vordergrund.

Ganz anders die Chrysothemis von Asmik Grigorian. Die ebenfalls aus Litauen stammende Salome von 2018 verfügt über eine Stimme von fabulöser Ausstrahlung und enormem Ambitus sowie eine szenische Präsenz sondergleichen. So erscheint die Chrysothemis hier, im Gegensatz zu den allermeisten Inszenierungen von «Elektra», nicht als die etwas biedere, nach Eheglück und Kindersegen strebende kleine Schwester, sondern als eine starke, ganz und gar dem Leben zugewandte Frau – als die Einzige in der Familie der Atriden, die nicht von Fluch und Wahn besessen ist, sondern positive Lebenskraft ausstrahlt. Eine grossartige Besetzungsentscheidung und eine in jeder Hinsicht überzeugende Darbietung auf der Bühne war das. Nicht minder eindrücklich der Orest von Derek Welton. Sein Auftritt mit dem lapidaren ersten Satz «Ich muss hier warten» gerät zum Höhepunkt der Oper; genau hier liegt, so der Eindruck an diesem Abend, die dramaturgische Scharnierstelle. Äusserst berührend in der Folge der Vorgang des Erkennens, an dem Jens Larsen als der alte Diener mit Schauspielkunst vom Feinsten teilhat.

Etwas oft wird an der Rampe gesungen, gewiss; störend ist es nicht. Es kommt der klanglichen Balance zugute, und in der Tat bleiben die Stimmen fast jederzeit präsent – ganz anders als in der letzten Salzburger «Elektra» von 2010, in welcher der Dirigent Daniele Gatti mit seinen Fortissimo-Exzessen das Bühnengeschehen zum Stummfilm werden liess. Darüber hinaus sind die Figuren derart plastisch gezeichnet, dass sie auch in Momenten sparsamer Aktion greifbar bleiben. Zum Ausdruck kommt das etwa bei der Klytämnestra von Tanja Ariane Baumgartner, deren Mezzosopran grandiose Kontur gefunden hat und deren Darstellungskraft enorm gewachsen ist. Ohne jeden Druck macht sie die Klytämnestra zu einer buchstäblich unheimlichen Theaterfigur.

Sie wird dadurch zur Quelle allen Übels – was als Feststellung allerdings darum nicht restlos stimmt, weil in der Inszenierung Warlikowskis der Mythos als allgegenwärtig gezeigt wird. Links auf der Bühne von Małgorzata Szczęśniak steht ein ausladender Kasten. Es ist der Schrein der Erinnerung. Durch die gläsernen Wände wird ein Salon sichtbar, in der die vermeintlichen Sieger der Geschichte, die bald ein unrühmliches Ende finden werden, ihr üppiges Leben führen. Wie sich der Mythos zu erfüllen beginnt, bewegt sich der Schrein ins Zentrum, worauf in einer raffinierten Videoarbeit von Kamil Polak auf den geschlossenen Arkaden der Felsenreitschule das Blut fliesst. Gierig aufgesogen wird dieses Blut von einer wachsenden Zahl an Fliegen, die sich nach und nach zu einem kreisenden Wirbel fügen – eine szenische Metapher, wie sie zum Ausbruch des Wahnsinns und zur musikalischen Explosion am Ende von «Elektra» nicht besser passen könnte.

«Così fan tutte»

Lea Desandre als Despina, Marianne Crebassa: als Dorabella und Elsa Dreisig als Fiordiligi in «Così fan tutte» (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Neben Richard Strauss durfte in dem halben Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele Wolfgang Amadeus Mozart nicht fehlen. Im ursprünglichen Programm war «Don Giovanni» mit Teodor Currentzis und Peter Sellars vorgesehen. Der sinnenfreudige Totentanz musste ersetzt werden; an seine Stelle trat – «Così fan tutte». Wie das? Das Dramma giocoso mit seiner Länge von gut drei Stunden an einem pausenlosen Abend? Gewiss nicht, das Stück wurde auf etwas mehr als zwei Stunden gekürzt – ein Eingriff in ein Allerheiligstes des Kanons, von der Pandemie gefordert und durch sie gerechtfertigt. Das lässt sich umso eher sagen, als die Erstellung der Salzburger Bühnenfassung durch die Dirigentin Joana Mallwitz und den Regisseur Christof Loy ausgesprochen geglückt ist. Gestrichen wurde – das Programmbuch lässt es verdienstvollerweise nachvollziehen – in rezitativischen Teilen, wegfallen mussten aber auch Arien: jene der Despina im ersten Akt, drei der beiden Herren und ein Quartett im zweiten Akt, der in mancher Aufführung etwas Länge zeigt. Natürlich ist es schade um die Musik, die nicht erklungen ist, und um die Proportionen, die gestört sind, der dramatischen Stringenz war das Vorgehen eher förderlich.

Unterstrichen wurde es durch eine Inszenierung, deren Minimalismus beinah zu einer halbszenischen Wiedergabe führte. Die Erinnerung an den «Ring des Nibelungen» Richard Wagners 2013 beim Lucerne Festival lag jedenfalls nahe, zumal die Wirkung von «Così fan tutte» im Grossen Festspielhaus von ähnlich bezwingender Direktheit war. Die Bühne von Johannes Leiacker, ganz in Weiss gehalten, begnügte sich mit einer durch zwei Flügeltüren gegliederten Wand und einigen Treppenstufen, beides über die ganze Breite gezogen. Davor ein Sextett von Darstellerinnen und Darstellern, für die Barbara Drosihn fast durchwegs gehobenes Schwarz heutiger Provenienz entworfen hatte; nur für die Verkleidung von Ferrando und Guglielmo sowie für die beiden Auftritte Despinas als Doktor und als Notar waren Kostüme im eigentlichen Sinn in Verwendung – die Differenz zu Szenenbildern früherer Zeit, zumal solchen aus Salzburg, hätte grösser nicht ausfallen können. Eine Verortung des Stücks durchs Optische blieb ebenso aus wie ein Positionsbezug des Regisseurs zu dem eigenartigen Experiment Don Alfonsos mit dem Partnertausch der beiden jungen Paare. Der puristische Ansatz hatte insofern seinen Reiz, als man sich ganz auf die komplexe Interaktion zwischen den Beteiligten konzentrieren konnte. Umso frustrierter liess einen dann aber das Ende zurück – und damit die Frage, was Mozart und Da Ponte mit dem Stück wollten.

Sah die Inszenierung deshalb doch ein wenig nach Notlösung aus, so wurde dieser Eindruck deutlich relativiert durch die Entschiedenheit, mit der Geschehen musikalisch wie szenisch geformt war. Für einmal waren die beiden Paare als solche problemlos zu erkennen: an den Haarfarben, vor allem aber an den Timbres. Als Fiordiligi brachte Elsa Dreisig, blond, einen leicht geführten, hellen Sopran ein, während Andrè Schuen, dunkelhaarig, als ihr Bräutigam Guglielmo mit einem kernigen, in der Tiefe verankerten Bariton aufwartete. Spiegelbildlich angelegt das andere Paar, bei dem Bogdan Volkov, blond, als Ferrando einen lyrischen, obertonreichen Tenor hören liess, dem Marianne Crebassa, dunkelhaarig, einen samtenen, runden Mezzosopran gegenüberstellte. Auf dieser lange nicht in jeder Produktion so klaren Basis konnte der Regisseur witzig und virtuos mit den Irrungen und Wirrungen des Partnertauschs spielen. Ausgezeichnet gelang dies auch dank der entschiedenen Steuerung des Experiments durch Johannes Martin Kränzle, der einen keineswegs altersweisen, sondern durchaus lebensbezogen fordernden Don Alfonso gab und der mit der Despina der quirligen Lea Desandre eine raffinierte Assistentin an der Seite hatte.

Am Pult die junge Joana Mallwitz, die ursprünglich die Wiederaufnahme der «Zauberflöte» hätte dirigieren sollen, nun aber mit «Così fan tutte» Aufsehen erregte. Zügig ihre Tempi, fast so zügig wie bei Arnold Östman. Sehr leicht und agil der Ton, in dem sie durch die besondere Beleuchtung der Bratschen immer für überraschende Akzente sorgte. Nur wirkten leider die Wiener Philharmoniker, anders als bei «Elektra», hier nicht besonders inspiriert. Sie traten mit der Dirigentin nicht wirklich in Dialog, sie versahen ihren Part eher so, wie sie ihn immer versehen. In Fragen der Artikulation und des sprechenden Musizierens blieben einige Wünsche offen. Das führte zumal im zweiten Akt (und trotz der dort vorgenommenen Kürzungen) immer wieder zu Durchhängern in einer sonst sehr animierten Produktion.

Wie auch immer: Gut, dass die beiden Abende stattfanden. Erst recht, dass sie auf diesem Niveau stattfanden. Auf dem Salzburger Niveau – Corona hin, Corona her.