Wahrheiten der Musik

Mozarts «Così fan tutte»
mit dem Kammerorchester Basel

 

Von Peter Hagmann

 

«Ausverkauft» – so heisst es auch an diesem Abend des Kammerorchesters Basel. Kein Wunder, im wunderschön renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos wird «Così fan tutte» gegeben, das Dramma giocoso Lorenzo Da Pontes, mit dem Wolfgang Amadeus Mozart im Jahre 1 nach der Französischen Revolution für Wellenschlag gesorgt hat. Was es bis heute tut. Selbst in unseren Tagen gibt es Opernfreunde, die dem von Don Alfonso arrangierten Partnertausch mit Vorbehalten begegnen – trotz der Genialität von Mozarts Musik. Und kommt das Stück auf die Bühne, tritt nicht selten heraus, wie hilflos die Regisseure mit der krassen Absurdität von «Così fan tutte» umgehen. Kann es tatsächlich sein, dass die beiden Frauen ihre Geliebten, die ihnen in notdürftiger Kostümierung übers Kreuz die Aufwartung machen, nicht erkennen und auf das Spiel hineinfallen? Und ist effektiv denkbar, dass, wenn der ganze Schwindel aufgeflogen ist, die Frauen düpiert dastehen und die Männer ihre Wunden lecken, doch wieder Friede Freude Eierkuchen eintritt?

An Fragen fehlt es nicht. Unter der Leitung seines Ersten Gastdirigenten Giovanni Antonini – einen Chefdirigenten kennt das sich selbst verwaltende Ensemble nicht – hat das Kammerorchester Basel eine starke, wenn nicht gar die einzige plausible Antwort gegeben. Es hat auf die Musik Mozarts gehört und ihre Expressivität in aller Eindringlichkeit herausgestellt. Schon in der, was das Tempo betrifft, mässig genommenen Ouvertüre liess das historisch informiert, aber nicht durchwegs auf alten Instrumenten spielende Orchester hören, welches Qualitätsniveau es pflegt. Klangschönheit und Expressivität in den Bläsern, Agilität und Vitalität in den Streichern liessen keinen Wunsch offen – ohne Zweifel hat die dem Basler Abend vorangegangene Tournee nach Luxemburg, Paris und Hamburg die Formation zusammengeschweisst und die Interpretation geschärft. Wenn die Emotionen hochgingen, nahmen die Musikerinnen und Musiker, angefeuert durch ihren bisweilen arg schnaubenden Dirigenten, kein Blatt vor den Mund. Während sie in den Momenten des Innehaltens, der Unsicherheit, des Fragens offen waren für jedes Mitfühlen, für jede Zärtlichkeit. Das alles in dem von ebenso eleganten wie präsenten Tiefen getragenen Gesamtklang wie in den teils stupenden solistischen Einlagen.

Glänzenden Reflex fand dieses musikalische Bild im Auftritt von Julia Lezhneva als Fiordiligi. In den letzten Jahren grossartig aufgeblüht, bewältigt die junge Sopranistin die enormen Anforderungen dieser Partie absolut hinreissend. Der besonders weite Stimmumfang, den ihr Mozart abverlangt, bereitet ihr keinerlei Schwierigkeit; ohne Mühe springt sie aus höchster Höhe zwei Oktaven in die Tiefe, und dass dafür ganz unterschiedliche stimmliche Ansätze vonnöten sind, tritt nicht in Erscheinung, so perfekt sind die Register aufeinander abgestimmt und miteinander verschmolzen. Dazu kommen Stilbewusstsein, Phantasie und Mut im Umgang mit Verzierungen, die staunen machen; mit den reichhaltigen, niemals aufgesetzt wirkenden, vielmehr jederzeit emotional unterfütterten Verzierungen, welche die Sängerin einzusetzen wusste, geriet «Per Pietà», ihre grosse Arie im zweiten Akt, zum Höhepunkt des Abends. Allerdings blieb dieses vokale Niveau die Ausnahme. Als Dorabella hielt Susan Zarrabi, eingesprungen für die erkrankte Emőke Baráth, zuverlässig stand, bildete jedoch nicht das hier geforderte Gleichgewicht. Dafür sorgte eher Sandrine Piau, eine hocherfahrene Expertin für die Partie der vorlauten Dienerin Despina. Die Herren dagegen, sie blieben deutlich zurück, weil sie durchs Band zu viel Druck gaben und immer wieder die Balance zwischen vokalem und instrumentalem Ausdruck bedrohten. Als Ferrando zeigte Alasdair Kent schöne Höhe, die er auch im Pianissimo zu nutzen verstand, geriet aber gern in eine unbefriedigende Schärfe, während Tommaso Barrea als Guglielmo mehr Stimmkraft als Gestaltungsvermögen erkennen liess. Konstantin Wolff schliesslich, auch hier mit leicht belegtem Timbre, zeichnete Don Alfonso weniger als gelassenen Aufgeklärten denn als herb fordernden Intriganten.

Mag sein, dass Mängel dieser Art auch auf die szenische Einrichtung des Abends zurückgingen. Salomé Im Hof versah das Geschehen auf dem Konzertpodium dergestalt mit Aktion und Kostüm, dass Mozarts Oper zu veritabler halbszenischer Aufführung kam. Dabei setzte sie ganz auf die komische Seite, womit sie manchen Lacher im Publikum generierte, die Ambivalenz des Stücks aber völlig ausser Acht liess. Das war zu viel des Guten, zudem echt hausbacken, jedenfalls nicht auf dem Niveau des Kammerorchesters Basel.

Wo steht das Streichquartett?

Begegnungen mit dem Cuarteto Casals, dem Ulysses Quartet und dem Chiaroscuro Quartet

 

Von Peter Hagmann

 

Seit eh und je, und das gilt bis heute, wird das Streichquartett als Inbegriff der musikalischen Kunst erlebt: als «Königsdisziplin», wie gerne gesagt wird. Tatsächlich wird im Zusammenwirken von vier Stimmen und vier Instrumenten in unterschiedlicher Höhe, aber vergleichbarer Farbe das musikalische Geschehen in einer Reinheit und einer Nähe wie nirgendwo sonst erfahrbar. Das interessiert nicht alle Musikfreunde gleichermassen; diejenigen unter ihnen, die sich davon angesprochen fühlen, sind jedoch mit besonderer Hinwendung, auch mit auffallender Kompetenz dabei. Besonders angezogen von der Gattung fühlten und fühlen sich zudem die Komponisten; bis heute werden von den bedeutenden Vertretern dieser Zunft Werke für zwei Geigen, Bratsche und Cello vorgelegt; von Wolfgang Rihm zum Beispiel stammen nicht weniger als fünfzehn Streichquartette, entstanden zwischen 1966 und 2011. Auch an Interpreten fehlt es nicht – gerade heutzutage nicht, da die Musikhochschulen allüberall höchstqualifizierte Instrumentalisten auf den Markt werfen, wo sie nicht eben mit offenen Armen empfangen werden. Jedenfalls sind in den letzten Jahrzehnten Streichquartette in Menge gegründet worden. Nur mit der Kommerzialisierung will es nicht recht klappen. Auftritte von Streichquartetten sind nun einmal für kleinere Räume gedacht und werden von einer geringeren Zahl an Zuhörern besucht, während die Kosten, darunter aber nicht die Gagen, beständig steigen. Den Kassenwarten bereitet das wenig Freude.

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Dennoch: In der Nische des Streichquartetts herrscht pralles Leben, es darf einmal mehr betont werden. Zu den Bannerträgern gehört hier die Gesellschaft für Kammermusik Basel, die seit 1926 im Basler Stadtcasino Streichquartetten ihr Podium bietet. Klein, aber fein ist dieser private, allein von den Mitgliederbeiträgen, den Konzerteinnahmen und den Zuwendungen von Sponsoren lebende Verein. Dank seiner stolzen Vergangenheit und dank seinen derzeit acht Konzerten pro Saison stösst er auf internationale Beachtung – jedenfalls kommen die führenden Ensembles der Szene regelmässig nach Basel. Wenn das Quatuor Ebène zu Gast ist (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 03.11.22), ist der Hans Huber-Saal mit seinen knapp fünfhundert Plätzen voll besetzt und herrscht in dem altersmässig gut durchmischten Publikum zuerst knisternde Spannung, dann eine Begeisterung sondergleichen. Nämliches gilt für den Abend mit dem Cuarteto Casals, das vor einem Vierteljahrhundert in Madrid gegründet wurde und längst zur ersten Garde der Streichquartette gehört.

Anders als die meisten der berühmten Ensembles früherer Zeit lebt das Cuarteto Casals Flexibilität der Besetzung und Freiheit im interpretatorischen Zugang. Vera Martínez Mehner, in der Besetzungsliste des Ensembles als Primgeigerin genannt, und Abel Tomàs Realp als Zweiter Geiger wechseln regelmässig ihre Funktionen; einmal spielt sie, einmal er die Erste Geige. Das hat insofern seinen besonderen Reiz, als da zwei sehr gegensätzliche musikalische Persönlichkeiten alternieren. Gerade Abel Tomàs Realp tritt als unerhört impulsiver, klanglich phantasievoller Geiger in Erscheinung, der viel Energie ins Ensemble leitet. Sie wird vom Cellisten Arnau Tomàs Realp, vor allem aber von dem rechts vorne sitzenden Bratscher Jonathan Brown kraftvoll aufgenommen – die Viola erhält dadurch herausgehobenes Profil und straft die über dies Instrument noch immer kursierenden Klischees entschieden Lügen.

Auch gegenüber den Erkenntnissen der historisch informierten Aufführungspraxis zeigt sich das Cuarteto Casals offen. Darmsaiten verwenden sie nicht, schon allein aus Gründen der Praktikabilität nicht, aber für ältere Musik kommen klassische Bögen zum Einsatz. So zum Beispiel für die vier Stücke aus der «Kunst der Fuge» Johann Sebastian Bachs, die in Basel den «Reflections on the Theme B-A-C-H» der mittlerweile 91-jährigen, seit langem in Deutschland lebenden Russin Sofia Gubaidulina vorangingen – neue Musik gehört beim Cuarteto Casals ebenso selbstverständlich dazu wie die alten Bögen. Indessen wird die historische Praxis nicht ideologisch, sondern pragmatisch eingesetzt. In Joseph Haydns Streichquartett in A-dur, op. 20 Nr. 6, gerät das Adagio darum so empfindsam, weil der Klang, dafür sorgen die Tongebung und der subtile Umgang mit dem Vibrato, ganz ruhig wird, während das Finale mit seinem Fugencharakter leicht und spritzig daherkommt. Ebenfalls mit einer Fuge schliesst das Klavierquintett in Es-dur von Robert Schumann, für das sich der Pianist Claudio Martínez Mehner zum Ensemble gesellte. Grosse Kammermusik mit offenem gestalterischem Blick gab es da.

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Das ist Kunst. Kunstmusik. Sie verdankt sich natürlich der technischen Grundlage, und mehr noch dem Imaginationsvermögen in der Spontaneität des Moments, vor allem aber reicher Erfahrung. So weit ist das Ulysses Quartet aus New York noch nicht – aber das heisst wenig. Vier junge Leute haben da 2015 zusammengefunden, so wie viele andere auch, eine Einrichtung wie die für 2024 wieder angekündigte Streichquartett-Biennale von Amsterdam erzählt von diesen Entwicklungen. Sehr amerikanisch, um das Klischee zu bemühen. Unkompliziert, frisch-fröhlich treten sie auf. Christina Bouey, das Temperamentsbündel an der Ersten Geige, singt auch sehr ordentlich, wie sie im «Sonett CXXVIII» für Sopran und Violine des hierzulande unbekannten, im Konzert anwesenden Komponisten Joseph Summer zusammen mit Rhiannon Banerdt an der Zweiten Geige bewies. Als ebenfalls vorne rechts sitzender Bratscher, Schlagzeuger und Podiumstechniker in einer Person bewährte sich Colin Brookes, während Grace Ho am Cello die Ruhe selbst war. Und alle sprachen sie zum Publikum, teils in liebevollen Versuchen auf Deutsch, teils in rasantem US-Englisch; sie dankten fürs Zuhören, lobten den Saal und charakterisierten die Stücke.

Zum Beispiel das Streichquartett Nr. 2, op. 7, von Pavel Haas, welches das Ulysses Quartet nach dem einleitenden Werk «Raegs» der Aserbaidschanerin Frangis Ali-Sade und dem Werk von Joseph Summer darboten. Der in Auschwitz ermordete Schüler Leoš Janáčeks schildert in dieser energiegeladenen Programmmusik eine Reise durch das mährische «Affengebirge» mit Blicken in die Weite der Landschaft, mit Kutschenfahrt und Mondaufgang wie einer wilden Nacht. Das Ulysses Quartet gab sich all dem mit drängender Leidenschaft hin – von mitreissender Wirkung war das. Für Ludwig van Beethovens Streichquartett in a-moll, op. 132, namentlich für dessen weit ausholenden «Dankgesang eines Genesenen in der lydischen Tonart», reicht Leidenschaft allein freilich noch nicht. Bei allem Respekt vor dem Ausloten der Extreme: Um die Zerklüftungen der Partitur Musik werden zu lassen, um über die Brüche hinaus Zusammenhänge zu schaffen, braucht es mehr – mehr an Vermögen, Strukturen klanglich erfahrbar zu machen, aber auch mehr an musikalisch wirksamer Empathie, vor allem aber mehr an interpretatorischem Weitblick. Die Kunst des Musizierens im Streichquartett hat sich in den letzten Jahrzehnten doch beträchtlich verändert; beim Ulysses Quartet ist das erst in Spurenelementen angekommen. Eine Laufbahn als Streichquartett mit diesem Stück zu beginnen, wie die Geigerin Rhiannon Banerdt verriet, zeugt von jugendlicher Verwegenheit. Dass daraus etwas wird, steht noch in den Sternen, ist jedoch, gute Beratung vorausgesetzt, nicht auszuschliessen.

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Spitzenleistung beim Cuarteto Casals, Jugendfrische beim Ulysses Quartet – die Avantgarde des Streichquartetts allerdings, die wird durch ein Ensemble verkörpert, das seine Wurzeln in der alten Musik und in deren Aufführung durch adäquate Mittel der Darstellung findet. Die Rede ist vom Chiaroscuro Quartet. Es verwendet Instrumente mit Baujahren zwischen 1570 und 1780, es spielt auf Darmsaiten und tut das mit den entsprechenden Bögen. Das ergibt ein gänzlich anderes als das gewohnte Klangbild des Streichquartetts – ein hochattraktives, weil es dem künstlerischen Anspruch der Gattung besonders nahekommt. Hell, leicht, schlank und dementsprechend transparent klingt das 2005 in London gegründete Ensemble. Da lässt sich tief in die Musik hineinhören. Auf dieser Basis kann auch die Bandbreite der Tempi vergrössert werden und lässt sich eine Attacke pflegen, die federnde Energie versprüht, aber nie Druck oder Grobheit empfinden lässt. Was das heisst, hat das Chiaroscuro Quartet in zahlreichen Aufnahmen dokumentiert: mit Werken von Haydn und solchen von Mendelssohn oder Schubert, jüngst mit Quartetten von Beethoven und Mozart (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 23.11.22).

Darum war die Stadtkirche Brugg, in der das Chiaroscuro Quartet auf Einladung der Konzertreihe Stretta vor kurzem aufgetreten ist, genau der falsche Ort. Was das Ensemble zu bieten hat, ging, so jedenfalls der Eindruck auf einem Platz zuhinterst in der Kirche, im reichlichen Hall und der diffusen Abstrahlung unter – dennoch nahmen die jubelnden Reaktionen des Publikums in der so gut wie vollbesetzten Kirche enorme Ausmasse an. Trotz der hinderlichen Rahmenbedingungen war eben zu spüren, mit welcher besonderen Auffassung von Balance das Quartett zu Werke geht. Die Primgeigerin, die seit langem in London lebende Russin Alina Ibragimova, ist eine Solistin ersten Ranges; sie spielt Neustes ebenso wie Klassisch-Romantisches, und sie wechselt, wie sie vor einiger Zeit im Gespräch erläuterte, von einem Tag zum anderen umstandslos von Darm- zu umsponnenen Stahlsaiten, vom klassischen zum modernen Bogen. Als Solistin wirkt sie auch im Quartett, nicht dominierend, sondern freundschaftlich motivierend und mitziehend. Sie kann das problemlos tun, weil ihr in der Französin Claire Thirion eine Cellistin gegenübersitzt, die den Bass als solides Fundament markiert und ihn als Gegenpart zum Diskant herausstellt – das alles ohne Kraftgehabe, das verhindert der Gesamtklang des Ensembles. Dazu kommen die ebenfalls pointiert konturierten Mittelstimmen mit dem Spanier Pablo Hernán Benedí an der Zweiten Geige und der Schwedin Emilie Hörnlund an der Bratsche. Übrigens tritt das Quartett in der traditionellen Aufstellung auf, aber ausser beim Cello im Stehen. Und gespielt wird aus dem iPad, man ist keineswegs von gestern.

Das Programm, das die Vier in Brugg vorstellten, nahm sich konventionell aus, doch welche Entdeckungen waren im Zuhören zu machen. Aufhorchen liess schon der Kopfsatz von Haydns Streichquartett in B-dur, op. 33 Nr. 4. Als sich dort die Exposition auf die Durchführung hin zu einer kleinen Stretta auswuchs, wurde offenkundig, dass das Quartett die Freiheiten der Tempogestaltung, die sich neuerdings als eine althergebrachte Praxis wieder zu verbreiten beginnt, mit Lust und Gewinn aufnimmt. Sehr berührend das zarte Trio zum Scherzo, erst recht der in schlichtem geradem Ton genommene Einstieg ins Largo. Und unerhört witzig das abschliessende Presto, das in hohem Mass von der leichtfüssigen Virtuosität der Primgeigerin lebte. Ähnliches ist zu Beethovens Streichquartett in f-moll, op. 95, zu berichten, wo im Kopfsatz die Oktavparallelen zwischen Violine eins und zwei in grossartiger Reinheit erklangen, wo das Cello im Allegretto des zweiten Satzes die absteigenden Gesten klar phrasierte und wo im dritten Satz dank der Darmsaiten die dynamischen Kontraste haptisch, aber niemals schwer heraustraten. Zum Ereignis wurde dann aber das späte G-dur-Quartett Franz Schuberts, dessen enorme Dimension meisterhaft gefasst und in eine Erzählung voller Geheimnisse übergeführt wurde. Nichts wurde verharmlost; im Kopfsatz kam es zu Einbrüchen des Geschehens von erschreckender Drastik – die dynamische und klangliche Spannweite ermöglichte es. Und wo im zweiten Satz auf drei Takte mit ruhigen Akkordwiederholungen im Pianissimo punktierte Ausbrüche im Fortissimo folgen, schüttelte es einen förmlich durch. Nebenbei: Was so etwas Simples wie ein Dreiklang sein kann, einmal ohne, einmal dann aber mit Vibrato – hier, mit dem Chiaroscuro Quartet, war es zu erleben. In der Nische kann manch Bekanntes ein überraschend neues Gesicht zeigen.

Verfeinerung im Einfachen

Verdis «Rigoletto» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Matthias Baus, Theater Basel

Man mag ihn mögen oder nicht – für die neue Produktion von Giuseppe Verdis «Rigoletto» im Theater Basel ist kein Lob hoch genug. Intelligentes, sinnlich erfülltes Musiktheater gibt es da. Die guten Nachrichten kommen zunächst aus dem Graben, wo das Sinfonieorchester Basel auf der vollen Höhe seines Vermögens musiziert: zupackend, aber nirgends grob, klangschön, präzis im Rhythmischen und mit allem Sinn für federnde Eleganz. Dazu angeleitet werden die Musikerinnen und Musiker durch Michele Spotti, einen jungen Dirigenten aus Mailand, dem das Orchester am Ende der Premiere sichtbaren Beifall zollte. Sehr zu Recht, erweist sich Spotti doch als ein sattelfester, ebenso effizienter wie diskreter «maestro concertatore»; er lässt den Sängerinnen und Sängern den nötigen Raum und bleibt ihnen sorgsam zur Seite, behält den Fortgang des Dramas aber jederzeit entschieden in der Hand und sorgt so für durchgehende Spannung. Als besonders wirksam erweist sich dabei des Dirigenten Gefühl für die Tempi und die Beziehungen unter ihnen – da ist ein Raffinement gefordert, ohne das ein Werk wie «Rigoletto» platt bleibt. In der Oper gilt die Aufmerksamkeit des Publikums zuallererst der vokalen Kunst, der Ärger sodann dem Regisseur, während die Formung der musikalischen Seite eher beiläufig mitgenommen wird. Hier ist diese Gewohnheit in jeder Beziehung ausser Kraft gesetzt.

Im Vokalen und in der Ausgestaltung des dramatischen Geschehens herrscht nämlich das reine Glück. Die Besetzung ist erstklassig, sie braucht sich vor keinem anderen Haus zu verstecken. An Überraschungen fehlt es nicht. Als Rigoletto bringt Nikoloz Lagvilava eine ungeheure Bärenstimme ins Spiel, eher einen Bass als einen Bariton, jedenfalls eine abgrundtiefe Schwärze und eine Kraft, die den Narren auch vom Vokalen her zum Aussenseiter macht, das brutal Instinktive in seinem Handeln betont und den Zusammenbruch umso schärfer herausstellen. Einen Buckel braucht es nicht, die Kapuze zu dem dunkelbraunen Ledermantel, den ihm die Kostümbildnerin Clémence Pernoud entworfen hat, sagt alles. Pavel Valuzhin als Herzog bietet mit seinem hellen, obertonreichen Tenor und seiner darstellerischen Agilität das scharfe Gegenbild; schade nur, dass der Sänger gerne zu hoch intoniert (und damit eine Gepflogenheit italienischer Provenienz strapaziert). Speziell dann wieder der Mörder Sparafucile, für den mit David Shipley ein eher hoch liegender, feinzeichnender Bass verpflichtet ist – weshalb denn auch besonders auffällt, dass er, wie er sich Rigoletto mit seinem schönen Namen vorstellt, das in hoher Lage tut. Sein edles weinrotes Gewand mit dem Kummerbund deutet ja auch, dass er seine Dienstleistungen als echter Gentleman anbietet und, so ist anzunehmen, in derselben Weise ausführt. Mit einer echten Donnerstimme wartet Artyom Wasnetsov als Monterone auf – ein später Verwandter des Komturs aus «Don Giovanni». Und dann: Regula Mühlemann, die in Basel ihre erste Gilda singt und das ganz ausgezeichnet macht. Jungmädchenhaft hängt sie an ihrem Vater, doch wie Rigoletto ihr den Hausarrest auferlegt, wird sie rasch störrisch, um dann dem Herzog förmlich zuzufliegen – alles grossartig, alles bewegend dargestellt. Und stimmlich grandios gemeistert dank einem Timbre, das auf einer samtenen Grundlage ein weitgefächertes Farbspektrum ausbreitet. Im Übrigen: Ohne Fehl das Ensemble, ohne Tadel der von Michael Clark vorbereitete Chor.

Zusammen mit dem Orchester sind es die Menschen auf der Bühne, die den Basler «Rigoletto» prägen. Der Regisseur Vincent Huguet dagegen hält sich vorteilhaft zurück; er nennt Verdis Oper sogar «abstrakt» – mit gutem Grund, bilden die beiden Szenen in den Salons des Herzogs doch eher Beiwerk, während das Stück seinen Kern in der direkten Interaktion zwischen den Figuren findet. Das nimmt der Regisseur sehr genau in den Blick, das hat er mit aller Sorgfalt ausgeführt. Der französische Designer Pierre Yovanovitch, hat ihm eine dementsprechend neutrale Bühne eingerichtet. Eine mächtige Rundtreppe, elegant geformt, führt aus luftiger Höhe herunter auf die Spielfläche, wo sich im Verlauf der drei Akte drei halbrunde Wände um die Akteure positionieren: eine immer stärkere Einengung, in der sich die Zuspitzung des Dramas spiegelt. Zugleich aber auch eine Assonanz an die vor einem Vierteljahrhundert aufgestellte, anhaltend umstrittene und bekanntlich nicht nur betrachtete Eisenskulptur «Intersection» des Amerikaners Richard Serra auf dem Platz vor dem Theater. Wenn sich Rigoletto am Ende seiner Möglichkeiten sieht, senkt sich zudem ein zarter, luftiger, aber doch eindeutiger Käfig auf den vom Täter zum Opfer gewordenen Menschen. Alles bloss andeutet, zudem in erlesenen Farben – Design vom Besten, aber sehr wohl mit Aussage. Und in jedem Fall besser als Buckel und Samt. Im Februar folgt an dem sehr lebendigen Basler Haus eine Übernahme von Luigi Nonos «Intolleranza 1960» mit dem Hausherrn Benedikt von Peter am Regiepult. Da wird zweifellos ein ganz anderer Wind wehen.

Theater aus Musik

Drei Mal Bartók in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Evelyn Herlitzius (Judith) und Christof Fischesser im Stadttheater Basel (Bild Matthias Baus, Theater Basel)

Exzellent, dieser Abend. Eine Produktion im Zeichen von Musik und Theater und Tanz, und das in sinnreichem, lustvollem Zusammenwirken der drei Sparten – in Zeiten, da die schon sehr lange währenden, gerade jetzt wieder neu aufflammende Diskussion um Grenzen und Grenzüberschreitungen des Regietheaters in der Oper alles andere als selbstverständlich. Gewiss, mit dem am Theater Basel erarbeiteten Projekt mit dem «Wunderbaren Mandarin» und «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók hat sich ein Regisseur verwirklicht. Aber Christof Loy ist ein derart sachbezogener, reflektierter und dazu musikalisch sensibler Bühnenkünstler, dass das Ergebnis zu ausserordentlicher Wirkung kommt. Authentizität eigener Art ist da zu spüren, tiefe Berührung zu erleben.

Wie immer, wenn «Herzog Blaubarts Burg» ins Programm genommen werden soll, stellt sich die Frage nach der Ergänzung zu dem einstündigen Einakter. Christof Loy wollte zu dem dunklen, in Schwärze endenden Stück von 1911, uraufgeführt 1918, eine helle Botschaft stellen: die Botschaft der Liebe, die, wenn sie gelebt wird, gegen alle Widrigkeiten der Umstände ihre Chance haben kann. Und diese Botschaft sollte ebenfalls der Feder Béla Bartóks entstammen. Darum die Tanzpantomime «Der wunderbare Mandarin» – die nun allerdings mit dem Tod des Titelhelden endet, wenn auch mit einem Tod der Erlösung. Wie das Mädchen, das von drei brutalen Zuhältern auf die Strasse geschickt wird, den übel zugerichteten, gleichwohl immer wieder ins Leben zurückkehrenden Mandarin küsst, kann er sterben. Sehr aufhellend ist das nicht, doch kehrt es Loy ins Positive, indem er auf den «Wunderbaren Mandarin» den zarten ersten Satz aus der «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» von 1937 folgen und dazu eine von ihm erdachte (und gemeinsam Johannes Stepanek umgesetzte) Choreographie tanzen lässt. Sie deutet an, was der Kuss des Mädchens auf die Lippen des Mandarins wirklich bedeutet.

Über diese Anlage, vor allem über den Bezug zwischen dem «Mandarin» und «Blaubart», lässt sich füglich nachdenken. Im Moment der Aufführung freilich stellt sich eine unerhört dichte, durch die Musik nicht grundierte oder unterstützte, sondern recht eigentlich aus ihr heraus entwickelte Atmosphäre ein. Das ist Musiktheater im besten Sinn. Zumal dem Sinfonieorchester Basel unter der Leitung seines erstmals am Theater Basel auftretenden Chefdirigenten Ivor Bolton eine hervorragende Auslegung der im «Mandarin» zupackenden, im instrumentalen Stück feingliedrigen Musik Bartóks gelingt. Und was die Tänzer, allen voran Carla Pérez Mora (Mädchen) und Gorka Culebras (Mandarin), aber auch die drei vom Komponisten als Strolche bezeichneten Zuhälter Joni Österlund, Nicky van Cleef und Jarosław Kruczek sowie die beiden Freier Nicolas Franciscus und Mário Branco – was dieses Ensemble zustande bringt, ist in seiner Körperlichkeit und seiner Ausdrücklichkeit schlechterdings hinreissend. Energie sondergleichen herrscht hier, und doch gerät nichts grob. Auch die scharfen Attacken der Zuhälter auf den Mandarin bleiben elegante Kunst, so eindeutig sie vorgeführt werden. Sie lassen dem Zuschauer auch Raum fürs Zuhören.

Wenn das Geschehen nach der Pause wieder anhebt, wird deutlich, dass die beiden Teile durch die Ausstattung eng miteinander verzahnt sind. Wo im «Mandarin» ein dichter Wald drohte, ragt bei «Blaubart» die aus Holz gebaute Burg mit ihren verschlossenen Fenstern; in beiden von Márton Ágh entworfenen Bildern herrscht meist nachtschwarze Dunkelheit, die nur von scharfen Lichtkegeln erhellt wird (Licht: Tamás Bányai). Auch die schlichten Kostüme von Barbara Drosihn betonen die Verbindungen; Blaubart gleicht dem Mandarin bis hin in Einzelheiten der Erscheinung, Judith trägt ein kleines Schwarzes wie das Mädchen, selbst die Verwendung der Schuhe schafft Korrespondenz. All das ist fantasievoll erdacht und sorgfältig ausgeführt. Dazu kommt auch hier die Kostbarkeit des Orchesterparts. Ivor Bolton bringt den Farbenreichtum in Bartóks Partitur zu voller Pracht; durch nuancierte Tongebung, auch durch partiellen Verzicht auf das Vibrato in den Streichern gelingt ihm eine blendende klangliche Erweiterung. Und gekonnt die Kontrolle der Spannung: Den grossen C-dur-Akkord im fünften Bild, da Judith die Weite von Blaubarts Ländereien erblickt, nimmt er laut, aber nicht am lautesten – das ist für den dramatischen Höhepunkt reserviert.

Das Paar selbst: grossartig. Christof Fischesser lässt seinen opulenten Bariton in ganzer Fülle hören. Er setzt ihn aber nicht ein, um die Virilität des Schlossbesitzers mit seiner reichen Vergangenheit ins Licht zu rücken, sondern um den Absturz von der durch vorgespiegelte Souveränität nur wenig verdeckten Unsicherheit runter in die reine Verzweiflung drastisch herauszustellen. Ihm gegenüber steht eine Judith, die das Jungmädchendasein längst hinter sich hat, die Blaubart als eine reife Frau begegnet und als solche genau weiss, was sie vom Mann erwartet: Ehrlichkeit. Evelyn Herlitzius, eine geborene Sängerschauspielerin mit tragender, opulent leuchtender Tiefe und Leichtigkeit in der Höhe, dringt unablässig auf Blaubart ein und sieht sich am Ende vor einem Scherbenhaufen. Was bleibt, ist tiefe Betroffenheit, ja Beunruhigung aus, weil «Herzog Blaubarts Burg», mehr als ein Jahrhundert alt, von heute sein könnte.

Krippenspiel und Ritual

Das Theater Basel wagt sich an Bachs «Matthäus-Passion»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Muss es wirklich sein, die «Matthäus-Passion» auf der Opernbühne? Nun, so fern liegt es nicht, wenn man an die latente Dramatik von Johann Sebastian Bachs magistraler geistlicher Musik denkt. Und Versuche in diese Richtung der Interpretation gab es immer wieder, bis hin zur Aneignung durch den Choreographen John Neumeier. Aber eine Aufführung als Fest der »Community« unter Beteiligung von Kindern sowie Bürger- und Jugendchören aus Stadt und Region, ja selbst unter Mitwirkung des Publikums, das an zwei Stellen zum Mitsingen eingeladen ist – sieht das nicht sehr nach einer gutmenschlichen, wenn nicht gar populistischen Aktion aus?

Tatsächlich erscheint die «Matthäus-Passion» im Theater Basel auf den ersten Blick als ein monumentales Krippenspiel, denn die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi wird von Kindern vorgeführt. Rührend wirkt das – und zugleich berührend, denn das szenische Arrangement, das Benedikt von Peter, der Intendant des Basler Dreispartenhauses, als Regisseur zusammen mit der Bühnenbildnerin Natascha von Steiger und einem grossen Team entwickelt hat, nimmt den ganzen Raum des Theaters in Anspruch und lebt so von einer eigenen Wirkungsmacht. Sitzplätze finden sich im Auditorium wie ihm gegenüber auf einer ansteigenden, weit in den Bühnenhintergrund reichenden Rampe. Das Orchester ist nach Vorgabe der doppelchörig konzipierten Partitur links und rechts von der Spielfläche platziert. Weitere Instrumentalisten finden sich im Hintergrund des Zuschauerraums wie jenem der Bühne; auch die Chöre klingen von allen Seiten her. Der Raum, mit dem Benedikt von Peter immer wieder gerne und bewusst arbeitet, umfasst alles und schafft Gefühle der Gemeinschaftlichkeit.

Vorne rechts André Morsch, der mit seinem klangvollen Bariton einen emotionalen, teils heftig aufbrausenden, teils zutiefst verzagten Jesus gibt, auf der linken Seite, von der Kostümbildnerin Lene Schwind schwarz gewandet wie alle musikalisch Mitwirkenden, Robin Tritschler als ein stimmlich vielfarbiger, plastisch und daher verständlich deklamierender Evangelist, der als Hilfsregisseur auf der Bühne unentwegt die grosse Gruppe der Kinder durchs Geschehen lenkt, hier liebevoll zugewandt, dort energisch. Allein, so niedlich das aussieht, so sehr fällt die Stilisierung auf – im Agieren der Kinder, aber auch in den Projektionen auf Bildschirme in der Bühnenmitte, die immer wieder zu Tableaux vivants gefrieren. Benedikt von Peter sieht die «Matthäus-Passion» nicht nur als ein geistliches Drama, sondern auch als ein Ritual, in dem Grundwerte unserer Gesellschaft bestätigt und bekräftigt werden.

Gebrochen wird das Ritual durch eine Volksschülerin mit blondem Haarschopf, die immer wieder störend und dazwischenrufend über die Bühne stürmt – eine Art Greta, die das Gezeigte und Vorgetragene mitnichten akzeptiert. Dem gebundenen und gedemütigten Jesus löst sie die Fesseln, gegen Ende warnt sie mit beschwörenden Rufen vor dem drohenden Zusammenbruch des Klimas, und wenn sich beim Schlusschor alles zum Schlafen legt, wirbelt sie die Bettdecken durcheinander. Ist der Schlussakkord verklungen, erscheinen einige der Kinder in Grossaufnahme auf den Bildschirmen und geben Stellungnahmen zum Zustand der Welt und der Gesellschaft ab. Die «Matthäus-Passion» als ein Spiel von Kindern für Kinder, denen hier Aug und Ohr für eine zentrale Tradition geöffnet werden, aber ebenso sehr als ein Spiel von Kindern für Erwachsene, denen der Spiegel vorgehalten wird. Vielleicht etwas viel Moral, doch keineswegs fehl am Platz.

Jedenfalls, zum befürchteten Krippenspiel wird der Abend nicht wirklich; er lässt vielmehr eine Produktion erleben, die konsequent durchdacht ist und in der künstlerischen Verwirklichung auf ambitionierte Professionalität setzt. Das Sinfonieorchester Basel tritt in kleiner Besetzung auf, mit modernen Instrumenten, aber in hohem Mass historisch informiert – wofür der Dirigent Alessandro De Marchi zu sorgen weiss. Durchwegs flüssige Tempi herrschen hier, prägnante Artikulation, sorgsamer Umgang mit dem Vibrato, bisweilen zugespitzte Expressivität. Zu sehr im Hintergrund bleibt der Generalbass, der neben den Orgeln auch Lauten kennt. Und nicht zu befriedigen vermag der von Michael Clark vorbereitete Theaterchor, der, gross besetzt, schwerfällig klingt und an der Premiere manch heiklen Moment des Zusammenwirkens durchlebte. Erstklassig dagegen das Solistenquartett mit der jungen Isländerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir an der Spitze, einer erstaunlichen Sopranistin. Ihr zur Seite standen an der Premiere die ebenso bewegliche wie stimmgewaltige Altistin Beth Taylor, der Tenor Nathan Haller mit seinem hellen, klar zeichnenden Timbre und der Bass Christian Senn.

Gottvertrauen nach dem Ende – Messiaens «Saint-François» im Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Bild Ingo Hoehn, Theater Basel

Ein richtiges Ausrufezeichen sollte es werden, darum fiel die Wahl auf «Saint François d’Assise». Mit der ausladenden Oper Olivier Messiaens wollte Benedikt von Peter seine Intendanz und Operndirektion am Theater Basel einläuten. Das hat, denkt man die räumlichen Gegebenheiten und die Traditionen in der Musikstadt Basel, seine Plausibilität. Und die Planungen, vor zwei Jahren in die Wege geleitet, liefen ausgezeichnet – bis die Pandemie dazwischenkam. Aviel Cahn, der «Saint François d’Assise» als Schweizer Erstaufführung zum Abschluss seiner ersten Spielzeit am Genfer Grand Théâtre angesetzt hatte, musste Ende Juni der Theaterschliessungen wegen auf die Produktion verzichten. Benedikt von Peter in Basel blieb bei seinen Plänen und kam so nicht nur zu unerwarteter Ehre, er lieferte auch ein äusserst starkes Lebenszeichen aus dem so hochgradig gefährdeten Bereich des Musiktheaters. Der Preis, den er dafür zahlte, war freilich hoch.

Denn unter den derzeit herrschenden Voraussetzungen liessen sich die Vorgaben, von denen Olivier Messiaen in «Saint François d’Assise» ausgeht, in keiner Weise beim Wort nehmen. Sie sind exorbitant, und zwar nach allen Seiten. Das Publikum sieht sich mit einer Spieldauer von über vier Stunden konfrontiert, der Chor soll mit 150, das Orchester mit 120 Mitgliedern besetzt sein – alles unmöglich in Zeiten von Abstandsregel und Maskenpflicht. Das neue Basler Team bat daher den argentinischen Komponisten Oscar Strasnoy, über seinen Lehrer Gérard Grisey ein Enkelschüler Messiaens, um die Erstellung einer Kammerversion. Auf 42 Sänger ist der Chor verkleinert; er wirkt unsichtbar hoch oben im Schnürboden. 45 Mitwirkende umfasst das Orchester, das, auf der Bühne sitzend, geradezu als gross besetztes Solistenensemble erscheint. Reduziert wurden vorab die Mehrfachbesetzungen bei den Bläsern und den Streichern, während das wie oft bei Messiaen stark ausgebaute Schlagwerk sowie die heulenden Ondes Martenot ihre prägenden Rollen bewahren.

Die Einrichtung zeugt von hoher Kunst. Die Verkürzung der Spieldauer, sie ist, soweit sich das in einer einzigen Aufführung beurteilen lässt, nicht wirklich zu spüren. Und was der von Michael Clark betreute Theaterchor wie das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des fabelhaft präsenten Dirigenten Clemens Heil leisten, verdient alle Bewunderung. Die kompositorische Handschrift ist da, hörbar, erkennbar – und gleichwohl: Ist das noch das als Oper verkleidete Mysterienspiel Olivier Messiaens? Erhöht ist die Durchhörbarkeit, das steht ausser Frage. So lässt sich denn auch besser als bei der Grossbesetzung in die rhythmischen Vertracktheiten eindringen. Mehr Schwierigkeiten öffnen sich auf der Ebene der Klangfarben und ihrer Balance. In der Basler Fassung klingt Messiaens Partitur wesentlich monochromer, trockener, ja spröder als im Original – als ein Stück der Avantgarde von gestern.

Da liegt er, der Konflikt. An Olivier Messiaen kann man sich reiben – bis heute. Die von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetriebene Schärfung des Denkens in Reihen hat die Serialität zum Herzstück der musikalischen Avantgarde Westeuropas werden lassen. Seine Neigung zu komplexen Rhythmen und aperiodischen Verläufen, zu denen er sich durch die Erkundung der Vogelgesänge inspirieren liess, war ebenso folgenreich wie der Umgang mit Klangfarben, der durch fernöstliche Praktiken genährt war. Allein, dass all das mit einem tiefen Glauben verbunden war, dass es sich zu einer Musik fügte, die sich als Gotteslob und nur als das verstand, davon wollten manche der diesseitigen, ganz dem technischen  Fortschritt verpflichteten Avantgardisten nichts wissen.

So erscheint es auch in der Basler Aufführung von «Saint François d’Assise». In den Hintergrund gerät durch die Reduktion auf eine Kammerfassung nämlich der enthusiastische Ton, der auf Messiaens authentischer Frömmigkeit beruht. Nichts kann dem Komponisten gross genug sein, um die Schöpfung und ihren Schöpfer zu lobpreisen, darum muss auch der C-Dur-Akkord am Schluss der Oper mindestens doppelt so lang ausgehalten werden, als es Clemens Heil anzeigt – beim Organisten Messiaen lässt sich das lernen. All die Momente der Freude, der Zuversicht auf die bevorstehende Auferstehung und das Erscheinen der endgültigen Wahrheit, all die Harmonien in Terz- und Quintlage wirken so, als wären sie ihrer Spitzen beraubt. Die im Spätromantischen wurzelnde Überwältigungskraft wird im Basler Programmheft mit einem Zitat des amerikanischen Komponisten Morton Feldman abgetan, der Messiaens Orchesterbehandlung als Disney-Kitsch bezeichnet. Das ist ein Missverständnis. Gerade in «Saint-François d’Assise» ist Messiaens Musik genuin katholisch, von Weihrauch umgeben. Was in der evangelisch-reformierten Basler Auslegung nur wenig spürbar wird.

Zumal das Bühnengeschehen in eine ähnliche Richtung wirkt. Als entschieden deutender Regisseur bekannt, hat Benedikt von Peter zusammen mit seinem Ausstatter Márton Ágh und dem Lichtdesigner Tamás Bányai seine eigene Bilderwelt entwickelt. Sie basiert auf einem Konzept, das den Raum als Ganzen in den Blick nimmt: die Bühne mit Hilfe von Rampen in den nur zu sechzig Prozent besetzten Zuschauerraum verlängert und umgekehrt Zuschauer auf der Bühne platziert. Als Ort des Geschehens dient ein verwahrloster städtischer Platz mit ehemaligem Warenhaus und verlassener Bankfiliale. Die Vögel auf der Hochspannungsleitung, die sich durch den Raum zieht, sind papierene Abbilder ihrer selbst – wir befinden uns in einer Situation fünf nach zwölf. Einzig ein Bettler und seine Spiessgesellen bevölkern die Szenerie. Nach und nach wird deutlich, dass der Bettler der Heilige ist, der mitten im Zerfall für Mitmenschlichkeit und Liebe steht. Die Botschaft der Inszenierung verleiht dem Stück Messiaens eine überraschend kritische Note.

Schade nur, dass der Regisseur die langen musikalischen Verläufe bisweilen mit ablenkendem Aktionismus stört. Der Effekt des grossen Vogelkonzerts im sechsten der acht Bilder zum Beispiel wird dadurch unnötig vermindert. Die Ausstrahlung der Akteure auf der Bühne ist aber von zutiefst berührender Wirkung. Nathan Berg, der viel kerniger, präsenter, gleichsam menschlicher singt als es der grosse José van Dam seinerzeit getan hat, lebt von packender Unmittelbarkeit. Und an der Spitze des ausgezeichnet besetzten Ensembles gibt Rolf Romei den Leprakranken, der von Saint François geheilt wird, mit einer Intensität sondergleichen. Zum Lichtpunkt des Abends wird jedoch die Erscheinung des Engels, der kein Engel ist, sondern ein junges Mädchen, das dem Heiligen bis zu seinem sehr menschlichen Tod beisteht. Was Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die junge isländische Sopranistin, mit ihrem kristallklaren Timbre aus diesem Auftritt macht, gehört zum Besten des Abends.

Eine Sternstunde für die Orgel im Konzertsaal

Von Peter Hagmann

 

Goldene Zeiten waren das – als Eduard Müller, der legendäre Hauptlehrer für Orgel an der Basler Musikhochschule, die damals noch «Konservatorium» hiess, im Münster zu Basel einen seiner Orgelabende gab. Dicht gedrängt sassen die Menschen, auch auf den Emporen; viele Junge hatten Stehplätze und lehnten sich rundherum an die Säulen. Die zahlreichen Schüler Müllers, die in Basel wirkten, nahmen die Tradition auf. An den verschiedenen Kirchen mit ihren oft wertvollen Instrumenten gab es Reihen von Orgelkonzerten, die spezifische Profile aufwiesen. Dazu kamen grosse Zyklen mit den Orgelwerken Johann Sebastian Bachs und Max Regers. Nach und nach schwand jedoch das Publikum, der Faden der Tradition wurde dünner, zum Riss kam es aber nicht. 2003 gab es nochmals Bewegung, als das Basler Münster eine neue Orgel erhielt, ein Instrument aus dem Glarner Hause Mathis.

Inzwischen scheinen Orgelmusik und Orgelspiel in Basel in einer besonderen Weise neues Leben zu erhalten. Grund dafür ist der von dem Büro Herzog & de Meuron konzipierte und durchgeführte Umbau des Musiksaals im Stadtcasino Basel (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.09.20). Im Rahmen dieser spektakulären Aktion erhielt der Saal eine neue Orgel – wie es auch in der Tonhalle Zürich geschehen wird. Ursprünglich wies der 1876 eröffnete Musiksaal des Architekten Johann Jakob Stehlin kein solches Instrument auf, erst bei seiner Neueinrichtung im Jahre 1905 erhielt der Saal eine Orgel. Bis 1945 wurde sie gespielt, dann verfiel sie zusehends. Nach Jahrzehnten des Klagens über den bedauerlichen Zustand des Instruments und die damit verbundenen künstlerischen Einschränkungen erhielt der Musiksaal 1971 eine neue Orgel; bezahlt wurde das von der Firma Orgelbau Genf erstellte Instrument von dem Mäzen und Dirigenten Paul Sacher.

Ursprünglich war im Sanierungsprojekt nur eine Revision dieses Instruments vorgesehen. Auf die Initiative einer privaten Gruppierung hin beschloss die Basler Casino-Gesellschaft als Bauherrin jedoch, den Raum mit einer neuen Orgel zu versehen. Die Mittel dafür, immerhin 2,5 Millionen Franken, wurden von privater Seite zusammengetragen. Jetzt steht sie, jetzt klingt sie, die neue Orgel aus dem Hause Metzler in Dietikon bei Zürich. 56 Register auf drei Manualen und Pedal sind im ursprünglichen, restaurierten Gehäuse von 1905 untergebracht – eine Forderung des Denkmalschutzes. Für die besonders grossen Pfeifen der tiefen Bassregister wurde zusätzlicher, nicht sichtbarer Raum hinter dem Gehäuse geschaffen.

Bedient wird das Instrument mit elektrischer Traktur an einem mobilen Spieltisch auf dem Orchesterpodium; versehen mit den neusten digitalen Segnungen, lässt er zum Beispiel die Registrierungen für einen ganzen Abend, nein: für mehrere ganze Abende voreinstellen, abspeichern und per Knopfdruck abrufen. Zusätzlich zum mobilen gibt es einen seitlich fest angebauten, mit mechanischer Traktur arbeitenden Spieltisch, der zudem auf einem vierten Manual das von Metzler propagierte Prinzip der «winddynamischen Orgel» verwirklichen lässt. Hierbei können alle Parameter, die das Entstehen des Orgeltons beeinflussen, in letzter Flexibilität beeinflusst werden. Darauf ist die Firma Metzler ebenso stolz wie auf die Tatsache, dass für den Bau des Instruments, insbesondere für die verwendeten Materialien, höchste ökologische und ethische Anforderungen galten.

Die Disposition vereinigt die klassische, an barocken Idealen orientierte Orgel des 20. Jahrhunderts, wie sie das auf 16 Fuss basierende Hauptwerk zeigt, mit Elementen der französischen Spätromantik im Geiste Aristide Cavaillé-Colls, repräsentiert durch das ebenfalls von 16 Fuss ausgehende Récit, und mit Farben der englischen Orgelkultur, dies auf einem Schwellwerk mit 8-Fuss-Grundlage. Das Pedal wiederum geht von zwei 32-Fuss-Registern aus und dient auf diesem gewaltigen Fundament allen drei Stilrichtungen. Klug durchdacht und schön ausgeformt ist das – und so war die Spannung beträchtlich, als das neue Instrument zum Ende eines zweiwöchigen Orgelfestivals seinen Auftritt an der Seite des Kammerorchesters Basel hatte. Und das im Rahmen eines Konzerts, das von der Länge her der üblichen Dimension entsprach, auch eine Pause enthielt, aber mit Maske und unter Einhaltung von Abstandsregeln zu besuchen war.

Das Programm galt der französischen Klanglichkeit. Es hob mit dem Zyklus «Ma mère l’Oye» von Maurice Ravel an und führte zu «Cyprès et lauriers», einem vollkommen unbekannten Stück für Orgel und grosses Orchester, mit dem Camille Saint-Saëns das Ende des Ersten Weltkriegs besang – es wurde in einer von Eberhard Klotz eingerichteten Fassung für Orgel und Kammerorchester geboten. Als Martin Sander als Solist die neue Orgel aufrauschen liess, war die klangliche Signatur des Hauses Metzler – einer Firma, die sich um die Wiederbelebung der Barockorgel besonders verdient gemacht hat – auf Anhieb zu erkennen. Nur hatte, was da in den Raum trat, mit den Klangidealen von Saint-Saëns, der während zweier Jahrzehnte an der Cavaillé-Coll Orgel der Pariser Madeleine wirkte, nicht sehr viel zu tun. Zu direkt, ja etwas trocken klang es, im majestätischen Tutti auch sehr kompakt, ausserdem geprägt durch kräftig zeichnende Mixturen. Die exzellente Akustik im Musiksaal des Basler Stadtcasinos trug es mit, brachte es zur Geltung – aber am Ende blieb doch ein Fragezeichen.

Nicht für lange freilich, denn nach Albert Roussels Concert pour petit orchestre und der «Pastorale d’été» von Arthur Honegger nahm Olivier Latry am Spieltisch Platz. Titulaire der grossen Orgel in Notre-Dame de Paris – das Instrument hat die Feuersbrunst des letzten Jahres fast unbeschadet überstanden, kann derzeit aber nicht benützt werden –, kennt sich Latry in den Gefilden der französischen Klanglichkeit wie kein Zweiter aus. Im frech-fröhlichen Orgelkonzert von Francis Poulenc liess er erkennen, was die Basler Metzler-Orgel auch kann. Es ist nicht wenig. Das Summen gehört dazu, das Näseln, das Schweben, aber auch das stolz, füllige, grundtönig eingekleidete Fortissimo. In einer ganz selbstverständlich wirkenden Virtuosität (und dank der digitalen Steuerungsmöglichkeiten) brachte er das Instrument zum Atmen, baute er geschmeidige Steigerungen auf und liess sie wieder in sich zusammenfallen, erzeugte er schimmernde Farbwirkungen. Ein Vergnügen erster Güte war das – aber es kam noch besser, in der Zugabe nämlich, in der Toccata aus Léon Boëllmanns «Suite gothique», einem Renner aus der Literatur der französischen Spätromantik, den Latry mit einem Drive sondergleichen durchzog. Die neue Orgel im Basler Musiksaal ist eine grossartige Maschine. Am Ende kommt es aber doch auf den Menschen an, der sie bedient.

Ein fantastischer Auftritt des so sehr mit der Kirche verbundenen Instruments im weltlichen Ambiente des Konzertsaals. Allein, das Kammerorchester Basel spielte dabei durchaus prominent mit, besonders fulminant in Poulencs g-Moll-Konzert. Die drei reinen Orchesterstücke liessen ein wenig die Fülle des gross besetzten Streicherapparats vermissen, lebten dafür, ein Verdienst des Dirigenten Pierre Bleuse, von klarer Zeichnung und subtiler Koloristik. Auffällig dabei war, dass der lange Nachhall, der bei dem wenige Wochen zurückliegenden Konzert des Sinfonieorchesters Basel und seines Chefdirigenten Ivor Bolton so stark in Erscheinung getreten war, in keiner Weise auffiel. Er war ganz einfach: genau richtig.

Altes Haus in neuem Glanz – der Musiksaal im Stadtcasino Basel nach umfassender Sanierung

Von Peter Hagmann

 

Aussenansicht des Anbaus| © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

Von aussen sieht es aus, als hätte es immer so ausgesehen. Der Anbau, den der Musiksaal im Stadtcasino Basel von den beiden Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron erhalten hat, wird nicht durch eine eigene, seiner Entstehungszeit verbundenen Formensprache geprägt, er nimmt vielmehr auf, was Johann Jakob Stehlin d. J. für die leider partiell zerstörte Basler Kulturmeile mit der Kunsthalle (1872), dem 1975 gesprengten Stadttheater von 1875, dem ein Jahr später eröffneten Musiksaal und der Skulpturenhalle (1887) entwickelt hat. Wer genauer hinschaut, wird jedoch kleine Unterschiede bemerken. Die Fassade des perfekt ins gegebene Gebäude eingefügten Anbaus verkleidet eine Konstruktion in Stahlbeton und ist in Holz ausgeführt, allerdings in derselben Farbe wie der Hauptbau gehalten. Einzig feine Lineaturen in den heraustretenden Quadern lassen erkennen, dass es doch kleine Unterschiede zwischen Alt und Neu gibt.

Auch grössere Unterschiede gibt es. Der Umbau und die Renovation des Basler Musiksaals haben dazu geführt, dass das Gebäude heute freisteht und ganz anders wahrgenommen werden kann. Zwischen dem vorderen Teil, dem der Gastronomie gewidmeten Stadtcasino, und dem Musiksaal gab es bis zum Beginn der Bauarbeiten 2016 einen Verbindungstrakt, der als Eingang und als Foyer genutzt wurde; er wurde errichtet, als 1939 das alte Stadtcasino abgerissen und durch einen bis heute nicht unumstrittenen Neubau ersetzt wurde. Im Bemühen, den Musiksaal auf jenen Zustand zurückzuführen, den er 1905 nach der Erweiterung durch den kleinen, der Kammermusik zugedachten Hans Huber-Saal  erreicht hatte, wurde die durch den Verbindungstrakt geschlossene Gasse wieder geöffnet – was auch als eine sehr plausible, ja beglückende städtebauliche Massnahme erscheint.

 

Das Foyer zum Balkon | © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

So betritt man den Musiksaal heute nicht mehr vom Steinenberg, sondern vom Barfüsserplatz her, und zwar durch zwei Eingänge an den beiden Ecken des neuen Foyers von Herzog & de Meuron. Schon die Türen und die Griffe lassen aufmerken; sie sind dergestalt den Originalen nachgebildet, wie im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis Instrumente aus alter Zeit originalgetreu nachgebaut werden. Ist man erst einmal im Foyer drinnen, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Mit letzter Liebe zum Detail sind hier Räumlichkeiten geschaffen worden, die mit der alten Bausubstanz spielen, sie aufnehmen und sie in die Gegenwart weiterführen. Die Tischlein und Tresen, auch die Geländer, die sich hier finden, zeichnen sich durch fein gedrechselte Holzarbeit aus; die Vorlage dafür haben die Architekten in einer nicht ausgeführten Skizze Stehlins gefunden.

Dies Foyer ist kein Foyer wie alle anderen. Man kann sich hier zugleich drinnen wie draussen fühlen: auf der einen Seite die Fenster auf den Barfüsserplatz, auf der anderen die ursprüngliche Aussenwand des Musiksaals. Und es ist ein Ort, an dem sich die Gemeinschaftlichkeit des Konzerts konkretisiert. Sehen und gesehen werden – das kann hier ungeniert geschehen, während dann drinnen im Saal das Hören dominiert. Als Bühne gibt sich dieses Foyer, und es tut es nicht ohne Basler Ironie. Die Wände sind mit Stofftapeten verkleidet, wie sie die noch existierende Firma Prelle in Lyon 1875 für die Opéra Garnier in Paris gewoben und jetzt wieder hergestellt hat. Das Parkett ist von Herzog & de Meuron selber entworfen; mit seinen Rhomben nimmt es Motive der Wandverkleidung auf. Luxuriös verspielt auch die ebenfalls von den Architekten entwickelten Leuchten.

Im Treppenhaus | © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

Der grosse Leuchtkörper in der Mitte des Raums dagegen ist eine Kopie der vier Luster im Musiksaal. Er reicht durch eine geschwungene Öffnung über die beiden Stockwerke, die das Parkett und den Balkon des Saals erschliessen; auf kleinem Raum lässt er die grosse Geste aufleben, die sich an vielen Bauten von Herzog & de Meuron beobachten lässt. Überhaupt stellt das neue Foyer das reine Gegenteil des alten dar. Es fehlt nicht an Platz, nicht für die im Untergeschoss angeordneten Garderoben, nicht für die Toiletten, nicht für die beiden Wendeltreppenhäuser und die hochmodern wirkenden, mit spiegelndem poliertem Chromstahl verkleideten Lifte. Grosszügigkeit schafft auch die Tatsache, dass die beiden Ebenen des Foyers durchlässig gestaltet sind; man kann von oben nach unten wie von unten nach oben blicken. Und immer wieder stösst man auf eine Nische mit einer Sitzbank – alles in opernhaftem Rot. Schon macht denn auch das Bonmot die Runde, das Foyer gehöre eigentlich zu einem Edelbordell.

 

Der Musiksaal | © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

Nun geht es aber nicht zu den Damen, sondern zu den Klängen. Beide Säle sind aufgefrischt und auf den Stand gebracht – wobei der Akzent ganz klar auf dem Musiksaal liegt. Auch hier sieht alles aus wie gehabt – oder fast alles. Die bunt belebte Farbgebung entspricht dem Zustand von 1905, wie er in der Grundanlage schon bei der letzten Renovation ab 1987 hergestellt worden ist. Dass es eine neue Orgel gibt, von privater Seite initiiert und finanziert, ist auch nicht zu sehen, der Prospekt blieb nämlich unangetastet. Aber sonst fallen doch merkliche Veränderungen auf. Die grossen, 1964 gegen den Verkehrslärm zugemauerten Fenster sind wieder geöffnet worden und lassen das Tageslicht in den Saal fliessen. Nicht aber die Umgebungsgeräusche; so wie die Strassenbahnen vor dem Musiksaal auf abgefederten Geleisen rollen, so schirmen die eigens gefertigten, mit extrem dickem Glas versehenen Doppelfenster den Saal nach aussen ab. Neu ist die Bestuhlung – es ist die alte, die originale, die nachgebaut, auf die Bedürfnisse der Akustik angepasst und bequem ausgeformt wurde. Nicht original, vielmehr auf dem heutigen Stand der Technik dagegen die Belüftung, die vollkommen geräuschlos für angenehmes Raumklima sorgt – womit ein uraltes Desiderat Erfüllung gefunden hat. Frischluft kommt aus dem Boden, Abluft entweicht aus dem wiederhergestellten Oberlicht.

Das Problem der Saalbelüftung war so lange liegengeblieben, weil eine Beschädigung der als höchststehend geschätzten Akustik befürchtet wurde. Nun hat der Saal (und mit ihm der Hinterbühnenbereich) eine derart tiefgreifende Auffrischung erfahren, dass um dieses Gut erst recht gebangt werden musste. Darum war von Anfang an die Münchner Firma Müller-BBM mit dem bekannten Akustiker Karlheinz Müller mit im Boot. Jede Entscheidung wurde im Dialog zwischen der Bauherrschaft, den Architekten, der Denkmalpflege und dem Akustiker getroffen. Denn alle Massnahmen – Oberlicht,   Fenster, Absenkung der Neigung auf dem Balkon, ein neuer, schwebender Fussboden, das neue Podium, der Anbau des Foyers, nicht zuletzt die Erweiterung der Unterkellerung – betrafen das akustische Gesicht des Saals. Dieses Erbe galt es um jeden Preis zu bewahren. Die Ambition ging aber noch weiter, die Akustik sollte, wie es Karlheinz Müller ausdrückt, «aufgefrischt» werden. Nichts verändert wurde am vergleichsweise grosszügigen Nachhall von gemessenen zwei Sekunden. Leicht modifiziert wurde dagegen die Balance, indem der Nachhall im Bereich der hohen Töne etwas verlängert wurde, was den Klang aufhellen sollte.

Der Musiksaal mit Balkon | © Stadtcasino Basel | Fotografie: © Roman Weyeneth

Der Eingriff ist gelungen – soweit sich das nach einem ersten Auftritt des Sinfonieorchesters Basel mit seinem Chefdirigenten Ivor Bolton, einem Extrakonzert für sein erneut gewachsenes Stammpublikum, zu beurteilen ist. Gewiss ist die hörende Wahrnehmung stets und in hohem Masse subjektiv bestimmt. Und natürlich müssen sich die Musikerinnen und Musiker wie ihr Dirigent erst an die neue geformte Akustik gewöhnen, sich in sie hineinleben, das liessen einige Schärfen der Blechbläser im Fortissimo erahnen. Für die Zuhörer gilt das Nämliche, zumal für jene unter ihnen, die sich an die Akustik vor dem Umbau erinnern. Aber insgesamt lässt sich festhalten, dass der Saal nicht nur optisch grossartig wirkt, sondern dass er auch ungebrochen herrlich klingt – das Sinfonieorchester Basel konnte sich jedenfalls von brillantester Seite zeigen. Vielleicht herrscht etwas weniger Wärme als ehedem, dafür gibt es jetzt strahlende Helligkeit. Dank dem üppigen Nachhall stellt sich blendende Opulenz ein, die Farben vermischen sich wunderbar, treten aber auch in ihren spezifischen Eigenheiten heraus. Seidenweich klingen die hohen Streicher, die tiefen Register sorgen für ein solides Fundament, während die Holzbläser ihre hochstehenden Qualitäten in besonders helles Licht rücken können. Gespannt sein kann man auch auf die Orgel der Firma Metzler, Dietikon; die Aufführung des Requiems von Gabriel Fauré im kommenden Juni dürfte hier die Nagelprobe liefern.

Ein besonderer Moment, dieses erste Konzert des Residenzorchesters nach der offiziellen Eröffnung. Zu Beginn gab es im dafür verdunkelten Saal eine «Einkreisung» durch acht im Saal verteilte Alphörner, ein neues Stück von Helena Winkelman, die für die Saison 2020/21 als «composer in residence» eingeladen ist. Nicht fehlen durfte darauf «Die Weihe des Hauses» Ludwig van Beethovens; die Tuttischläge der ersten Takte liessen gleich den fulminanten Nachhall hören. Danach ein Auszug aus den «Gymnopédies» Erik Saties in der feingliedrigen Orchestrierung von Claude Debussy und «Morgen» aus den Vier Liedern op. 27 von Richard Strauss mit der Sopranistin Christina Landshamer, welche die Spielzeit als «Artist in Residence» begleitet. Schliesslich eine Konzertarie von Felix Mendelssohn Bartholdy mit Christina Landshamer und dem Konzertmeister Axel Schacher – bevor man dann mit obrigkeitlicher Bewilligung in die Pause entlassen wurde, das Foyer bewundern oder auf dem Barfüsserplatz die Maske ablegen konnte. Der zweite Teil des Abends galt Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 9, die Ivor Bolton etwas hemdsärmlig anfasste.

Eine lange Geschichte hat ein glückliches Ende gefunden. Ein aufschlussreiches, reich bebildertes Buch von Esther Keller und Sigfried Schibli, dem langjährigen ehemaligen Musikredaktor der «Basler Zeitung», lässt das Werden des Basler Konzerthauses und die verschlungenen Wege hin zu seiner Instandstellung nachvollziehen. Seinen Anfang nahm der jüngste Prozess 2004 mit jenem Architekturwettbewerb, den Zaha Hadid mit einem Entwurf gewann, der in einer Volksabstimmung von 2007 jedoch abgelehnt wurde. Ein weiteres Projekt scheiterte 2010 am Widerstand des Basler Regierungsrates. Schliesslich beauftragte die Basler Casino-Gesellschaft das Büro Herzog & de Meuron mit einer Studie zur Erkundung des Potentials; diese Arbeit führte zu dem jetzt realisierten Umbau. Vier Jahre dauerten die Bauarbeiten, ein Jahr länger als geplant, unter anderem darum, weil die Archäologie tätig zu werden gewünscht hatte und die alten Pläne nicht der gebauten Realität entsprachen. Ganz im Plan blieben dagegen die Kosten von 78 Millionen Franken, von denen 49 Prozent durch die öffentliche Hand übernommen, der Rest dagegen von privater Seite gedeckt wurde. Wer bedenkt, dass neben Basel auch Bern, auch Zürich, auch Luzern und Genf für die Musik als Kunst gebaut haben oder noch bauen, kann den Zweiflern an der Zukunft des Konzerts mit geradem Rücken entgegentreten.

Esther Keller, Sigfried Schibli: Stadtcasino Basel. Gesellschaft, Musik, Kultur. Friedrich Reinhard-Verlag, Basel 2020. 269 S., Fr. 44.80.

Entdeckungen bei Gabriel Fauré – mit dem Sinfonieorchester Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist noch immer gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Allein, stimmt das wirklich? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.

 

Als Komponist von Orchesterwerken ist Gabriel Fauré nicht bekannt geworden; die grosse Sinfonie, wie sie César Franck, Camille Saint-Saëns oder Ernest Chausson gepflegt haben, fehlt in seinem Werkverzeichnis. Akzente setzte der 1845 geborene Franzose im Bereich der kleineren Besetzungen, beim Lied, vor allem aber bei Kammer- und Klaviermusik. Gern gespielt und gehört sind etwa die Violinsonate Nr. 1 in A-dur von 1875, aber auch die Quartette und Quintette mit Klavier.

Dennoch haben sich das Sinfonieorchester Basel und sein seit 2016 amtierender, mit viel Geschick wirkender Chefdirigent Ivor Bolton vorgenommen, den wenig bekannten Orchesterkomponisten Gabriel Fauré zu erkunden. Drei Compact Discs unter dem Titel «The Secret Fauré», allesamt auch im Streaming greifbar, sind so entstanden – und die dritte ist wohl die attraktivste unter ihnen. Dies nicht zuletzt darum, weil sich auf dieser CD, als Höhepunkt und Abschluss des Projekts, das berühmte Requiem Faurés findet, das zum Tod des Komponisten 1924 in der von ihm als Organist betreuten Pariser Kirche La Madeleine aufgeführt wurde. Es wird hier in der Originalfassung mit Orchester dargeboten.

Dieses Requiem gehört zum Besten, was die spätromantische Musik aus Frankreich hervorgebracht hat. Die Musik Faurés zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie gelassen und entspannt in sich ruht, dass sie weder den neuen Horizont sucht noch den zugespitzten Ausdruck, sondern sich natürlich und in einer sehr persönlichen Weise entfaltet – in der Schönheit der Harmonien und der Sinnlichkeit der Klangfarben. Ivor Bolton ist für diese musikalische Sprache genau der Richtige, seine Auslegung des Requiems lässt es hören.

Der Richtige ist er, weil er, so paradox das erscheinen mag, aus der alten Musik kommt. Und dort gelernt hat, Notentexte zu prüfen und Aufführungsgewohnheiten zu hinterfragen. Hell und leicht klingt das Sinfonieorchester Basel, so hell und leicht wie der Balthasar-Neumann-Chor. Ganz selbstverständlich pflegen die Streicher das Spiel mit wenig Vibrato; sie erzeugen einen obertonreichen, fast gläsernen Klang. Bestens mischt er sich darum mit den Farben der für die Aufnahme im Goetheanum Dornach eingesetzten elektronischen Orgel, die all die Spezialitäten beizusteuern vermag, wie sie die 1846 fertiggestellte Cavaillé-Coll-Orgel in La Madeleine bietet. Für das Gelingen einer Aufführung von Faurés Requiem ist dieser Aspekt von entscheidender Bedeutung. Zumal im letzten der sieben Sätze, wo man geradewegs ins Paradies entführt wird.

Überhaupt wartet das Sinfonieorchester Basel mit Geschmeidigkeit des Tons und Wandelbarkeit der Farbgebung auf – gerade bei den Bläsern. Schade nur, dass keines der drei Booklets eine Liste der mitwirkenden Orchestermitglieder enthält (wohingegen die Sängerinnen und Sänger des Balthasar-Neumann-Chors namentlich aufgeführt sind). Man möchte doch wissen, wer in der Orchestersuite «Pelléas et Mélisande» auf der ersten der drei CDs und in der «Pavane» auf der zweiten so herrlich die Flöte bläst – für Informationen solcher Art hätte man gut und gerne auf die Allgemeinplätze verzichten können, die der Basler Autor Alain Claude Sulzer zum Projekt beigesteuert hat. Auch die solistischen Beiträge sind ausgezeichnet aufgehoben, etwa bei der Sopranistin Olga Peretyatko, beim Pianisten Oliver Schnyder, der in der Ballade für Klavier und Orchester (in Vol. II) mit sensiblem Rubato zu Werk geht, oder bei Benjamin Appl und seinem strahlenden, allerdings von etwas viel Vibrato geprägten Bariton.

Manch Unbekanntes gibt es bei «The Secret Fauré» zu entdecken, unter anderem die reizende «Messe des pêcheurs de Villerville» für Frauenchor und kleines Orchester, die Fauré während eines Sommeraufenthalts in der Normandie zusammen mit seinem Freund André Messager geschrieben hat. Repertoire wurde erforscht, bisher unbeachtete Quellen zur Aufführungspraxis wurden beigezogen – mit dem Resultat einer anregenden Horizonterweiterung. In dieselbe Richtung weist eine parallel zum Fauré-Projekt erschienene Doppel-CD, die Luciano Berio und seinen Adaptionen für Orchester gilt. Zum Beispiel den «Quattro versioni originali della “Ritirata Notturna di Madrid” di Luigi Boccherini», die Berio 1975 mit Humor bearbeitet und für Orchester eingerichtet hat. Und auf der zweiten CD erscheinen sogar die Beatles mit vier ihrer Songs, die es dem italienischen Komponisten seinerzeit besonders angetan haben.

Die vier CD-Publikationen lassen erkennen, dass sich das Sinfonieorchester Basel mit Ivor Bolton sehr positiv entwickelt und zu ausgezeichneter Verfassung gefunden hat. Das gilt auch für die Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit. Soeben hat das Orchester einen neuen Probenraum auf halbem Weg zwischen dem Konzertsaal und dem Kunstmuseum bezogen, demnächst wird – auch hier: so Corona will – der renovierte, für seine Akustik berühmte  Musiksaal im Basler Stadtcasino, der von Herzog & De Meuron genial erweitert worden ist, wieder in Betrieb genommen. Allerdings bauen sich auch Gewitterwolken auf, stösst doch die Aufteilung der Subventionen, die das Orchester stark bevorzugt, bei kleineren Klangkörpern und namentlich bei den Vertretern der Popularmusik zunehmend auf Widerstand. Es ist allerdings nicht auszuschliessen, dass die Musikstadt Basel ihrer Tradition auch auf dieser Ebene treu bleiben wird.

The Secret Fauré. Vol. III: Geistliche Werke, insbesondere das Requiem. Vol. II: Orchesterwerke und Konzerte. Vol. I: Suiten und Orchesterlieder. Olga Peretyatko (Sopran), Benjamin Bruns (Tenor), Benjamin Appl (Bariton), Oliver Schnyder (Klavier), Balthasar-Neumann-Chor, Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Sony Classical (Aufnahmen 2017-2019, Produktionen 2018 bis 2020).

Luciano Berio: Transformation. Werke von Bach, Boccherini, Brahms, Mahler etc. in Adaptionen von Luciano Berio. Sophia Burgos (Sopran), Benjamin Appl (Bariton) Daniel Ottensamer (Klarinette), Sinfonieorchester Basel, Ivor Bolton (Leitung). Sony Classical (Aufnahme 2018, Produktion 2019).