Verfeinerung im Einfachen

Verdis «Rigoletto» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Matthias Baus, Theater Basel

Man mag ihn mögen oder nicht – für die neue Produktion von Giuseppe Verdis «Rigoletto» im Theater Basel ist kein Lob hoch genug. Intelligentes, sinnlich erfülltes Musiktheater gibt es da. Die guten Nachrichten kommen zunächst aus dem Graben, wo das Sinfonieorchester Basel auf der vollen Höhe seines Vermögens musiziert: zupackend, aber nirgends grob, klangschön, präzis im Rhythmischen und mit allem Sinn für federnde Eleganz. Dazu angeleitet werden die Musikerinnen und Musiker durch Michele Spotti, einen jungen Dirigenten aus Mailand, dem das Orchester am Ende der Premiere sichtbaren Beifall zollte. Sehr zu Recht, erweist sich Spotti doch als ein sattelfester, ebenso effizienter wie diskreter «maestro concertatore»; er lässt den Sängerinnen und Sängern den nötigen Raum und bleibt ihnen sorgsam zur Seite, behält den Fortgang des Dramas aber jederzeit entschieden in der Hand und sorgt so für durchgehende Spannung. Als besonders wirksam erweist sich dabei des Dirigenten Gefühl für die Tempi und die Beziehungen unter ihnen – da ist ein Raffinement gefordert, ohne das ein Werk wie «Rigoletto» platt bleibt. In der Oper gilt die Aufmerksamkeit des Publikums zuallererst der vokalen Kunst, der Ärger sodann dem Regisseur, während die Formung der musikalischen Seite eher beiläufig mitgenommen wird. Hier ist diese Gewohnheit in jeder Beziehung ausser Kraft gesetzt.

Im Vokalen und in der Ausgestaltung des dramatischen Geschehens herrscht nämlich das reine Glück. Die Besetzung ist erstklassig, sie braucht sich vor keinem anderen Haus zu verstecken. An Überraschungen fehlt es nicht. Als Rigoletto bringt Nikoloz Lagvilava eine ungeheure Bärenstimme ins Spiel, eher einen Bass als einen Bariton, jedenfalls eine abgrundtiefe Schwärze und eine Kraft, die den Narren auch vom Vokalen her zum Aussenseiter macht, das brutal Instinktive in seinem Handeln betont und den Zusammenbruch umso schärfer herausstellen. Einen Buckel braucht es nicht, die Kapuze zu dem dunkelbraunen Ledermantel, den ihm die Kostümbildnerin Clémence Pernoud entworfen hat, sagt alles. Pavel Valuzhin als Herzog bietet mit seinem hellen, obertonreichen Tenor und seiner darstellerischen Agilität das scharfe Gegenbild; schade nur, dass der Sänger gerne zu hoch intoniert (und damit eine Gepflogenheit italienischer Provenienz strapaziert). Speziell dann wieder der Mörder Sparafucile, für den mit David Shipley ein eher hoch liegender, feinzeichnender Bass verpflichtet ist – weshalb denn auch besonders auffällt, dass er, wie er sich Rigoletto mit seinem schönen Namen vorstellt, das in hoher Lage tut. Sein edles weinrotes Gewand mit dem Kummerbund deutet ja auch, dass er seine Dienstleistungen als echter Gentleman anbietet und, so ist anzunehmen, in derselben Weise ausführt. Mit einer echten Donnerstimme wartet Artyom Wasnetsov als Monterone auf – ein später Verwandter des Komturs aus «Don Giovanni». Und dann: Regula Mühlemann, die in Basel ihre erste Gilda singt und das ganz ausgezeichnet macht. Jungmädchenhaft hängt sie an ihrem Vater, doch wie Rigoletto ihr den Hausarrest auferlegt, wird sie rasch störrisch, um dann dem Herzog förmlich zuzufliegen – alles grossartig, alles bewegend dargestellt. Und stimmlich grandios gemeistert dank einem Timbre, das auf einer samtenen Grundlage ein weitgefächertes Farbspektrum ausbreitet. Im Übrigen: Ohne Fehl das Ensemble, ohne Tadel der von Michael Clark vorbereitete Chor.

Zusammen mit dem Orchester sind es die Menschen auf der Bühne, die den Basler «Rigoletto» prägen. Der Regisseur Vincent Huguet dagegen hält sich vorteilhaft zurück; er nennt Verdis Oper sogar «abstrakt» – mit gutem Grund, bilden die beiden Szenen in den Salons des Herzogs doch eher Beiwerk, während das Stück seinen Kern in der direkten Interaktion zwischen den Figuren findet. Das nimmt der Regisseur sehr genau in den Blick, das hat er mit aller Sorgfalt ausgeführt. Der französische Designer Pierre Yovanovitch, hat ihm eine dementsprechend neutrale Bühne eingerichtet. Eine mächtige Rundtreppe, elegant geformt, führt aus luftiger Höhe herunter auf die Spielfläche, wo sich im Verlauf der drei Akte drei halbrunde Wände um die Akteure positionieren: eine immer stärkere Einengung, in der sich die Zuspitzung des Dramas spiegelt. Zugleich aber auch eine Assonanz an die vor einem Vierteljahrhundert aufgestellte, anhaltend umstrittene und bekanntlich nicht nur betrachtete Eisenskulptur «Intersection» des Amerikaners Richard Serra auf dem Platz vor dem Theater. Wenn sich Rigoletto am Ende seiner Möglichkeiten sieht, senkt sich zudem ein zarter, luftiger, aber doch eindeutiger Käfig auf den vom Täter zum Opfer gewordenen Menschen. Alles bloss andeutet, zudem in erlesenen Farben – Design vom Besten, aber sehr wohl mit Aussage. Und in jedem Fall besser als Buckel und Samt. Im Februar folgt an dem sehr lebendigen Basler Haus eine Übernahme von Luigi Nonos «Intolleranza 1960» mit dem Hausherrn Benedikt von Peter am Regiepult. Da wird zweifellos ein ganz anderer Wind wehen.

Theater aus Musik

Drei Mal Bartók in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Evelyn Herlitzius (Judith) und Christof Fischesser im Stadttheater Basel (Bild Matthias Baus, Theater Basel)

Exzellent, dieser Abend. Eine Produktion im Zeichen von Musik und Theater und Tanz, und das in sinnreichem, lustvollem Zusammenwirken der drei Sparten – in Zeiten, da die schon sehr lange währenden, gerade jetzt wieder neu aufflammende Diskussion um Grenzen und Grenzüberschreitungen des Regietheaters in der Oper alles andere als selbstverständlich. Gewiss, mit dem am Theater Basel erarbeiteten Projekt mit dem «Wunderbaren Mandarin» und «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók hat sich ein Regisseur verwirklicht. Aber Christof Loy ist ein derart sachbezogener, reflektierter und dazu musikalisch sensibler Bühnenkünstler, dass das Ergebnis zu ausserordentlicher Wirkung kommt. Authentizität eigener Art ist da zu spüren, tiefe Berührung zu erleben.

Wie immer, wenn «Herzog Blaubarts Burg» ins Programm genommen werden soll, stellt sich die Frage nach der Ergänzung zu dem einstündigen Einakter. Christof Loy wollte zu dem dunklen, in Schwärze endenden Stück von 1911, uraufgeführt 1918, eine helle Botschaft stellen: die Botschaft der Liebe, die, wenn sie gelebt wird, gegen alle Widrigkeiten der Umstände ihre Chance haben kann. Und diese Botschaft sollte ebenfalls der Feder Béla Bartóks entstammen. Darum die Tanzpantomime «Der wunderbare Mandarin» – die nun allerdings mit dem Tod des Titelhelden endet, wenn auch mit einem Tod der Erlösung. Wie das Mädchen, das von drei brutalen Zuhältern auf die Strasse geschickt wird, den übel zugerichteten, gleichwohl immer wieder ins Leben zurückkehrenden Mandarin küsst, kann er sterben. Sehr aufhellend ist das nicht, doch kehrt es Loy ins Positive, indem er auf den «Wunderbaren Mandarin» den zarten ersten Satz aus der «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» von 1937 folgen und dazu eine von ihm erdachte (und gemeinsam Johannes Stepanek umgesetzte) Choreographie tanzen lässt. Sie deutet an, was der Kuss des Mädchens auf die Lippen des Mandarins wirklich bedeutet.

Über diese Anlage, vor allem über den Bezug zwischen dem «Mandarin» und «Blaubart», lässt sich füglich nachdenken. Im Moment der Aufführung freilich stellt sich eine unerhört dichte, durch die Musik nicht grundierte oder unterstützte, sondern recht eigentlich aus ihr heraus entwickelte Atmosphäre ein. Das ist Musiktheater im besten Sinn. Zumal dem Sinfonieorchester Basel unter der Leitung seines erstmals am Theater Basel auftretenden Chefdirigenten Ivor Bolton eine hervorragende Auslegung der im «Mandarin» zupackenden, im instrumentalen Stück feingliedrigen Musik Bartóks gelingt. Und was die Tänzer, allen voran Carla Pérez Mora (Mädchen) und Gorka Culebras (Mandarin), aber auch die drei vom Komponisten als Strolche bezeichneten Zuhälter Joni Österlund, Nicky van Cleef und Jarosław Kruczek sowie die beiden Freier Nicolas Franciscus und Mário Branco – was dieses Ensemble zustande bringt, ist in seiner Körperlichkeit und seiner Ausdrücklichkeit schlechterdings hinreissend. Energie sondergleichen herrscht hier, und doch gerät nichts grob. Auch die scharfen Attacken der Zuhälter auf den Mandarin bleiben elegante Kunst, so eindeutig sie vorgeführt werden. Sie lassen dem Zuschauer auch Raum fürs Zuhören.

Wenn das Geschehen nach der Pause wieder anhebt, wird deutlich, dass die beiden Teile durch die Ausstattung eng miteinander verzahnt sind. Wo im «Mandarin» ein dichter Wald drohte, ragt bei «Blaubart» die aus Holz gebaute Burg mit ihren verschlossenen Fenstern; in beiden von Márton Ágh entworfenen Bildern herrscht meist nachtschwarze Dunkelheit, die nur von scharfen Lichtkegeln erhellt wird (Licht: Tamás Bányai). Auch die schlichten Kostüme von Barbara Drosihn betonen die Verbindungen; Blaubart gleicht dem Mandarin bis hin in Einzelheiten der Erscheinung, Judith trägt ein kleines Schwarzes wie das Mädchen, selbst die Verwendung der Schuhe schafft Korrespondenz. All das ist fantasievoll erdacht und sorgfältig ausgeführt. Dazu kommt auch hier die Kostbarkeit des Orchesterparts. Ivor Bolton bringt den Farbenreichtum in Bartóks Partitur zu voller Pracht; durch nuancierte Tongebung, auch durch partiellen Verzicht auf das Vibrato in den Streichern gelingt ihm eine blendende klangliche Erweiterung. Und gekonnt die Kontrolle der Spannung: Den grossen C-dur-Akkord im fünften Bild, da Judith die Weite von Blaubarts Ländereien erblickt, nimmt er laut, aber nicht am lautesten – das ist für den dramatischen Höhepunkt reserviert.

Das Paar selbst: grossartig. Christof Fischesser lässt seinen opulenten Bariton in ganzer Fülle hören. Er setzt ihn aber nicht ein, um die Virilität des Schlossbesitzers mit seiner reichen Vergangenheit ins Licht zu rücken, sondern um den Absturz von der durch vorgespiegelte Souveränität nur wenig verdeckten Unsicherheit runter in die reine Verzweiflung drastisch herauszustellen. Ihm gegenüber steht eine Judith, die das Jungmädchendasein längst hinter sich hat, die Blaubart als eine reife Frau begegnet und als solche genau weiss, was sie vom Mann erwartet: Ehrlichkeit. Evelyn Herlitzius, eine geborene Sängerschauspielerin mit tragender, opulent leuchtender Tiefe und Leichtigkeit in der Höhe, dringt unablässig auf Blaubart ein und sieht sich am Ende vor einem Scherbenhaufen. Was bleibt, ist tiefe Betroffenheit, ja Beunruhigung aus, weil «Herzog Blaubarts Burg», mehr als ein Jahrhundert alt, von heute sein könnte.

Krippenspiel und Ritual

Das Theater Basel wagt sich an Bachs «Matthäus-Passion»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Muss es wirklich sein, die «Matthäus-Passion» auf der Opernbühne? Nun, so fern liegt es nicht, wenn man an die latente Dramatik von Johann Sebastian Bachs magistraler geistlicher Musik denkt. Und Versuche in diese Richtung der Interpretation gab es immer wieder, bis hin zur Aneignung durch den Choreographen John Neumeier. Aber eine Aufführung als Fest der »Community« unter Beteiligung von Kindern sowie Bürger- und Jugendchören aus Stadt und Region, ja selbst unter Mitwirkung des Publikums, das an zwei Stellen zum Mitsingen eingeladen ist – sieht das nicht sehr nach einer gutmenschlichen, wenn nicht gar populistischen Aktion aus?

Tatsächlich erscheint die «Matthäus-Passion» im Theater Basel auf den ersten Blick als ein monumentales Krippenspiel, denn die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi wird von Kindern vorgeführt. Rührend wirkt das – und zugleich berührend, denn das szenische Arrangement, das Benedikt von Peter, der Intendant des Basler Dreispartenhauses, als Regisseur zusammen mit der Bühnenbildnerin Natascha von Steiger und einem grossen Team entwickelt hat, nimmt den ganzen Raum des Theaters in Anspruch und lebt so von einer eigenen Wirkungsmacht. Sitzplätze finden sich im Auditorium wie ihm gegenüber auf einer ansteigenden, weit in den Bühnenhintergrund reichenden Rampe. Das Orchester ist nach Vorgabe der doppelchörig konzipierten Partitur links und rechts von der Spielfläche platziert. Weitere Instrumentalisten finden sich im Hintergrund des Zuschauerraums wie jenem der Bühne; auch die Chöre klingen von allen Seiten her. Der Raum, mit dem Benedikt von Peter immer wieder gerne und bewusst arbeitet, umfasst alles und schafft Gefühle der Gemeinschaftlichkeit.

Vorne rechts André Morsch, der mit seinem klangvollen Bariton einen emotionalen, teils heftig aufbrausenden, teils zutiefst verzagten Jesus gibt, auf der linken Seite, von der Kostümbildnerin Lene Schwind schwarz gewandet wie alle musikalisch Mitwirkenden, Robin Tritschler als ein stimmlich vielfarbiger, plastisch und daher verständlich deklamierender Evangelist, der als Hilfsregisseur auf der Bühne unentwegt die grosse Gruppe der Kinder durchs Geschehen lenkt, hier liebevoll zugewandt, dort energisch. Allein, so niedlich das aussieht, so sehr fällt die Stilisierung auf – im Agieren der Kinder, aber auch in den Projektionen auf Bildschirme in der Bühnenmitte, die immer wieder zu Tableaux vivants gefrieren. Benedikt von Peter sieht die «Matthäus-Passion» nicht nur als ein geistliches Drama, sondern auch als ein Ritual, in dem Grundwerte unserer Gesellschaft bestätigt und bekräftigt werden.

Gebrochen wird das Ritual durch eine Volksschülerin mit blondem Haarschopf, die immer wieder störend und dazwischenrufend über die Bühne stürmt – eine Art Greta, die das Gezeigte und Vorgetragene mitnichten akzeptiert. Dem gebundenen und gedemütigten Jesus löst sie die Fesseln, gegen Ende warnt sie mit beschwörenden Rufen vor dem drohenden Zusammenbruch des Klimas, und wenn sich beim Schlusschor alles zum Schlafen legt, wirbelt sie die Bettdecken durcheinander. Ist der Schlussakkord verklungen, erscheinen einige der Kinder in Grossaufnahme auf den Bildschirmen und geben Stellungnahmen zum Zustand der Welt und der Gesellschaft ab. Die «Matthäus-Passion» als ein Spiel von Kindern für Kinder, denen hier Aug und Ohr für eine zentrale Tradition geöffnet werden, aber ebenso sehr als ein Spiel von Kindern für Erwachsene, denen der Spiegel vorgehalten wird. Vielleicht etwas viel Moral, doch keineswegs fehl am Platz.

Jedenfalls, zum befürchteten Krippenspiel wird der Abend nicht wirklich; er lässt vielmehr eine Produktion erleben, die konsequent durchdacht ist und in der künstlerischen Verwirklichung auf ambitionierte Professionalität setzt. Das Sinfonieorchester Basel tritt in kleiner Besetzung auf, mit modernen Instrumenten, aber in hohem Mass historisch informiert – wofür der Dirigent Alessandro De Marchi zu sorgen weiss. Durchwegs flüssige Tempi herrschen hier, prägnante Artikulation, sorgsamer Umgang mit dem Vibrato, bisweilen zugespitzte Expressivität. Zu sehr im Hintergrund bleibt der Generalbass, der neben den Orgeln auch Lauten kennt. Und nicht zu befriedigen vermag der von Michael Clark vorbereitete Theaterchor, der, gross besetzt, schwerfällig klingt und an der Premiere manch heiklen Moment des Zusammenwirkens durchlebte. Erstklassig dagegen das Solistenquartett mit der jungen Isländerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir an der Spitze, einer erstaunlichen Sopranistin. Ihr zur Seite standen an der Premiere die ebenso bewegliche wie stimmgewaltige Altistin Beth Taylor, der Tenor Nathan Haller mit seinem hellen, klar zeichnenden Timbre und der Bass Christian Senn.

Stockhausen in Basel

 

Kindergeburtstag bei Stockhausens / Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Peter Hagmann

Vom Irdischen ins Kosmische

«Donnerstag» aus «Licht» von Karlheinz Stockhausen in Basel

 

Schon kurz nach Beginn ist die kleine, aber zentrale Szene zu sehen. Hinter den Glasscheiben des mächtigen Vielecks, das die Bühne im Theater Basel beherrscht, wird Familie gespielt. Um einen runden Tisch sitzen Kinder, sie tragen übergrosse Köpfe aus Pappmaché. Der Bub hat Geburtstag, die Mutter bringt einen grossen Kuchen mit brennenden Kerzen, die der Bub ausbläst. Der Vater – er trägt Knickerbocker aus Leder und hebt immer wieder männlich seinen Bierkrug – tätschelt dem Sohn lobend auf den Rücken, der Bub wiederum wirft sich seinem Vater an die Brust, doch der weist ihn ab und setzt ihn hart auf seinen Stuhl zurück. Bleibt die Mutter, die alsbald mit einem glänzenden Geschenk anrückt und den Sohn, der dann ihr um den Hals fällt, lange herzt.

So kurz sie währt, ist diese mehrfach wiederholte Schlüsselszene doch von hoher emotionaler Wirkung. Und sie sagt, worum es in «Donnerstag» aus dem siebenteiligen Opernzyklus «Licht» von Karlheinz Stockhausen geht: um Karlheinz Stockhausen. Um sein Heranwachsen in den dunklen Zeiten zwischen 1933 und 1945 und um den Verlust der geliebten Mutter – die der Schwermut verfällt, die vom Vater, einem strammen Parteisoldaten, verlassen wird und schliesslich in einer Tötungsanstalt dem Giftgas zum Opfer fällt. Der Arzt als Sadist, der Patient als wehrlos gemachtes Opfer, das ist das Thema des ersten Akts – die Regisseurin Lydia Steier lässt in der Ausstattung von Barbara Ehnes (Bühne) und Ursula Kudrna (Kostüme) keinen Zweifel daran.

Und das im Theater Basel, das es zum Abschluss der ersten Spielzeit unter dem neuen Intendanten Andreas Beck gewagt hat, den sechsstündigen Abend mit Karlheinz Stockhausen zu stemmen. Eine Tat, fürwahr, und mehr noch: ein Erlebnis voll praller Sinnlichkeit und ein Moment erhellender Erfahrung. Denn «Donnerstag», der erste, 1977 begonnene und 1981 an der Mailänder Scala uraufgeführte Teil von Stockhausens musiktheatralischem Konzept zu den sieben Tagen der Woche, zeigt die Wurzeln und die Verankerung des «Licht»-Zyklus – nicht zuletzt in den Ideen, die Richard Wagner im «Ring des Nibelungen» entwickelt hat.

Getrennt und neu zusammengefügt

Den Anfang macht ein «Gruss» im geräumigen Foyer des Basler Stadttheaters, ein ironisch gebrochenes Vorspiel im Big-Band-Stil. Worauf ein erster Akt Michael einführt, die erste der drei Hauptfiguren von «Licht» und den Ich-Erzähler, dessen Namen auf eine kindliche Prägung Stockhausens durch eine Heiligenfigur zurückgeht. Deutlich wird hier sogleich – das zu verwirklichen gelingt der Basler Produktion überaus eindrücklich –, wie in «Licht» das Vokale, das Instrumentale und das Gestische als Parameter des szenischen Ausdrucks getrennt werden und sich in der Folge neu zusammenfügen. Wie jede der drei Hauptfiguren wird Michael von einem Sännger (dem Tenor Peter Tantsits), einem Instrumentalisten (dem Trompeter Paul Hübner) und einer Tänzerin (Emmanuelle Grach) dargestellt – eine neue Art artifizieller Vitalität stellt sich hier ein.

Vieles davon ist in der Partitur – sogar im Textbuch, das leider nur online zur Verfügung seht – explizit und detailliert festgehalten. Lydia Steier hält sich an manches, aber lange nicht an alles, sie konkretisiert die vom Komponisten erdachten Bilder oft in eigener Weise. Dadurch ergibt sich eine klare Fasslichkeit, das Gefühl für einen Zeitverlauf, ohne dass es darob zu einer geschlossenen Narration käme; hie und da stellt sich sogar die Assoziation an die «Europeras» von John Cage ein. Von Stockhausens Erb(inn)en wurde der Ansatz der Regisseurin akzeptiert, im Zuschauerraum anwesend war Stockhausens Lebensgefährtin Kathinka Pasveer, die den langen Prozess der musikalischen Einstudierung entscheidend mitgestaltet hat und die in der Aufführung selbst das Mischpult steuert. Denn selbstverständlich ist jeder der beteiligten Akteure verstärkt, wird der Klang vielfach in den Raum verteilt und mit voraufgezeichneter oder elektronisch erzeugter Musik vermengt.

Von den Jugendjahren aus bricht Michael auf: zu einer Reise rund um die Welt – und das unter der Führung und Verführung Evas, die hier von der Sopranistin Anu Komsi, von Merve Kazokoǧlu am Bassetthorn und von der Tänzerin Evelyn Angela Gugolz verkörpert wird. Allerdings nicht wirklich, denn der zweite Akt bleibt musikalisch rein instrumental. Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel sind links und rechts auf der Bühne postiert, während aus dem zu einem Schlitz reduzierten Graben heraus der Dirigent Titus Engel agiert, der das Geschehen fabelhaft zusammenhält und ihm einen ganz natürlich wirkenden Verlauf schafft. Was das heisst, wenn ein Orchester Oper und Konzert gleichermassen pflegt und wenn dieses Orchester mit neuer Musik so selbstverständlich umgeht, wie es in Basel in den zurückliegenden Jahren mit dem (Konzert-)Chefdirigenten Dennis Russell Davies üblich war – hier ist es zu hören. Zu erleben ist überdies, wie eigenartig vertraut Stockhausens Musik, fünfunddreissig Jahre alt, inzwischen klingt. Die Kerne der Formel, mit welcher der Komponist arbeitet, sind jedenfalls nicht schwieriger zu erkennen als die Leitmotive in Wagners «Ring des Nibelungen».

Läuterung und Anbetung

Von der bebilderten Sinfonie des zweiten Akts aus geht es weiter zum Oratorium des dritten. Hier erfährt Michael, dessen Vokalpart an den Tenor Rolf Romei übergeht, Läuterung und Anbetung – zum Beispiel durch den von Henryk Polus vorbereiteten Chor, der ausgezeichneten Eindruck hinterlässt. Hier kommt sodann die dritte Hauptfigur ins Spiel, weshalb es denn zur Polarität zwischen Michael und Luzifer kommt, der bei Michael Leibundgut mit seinem tiefen Bass, bei dem Posaunisten Stephen Menotti und beim Tänzer Eric Lamb bestens aufgehoben ist. Und wie es sich für einen Komponisten der deutschsprachigen Tradition gehört, wird in diesem Schlussakt auch noch einmal alles erinnert und zusammengefasst – bis hin zu der abschliessenden Sentenz «…kindlich aus Tönen Spiele auszudenken, die selbst in Menschenform noch Engelsseelen rühren: das ist der Sinn des «Donnerstag» aus «Licht». Wer dächte da nicht an die grossen Rekapitulationen in Wagners «Ring»? Szenisch gerät die Produktion hier freilich an die Grenzen; gut einstündigen Jubel eines Chors in Bewegung umzusetzen, ohne dabei in ermüdende Repetition zu verfallen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Entlassen wird man von einem «Abschied», den fünf Trompeter von den Dächern der umliegenden Gebäude erklingen lassen. Die Gefühle sind gemischt, Berührung und Bewegung finden sich durchaus, im Vordergrund steht aber eines, nämlich Respekt: Grossartig, dass das Theater Basel diese Begegnung ermöglicht. Ende September, Anfang Oktober gibt es noch einmal drei Aufführungen.

«Macbeth» in Basel

 

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Am Ziel und restlos verstrickt: Macbeth (Vladislav Sulimsky) und seine Lady (Katia Pellegrino) in Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Peter Hagmann

Macht und Sex, Sex und Macht

Verdis «Macbeth» mit Olivier Py und Erik Nielsen am Theater Basel

 

Zu sehen gibt es hier nun sehr viel – ganz anders als im Opernhaus Zürich, wo «Macbeth» ebenfalls auf dem Spielplan steht und Giuseppe Verdis radikale Schaueroper durch einen Akt des Nicht-Theaters zu eindringlichstem musikalischem Theater wird. In Basel ist Olivier Py am Werk; im Gegensatz zu Barrie Kosky untersucht er auch dieses Stück auf seine untergründiggen sexuellen Ströme – und er tut das so explizit, wie es bei ihm so Sitte. Er zeigt alles beziehungsweise lässt alles zeigen. Wenn König Duncan bei seinem Vasallen Macbeth zu Gast kommt, entledigt er sich erst seiner Statussymbole und dann seiner Kleidung, um sich schliesslich splitternackt in eine Badewanne zu legen und dort sein Marat-Schicksal zu erwarten. In der Folge führt der Dahingemeuchelte, vom Theaterblut gezeichnet, sein Gemächt noch und noch ins Licht. Auch die Hexen dürfen ihre für gewöhnlich verdeckten Sächelchen herzeigen, es ist eine wahre Freude. Später kämpft sich Macbeth noch über einen Berg ebenfalls nackter Leichen, aber die sind nun aus Plastik. Genau so wie die Krähen, die als kleine Reverenz an die Zürcher Produktion vom Rhein an die Limmat grüssen.

So ist es nun einmal bei Olivier Py. Wer diese Regiehandschrift nicht mag, bleibt besser fern, es gibt ja eine Alternative. Nicht nur das Nackte, auch das Grobe gehört bei ihm dazu. Wenn zu Beginn des vierten Akts die Hoffnungslosigkeit ihren tiefsten Punkt erreicht hat und das Volk von Schottland sein Schicksal beklagt, tut es das im Schatten einer enormen Diktatorenstatue – die am Ende der Nummer pünktlich und krachend zu Boden fällt. Dass der von Henryk Polus einstudierte Chor des Theaters Basel, dessen Damen wieder reichlich Vibrato einbringen und damit die die erwünschte klangliche Homogenität stören, hier seine Sache ganz ausgezeichnet macht und einen grossartigen Moment musikalischer Dichte erzeugt, wird durch das Getöse des fallenden Monuments brutal zerstört. Einmal mehr wird offenbar, mit wie wenig entwickelter Musikalität Musiktheater in Szene gesetzt werden kann. Oder wie sehr sich die Kraft des szenischen Bilds gegenüber dem als Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte gedachten Kunstwerk Oper verselbständigen kann. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass Pierre-André Weitz die Ausstattung virtuos konzipiert und die Haustechnik sie meisterlich realisiert hat.

Doch das ist nur die eine Seite. Was Olivier Py zu «Macbeth», zu Verdi und zu Shakespeare zu sagen hat, das zeigen die intelligenten Antworten, die der Theologe, Autor, Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter dem Dramaturgen Pavel B. Jiracek im Programm gibt. Es ist weitaus anregender als das, was an diesem Abend im Theater Basel zu sehen ist. Denn jenseits des Plakativen bleibt die Basler Produktion im Konventionellen oder im Ungefähren stecken. Das liegt an einem Mangel an Hinwendung des Regisseurs zu den dramatis personae. So sehr sie – man könnte fast sagen: im Stil des italienischen Ausstattungstheaters – dem schlagkräftigen Bild zustrebt, so wenig Aufmerksamkeit schenkt die Inszenierung den einzelnen Figuren; sie bleiben darum Chiffren, ja Schemen. Gewiss zeigt Py das Geschehen von «Macbeth» nicht als eine reale Wirklichkeit, sondern vielmehr als eine Wirklichkeit des Unterbewusstseins – die Omnipräsenz des Waldes, als szenische Metapher auch aus anderen Inszenierungen dieses Regisseurs bekannt, mag dafür stehen. Aber welcher Art die Keimzelle des Dramas ist, nämllich die Beziehung zwischen Macbeth und seiner Gattin, dass sich hier die krankhafte Skrupellosigkeit einer Frau der ebenso krankhaften Abhängigkeit, ja Hörigkeit eines schwachen Mannes bedient, das wird nicht wirklich fassbar.

Auch musikalisch nicht. Katia Pellegrino (Lady Macbeth) verfügt über eine tadellos ausgebaute Tiefe und eine strahlkräftige Höhe, der Übergang zwischen Brust- und Kopfstimme ermangelt jedoch der Kontrolle. Ebenso fehlt es an Piano-Kultur – wohingegen das Forte mächtig beeindruckt, aber doch arg der Konvention des italienischen Starkgesangs verpflichtet bleibt. Das Bedrohliche, das schauerlich untergründige Streben kommt daher ebenso wenig zum Ausdruck wie der Zusammenbruch in der Schlafwandlerszene – und schon gar nicht zu hören ist, dass Verdi bei dieser Figur an eine ganz und gar unübliche vokale Ästhetik gedacht hat: an eine Ästhetik des Hässlichen. Vladislav Sluminksy (Macbeth) kommt seiner Partie näher. Er bringt ein obertonreiches Timbre ein, beherrscht die italienische Technik ausgezeichnet und profitiert von vorbildlicher Diktion, doch so weit im Ausloten der Extreme, wie es Markus Brück in Zürich tut, geht der Bariton aus Weissrussland nicht. In den kleineren Partien glänzt neben Valentina Marghinotti (Kammerfrau der Lady Macbeth) vor allem Callum Thorpe als Banquo; der britische Bass, der Ende letzten Jahres als Sarastro in Mozarts «Zauberflöte» auffiel, bringt auch hier äusserst gepflegte, klangvolle Sonorität und souveräne Ausgestaltung ein.

Allein, was Verdis Partitur an Spannung enthält, wird in Basel weitaus weniger deutlich als in Zürich. Das liegt auch am Dirigenten. Ohne Zweifel braucht es eine gewisse Offenheit, den exzentrischen Zugang des Dirigenten Teodor Currentzis zu goutieren, doch unter dem Strich fördert er entschieden mehr zutage, als es der konventionelle Verdi-Ton tut. Den verfolgt Erik Nielsen in Basel – klanglich eher schwer als zugespitzt, dafür rhythmisch präzis und energiegeladen. Und das Sinfonieorchester Basel lässt unter der feurigen Anleitung durch den designierten Musikdirektor am Theater Basel hören, dass es sich in sehr respektabler Verfassung befindet.

«Die Zauberflöte» in Basel

 

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Ballett der Türme in der Basler «Zauberflöte» – Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Peter Hagmann

Mit Mozart im Labyrinth

Eine neue Produktion der «Zauberflöte» im Theater Basel

 

Gut anderthalb Jahrzehnte ist es her, dass das Theater Basel zur Weihnachtszeit «Hänsel und Gretel» von Engelbert Humperdinck aufs Programm nahm – dies allerdings in einer Inszenierung von Nigel Lowery, die mit ihren frechen Akzentsetzungen für den festtäglichen Opernbesuch mit Kindern und Grosseltern nicht eben geeignet war. Ähnlich lässt sich von der neuen «Zauberflöte» denken, mit der das seit dieser Spielzeit von Andreas Beck geleitete Haus am Rheinknie jetzt aufwartet. In gewisser Weise, nämlich szenisch, ist es eine «Meta-Zauberflöte», die hier geboten wird. Wer die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts kennt und mit dem Labyrinth der Operngeschichte einigermassen vertraut ist, kann sich vielfach anregen lassen – auch zum Widerstand. Wer aber ganz einfach «Die Zauberflöte» kennenlernen möchte, wird sich vielleicht bald allein gelassen sehen.

Entdeckungen im Graben

Nicht im Musikalischen. Dort herrscht eine ganz eigene Nähe zur Partitur in Verbindung mit einem auf der Höhe der Zeit stehenden Blick auf den Notentext – das lässt die Musik Mozarts enorm gegenwärtig werden. Nicht dass das Sinfonieorchester Basel nun zu einem Originalklangensemble geworden wäre, aber die kleine Streicherbesetzung, der Verzicht auf das durchgehende Vibrato und der damit verbundene Zuwachs an Klangfarben sowie die hörbar differenzierte Artikulation lassen den Basler Klangkörper in einem überraschenden Licht erscheinen – einmal mehr erweist sich, dass die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis Allgemeingut geworden sind. Und welchen Zugewinn sie zutage fördern können, zeigt der Dirigent des Abends. Der 35-jährige Heidelberger Christoph Altstaedt, der sich unter anderem von Kurt Masur und bei der Lucerne Festival Academy von Pierre Boulez ins Metier einführen liess, animiert das Orchester zu einer derart packenden Auslegung, dass sich die Ohren im Saal spitzen und sich die Aufmerksamkeit auf den oft bloss beiläufig aufgenommenen Ton aus dem Graben zuwendet.

Von dort kommen auch wesentliche Impulse für die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, zum Beispiel in Sachen Tempo. Christoph Altstaedt ist da von einer bemerkenswerten Konsequenz. So wie er in der Ouvertüre das Langsame und das Schnelle in klarer, rationaler Beziehung zueinander hält, so scheint er die Zeitmasse insgesamt wie aus einem einzigen Kern heraus zu entwickeln. Jedenfalls hat es den Anschein, als ergebe sich in den musikalischen Verläufen das eine ganz organisch aus dem anderen – und das in einer Natürlichkeit der Diktion, die niemanden auf der Bühne bedrängt oder gar einzwängt: in der spritzigen Vitalität von Arnold Östman, aber ohne dessen Tempoexzesse, und in der sprechenden Expressivität von Nikolaus Harnoncourt, jedoch fern von dessen Zerdehnungen. So kann sich das grosse Ensemble, das Mozart hier verlangt, voll entfalten – und es ist so zusammengestellt, dass das zur Geltung kommt. Wenn man bedenkt, dass das Theater Basel ein Dreispartenhaus ist und zudem eines, das mit halb so viel Geld auskommen muss wie das Opernhaus Zürich, kann man dem Ergebnis des Abends (und dem Knowhow der Basler Operndirektorin Laura Berman) nur Respekt zollen.

Aufklärungsmechanik

Das alles gilt umso mehr, als den Darstellern auf der Bühne einiges an Flexibilität und Mobilität abverlangt wird. Bei der Bühnenbildnerin Mirella Weingarten (für die Kostüme zeichnet Susanne Scheerer verantwortlich) spielt «Die Zauberflöte» in einem leeren Raum, in dem sich eine Reihe spektakulär hoher, fahrbarer Holztürme tummelt. Bewegt werden sie von Mannen mit schweren Schuhen, filzigen braunen Hosen und nacktem Oberkörper – die Bühnentechniker sind hier nicht versteckt, sie bilden vielmehr sichtbarer Teil des Geschehens. Die damit erzielte Transparenz lässt sich ebenso als szenische Metapher für das Zeitalter der Aufklärung lesen wie die Türme, die von menschlichem Konstruktionswillen zeugen und mit raffinierter Mechanik versehen sind: mit riesigen Antriebsrädern, sanft fahrenden Liften und Treppenkonstruktionen à la Escher. Alles, was an «Die Zauberflöte» erinnert, ist da getilgt zugunsten einer abstrakten Bühnenwirkung – verständlich angesichts der Rezeptionsgeschichte des viel gespielten Werks. Die Schlange sind Seile, die sich aus dem Schnürboden heruntersenken, oder die miteinander verknoteten Zöpfe der drei Damen (Bryony Dwyer, Dara Savinova, Sofia Pavone), die Flöte erscheint, eine nicht ganz neue Idee, als ebenfalls an einem Seil herniederbaumelnder Neonstab, das Glockenspiel als ein blinkender Würfel. Während Monostatos weder als dunkelhäutiger Sänger noch als schwarz bemaltes Bleichgesicht auftritt, sondern als Untermensch, der auf seinem ebenfalls nackten Oberkörper ein schwarzes Skelett herzeigt – was Karl-Heinz Brandt nicht daran hindert, seine tenoralen Fähigkeiten auszubreiten.

Zur Sache selbst – zur Frage nämlich, was «Die Zauberflöte» genau meine – ist damit noch nicht viel gesagt, wie überhaupt mit dem Stück selbst wenig angefangen wird. Warum der edle Freimaurer Sarastro mit Monostatos so grausam umgeht, wird anders als in der Zürcher «Zauberflöte» von Tatjana Gürbaca nicht thematisiert – wichtiger sind der Regisseurin Julia Hölscher die Brechung der Erwartungshaltungen und das muntere, durchaus auch witzige Assoziieren. Darum trägt Sarastro – den Callum Thorpe mit einem grossartig strahlkräftigen, aber nicht von Schwere belasteten Bass gibt – einen edlen Frack, den aber mit so weit offenem Hemdkragen, dass man an Don Giovanni oder Ärgeres denkt. Einer der Holztürme ist zuoberst mit einem Propeller versehen, wie er als Mechanismus für die Rheintöchter auf Zeichnungen zu sehen ist, die für die erste Bayreuther Gesamtaufführung von Wagners «Ring» entstanden sind. Und die vornehme, zugleich aber arg degenerierte Gesellschaft um Sarastro umfasst auch sechs Nönneriche, die von ferne an Fellini erinnern (der von Henryk Polus betreute Chor zeigt sich diesmal in ausgezeichneter Verfassung).

Schritt ins neue Leben

Da darf durchaus nach Sinn und Zweck des einen oder anderen Einfalls gefragt werden. Zugleich aber gerät die Frage rasch wieder in den Hintergrund, da auf der Bühne selbst so viel fröhliches Leben herrscht. Julia Hölscher ist eben keine Opernspezialistin, sie arbeitet im Theater Basel als Hausregisseurin für das Musik- wie für das Sprechtheater – das gereicht der Inszenierung zum Vorteil. Liebevoll sind die einzelnen Figuren ausgeformt, zum Beispiel der sonst gern so blässliche Sprecher, dem Andrew Murphy mit vielsagendem Mienenspiel (und samtener Stimme) zu Profil verhilft. Szenisch konventioneller bleiben die musikalischen tragenden Partien. Sebastian Kohlhepp (Tamino) steigt bei der heiklen Bildnisarie ohne Mühe in die Höhe und vermeidet jeden kitschigen Schleifer, Anna Gillingham (Pamina) kommt mit ihrem Vibrato noch nicht wirklich zurecht, bringt aber ein attraktives Timbre ins Spiel – und dennoch bleiben beide merklich brav. Naturbübisch, wie es naheliegt, der Papageno von Thomas Tatzl, temperamentvoll die Papagena von Valentina Marghinotti. Während die von einer mächtigen Treppe aus dem Bühnenhintergrund herabsteigende Königin der Nacht bei Mari Moriya ausgezeichnet aufgehoben ist: Kantabilität und Agilität finden bei dieser Sängerin zu optimalem Ausgleich.

An einem einzigen Moment erlaubt sich die Produktion einen deutenden Ansatz. Die Prüfungsszene, die an diesem Abend eigenartig rasch vergeht, erscheint nicht wirklich als Ritual der Aufnahme in die Gesellschaft der wahren Menschen, sondern vielmehr als Abschied von einer alten Welt der Eltern und als Eintritt eines jungen Paars in ein neues, nämlich sein eigenes Leben. Etwas mehr davon hätte dem Abend nicht geschadet.

Neustart im Basler Musiktheater

 

Marfa ( Jordanka Milkova) und Andrei Chowansi (Rolf Romei) in der Basler «Chowanschtschina» / Bild Theater Basel, Simon Hallström

 

Peter Hagmann

Sing mir das Lied von Gewalt und Tod

Mussorgskys «Chowanschtschina» zur Saisoneröffnung in Basel

 

Was für ein Paukenschlag. Mit nichts Geringerem als Modest Mussorgskys «Chowanschtschina» als erster Opernpremiere hat Andreas Beck seine Intendanz in Basel eröffnet. Der Nachfolger Georges Delnons unterstrich damit, dass das Theater Basel auch in anhaltend schwieriger Finanzlage seinen Ruf als das bedeutendste Dreispartenhaus der Schweiz zu bewahren, ja zu mehren sucht. «Chowanschtschina» stellt in jeder Hinsicht besondere Anforderungen, und das hüben wie drüben: bei den Ausführenden wie im Publikum. Die schwierige Quellenlage des unvollendet zurückgelassenen Werks und seine schwer zu durchdringende Dramaturgie, die grosse Besetzung, die zudem nach Sängern russischer Tradition ruft, die Anforderungen an Chor und Orchester, nicht zuletzt die beträchtliche Spieldauer – wenn ein Haus das alles in Anstand bewältigt, darf man von Glück reden. Basel hat dieses Glück.

Machtpoker

Was heisst hier «Glück»? Die Szenerie, die der in Minsk geborene Bühnenbildner Zinovy Margolin und die aus dem damaligen Leningrad stammende Kostümbildnerin Olga Shaishmelashvili für die Basler Bühne erdacht haben, spricht von der schwer erträglichen Grausamkeit der Unterdrücker wie dem hoffnungslosen Ausgeliefertsein der Unterdrückten. Und das in aller Deutlichkeit. Wenn sich der Vorhang hebt, wird ein Bahnhof sichtbar, wie er irgendwo, am ehesten aber in den Weiten des sowjetischen Reichs stehen könnte. Auf einem der beiden Geleise zwischen den Perrons ein Güterwagen, in den von Uniformierten eine Leiche nach der anderen hineingeworfen wird – nicht ohne dass dabei noch die eine oder andere Wertsache eingesteckt wird. Die Strelitzen sind es, die gehätschelten Garden des Zaren, die da am Werk sind. Verängstigt beobachtet die in ihrer Verlorenheit stumpf gewordene Bevölkerung das herrisch willkürliche Gehabe der Oberen und erfährt dabei, wie rasch aus einem Oberen ein Unterer werden kann. In solcher Situation Rückgrat zu beweisen und sich selbst treu zu bleiben, kann ganz schön gefährlich werden.

Scharf fährt das unter die Haut. Denn mit untrüglichem Theatersinn arbeitet der 1983 in Moskau auf die Welt gekommene, hierzulande noch so gut wie unbekannte Regisseur Vasily Barkhatov die Momente knisternder Spannung heraus, die sich zwischen einzelnen Figuren ergeben. Im Zentrum steht dabei die stolze, in ihrer fanatischen Konsequenz schon fast wieder bewunderungswürdige Marfa, die Jordanka Milkova mit hinreissender Bühnenpräsenz und einem grossartig warmen Alt zur Protagonistin des Abends werden lässt. Dass diese Frau nicht anders kann, als ihrer Umgebung die Stirn zu bieten, wird an jedem ihrer Schritte ersichtlich. Und dass sie ihre Rivalin Emma, das junge Mädchen aus der deutschen Vorstadt (Betsy Horne), kaltblütig mit einem Kissen erstickt, lässt sich als unterstreichende Zutat des Regisseurs hinnehmen.

Den Kontrast zu dieser Frauenfigur bilden Männer, die eben Männer sind. Mit donnerndem Bass zeichnet Vladimir Matorin einen zwischen Herrschsucht und Depression schwankenden Chowanski; dass der Anführer der Strelitzen nicht umgebracht wird, wie es das von Mussorgsky eigenhändig geschriebene Textbuch vorgibt, sondern selber Hand an sich legt, wirkt in dieser Auslegung der Rolle durchaus stimmig. Um die Zentralfigur, die der Oper den Titel gegeben hat, kreisen die Widersacher. Besonders eindringlich im zweiten Akt, wo Chowanski auf den in der Gunst der Zarin stehenden, nach Westen orientierten, zugleich jedoch naiv abergläubischen Intellektuellen Golizyn und den undurchsichtigen Geistlichen Dossifei stösst; sowohl Dmitry Golovnin als auch Dmitry Ulyanov zeigen hier, was russischer Kraftgesang vermag. Während Schaklowity, der Dritte im Bunde der Widersacher Chowanskis, gerade deshalb so gefährlich wirkt, weil Pavel Yankovsky bedrohlich leise singt (und das hoffentlich auch tut, wenn die an der Premiere verkündete Indisposition verklungen ist).

Choroper

Ebenso sehr wie spannendes Drama ist «Chowanschtschina» aber eine Choroper – was in der Basler Produktion als Chance wie als Gefahr erscheint. So genau Vasily Barkhatov die Schlüsselszenen dieses in einem poststalinistischen (oder heutigen?) Russland angesiedelten Geschehens zeichnet, so virtuos hält er den Chor in Bewegung. Gerade nicht choreographisch, sondern ganz natürlich wogen hier die Massen. Dass einem dabei dennoch die Zeit etwas lang wird, hängt damit zusammen, dass der von Henryk Polus vorbereitete Chor trotz markanter Aufstockung nicht die Klangkraft erreicht, die hier vonnöten wäre. Die Frauenstimmen sind durch ihr Vibrato beeinträchtigt und vermögen den an sich glanzvollen Männerstimmen nicht wirklich die Stange zu halten. Untadelig dagegen das Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung des ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits die Instrumentierung von Dmitri Schostakowitsch zu kerniger Differenzierung bringt und im nachkomponierten Finale von Igor Strawinsky Grösse wie Zerbrechlichkeit zeigt.

Manches war schon möglich am Basler Haus, wenn man etwa an die Produktion von Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» aus dem Jahre 1998 denkt. Mit dieser «Chowanschtschina» ist nun aber doch ein bedeutender Schritt getan. Dass der neue Basler Intendant Andreas Beck fürs Ende seiner ersten Spielzeit «Donnnerstag aus Licht» von Karlheinz Stockhausen ankündigt, erstaunt da nicht weiter.