Wort oder Ton, Ton oder Wort?

Zweimal «Capriccio» von Richard Strauss

 

Von Peter Hagmann

 

Malin Byström als Gräfin (Bild Javier del Real, Teatro Real Madrid)

Beide Häuser hatten das Stück im Angebot, beide konnten es der Pandemie wegen nicht über die Rampe bringen. «Capriccio», die letzte Oper von Richard Strauss, hätte in diesen Wochen und Tagen sowohl in der Semperoper Dresden als auch im Opernhaus Zürich herauskommen sollen. Statt der Premieren wurde in beiden Fällen zum Hilfsmittel der Videoaufzeichnung und der Präsentation im Internet gegriffen. Wobei in Zürich noch einen Schritt weiter gegangen wurde. Geplant gewesen war hier, im Rahmen einer Zusammenarbeit, die Übernahme jener Inszenierung, die Christof Loy 2019 für das Teatro Real in Madrid konzipiert hat. Auf die Aufbereitung dieser Arbeit mit eigener Besetzung und neu erstellten Dekorationen wurde verzichtet; stattdessen stand übers Pfingstwochenende die Originalproduktion aus Madrid im kostenfreien Streaming-Angebot des Opernhauses. In Dresden dagegen war gearbeitet worden; was im Netz geboten wurde, war eine neu erstellte Inszenierung von Jens-Daniel Herzog.

Zweimal dasselbe also, dieses Gleiche aber je ganz anders – auch wenn in beiden Aufführungen die Partie des Haushofmeisters von dem äusserst diskreten und darum äusserst zuverlässigen Torben Jürgens verkörpert wurde. Besonders ins Gewicht fallen die Differenzen im Musikalischen. In Dresden nimmt Christian Thielemann die in dichter Polyphonie gehaltene, im klanglichen Ergebnis licht und transparent gedachte Partitur hochgradig beim Wort. Er sorgt, soweit sich das im Streaming beurteilen lässt, für optimale Durchhörbarkeit, für bewegtes Leben im Einzelnen, ohne das grosse Ganze aus dem Blick zu verlieren. Ein ruhiger Fluss herrscht da, ein instrumentales Parlando sozusagen, auch wenn die herrlich klingende Staatskapelle Dresden, wo es gefordert ist, vollen Ton gibt. Vor allen Dingen aber bleibt Thielemann jederzeit im Schlag, woran sich auch die Sängerinnen und Sänger halten. So ist in dieser Produktion denn zu wahrzunehmen, mit welchem rhythmischen Raffinement Strauss den Text seines Kollegen Clemens Krauss in musikalische Verläufe umgeformt hat. Allerdings tritt dabei auch eine gewisse Künstlichkeit zutage; bisweilen kann man beinah an «Enoch Arden» denken, Strauss‘ Melodram für Sprechstimme und Klavier.

Dem entspricht die szenische Anmutung. Dass der Salon, in dem «Capriccio» spielt, vom Bühnenbildner Mathis Neidhardt in geldadliger Einrichtung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint, dass Daniel Behle als der (untadelig singende) Komponist Flamand in Uniform vom Schlachtfeld zurückkehrt, das verweist auf die Entstehungszeit des Stücks, einer mitten im Zweiten Weltkrieg niedergeschriebenen Reflexion zur Frage, welcher Parameter in der Oper der dominante sei, Wort oder Ton oder allenfalls gar die Szene. Die zeitgeschichtlichen Andeutungen bleiben jedoch Zutat, da sie in der systemimmanenten Anlage des Stücks nicht genutzt werden können. So bleibt «Capriccio» in Dresden eine gewöhnliche Oper, eine leicht heroische zudem. Mit ihrem festgefügten Ton und ihrem kräftigen Vibrato erscheint Camilla Nylund als eine Gräfin hergebrachten Stils; warum sie mit Flamand und dem hier etwas unterbelichtet wirkenden Dichter Olivier (Nikolay Borchev) von zwei jungen Männern sehr eindeutig umgarnt wird, muss man sich selber ausdenken. Und Christa Mayer mit ihrem tiefen Alt gibt eine wohlbestallte, über den Dingen stehende Schauspielerin Clairon. Den Höhepunkt in dieser routinierten, von der Figurenzeichnung her wenig profilierten Inszenierung bildet der grosse Monolog des Theaterdirektors La Roche, den Georg Zeppenfeld stimmlich blendend und darstellerisch grandios auf den fulminanten Schlusspunkt hinsteuert. Das ist gutes altes Operntheater, wenn auch vom Feinsten.

Ganz anders geht der Dirigent Asher Fish in Madrid vor. Mit dem nicht sonderlich sensibel aufspielenden Orchester des Teatro Real erzeugt er ein eher am Duktus der Alltagssprache orientiertes, sich einigermassen frei entfaltendes Klangbild. Die Sängerinnen und Sänger sind an längerer Leine geführt als bei Thielemann, das szenische Geschehen wirkt weniger artifiziell als in der Dresdener Produktion. Das hat durchaus seine Logik, denn Christof Loy zeigt «Capriccio» als ein im Hier und Jetzt angesiedeltes, raffiniert ineinander verschachteltes Spiel im Spiel mit jenen Menschen aus Fleisch und Blut, die der Theaterdirektor La Roche für seine Kunst fordert. Gewiss lässt es der Kostümbildner Klaus Bruns nicht an Rüschen und Reifröcken fehlen, geprobt wird ja eine Scharade zum Geburtstag der jungen, schönen, verwitweten Gräfin – und natürlich überschneiden sich dabei die Zeiten und die Wirklichkeiten. Der Regisseur nimmt damit eine ähnlich eindeutige Haltung ein wie der Komponist, der mit «Capriccio» mitten im Bombenterror ein weltabgewandtes, einer rein ästhetischen Frage gewidmetes Werk geschaffen hat – einen zart gewirkten, ironischen, nostalgisch zurückblickenden Einspruch gegen die unerträgliche Realität der Zeit.

Gerade feinfühlig geht die Produktion mit dem ziselierten Vorlage freilich nicht um. Gesungen wird auch hier mit viel Druck – vielleicht mit mehr, als nötig gewesen wäre. Und gespielt wird hart an der Grenze zum Chargieren. Mimik und Gestik wirken jedenfalls stark überzeichnet. Für den Effekt auf einer grossen Bühne wie jener im Teatro Real mag das als Notwendigkeit gefordert sein, in der Videoaufzeichnung, in der die Gesichter dem Zuschauer immer wieder von ganz nah gezeigt werden, wirkt es aufdringlich, ja auf die Länge öd. Allerdings, «Capriccio» als ein Blick in die turbulenten Prozesse rund um die Entstehung einer szenischen Produktion, in die Theaterwerkstatt mit ihren heftig ausgelebten Eigeninteressen und ihren herben Konfrontationen – das hat seinen erfrischen Reiz, zumal wenn das beteiligte Team so beweglich agiert, wie es hier geschieht.

Dass in «Capriccio» gepflegte Konversation über im Grunde dramaturgische Fragen geführt wird, gerät  bei diesem wirbelnden Spiel in dem schon ziemlich leeren, nur mit einigen barockisierenden Stücken möblierten Salon des Bühnenbildners Raimund Orfeo Voigt in den Hintergrund. Wichtiger ist das erotische Fluidum zwischen der knackigen Gräfin von Malin Byström mit ihrer hellen, leichten Stimme, dem in jeder Hinsicht attraktiven Textdichter Olivier (Andrè Schuen) und dem draufgängerischen Komponisten Flamand (Norman Reinhardt). Stimmig auch die Besetzung der Clairon mit Theresa Kronthaler, deren hoher Mezzosopran den jugendlichen Charakter der von vielen Seiten umworbenen Schauspielerin ausgezeichnet trifft. Als der stimmgewaltige Theaterdirektor La Roche rauft sich Christof Fischesser virtuos die Haare; sein Monolog kommt aber nicht sonderlich zur Geltung, da ihm die Umstehenden nicht ergeben zuhören, sondern immer wieder erregt auf ihn eindringen. Etwas Unterstützung durch die Dramaturgie wäre da möglicherweise sinnvoll gewesen.

«Capriccio» in Dresden (Bild Ludwig Olah, Semperoper Dresden)