Hier galt’s der Kunst

Notizen zu den Salzburger Festspielen 2022

Von Peter Hagmann

 

Im Schatten der Debatten

Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.

 

Endspiele

Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.

Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.

Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.

Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.

 

Sängerinnenkult

Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.

In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.

Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.

 

Zwangsjacke aus grauem Tuch

Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.

Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.

Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.

 

Mozart, ganz in der Jetztzeit

Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.

Das Don-Giovanni-Prinzip

Mozarts Oper als hinreissendes Gesamtkunstwerk bei den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Friedhofs-Szene im Salzburger «Don Giovanni». Links am Rand Davide Luciano als Don Giovanni (Bild Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele)

Los geht es, bevor es losgeht. Vor dem schwarzen d-Moll der Ouvertüre wird ein frisch renovierter, hochweiss gehaltener Kirchenraum seiner Attribute entledigt und zur neutralen Spielweise gemacht, so will es Romeo Castellucci, der «Don Giovanni» für die Salzburger Festspiele dieses Sommers auf die weite Bühne des Grossen Festspielhauses gebracht hat. Bei dem italienischen Theaterkünstler, einem phantasievoll assoziierenden Denker, der die Bühne als Ganzes in der Hand hat – bei Castellucci ist der Titelheld nicht ein Mann mit besonderem Fluidum, nicht einmal ein Mensch, er verkörpert vielmehr ein Prinzip. Begehren heisst es. Wirken kann es nur, solange es unerfüllt bleibt. Wenn es aber zur Wirkung kommt, kann es, wie «Don Giovanni» in der Lesart Castelluccis zeigt, durchaus an die Fundamente gehen. Kann ein heiliger Raum seine Funktion verlieren, kann eine Gesellschaft, wie es das erste Finale mit seinem musikalischen Durcheinander erleben lässt, in totalem Chaos versinken, kann selbst die Zeit versteinern. So führt es das Ende der Oper vor, wo sich Don Giovanni die Kleider vom Leibe reisst, sich splitternackt in weisser Farbe wälzt und zu einem jener Gipsabgüsse wird, wie sie aus den Hohlräumen gewonnen wurden, welche die Opfer des Vulkanausbruchs von Pompeji kurz nach der christlichen Zeitenwende hinterlassen haben.

Seine Wurzel hat das Begehren im Narzissmus. Der Salzburger «Don Giovanni» von 2021 zeigt denn auch wenig Aktion und schon gar keine Interaktion. Die Figuren stehen als Chiffren da, die das Zentralgestirn Don Giovanni umkreisen. Ein makellos funktionierendes Räderwerk wird da sichtbar gemacht – in einem klinischen Weiss, das durch subtile, in ihrer Weise sprechende Farbakzente gegliedert wird. Und das durch die ruhige, kongenial auf die Grösse der Bühne reagierende Choreographie von Cindy Van Acker belebt wird. Tatsächlich erhält der szenische Raum seine Modellierung durch einen Bewegungschor, durch Tänzerinnen, vor allem aber durch eine gute Hundertschaft an Frauen aus Salzburg, die vielleicht, möglicherweise, alle ihrem Don Giovanni begegnet sind. Darüber hinaus fehlt es nicht an szenischen Metaphern, die auch gezielt mit Effekt eingesetzt werden. Bevor Leporello – Vito Priante tut das ebenso vornehm wie gekonnt – davon singt, wie genug er von seiner Funktion als Schildwache bei den Abenteuern seines Arbeitgebers hat, fällt eine luxuriöse Limousine mit Getöse aus dem Schnürboden auf die Bühne. Später folgen ihr der zerbeulte Rollstuhl des Commendatore (Mika Kares gibt ihn mit enorm klangvollem Bass) und ein veritabler Flügel, auf dessen Bruchstücken sich Don Giovanni bisweilen selbst begleitet.

Bildertheater ist das. Ganz von ferne erinnert es an die szenische Handschrift Robert Wilsons, aber auch ihr Gegenteil, an die rein illustrierende Bühnentradition italienischer Provenienz. In seiner Abstraktheit, in die scharf konturierte szenische Zeichen einfahren, schafft das Gesamtkunstwerk Romeo Castelluccis Raum für das Mitdenken des Zuschauers, der Zuschauerin. Zugleich aber auch jenes freie Feld, auf dem sich die musikalische Ebene zu entfalten vermag. Sie tut das in einer Intensität und einer Schönheit ganz eigener Art – denn am Pult von musicAeterna und einem durchwegs erstklassig besetzten Ensemble steht Teodor Currentzis, der hier in Salzburg auf den Punkt bringt, was er 2016 mit einer CD-Aufnahme von «Don Giovanni» angelegt und was er 2019 beim Lucerne Festival in der unvergesslichen halbszenischen Aufführung weiterentwickelt hat. Dass der Dirigent in der dritten von insgesamt sechs Vorstellungen am Schluss einige Buhrufe einstecken musste, lässt erahnen, dass die neuen Wege, welche die Mozart-Interpretation in jüngerer Zeit eingeschlagen hat, beim Salzburger Publikum noch nicht angekommen sind. Das ist verständlich, denn wenn es bei Currentzis mit etwas gründlich vorbei ist, dann ist es der apollinisch gelöste Mozart-Ton Karl Böhms.

Currentzis geht kompromisslos zur Sache. Das Orchester ist klein besetzt, klingt jedoch in keinem Moment zu leise oder gar entfernt. Für die unerhörte Präsenz des Musikalischen sorgt der enorm animierende Zugriff des Dirigenten, der seinen Mitstreitern im Graben wie auf der Bühne ein Höchstmass an Expressivität entlockt. Und zwar im Leisen wie im Lauten, im Impulsiven wie im Zärtlichen. Überdies geschieht das ganz selbstverständlich auf der Basis der Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis, die weitherum längst approbiert sind, im grossen Business aber nur zögerlich angenommen werden. So wird hier mit reicher Imagination und durchwegs dem Sprachverlauf entlang phrasiert. Wird nicht auf das Legato als oberstes Prinzip gesetzt, sondern vielgestaltig zwischen Gebundenem und Gestossenem unterschieden. Und wird das Vibrato – nicht von allen Sängerinnen und Sängern, aber von vielen – bewusst als Verzierung verstanden, nicht als Grundlage des sogenannt schönen Tons. Vor allem wird, wenigstens scheint es so, nach Massen extemporiert, werden die wiederholten Teile in den Da-capo-Arien virtuos verziert und die Kadenzen lustvoll ausgekostet. Hervorstechend, wie schon in Luzern, das von der grandiosen Maria Shabashova am Hammerklavier angeführte Continuo, das auch für so manche Überraschung gut ist. Nicht zu vergessen die frischen, wohlgeformt aufeinander bezogenen Tempi und die knackigen Rhythmen. So beginnt die herrliche Musik Mozarts zu sprechen, nimmt sie in ihrer klanglichen Verlebendigung neue Horizonte in den Blick und vermag sie in ungewöhnlicher Intensität zu berühren. Wer Ohren hat zu hören, verlässt den Abend tief bewegt.

Die Friedhofs-Szene gegen Ende des zweiten Akts zum Beispiel. Da verzichtet Romeo Castellucci, wie er es an mancher Stelle des Werks tut, auf das Hergebrachte, auf die Grabmale und die nickende Statue, er zeigt den Friedhof durch ein Tableau an, in dem die schwarz verhüllten Frauen der Bewegungschöre streng geordnete Rechtecke bilden, und überlässt den Raum der Musik. In diesem Augenblick steuern erst das Continuo und später die Stimmführer des Orchesters einen Ausschnitt aus dem Dissonanzen-Quartett Mozarts bei – und schon ist die Atmosphäre da, kann das Finale eingeleitet werden. Das macht staunen. In gleichem Masse übrigens, wie die Kunst von Nadezhda Pavlova bewundert werden kann, die in Salzburg wie damals in Luzern die Donna Anna gibt: als eine grosse Heroin, wenn auch ohne aufgesetztes Pathos. Blendend beherrscht sie die Partie, mit perlenden Läufen, mit perfekter Intonation auch im geraden Ton, mit einem sagenhaften Appell ans Publikum bis hin zu einem expressionistisch zugespitzten Schrei in dem Moment, da sie Don Giovanni als Mörder ihres Vaters erkennt. Angeführt vom Dirigenten, der die Verbindung zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen ebenso emphatisch besorgt wie im Luzerner Konzertsaal, steht das Orchester mit seiner geradezu solistischen Transparenz der Sängerin mit vitaler Zugewandtheit zur Seite.

Erstaunlich auch Michael Spyres. Natürlich erscheint sein Don Ottavio auch hier als der Vertreter der alten, ständischen Ordnung, der sich, letztlich handlungsunfähig, in seine Phantasiewelt verzieht, aber das Weichei, als das er in mancher Produktion von «Don Giovanni» auftritt, ist er nicht. Den grossen Tonumfang der Partie bewältigt er mühelos, jedenfalls besser als die Koloraturen; und wie er seinem Timbre auch heldischen Glanz beizumischen vermag, stellt einen echten Gewinn dar. Als Donna Elvira bringt Federica Lombardi Betroffenheit, aber auch etwas viel Vibrato auf die Bühne. Und alles andere als im Abseits der Nebenrollen der selbstbewusste Masetto von David Steffens und die keineswegs soubrettenhafte, schön konturierte Zerlina von Anna Lucia Richter. Davide Luciano schliesslich als Don Giovanni: ein Energiebündel sondergleichen. Glanz und Metall in der Stimme, Virilität und Agilität im körperlichen Ausdruck lassen keine Wünsche offen. Die Champagnerarie gelingt fabelhaft, auch weil das Orchester hochgefahren und durch Blitzlichtgewitter aus dem Club illuminiert wird. Noch eindrücklicher aber die Verführung Zerlinas, die von hingebungsvoller Zartheit lebt. Dass der Zerlina ein bühnennacktes Double assistiert, das die Beine streckt und anzieht, hat seine Logik, singt die junge Bäuerin doch deutlich genug von ihrem Dilemma – Romeo Castellucci lässt es ebenso unzweideutig wie diskret sehen.