Klamauk der Extraklasse und bitter-süsse Traurigkeit

Lehárs «Lustige Witwe» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Nun ja, sie hat keinen besonderen Ruf: die Operette im Allgemeinen und im Speziellen «Die lustige Witwe». Man muss sich nicht eigens auf Theodor W. Adorno berufen, es war schon so, als die Operette Franz Lehárs kurze Zeit nach ihrer sensationellen Uraufführung Ende Dezember 1905 am Theater an der Wien vom Stadttheater Zürich auf den Spielplan genommen wurde. Im dritten Morgenblatt vom Dienstag, den 4. Dezember 1906, brachte die «Neue Zürcher Zeitung» unter der Rubrik «Lokales» einen handfesten Verriss. «Fürchterlich gelangweilt» habe ihn diese Operette, und es gebe bekanntlich «nichts Schlimmeres als eine langweilige Operette» – worauf der Autor E.F. gleich freimütig zugibt, nach dem zweiten Akt das Weite gesucht zu haben. Der Text lasse Geist wie Anstand vermissen, während die Musik fast durchwegs von «gemeiner Trivialität» sei: «Die Dürftigkeit in der Anlage und die Liederlichkeit in der Ausführung der einzelnen Stücke» seien nicht zu überbieten.

Bös gebrüllt, Löwe – aber hat er nicht Recht, ein bisschen wenigstens? Wie in der «Fledermaus» von Johann Strauss (Sohn), wo die Spannung nach dem Auftritt des trunkenen Gefängniswärters Frosch rasch nachlässt, dreht sich «Die lustige Witwe» besonders im dritten Akt merklich (und nicht allzu schnell) im Kreis – das Opernhaus Zürich vermag es nicht zu ändern. Und das musikalische Material, von Lehár aus dem Kern einer aufsteigenden Quart heraus entwickelt, zeigt immer wieder Erschöpfungszustände. Abhilfe schüfe da vielleicht ein entschiedener, wenn nicht zuspitzender interpretatorischer Zugriff, doch das scheint Patrick Hahns Sache nicht zu sein. Der junge Dirigent hält das Geschehen ordentlich zusammen, überlässt die Philharmonia Zürich aber weitgehend sich selber. Er führt zu wenig und schafft dort, wo es möglich und sogar sinnvoll wäre, nicht ausreichend Transparenz. So dominiert neben den feschen Ensemblenummern eine leicht verstaubte Larmoyanz.

Dazu kommt, dass das Paar im Zentrum des Stücks nicht mit glücklicher Hand besetzt ist. Was für ein überragender Hans Sachs in Richard Wagners «Meistersingern», was für ein düsterer Golaud in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy, doch hier, als Danilo, wirkt Michael Volle darstellerisch eigenartig ungelenk und stimmlich oftmals zu massiv, bisweilen gar dröhnend. Das fällt umso mehr auf, als Marlis Petersen, die grandiose Lulu vom Dienst, die überragende Medea in der Wiener Uraufführung von Aribert Reimanns gleichnamiger Oper, die Partie der begüterten, kurz nach der Verehelichung zur Witwe gewordenen Hanna Glawari mit Noblesse angeht, die Lineaturen sorgsam auszeichnet und ohne jeden Druck agiert – eben ganz aus ihrem Inneren heraus. Das passt haargenau zur Spielanlage, die sich der Regisseur Barrie Kosky, ein Operetten-Spezialist erster Güte, für seine Zürcher Inszenierung der «Lustigen Witwe» ausgedacht hat.

In vollkommener Dunkelheit beginnt der Abend. Erhellt sich die Bühne ganz leicht, gleitet, einem Traumbild gleich, auf der Drehbühne ein Flügel heran, an ihm und auf ihm eine nachsinnende Frau mit Marlene Dietrich-Frisur. «Wie von Zauberhand bewegt», so der Werbeslogan von damals, erklingen Erinnerungen an «Die lustige Witwe», hier gespielt von Franz Lehár selbst und wiedergegeben von einem Reproduktionsklavier. Erstaunlich die exorbitanten Freiheiten, die sich der Komponist genommen haben soll, gerade in der Nuancierung der Tempi und in der Ausformung des Dreivierteltakts – der Dirigent hätte sich davon eine Scheibe abschneiden können. Hier aber geht es nicht um die musikalische Anregung, sondern um die treffliche szenische Metapher, welche die eine Ebene von Koskys Auslegung bildet. Es ist die einer tiefen, unauflösbaren Melancholie.

Doch dann bricht unvermittelt das Operettengetriebe aus. Stürmen sie herein, die Herren in ihren Fräcken, die sich um die gar nicht lustige, aber vielversprechend ausstaffierte Witwe balgen – hinreissend, was die Tänzer, später auch die Tänzerinnen, durch den Choreographen Kim Duddy unvorstellbar auf Trab gehalten, an Agilität hergeben. Das ist die andere Ebene, die Kosky zeigt: der Klamauk und das Schaugepränge, zumal in den verspielten, opulenten Kostümen, die Gianluca Falaschi entworfen hat. Zu den Hauptdarstellern gehört hier ein bühnenhoher, vollkommen geräuschlos und ohne jedes Stocken auf einer schneckenförmig gewundenen Schiene laufender Vorhang, der die Bühne teilt und der Situation entsprechende Räume schafft – der Bühnenbildner Klaus Grünberg hatte die Idee, die Technik brachte das Knowhow ein, dem Publikum blieb das Staunen.

Getragen wird der Klamauk von der im Stück angelegten, von Barrie Kosky in der für ihn kennzeichnenden Drastik herausgearbeiteten Spannung zwischen Frauen, die wissen, was sie wollen und was nicht, und Pappkameraden von Männern, die von einem Fettnapf in den anderen geraten. Herübergebracht wird diese Spannung von einem hochmotivierten Ensemble. Zu ihm gehört Martin Winkler, der die Figur des vertrottelten Gesandten Mirko Zeta mit einer grandiosen Begabung für den Slapstick verkörpert. Ihm tanzt seine Frau Valencienne quicklebendig auf der Nase herum, mit ihrem strahlkräftigen Timbre und ihrer Spielfreude führt es Katharina Konradi blendend vor. Eine Nummer für sich ist ihr Geliebter Camille de Rosillon – denn Andrew Owens besticht durch einen glänzenden, obertonreichen Tenor und darüber hinaus durch ein absolut stupendes artistisches Geschick.

Ob das Bild der emanzipierten Frau, welche die Männer in ihrer patriarchalen Selbstgewissheit und ihren Unfähigkeiten hinter sich zurücklässt, tatsächlich den Grund für den sagenhaften kommerziellen Erfolg der «Lustigen Witwe» abgab, mag dahingestellt bleiben. In seiner starken, persönlichen Deutung vertritt Barrie Kosky diese Ansicht. Das ist sein gutes Recht, auch wenn es ihm damit nicht gelingt, aus der «Lustigen Witwe» ein besseres Stück zu machen. Von starker Wirkung ist jedoch die Fokussierung auf das in die Jahre gekommene Paar, das in seine Erinnerungen verstrickt ist und am Ende dennoch zueinander findet. In Zürich mündet das nicht in den furiosen Schlussgesang der Partitur, sondern in ein ganz zartes Geigensolo, das dorthin entschwindet, woher anfangs der Flügel gekommen ist. Auch das noch einmal einer jener Theatereffekte, für die Barrie Kosky geliebt wird.

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Hier galt’s der Kunst

Notizen zu den Salzburger Festspielen 2022

Von Peter Hagmann

 

Im Schatten der Debatten

Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.

 

Endspiele

Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.

Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.

Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.

Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.

 

Sängerinnenkult

Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.

In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.

Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.

 

Zwangsjacke aus grauem Tuch

Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.

Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.

Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.

 

Mozart, ganz in der Jetztzeit

Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.

Das Volk: unsichtbar anwesend – «Boris Godunow» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Gekrönte (Michael Volle als Boris Godunow), der Strippenzieher (John Daszak als Schuiski) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Not macht erfinderisch, ganz besonders im Opernhaus Zürich. Vom Normalzustand sind wir noch denkbar weit entfernt, die Pandemie bestimmt das Leben mit ungebrochener Kraft, aber die Saison sollte unbedingt anfangen. Und spektakulär sollte sie anfangen, als lautes und deutliches Lebenszeichen, nämlich mit einer fürwahr gross besetzten Choroper. So sagte es sich das Team um den Intendanten Andreas Homoki – und deshalb blieb es bei der von langer Hand geplanten Produktion von Modest Mussorgskis «Boris Godunow». Dies in der Urfassung von 1869 und in der originalen Instrumentation des Komponisten, aber mitsamt dem «Polen-Akt» und dem Schlussbild mit dem Gottesnarr, den beiden 1872 nachgereichten Teilen. Davon abgesehen war allerdings manches etwas ungewöhnlich.

Nicht nur die Lücken in den Reihen waren es – sie sind dem Umstand geschuldet, dass derzeit von den gut 1100 Plätzen des Hauses nur deren 900 verkauft werden. Und nicht nur die Masken, die zu tragen obligatorisch und überaus sinnvoll ist. Weitaus merkwürdiger mutete an, dass im Graben kein einziges Lämpchen auszumachen war, wo sich doch das Orchester schon voll im Einsatz befand. Ebenso gähnend die Menschenleere auf der Bühne, doch dort herrschte immerhin eine Versammlung grossformatiger Aktenregale, die von dienstbaren Geistern zu ebenso leichtfüssigem wie schwergewichtigem Tanz geführt wurden. Es gilt eben nicht nur die Maskenpflicht, sondern auch die Abstandsregel, welche die Aufstellung des Orchesters im Graben so unmöglich machte wie das körpernahe Singen des Chors auf der Bühne. Da war guter Rat teuer, zumal eine Kammerversion von «Boris Godunow» – etwa in der Art, wie es das Theater Basel demnächst mit «Saint François d’Assise» von Olivier Messiaen versucht – undenkbar ist.

Für die Lösung des Problems sorgte moderne Technik. Der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor und das von Kirill Karabits geleitete Orchester agieren in ihrem Probenraum am Kreuzplatz, einen Kilometer von der Oper entfernt. Über Glasfaserkabel, zahllose Mikrophone, eine höchsten Ansprüchen genügende Beschallungsanlage und mit feinfühliger Steuerung durch ein Team von Technikern gelangen Ton und Bild vom Probenraum ins Opernhaus und zurück. Das mag man – mit dem Gedanken an Freiluftveranstaltungen, wie sie in Bregenz oder St. Gallen angeboten werden – als zweitklassig empfinden. Tatsächlich ersetzt kein Lautsprecher, sei er noch so hochstehend, die Eins-zu-Eins-Wirkung eines im Raum selbst entstehenden, direkt aufs Ohr treffenden Tons instrumentaler oder vokaler Abstammung. Allein, auch im Wissen darum gelingt es Laufe des Abends immer wieder, die technische Zurichtung zu vergessen und sich ganz und gar auf das musikalisch-szenische Geschehen einzulassen. Vor allem aber: besser ein Abend mit technischer Krücke als keiner.

Ja mehr noch: Die physische Abwesenheit des Chors, des Volks, verdeutlichte die zentrale Botschaft von «Boris Godunow» in aller Schärfe und unterstrich zudem, dass in diesem Stück – anders, als es das ausdrucksstarke Bühnenbild von Rufus Didwiszus mit seinen enormen Bergen von Archivalien suggerieren mag – nicht von einer fernen Vergangenheit die Rede ist, sondern schlechthin von der Jetztzeit. Wie es damals Boris Godunow mit dem legitimen Zarewitsch tat, verfahren heute Putin, Lukaschenko, Erdogan und Konsorten mit Andersdenkenden. Und wenn in der Oper Mussorgskis, das Libretto stammt vom Komponisten selbst, der Satz fällt, an der Wahrheit sei der Pöbel nicht interessiert, sind wir nochmal ganz nah an der Gegenwart. Auf der anderen Seite kommen die Einsamkeit, die Abgehobenheit, die Entfremdung von der Realität, wie sie den Machthaber Boris Godunow zeichnen, im Setting der Zürcher Produktion zu ganz besonderer Greifbarkeit. Dass der Zar am Schluss der Krönungsszene zwar in jenem prachtvollen Ornat, das ihm der Kostümbildner Klaus Bruns entworfen hat, aber ganz allein die Bühne betritt, führt zu einem szenischen Moment, der sich dem Besucher tief eingraben dürfte.

Dieser Zar, er ist denn auch ein durch und durch ungeheuerlicher Kerl – das führt Michael Volle in der Titelpartie eindringlich vor. Er stellt die labile psychische Verfassung Godunows, die Egomanie des Machtmenschen, sein grenzenloses Bedürfnis, geliebt zu werden, sein Leiden an einer verruchten Tat auf dem Weg zur Machtergreifung, schliesslich den Verlust des inneren Halts und das Zerbrechen schonungslos heraus – mit letztem Einsatz in der körperlichen Präsenz auf der Bühne und ohne Zurückhaltung in der Nutzung seiner stimmlichen Ressourcen. Blieb Matti Salminen, dem Godunow zurückliegender Tage, stets noch ein Rest an Vornehmheit, so dominiert bei Volle kunstvoll gestaltete Rohheit. Unterstützt wird er dabei vom Dirigenten Kirill Karabits, der mit der engagiert zupackenden Philharmonia Zürich die Ecken und Kanten in Mussorgskys herber Partitur zu schneidender Wirkung bringt.

Fällt ein scharfer Lichtstrahl auf den Protagonisten, so gibt die hochtheatralisch zugespitzte Inszenierung von Barrie Kosky zu erkennen, dass kein Diktator allein ist. Auch Boris Godunow sieht sich in einem Spinnennetz von Kräften gefangen, die seinen Ambitionen entgegenwirken. Da ist der Klosterbruder Pimen, ein selbstloser Chronist, der zu Beginn der Oper die fragile Basis von Godunows Machtergreifung offenlegt und zum Schluss durch die Macht des angeblich Faktischen den Gewaltmenschen in Wahnsinn und Tod treibt – Brindley Sherratt setzt das vorzüglich um. Und da ist der undurchsichtige Fürst Schuiski, dem an nichts mehr gelegen ist als am Stolpern des Zaren, auf dass er sich selbst an dessen Stelle setzen könne – grossartig, wie John Daszak die Durchtriebenheit dieses Intriganten über die Rampe bringt. Es gibt aber auch die Mitläufer, etwa den ungebildeten, jedoch gefährlich mit Macht versehenen Bürokraten Schtschelkalow, den Konstantin Shushakov blendend verkörpert.

Einen markanten Kontrast bildet der in Polen angesiedelte Mittelteil, in dem sich die Bühne öffnet. Hier tritt zutage, wie sich die Gegenkräfte formieren. Edgaras Montvidas als der Prätendent Grigori und Oksana Volkova als die gelangweilte Adlige Marina bilden das Zentrum der Kräfte – aber gesteuert werden sie von dem Jesuiten Rangoni, einem virtuosen Wortkünstler, den Johannes Martin Kränzle mit seiner ihm eigenen Lust zu einem effeminierten Schmarotzer macht. Barrie Kosky arbeitet nun einmal sehr wirkungsvoll an den einzelnen Figuren – genau so effizient, wie er sich ausladende sprechende Räume schaffen lässt. Am Schluss wird die Bühne von einer Riesenglocke beherrscht, dem Zeichen jener Macht, auf der die politischen Intrigen fussen. Hier schlägt denn die Stunde des Gottesnarren (Spencer Lang), der den ganzen Abend als stummer Zeuge verfolgt hat und nun sein trauriges Fazit zieht. Die präzis geschneiderten Anzüge für die Herren an den Schalthebeln unterstreichen, dass dieses Fazit nach wie vor Gültigkeit hat.

Erheiternd bissig, farblos schwergewichtig

Salzburger Festspiele (II): Offenbach-Ehrung, Verdi-Flop

 

Von Peter Hagmann

 

Ungewohnt nimmt sich das Bühnenportal im Salzburger Haus für Mozart aus; mit seiner altsilbernen Einkleidung erinnert es an einen Berliner Operettentempel – und das zu Recht. Denn tatsächlich bringen die Salzburger Festspiele diesen Sommer zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren wieder eine Operette heraus. Mit «Orphée aux enfers» von 1858 erinnern sie an den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach, und zugleich fügen sie mit diesem frechen, schwungvollen Zweiakter, der den Beginn der Operette als Gattung markiert, den drei schwergewichtigen Opern mythologischer Ausrichtung das Gewürz des Satyrspiels bei. Nicht zu wenig wird da beigemischt, denn für die Inszenierung zeichnet Barrie Kosky verantwortlich, der Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, der sich in dem Genre wie kein Zweiter auskennt, der seine inszenatorische Handschrift zu einer Virtuosität sondergleichen entwickelt hat und ausserdem keinerlei Berührungsängste kennt.

 

Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele

«Orphée aux enfers» stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was das ehrwürdige Gut der Mythologie überliefert. Eurydike ist keineswegs von vibrierender Liebe erfüllt, sie hat sich vielmehr längst abgewandt von Orpheus, den sie für einen mittelmässigen Geiger und einen Winkelkomponisten hält; lieber vergnügt sie sich mit dem Hirten Aristäos, der in Wirklichkeit Pluto ist und als solcher über das Totenreich herrscht. Orpheus wiederum hält sich schadlos, indem er der treulosen Gattin eine Schlange ins Bett legt, von der sie während des Schäferstündchens mit dem totengöttlichen Hirten erwartungsgemäss gebissen wird – was auch Pluto passt, kann er doch seine Angebetete sogleich ins Totenreich entführen. Dort menschelt es ebenso gewaltig wie auf dem Olymp, was die mythologischen Erzählungen oft genug andeuten, was in der Operette Offenbachs jedoch erheiternd bissig zugespitzt und auf der Salzburger Bühne mit scharfem Witz vorgeführt wird.

Das Problem dabei waren die Dialoge. Wie es sich für die Salzburger Festspiele gehört, sind mit von der Partie nicht nur die Wiener Philharmoniker, die sich unter der Leitung von Enrique Mazzola in den für sie nicht eben alltäglichen Gefilden mit spritzigem Ansatz bewähren, sondern auch ein hochkarätiges Ensemble an Sängerinnen und Sängern, die sich ihrer unterschiedlichen Herkunft wegen für die Dialoge aber nicht einsetzen liessen. Damit sie ihren Witz entfalten können, so Barrie Kosky, müssen die Dialoge in der Landessprache gehalten sein, während die Couplets in der französischen Originalsprache verbleiben können. Gelöst hat das Problem der Berliner Schauspieler Max Hopp, der, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in den glänzend blauen Frack eines Zirkusdirektors gekleidet, den ganzen Abend lang auf der Bühne das Geschehen begleitet. Wenn gesprochen wird, spricht er und nur er. Alle Partien übernimmt er also, die Darstellerinnen und Darsteller bewegen bloss ihre Lippen. Und dazu produziert der Sprecher, der auch singen darf (und es kann…), noch alle anfallenden Geräusche sowie einige mehr. Hochvirtuos ist das. Und hochamüsant.

Bisweilen wird es etwas zu amüsant. Dann zum Beispiel, wenn die Witze nicht nur dick auftragen, sondern auch wiederholt werden. Offenbach war ein zutiefst unanständiger Kerl, der gerade was die gesellschaftlichen Hierarchien betrifft, vor nichts zurückgeschreckt ist. Seine Waffe ist allerdings die scharfe Klinge der Ironie, nicht der Holzhammer, zu dem Barrie Kosky bisweilen greift. Dennoch herrscht an diesem Abend durchgehend gute Laune. Dank der herrlich verzopften Öffentlichen Meinung von Anne Sofie von Otter, dank Kathryn Lewek (Eurydike) und Joel Prieto (Orpheus), dank Marcel Beekman als Pluto, Martin Winkler als Jupiter und Frances Pappas als Juno. Wenn sich die flexible Bühne von Rudolf Didwiszus weitet und die von dem Choreographen Otto Pichler sehr traditionell, aber mitreissend rasant geführten Tänzerinnen und Tänzer in den berühmten Can-Can einfallen, springen die Zapfen wie von selbst von den Champagnerflaschen.

 

Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Es ist exakt dieses Prickeln, das der fünften und letzten Opernpremiere der Salzburger Festspiele 2019 fehlt. «Simon Boccanegra», vielleicht das beste Stück Giuseppe Verdis, erscheint im Grossen Festspielhaus als pflichtschuldig mitprogrammierte B-Produktion. Am Pult der Wiener Philharmoniker: Valery Gergiev, ein guter Dirigent, aber ein zweifelhafter Interpret, der die herrliche Musik Verdis mit den Wiener Philharmonikern schwerblütig, zähflüssig, rhythmisch unsorgfältig und nicht selten zu laut erklingen lässt. Und als Regisseur am Werk: Andreas Kriegenburg, dessen Arbeit ordentlich gelungen, aber nicht mehr geworden ist – jedenfalls nicht das, wodurch sich Festspiele wie jene in Salzburg vom saisonalen Normalbetrieb abheben möchten. Für das heisse Drama Verdis, das war Kriegenburgs Intention, hat Harald B. Thor ein puristisches Bühnenbild in strengen Formen gebaut, das mit seinen lichten Farben und dem durch eine Art Fensterluken durchscheinenden Meer den Spielort Genua leicht assoziieren lässt. Und auch hier ist das Stück, das zeigen die Kostüme von Tanja Hofmann, klar in der Gegenwart verortet. Nicht zu Unrecht übrigens, man muss nur die Zeitung lesen.

Die Geschichte selbst entfaltet jedoch keineswegs die Spannung, die sie erzeugen könnte. Die Ursache dafür liegt vor allem in der mangelhaften Ausgestaltung der Figuren. Als Gabriele Adorno bringt Charles Castronovo einen leuchtkräftigen, wenn auch mit etwas gar viel Schluchzern versüssten Tenor ein, nur steht er so händeringend am Bühnenrand, wie es Sänger italienischer Tradition nun einmal mögen – dem Regisseur ist dagegen kein Mittel eingefallen. Merkwürdig auch die Körperlosigkeit der Inszenierung; wenn sich Simon Boccanegra (Luca Salsi mit einem eher hell timbrierten Bariton) und Amelia Grimaldi (die fabelhafte Marina Rebekka) als Vater und Tochter erkennen, kommt es szenisch zu nicht mehr als einem Handkuss. Vollkommen rollendeckend dafür René Pape in der Partie des Finsterlings Fiesco; welch bedrohliche Schwärze kann in diesem grossartig fundierten Bass anklingen, wie weit gespannt ist das Potential der stimmlichen Ausdifferenzierung. So enttäuschend die Produktion als Ganzes wirkt – in ihren vokalen Höhepunkten erreicht dieser «Simon Boccanegra» das Niveau, das bei den Salzburger Festspielen seine eigene Tradition hat.

Das Leben – zwischen Traum und Wirklichkeit

«Eugen Onegin» von Peter Tschaikowsky zur Saisoneröffnung am Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Am Ende: Peter Mattei (Onegin) Und Olga Bezsmertna (Tatjana) aif der Zürcher Opernbühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Was für ein unglaublich gutes Stück – das darf an dieser Stelle zuallererst festgehalten werden. Die Geschichte um den schon etwas in die Jahre gekommenen, ortlosen Onegin, einen Vertreter der obersten Gesellschaftsschicht im zaristischen Russland, und die junge, schwärmerisch veranlagte, in die Welt der Bücher versunkene Tatjana, die beide einander je zum falschen Zeitpunkt begehren, könnte spannender nicht ausfallen – dass «Eugen Onegin» in einer Gegenwart des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebt, spielt da absolut keine Rolle. Und die Musik von Peter Tschaikowsky, die in aufgeklärten Kreisen über Jahrzehnte hinweg nur hinter vorgehaltener Hand geschätzt werden durfte, sie zieht die Zuhörerin und erst recht den Zuhörer machtvoll mit sich, aus dem Hic et Nunc des Alltags in ihre ganz eigene Welt, wo sich das eine mit staunenswerter Folgerichtigkeit aus dem anderen ergibt.

Jedenfalls dann, wenn einer den Taktstock führt, der mit den gedruckten Noten etwas anzufangen weiss – und genau da liegt das Problem der Eröffnungspremiere zur Saison 2017/18 am Opernhaus Zürich. Hölzern klingt die Philharmonia, einförmig in der Attacke, grobkörnig im Farbenspiel und unbelebt in den herrlichen Bögen, welche die Partitur spannt. Schon das Duett zwischen Tatjana (Olga Bezsmertna) und ihrer Schwester Olga (Ksenia Dudnikova), das den Abend eröffnet: vollkommen verschenkt. Die beiden Sängerinnen sind durch die Inszenierung unsichtbar in die Tiefe der Bühne verbannt und gehen in den Wogen des Instrumentalen unter – niemand hat hier Einspruch erhoben gegen diese unsinnige, weil unmusikalische szenische Idee, deren fatale Wirkung noch dadurch verstärkt wird, dass im Vordergrund lebhaftestes Gestikulieren die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und wie es nicht selten geschieht, ist auch in dieser Aufführung die tiefere Stimme der Olga gegenüber der höheren der Tatjana dynamisch zurückgebunden, so dass die Terz- und Sextparallelen, die so erregend klingen können, in Schieflage geraten – niemand hat hier zugehört und sich für die notwendige Balance stark gemacht.

Dabei wäre das zum Beispiel die Aufgabe von Stanislav Kochanovsky gewesen. Mit dem jungen, in Sachen «Eugen Onegin» aber keinesfalls unerfahrenen Dirigenten aus der ehrwürdigen Musikstadt St. Petersburg erreicht die Philharmonia bestenfalls mittleres Niveau, und so misslingt leider auch die Briefszene Tatjanas, der Ausgangs- und Mittelpunkt der Oper Tschaikowskys. Fragmentiert erscheint sie, ja zerstückelt, Kochanovsky vermag die Sache nicht zusammenzuhalten. Olga Bezsmertna wiederum, die über eine jugendliche, helle Stimme verfügt, sie möchte sich hingeben an diesen grossen Moment und gestalterisch wirksam werden, das ist sehr wohl zu spüren. Aus dem Orchestergraben erhält sie aber vorab mausgraues Mezzoforte; viel zu wenig ist im Instrumentalen ausgeformt, was der Notentext suggeriert. Und ist es tatsächlich sinnstifend, wenn die Sängerin wichtige Teile der Arie mit dem Rücken zum Publikum und mit dem Kopf im Dunkeln ausserhalb eines Lichtkegels singt? Auch da hätte jemand eine Frage stellen können. Schliesslich: die Walzer. Plump klingen sie, sowohl beim ländlichen Fest der Larins als auch beim vornehmen Ball des Fürsten Gremin. Und das bei einem Komponisten, der wie kein zweiter ausserhalb der Donaumetropole energiegeladene und elegante Walzer zu Papier zu bringen verstand.

Als die Gutsbesitzerin Larina macht Liliana Nikiteanu das Beste aus der Lage, Martin Zysset gibt das Couplet des Franzosen Triquet verdienstvollerweise nicht als Knallnummer, sondern gepflegt, wohingegen Margerita Nekrasova als die Amme Filipjewna doch zu arg chargiert. Immerhin gibt es noch die Herren der Schöpfung, an die kann man sich halten. Christoph Fischesser ist ein stimmlich nobler, in seiner emotionalen Ausstrahlung äusserts berührender Fürst Gremin; dass Tatjana, inzwischen Fürstin, diesem Mann die Treue hält, hat nicht oder wenigstens nicht nur mit der materiellen Sicherheit im Hause Gremin zu tun – Fischesser vermittelt das eindrucksvoll. Pavol Breslik dagegen ist, seinem untadeligen Tenor zum Trotz, der Verlierer vom Dienst. Das liegt an der Partie des Lenski, die man nun einmal von Anbeginn an aus dem Wissen um den weiteren Verlauf heraus wahrnimmt. Man kann sie nicht recht glauben, die stürmische Hinwendung zu der sprunghaften Olga; den Zusammenbruch vor dem Duell mit seinem Freund macht Breslik aber zu einem Glanzpunkt des Abends.

Der Freund, das ist Onegin – und das ist Peter Mattei. Was für eine sagenhafte Entwicklung hat dieser Sänger durchlaufen. Seinem Don Giovanni 1998 in Aix-en-Provence schienen noch die Kanten zu fehlen, der Bariton klang weich und wolkig. Das ist Vergangenheit. Funkelndes Metall bildet inzwischen das Zentrum seines Timbres, eine grandiose Farbenpalette kleidet diesen Kern ein, und dazu kommt eine Diktion, die auf das Raffinierteste mit den Vokalen und Konsonanten arbeitet. Und dann die Vergegenwärtigung auf der Bühne. Unglaublich zunächst, wie blasiert Onegin, der gelangweilte Egozentriker, seiner Umgebung begegnet; von packender Dramatik dann der plötzliche Umschlag im dritten Akt, die Menschwerdung, die so tragisch in die Sackgasse führt. Im Vergleich zum Onegin, den Mattei 2007 mit Andrea Breth bei den Salzburger Festspielen entwickelt hat, wirkt der Auftritt in dieser Zürcher Produktion noch einmal um mehreres perfektioniert – grossartig ist das.

Ohne Zweifel geht der Eindruck, den der Sänger-Darsteller hinterlässt, auch auf die Inszenierung von Barrie Kosky zurück. Anfangs fragt man sich, ob der Überrealismus des dunkelgrünen Gartens, der an die in Luzern gezeigten Gemälde des Schweizer Malers Robert Zünd erinnern, wörtlich zu nehmen sei – die sprechenden Kostüme von Klaus Bruns legen es nahe. Je weiter der Abend voranschreitet, desto deutlicher wird aber der interpretierende Ansatz, der «Eugen Onegin» möglicherweise als eine Projektion Tatjanas, als eine aus der Vertiefung in die Lektüre gewonnene Einbildung der jungen Frau zeigen möchte. Alle Szenen spielen in diesem von hohen Bäumen umgebenen und von krautigem Gras bedeckten Garten, wie ihn die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst entworfen hat – sogar der Ball im Palast des Fürsten Gremin, für den würdige Kulissen aufgebaut und vor dem Finale wieder händisch abgetragen werden (was man nicht ohne zirzensische Spannung verfolgt). Und wie das eröffnende Duett spielt sich das entscheidende Duell zwischen Lenski und Onegin im Off ab – ein Hinweis auf szenisches Strukturdenken, das der Arbeits Tschaikowskys mit Leitmotiven entspricht. An den «Macbeth» vom Frühjahr 2016 kommt die Arbeit nicht heran, das ist auch nicht ganz einfach. Wer mag, kann sich aber auch bei dem aus der Komischen Oper Berlin übernommenen Zürcher «Eugen Onegin» an einer von unzähligen Ideen sprudelnden, witzig verspielten Theaterlust freuen – wie sie bei Barrie Kosky nun mal Sitte ist.

«Macbeth» in Zürich

 

Verfolger und Verfolgter: Macbeth (Markus Brück) auf der Zürcher Bühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn

Verdis «Macbeth» mit Teodor Currentzis und Barrie Kosky am Opernhaus Zürich

 

Zu sehen gibt es da rein gar nichts. Oder, konkreter und korrekter, nur sehr wenig. Dabei befinden wir uns doch im Opernhaus Zürich und in einem Stück musikalischen Theaters. Doch der Regisseur Barrie Kosky wollte «Macbeth», die Oper Giuseppe Verdis, als ein Geschehen zeigen, das sich allein im Innern der beiden Protagonisten abspielt: als eine Geschichte von Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn. Eben genau so, wie er das Stück hört. Kosky, der Nachfolger Andreas Homokis an der Komischen Oper Berlin und ein Theatertier voller unkonventioneller Ideen, empfindet «Macbeth» nicht als ein Schauerstück voll von Mord und Totschlag; die schauerlichen Kämpfe, von denen Shakespeare berichtet, spielen sich für ihn vielmehr als psychische Reflexe ab. Diesen durchaus subjektiv interpretierenden, aber gerade darum hochinteressanten Ansatz bringt er mit hinreissender Konsequenz und einer Radikalität sondergleichen auf die Bühne.

Klangwunder aus dem schwarzen Loch

Auf eine Bühne, die ein schwarzes Loch ist. Klaus Grünberg, der auch die ungewöhnliche, mit überraschen Effekten aufwartende Beleuchtung konzipierte, machte das Spielfeld zu einem ansteigenden, sich im Unendlichen verlierenden Tunnel, der an den beiden Seiten durch kurze, dämmerig glühende Lichtsäulen begrenzt wird. Den Vordergrund beherrscht eine mächtige, hier tief, dort höher hängende Dose, aus der trüber Schein fällt; das Licht erhellt den dramatischen Ort, der allein durch zwei karge Holzstühle markiert ist. Jeder Anschein von Realismus ist da getilgt. Es gibt keinen Aufzug des amtierenden Königs, der kurze Zeit nach seiner Ankunft von Gastgeber erschlagen wird, kein grosses Fest, an dem sich der Mörder blossstellt, kein Schlafzimmer, in dem die furchterregende Strippenzieherin schliesslich doch die Contenance verliert. Allein die Hexen werden eine Spur fassbarer – aber doch nicht wirklich, ist dieser als Schemen erscheinende Bewegungschor doch aus nackten Wesen gebildet, die Mann und Frau zugleich sind. Alles, was das grosse Bild erzeugt, kommt aus dem Dunkel des Hintergrunds und der Bühnenseiten, und das rein akustisch, dafür effektvoll in den Raum rund ums Publikum gesetzt.

So erscheint «Macbeth» hier als ein veritables dramma in musica – und das heisst, dass das Instrumentale, durchaus der Partitur gemäss, nicht begleitende, untermalende Funktion erfüllt, sondern zu einem zentralen Parameter wird. Ebenso sehr, wie es die Darsteller auf der Bühne tun, ist es das Orchester, das die Geschichte erzählt – die Philharmonia Zürich tut das brillant: mit aufgerauhten Klängen, beissend scharf bisweilen, aber auch flüsterleise. Kein Wunder, am Pult steht nämlich Teodor Currentzis, der Grieche aus Russland oder der Russe griechischer Herkunft, der seiner aufschiessenden musikalischen Phantasie freien Lauf lässt. Wüst stellte sich Verdi seine Oper vor, und er bezog das in erster Linie auf die vokale Darstellung. Currentzis, mit seinem Ensemble Musica Aeterna als ein wilder, ja frecher Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis bekannt geworden, nimmt sich das für seine Aufgaben nicht weniger radikal zu Herzen, als es der Regisseur auf seinem Feld tut.

Er geht Verdis Musik aus dem Geist ihrer Entstehungszeit an und lässt sie gerade darum ganz heutig wirken. Das Spiel ohne Vibrato zum Beispiel, für das Zürcher Opernorchester eine Selbstverständlichkeit, gehört absolut dazu – und mehr noch: es wir dazu einem der wirkungsvollsten Ausdrucksmittel. Ganz gläsern können da die Klänge werden, und sie nehmen dabei eine Bedrohlichkeit sondergleichen ein. Dazu kommen noch nie gehörte Effekte, etwa ein Flüstern des Chors gleichzeitig zu seinem Singen oder ein Gejohle des Volks, in dem die hinter Bühne agierende Band völlig untergeht. Nicht zuletzt aber die Vielfalt der Artikulation, auch der Unterscheidung zwischen schweren und leichten Tönen, sowie die Spannweite in der Wahl der Tempi – alles mit dem Ziel, die Musik Verdis in einem Zustand fiebriger Erregung klingen zu lassen. Das alles weitaus freier, souveräner als in der Pariser Produktion von 2009, die auf DVD vorliegt. Man muss es gehört haben, um es zu begreifen.

Extrem und schön zugleich

Wie auf der Bühne gesungen wird, steht dem in keiner Weise nach. Der grosse Chor des leidenden Volkes, mit dem Verdi an seinen Erfolg mit «Nabucco» anzuschliessen suchte, wird vom Chor und dem Zusatzchor der Oper Zürich zu einer Eindringlichkeit gebracht, die das legitime Anliegen des Moments und die Fragwürdigkeit seiner Umsetzung in gleicher Weise fühlbar macht. Und die beiden Protagonisten kommen dem, was sich Verdi an Verbindung zwischen dem Extremen und dem Schönen gedacht haben mag, in packender Weise nahe. Was besonders darum beeindruckt, da die schwarzen, durchgehend gleich geschnittenen Kostüme von Klaus Bruns nicht die Individualitäten unterstreichen, sondern vielmehr die Figuren als Chiffren stehen lassen. Um so effektvoller, wenn Lady Macbeth im Schlafzimmer in unschuldigem Weiss und Macbeth am Ende in seinem verschmutzten Unterhemd als eine Art Saddam Hussein nach dem Herauskommen aus dem Erdloch erscheinen.

Als Lady Macbeth bringt Tatiana Serjan einen in der Tiefe ruhenden, opulent leuchtenden Sopran ein, der keinen Zweifel daran lässt, wer in diesem Haushalt die Hosen trägt. Die Schlafwandlerszene zeigt dann aber grossartig, wie nahe Stärke und Schwäche nebeneinander liegen können. Umgekehrt ist Macbeth hier ganz aufbrausender Schwächling. Etwas kleiner als seine Gattin und gern mit rundem Rücken sitzend, hängt er sich an den Rocksaum der Frau, die für ihn eher eine Mutter zu sein scheint – eine horribel strenge Mutter, in deren Schlafzimmer sich der Sohn/Gatte nicht mehr wagt. Markus Brück verkörpert das darstellerisch grandios, und sein vielfarbiger, kraftvoller Bariton erlaubt ihm, das Körpersprachliche ungeschmälert hörbar zu machen. Dazu kommen bei ihm eine stilistische Versatilität und eine derart idiomatische Diktion, das man ihn geradewegs für einen geborenen Italiener halten könnte. Nicht weniger überzeugend sind in dieser Produktion die kleineren Partien besetzt, etwa der Banco von Wenwei Zhang, der Macduff von Pavol Breslik, der Malcolm von Airam Hernandez oder die Kammerfrau von Ivana Rusko.

Gegen Ende gibt es sogar noch etwas zu sehen, etwas durchaus Spektakuläres. Es sind fünf Krähen, die den Abgang des Schreckenspaars begleiten. Zunächst hält man sie für echt und runzelt angesichts des Tierschutzes die Stirn; wie sie jedoch so ungerührt dasitzen und dann ihre Schnäbel in einer Weise öffnen, als setzten sie zum Singen an, blickt man durch und erkennt eine stupende Leistung der Abteilung Theaterplastik der Zürcher Oper. Und einen genialen dramaturgischen Trick. In einem Zug sind die drei Stunden dieses Abends vorbei: in einer Aufführung, die nicht anders als weltstädtisch genannt zu werden verdient.