Identität und Camouflage

Verdis «Falstaff» an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Regieassistent fliegt, Orson Welles schimpft, Falstaff beobachtet / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Das Einzige, was Christoph Marthaler zu seiner Inszenierung von Giuseppe Verdis «Falstaff» an den Salzburger Festspielen vorgehalten werden könnte, ist das Zuviel. Ein Zuviel des Szenischen. Gewiss, die breite Bühne des Grossen Festspielhauses fordert ihren Tribut; soll nicht leerer Raum dominieren, gibt es nichts anderes als Betriebsamkeit. Und natürlich bietet «Falstaff» trotz kammermusikalischer Anlage so viel Personal auf, dass sich das va-et-vient beinah von selbst ergibt. Nur: Aktiv zuzuhören und wach wahrzunehmen, es fiel schwer an diesem Abend. Das ist bedauerlich.

Denn Verdis Partitur hat es in sich; sie bietet mehr als den Spass, den der Schlusschor besingt, auch mehr als die heilige Einfalt, die sich in mancher Inszenierung breitmacht, zum Beispiel in jener von 2013 an den Salzburger Festspielen mit dem quirligen Regisseur Damiano Michieletto und Zubin Mehta am Pult. «Falstaff» ist ein Stück sprühender Imagination und höchststehenden Handwerks, musikalisch reich an Anspielungen und struktureller Komplexität – ein aufschlussreicher Text des Verdi-Spezialisten Anselm Gerhard im Programmbuch vermittelt einen Eindruck davon. Wer trotz der Absorption durch die Bühne ein Ohr offen hatte, konnte das Potential wahrnehmen, denn Ingo Metzmacher, bekannt für seinen luziden Verdi-Ton, setzte auf Leichtigkeit, legte die Stränge frei und behielt, zumal in den grossen Ensembles wie in der achtstimmigen Schlussfuge, die sich zum Teil eklatant widerstrebenden Verläufe souverän im Griff. Die Wiener Philharmoniker, die bekanntlich auch sehr anders können, standen einhellig an der Seite des Dirigenten und schöpften aus ihrer immer wieder erstaunlichen Wandelbarkeit.

Je weiter der Abend voranschritt, desto deutlicher wurde, dass Christoph Marthaler mit seiner unverkennbaren, zirzensischen Handschrift auf exakt denselben Pfaden wandelte wie der Dirigent. Er liess sehen, auf wie vielen ganz unterschiedlichen Ebenen sich «Falstaff» ereignet. Das gelang ihm, indem er eine weitere Ebene einzog – eine schillernde Ebene des Interpreten, die Distanz schuf und den Blick schärfte. Das Zauberwort hierfür heisst: Orson Welles. Der Schauspieler und Regisseur, von seinem Äusseren und seinem Lebensverhalten her dem Titelhelden von Verdis Oper nicht unähnlich, hat sich verschiedentlich mit der Figur des Falstaff beschäftigt, auch und gerade mit Fragen nach seiner Identität. Tja, wer genau ist Falstaff? Ist er tatsächlich einfach ein beleibter Ritter a.D., der aus Lust oder aus Not den Schürzenjäger gibt? Ist er ein Trump, wie die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in ihrem erfrischenden Essay im Programmbuch nahelegt? Ein gemütlicher, ein bisschen lächerlicher Kerl, aber doch ein Macho, der am Ende mit kurzen Hosen dasteht? Und damit ein Verwandter zumindest von Graf Almaviva aus Mozarts «Figaro»  (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.08.23)?

Aber wer ist Falstaff auf der Bühne (und in den Kostümen) von Anna Viebrock? Gerald Finley vielleicht? Nicht doch. Von einem umgebundenen Dickbauch will der hochgewachsene, elegante Kanadier nichts wissen; mit barscher Geste weist er die Assistentin, die ihm das Ding schmackhaft zu machen sucht, in die Kostümabteilung zurück. Er singt auch äusserst gepflegt, ja vornehm, mit sonorem Klang und tadelloser Ausgestaltung. Zugleich tummelt sich jemand auf der Bühne, der mit seinem gewaltigen Bauch sehr an Falstaff erinnert. Er ist es jedoch nicht wirklich, er ist vielmehr Orson Welles (Marc Bodnar), der, das halbvolle Whiskyglas in der Hand und immer wieder gestenreich verzweifelnd, in einem Film über Falstaff Regie zu führen sucht. Marthaler hat ihn als sein alter ego ins Geschehen eingeführt. Und zu sehen ist eine Art «Making of».

Spielort ist ein FiImset mit notdürftigen Kulissen, links ein Vorführraum für die Begutachtung erster Ausschnitte, in der Mitte das nur wenig möblierte Gasthaus «Zum Hosenband», rechts eine Andeutung des Gartens der Familie Ford mit einem leeren, aber wohl doch gepolsterten Bassin, in das immer mal wieder jemand hineinfällt, nur nicht der Protagonist, denn in den Wäschekorb flüchtet nicht er, in ihn setzt sich immer und immer wieder ein wendiger Regieassistent (Joaquin Abella). «Falstaff» ohne korrekt gefüllten und richtig ausgeleerten Wäschekorb – das geht natürlich ebenso wenig wie «Lohengrin» ohne Schwan. Weshalb auch in der zweiten Vorstellung das Publikum in ein wütendes Buh zuhanden des nicht mehr anwesenden Regisseurs ausbrach.

Zu Unrecht. Der neue Salzburger «Falstaff» ist (bei allem optischen Überangebot) Massarbeit vom Feinsten. Schon allein darum, weil sich das clowneske Naturell Christoph Marthalers in so lustvoller Präzision auslebt, wie es bei diesem eminenten Theaterkünstler der Fall sein kann. Den Höhepunkt diesbezüglich bildet jener Moment im zweiten Akt, da Mister Ford, als Signor Fontana verkleidet, den in Geldnöten steckenden Falstaff dafür gewinnt, für ihn, den camouflierten Ehemann, die eigene Gattin zu einem Stelldichein zu animieren – was Falstaff, schwer von Begriff und nichtsahnend, noch so gerne übernimmt. Als Ford bietet Simon Keenlyside, stimmlich in blendender Verfassung, schauspielerisch ganz auf seiner Höhe, ein wahres Kabinettsstück.

Darstellerisch etwas weniger ausgeprägt das Damenquartett, dafür singen Elena Stikhina (Mrs. Alice Ford), Cecilia Molinari (Mrs. Meg Page), Giulia Semenzato mit ihrem hellen, leichten Timbre als Nannetta sowie Tanja Ariane Baumgartner mit ihrer herrlichen Tiefe in der Partie der Vermittlerin Mrs. Quickly allesamt vorzüglich. Das fällt darum ins Gewicht, weil die Inszenierung auch in diesem Fall musikalisch fundiert ist – Marthaler hört gut zu, bevor er seinem Theatersinn Lauf lässt. Je mehr der Librettist Arrigo Boito das Tempo anzieht und je dichter die Partitur wird, desto mehr lichtet sich die Bühne, bis der junge Fenton (Bogdan Volkov, sehr anrührend) sein Ständchen vortragen kann. Erreicht die Verwirrung im Park von Windsor (auch an diesem Moment lässt Mozarts «Figaro» grüssen) ihren Höhepunkt, rollt ein Menschenknäuel heran, in das sich auch Falstaff verwickelt – eine szenische Metapher von eigener Drastik.

Schliesslich die achtstimmige Fuge, von der Verdi ausgegangen sein soll, als das von allen Seiten grossartig gemeisterte Finale des Abends. «Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone.» «Alles in der Welt ist Scherz, der Mensch wird als Spassmacher geboren.» Was zu beweisen war.

Jenseits der Marktgesetze

Konzerte an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Durch das Gepränge der Gattung und den mit ihm verbundenen Aufwand, durch die mediale Aufmerksamkeit und die mit den Produktionen verbundenen Aufreger – durch Aspekte solcher Art gerät das Musiktheater bei den Salzburger Festspielen traditionellerweise in den Fokus der Wahrnehmung. Dies jedoch durchaus zu Unrecht. Das seit 2017 und noch bis diesen Sommer von der Schweizerin Bettina Hering geleitete Schauspiel dümpelt zwar vor sich hin, jedenfalls bildet es keineswegs mehr jenes Standbein, als das es bei der Gründung angelegt war. Aber jenseits dessen blüht ein Garten von seltener Vielfarbigkeit. Er bietet ein ausgebautes Kinder- und Jugendprogramm. Er wartet mit hochkarätig besetzten Nischen der der Reflexion auf, zum Teil kuratiert von Markus Hinterhäuser, dem Intendanten der Festspiele. Er lädt zum Besuch einer unter der Leitung der Festspiel-Dramaturgin Margarethe Lasinger entstandenen Ausstellung über Max Reinhardt, einen der Gründerväter der Festspiele – dies zum 150. Geburtstag des legendären Theaterkünstlers und -unternehmers. Vor allem aber, und in erster Linie, gibt es: das Konzert.

Unter erkennbarer Mitwirkung des Intendanten durch den Spartenleiter Florian Wiegand betreut, trägt das Salzburger Konzertprogramm ein sehr eigenes Gesicht und bezieht daraus seine Bedeutung – jedenfalls bietet es weitaus mehr als Füllmaterial zwischen den Opernabenden. Formal herrscht ein feststehendes Raster. Dazu gehören etwa die unter der Intendanz Alexander Pereiras eingeführte Ouverture spirituelle eine Woche vor dem eigentlichen Beginn der Festspiele, die fünf mehrfach geführten Auftritte der Wiener Philharmoniker zu der für dieses Orchester traditionellen Stunde vor Mittag, das doppelte Gastspiel der Berliner Philharmoniker zum Ende der Festspiele, bevor sie nach Luzern weiterziehen sowie die Mozart-Matineen des Salzburger Mozarteumsorchesters. Hinzu kommt ein weitgespanntes Angebot an Kammerkonzerten, an Liederabenden und Solistenkonzerten.

Quer durch die formale Ordnung ziehen sich thematische Linien. Die Ouverture spirituelle stand diesen Sommer im Zeichen von «Lux aeterna», dies als fühlbarer Kontrast zum Opernprogramm, das der aus den Fugen geratenen Welt nachging (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.08.23). Und hier ist auch der Ort, an dem Altes direkt auf Neues stösst; nach der Eröffnung mit den grossformatigen «Eclairs sur l’Au-delà» von Olivier Messiaen in der Felsenreitschule standen sich da zum Beispiel die «Prophetiae Sibyllarum», die Motetten Orlando di Lassos, dem einstündigen Entwurf «ET LUX» von Wolfgang Rihm gegenüber. Besonders bemerkenswert war in dieser Hinsicht die Reihe «Zeit mit…», die in jährlichem Wechsel einem bestimmten Komponisten gewidmet ist. Diesen Sommer galt die Aufmerksamkeit György Ligeti, an dessen Geburt vor 100 Jahren erinnert wurde. Eröffnet wurde die Reihe mit dem «Poème Symphonique» für 100 Metronome, dessen gleichsam vielstimmiges Ticken immer lauter wird, bevor es wieder erstirbt – Werden und Vergehen innerhalb eines Lebens.

Vergangen ist an Ligetis Musik freilich nicht das Geringste, in Salzburg erst recht nicht. 1993 ist der Komponist dort, auf Initiative des damaligen Finanz- und Konzertdirektors hin, zusammen mit György Kurtág in einem Doppel-Porträt präsentiert worden. Markus Hinterhäuser war dabei, denn damals hat er mit einer Aufführung von Luigis Nonos «Prometeo» in Salzburg ein erstes Zeichen gesetzt. Inzwischen ist Hinterhäuser Intendant und Ligeti ein Klassiker. So gedacht nicht bei den irrwitzigen Klavier-Etüden, die Pierre-Laurent Aimard auf dem Programm hatte, wohl aber bei der Sonate für Violoncello solo, die Jean-Guihen Queyras souverän bewältigt und wunderschön vorgetragen hat – vielleicht etwas zu schön?

Dass auch bei Ligetis Musik die Interpretation ihre Rolle spielt, erwiesen die Geigerin Isabelle Faust, der Hornist Johannes Hinterholzer und der Pianist Alexander Melnikov, die das ebenso klangschöne wie intrikate Horn-Trio Ligetis in ihrer Auslegung phantastisch zuspitzten. Erst recht verwirklichte sich das bei jenem Trio für dieselbe Besetzung aus der Feder von Johannes Brahms, das Ligeti zum Ausgangspunkt seines Werks genommen hat. Die Besonderheit lag darin, dass Johannes Hinterholzer nicht das zu Brahms’ Zeiten schon bekannte, heute übliche Ventilhorn an die Lippen setzte, sondern das damals im Verschwinden begriffene Naturhorn, bei dem die Töne nur auf der Basis der durch die Natur gegebene Obertonreihe, allein mit den Lippen und der einen Hand im Schallbecher, geformt werden. Brahms, dem das Instrument aus eigenem Tun heraus vertraut war, schrieb sein Trio explizit für das Naturhorn – und warum er das tat, war in dieser einzigartigen Aufführung klar zu hören, verleihen die gestopften Töne den Melodielinien doch ganz eigene Kontur. Zu hören war das auch, weil Isabelle Faust wie Alexander Melnikov Instrumente aus der Entstehungszeit des Werks benützten – Exemplare mit betörendem Klang (zu denen das Programmheft leider keine Angaben enthielt). Wie sich Geige und Horn gleichsam zu einer einzigen Stimme verbanden und wie sinnlich sich das Klavier daruntermischte, das machte gerade den langsamen Satz zu einem zutiefst berührenden Erlebnis.

So ist es in eben jener neuen Generation von Musikerinnen und Musikern, die nicht auf das klassisch-romantische Repertoire allein, auch nicht auf den schönen Ton und das gepflegte Legato, schon gar nicht auf die Position im Markt fixiert sind. Sie sind offener, berücksichtigen auch älteres wie neueres Repertoire und gehen dabei in derselben Leidenschaft wie auf der Höhe des aktuellen Kenntnisstandes zu Werk. Ein Beispiel dafür bieten der Dirigent François-Xavier Roth und das von ihm gegründete Orchester Les Siècles, die in Salzburg höchst erfolgreich debütiert haben. Und das mit einem allseits anspruchsvollen Doppel-Abend, dessen erster Teil György Ligeti galt. Klangschön im zweiten Satz, virtuos im dritten das Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten (und Instrumentalistinnen) – nicht zuletzt darum, weil nicht ein Synthesizer, sondern eine echte Hammond-Orgel zum Einsatz kam. Bestechend die Farbenspiele in den «Ramifications» für zwei Mal sechs Streicher(innen). Das Violinkonzert mit der unerhört identifizierten Solistin Isabelle Faust liess ungeahnte Welten des Flüsterns und die Sehnsuchtsklänge der aus dem wohltemperierten System ausbrechenden Okarina erleben. Schliesslich das «Concert Românesc» aus Ligetis früher Zeit in Budapest als Zeugnis eines Künstlertums, das der von oben herab herrschenden Kulturbürokratie die Stirn bot. Mehr davon bietet eine bei Harmonia mundi soeben erschienene CD.

Nach einem Moment der Erholung dann Wolfgang Amadeus Mozart. Erst das Klavierkonzert in A-Dur KV 488, für das sich Alexander Melnikov an einen wenig günstig, nämlich mitten im Orchester aufgestellten und darum klanglich oft bedrängten Hammerflügel setzte. Und zum Abschluss die C-Dur-Sinfonie KV 551, die «Jupiter». Bekanntlich verwendet das Orchester Les Siècles durchwegs Instrumente, die der Entstehungszeit der vorgetragenen Werke entsprechen. Ob dieses Alleinstellungsmerkmal auch für sein Salzburger Mozart-Programm galt, darf allerdings bezweifelt werden. Bei den Bläsern war es so, bei den Streichern klang es sehr nach hergebrachtem Instrumentarium – das Orchester hätte dafür ja einen vollständigen Satz an Streichinstrumenten mit Darmsaiten und den entsprechenden Bögen mitführen müssen. Ein kleiner Etikettenschwindel? Davon abgesehen war François-Xavier Roth bei Mozart allzu sehr auf forsche Attacke fokussiert. Knallende Pauken, schmetternde Trompeten, ein harsches Tutti, das ist noch nicht alles, eher Revolution von gestern. Bei Jordi Savall und dem von ihm gegründeten Orchester Le Concert des Nations herrschte jedenfalls ein ganz anderer Ton. Klar, Savall ist ein älterer Herr, der, auch wenn er sein Temperament keineswegs verloren hat, gestisch nicht mehr viel Aufhebens macht. Das Ergebnis, bei Ludwig van Beethovens Sinfonien Nr. 3 (in Es-Dur) und Nr. 5 (in c-Moll): warm opulente, elegant federnde, jederzeit durchhörbare Klanglichkeit. Sie bot enormen Reichtum, ohne dass das ungeheure Aufbäumen der sogenannten Schicksalssinfonie unterspielt worden wäre.

Spielarten des Bösen

Mozarts «Figaro» und Verdis «Macbeth»
an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit sei aus den Fugen, stellen die Salzburger Festspiele mit Shakespeares Hamlet fest. Das kann man wohl sagen. Ebenso liegt auf der Hand, dass eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele sich nicht in den Elfenbeinturm der künstlerischen Höchstleistung zurückziehen kann, dass sie vielmehr bewusst die Zeitläufte in den Blick zu nehmen hat. Ist das doch eingeschrieben im Erbgut einer Idee, die sich nicht zuletzt als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg konkretisiert und 1922 erstmals ihre Form gefunden hat. Dass mit Markus Hinterhäuser, der seit 2016 als Intendant die künstlerische Gesamtverantwortung trägt, etwas expliziter, etwas weniger immanent gelebt wird als ehedem, auch das liegt nahe. Schon in den frühen neunziger Jahren, als er in Salzburg noch eine Randfigur war, sprach Hinterhäuser davon, dass ihn der Krieg in Jugoslawien als Pianisten nicht gleichgültig lasse, die Grenze zu Slowenien sei nicht sehr weit von Salzburg entfernt.

So erstaunt nicht, dass das Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2023 unseren so ungut bewegten Tagen den Spiegel vorhält. Grosse Werke der Vergangenheit erzählen dem Publikum von der Gegenwart. Zum Beispiel, in Mozarts «Nozze di Figaro», vom Grafen Almaviva, einem Grapscher, der über Geld und Privilegien verfügt und sich darum alles erlauben zu können glaubt – ganz unbekannt kommt einem das nicht vor. Oder, in Verdis «Macbeth», von einem Offizier, der eine Machtgier sondergleichen an den Tag legt, der über jede Leiche geht und alles zerstört, am Ende sich selbst – auch das löst nicht eben angenehme Assoziationen aus. Falstaff sodann, in Verdis gleichnamiger Oper, auch er ist ein Mannsbild, wie es im Buche steht; dass er am Ende über sich selber stolpert, schafft eine Art Gerechtigkeit. Einen ganz besonderen Gegenwartsbezug weist «Die griechische Passion» auf, die 1961 in Zürich uraufgeführte, selten gespielte Oper von Bohuslav Martinů, die ein Drama um die Ankunft türkischer Flüchtlinge in einem griechischen Dorf zum Gegenstand hat. Ein Programm in solcher Konsistenz muss zuerst einmal erfunden werden.

«Le nozze di Figaro»

Die Idylle trügt… «Le nozze di Figaro» / Bild Matthias Horn, Salzburger Festspiele

Und dann, vor allem, realisiert werden. «Le nozze di Figaro» von Wolfgang Amadeus Mozart hätte problemlos die leicht tänzelnde, von zartem Humor getragene opera buffa werden können, als die das Stück in weiten Kreisen geliebt wird. Damit hatte der Regisseur Martin Kušej bei seiner Inszenierung im Haus für Mozart rein gar nichts am Hut, er schälte vielmehr heraus, mit welch unbarmherziger Präzision das Stück von Beaumarchais, Da Ponte und Mozart den gesellschaftlichen Gegebenheiten auf den Grund geht und die sich andeutenden tektonischen Verschiebungen skizziert. Dass «Le nozze di Figaro» 1786 in der Wiener Hofoper zur Uraufführung kommen konnte, dass Joseph II. die beissende Kritik zuliess, wo die Komödie Beaumarchais’ in Wien auf der Bühne doch verboten war, nur als Buch in deutscher Übersetzung kursierte – es kann immer wieder erstaunen. Auf den Einfluss Da Pontes am Hof allein ist es nicht zurückzuführen, eher noch auf die Einkleidung der fürwahr scharfen Aussagen in feingliedrige Ironie. Indessen steht genau diese Ironie in unseren Tagen dem Stück im Weg, sie verschleiert seine Brisanz. Dem suchte Kušej entgegenzuwirken. Er tat es in der drastischen Art, die für ihn charakteristisch ist – durchaus erfolgreich, wenn auch nicht zu durchgängiger Begeisterung der Kritik.

Almaviva ist das, was heute ein toxischer Mann genannt wird. Dem Ius primae noctis, das kein Gesetz war, doch ein durch die Praxis sanktioniertes Vorrecht, hat er zwar abgeschworen, er tat es aber nur öffentlich. Wenn er von der versammelten Angestelltenschaft des Schlosses dafür gefeiert wird, wirft eine Gruppe junger, weissgekleideter Mädchen ihre von Blutspuren getränkte Unterwäsche gegen eine Glasscheibe (Kostüme: Alan Hranitelj). Mit Susanna, der mit zauberhaft schlanker Stimme und grossartiger Stilsicherheit agierenden Sabine Devieilhe, geht es jedenfalls klar zur Sache – nur braucht es dafür am Ende doch deren zwei. Zum einen scheint Susanna mit ihrem Bräutigam Figaro (Krzysztof Bączyk) nicht wirklich glücklich zu sein, zum anderen mag sie die Gräfin zum Vorbild nehmen (Adriana González versieht ihre Partie mit warmem Klang und starker Ausstrahlung) – die Rosina aus dem Umfeld eines Barbiers von Sevilla, die durch die Verheiratung mit einem gewissen Almaviva gesellschaftlich einen Schritt nach oben getan hat.

Vielleicht schwimmt sie auch nur im Fahrwasser der nicht nur, aber vor allem erotischen Entfesselung, die im Hause Almaviva herrscht. Dafür steht die fast nackte junge Frau, die den Herrn des Hauses sorgfältig einkleidet. Dafür steht aber auch der juvenile, triebgesteuerte Cherubino, den Lea Desandre körperlich agil und stimmlich unerhört berührend verkörpert. Dafür steht in erster Linie aber Almaviva selbst, dem die Pistole locker im Halfter sitzt – selbst dann, wenn er im Schlafzimmer seiner Gattin eine Tür aufbrechen will. Der allseits gepflegte Griff zur Waffe spricht fvom Heraufdämmern der Revolution mit ihren Gewaltausbrüchen und Blutorgien (der Dramaturg Christian Longchamp hat dazu einen informativen Text verfasst, er steht allerdings im Programmbuch von «Macbeth»). Cherubino springt denn auch nicht in einen Garten, sondern in einen Haufen grosser Müllsäcke. Am Ende, nach den vielschichtigen Verirrungen in dem süssen Dickicht des Bühnenbildners Raimund Orfeo Vogt, hat sich der tiers état erhoben, steht Figaro aufrecht auf einem kleinen Hügel, während der Graf – es ist André Schuen, der über ein samtenes Timbre, aber nicht die nötige Tiefe verfügt – auf den Knien vor seiner Gattin um Verzeihung bittet.

Keine Revolution, aber doch so etwas wie einen Aufstand gab es bei den Wiener Philharmonikern, die sich nicht mit dem Mann am Pult anfreunden mochten. Markus Hinterhäuser versucht hartnäckig, den ästhetischen Horizont des Spitzenorchesters aus der Welthauptstadt der Musik zu erweitern. Darum hat er für den «Figaro» Raphaël Pichon engagiert, einen pointierten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, der mit seinem Ensemble Pygmalion hervorragende Arbeit leistet. Ein mit Spezialisten besetztes Ensemble und die Wiener Philharmoniker sind wahrlich zwei verschiedene Paar Stiefel, zumal wenn der Dirigent stilistisch auf dem neusten Kenntnisstand zu Werk geht. Am Ende haben sich die beiden Parteien aber gefunden. Pichon konnte vielleicht nicht alles realisieren, was er sich vorgenommen hatte, jedenfalls klangen die Wiener Philharmoniker nicht so, als wäre bei ihnen 1789 ausgebrochen. Aber insgesamt durfte sich der musikalische Ansatz des Abends sehr wohl hören lassen. Die Tempi hielten sich jederzeit in natürlichem Rahmen und waren ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Der Klang blieb leicht, transparent, vor allem von federnder Energie und rhythmischer Präzision geprägt. Und das Zusammenwirken mit der Bühne liess in der dritten Vorstellung nichts zu wünschen übrig.

«Macbeth»

Trautes Ehegespräch… «Macbeth» / Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele

Wie sich ein Orchester doch wandeln kann. Unter dem energischen Zugriff des Dirigenten Philippe Jordan klangen die Wiener Philharmoniker bei Giuseppe Verdis «Macbeth» grundlegend anders: unglaublich kraftvoll, ja muskulös, ohne dass die klangliche Schönheit gelitten hätte und die Balance gestört worden wäre, auch ohne jeden Moment der Bedrängnis für die durchs Band ausgezeichneten Sängerinnen und Sänger. Zugleich gelang Jordan dort, wo es die Partitur forderte, der Blick nach innen, hin zu den Befindlichkeiten der einzelnen Figuren und zu den solistischen Einwürfen der Bläser – Verdis Instrumentation erschien an diesem Abend, der zweiten von sechs Vorstellungen von «Macbeth», in neuem, glanzvollem Licht. Hinreissend auch der Auftritt der ausserordentlich gross besetzten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitet worden war.

Alles war da ins Grosse gerichtet – wohl der einzig mögliche Ansatz auf der Riesenbühne im Grossen Festspielhaus. Als Ausstatterin liess Małgorzata Szczęśniak die gesamte Spielfläche benutzen – was insofern eigene Ansprüche stellte, als das Stück nur wenige personalintensive Aufzüge kennt. Sie löste das Problem durch die Vervielfältigung der Zahl der Mitwirkenden und die simultane Präsenz von Nebenschauplätzen. Die immer wieder auftauchenden Hexen sind ein Chor blinder Frauen im Saal eines Behindertenheims, die Geister zahlreiche Kinder mit überlebensgrossen Köpfen, während die Bediensteten in ihrer schwarzen Kluft mit den weissen Handschuhen ohne Zahl sind. Dazu gibt es Videoprojektionen in unterschiedlichen Formaten. Von allem so viel, dass das konzentrierte Zuhören fast unmöglich wird.

Nur, was soll der arme Regisseur machen in einem Stück, das zwar den grossen Gefühlsausbruch kennt, sich aber in kleinen Schritten auf das unabwendbare schreckliche Ende hin zubewegt? Krzysztof Warlikowski stellt sich dem oratorischen Zug von «Macbeth» und positioniert den Chor gerne in schwarzen Gewändern an den Rändern der Bühne. Und er arbeitet gezielt mit Nähe und Ferne, mit Weitblick und Fokus. Zu Beginn rollt eine enorm in die Breite gezogene Sitzbank in den Vordergrund, auf der sich die beiden Feldherren Macbeth und Banco über ihre Erfolge freuen – beide, Vladislav Sulimsky wie Tareq Nazmi, in glänzender Verfassung. Dazu darf man über Video einer in einem seitlichen Tunnel vollzogenen gynäkologischen Untersuchung beiwohnen, an deren Ende Lady Macbeth erfährt, dass sie kinderlos bleiben wird. Das ist der Startschuss für den unglaublichen Antrieb zum Bösen, den die offenkundig zutiefst verletzte Frau auslebt, und der Auftakt zu einer sängerischen Grossleistung von seltenem Format. Asmik Grigorian reiht hier einen weiteren Salzburger Stern an Marie, Salome, Chrysothemis und Suor Angelica. Für das Trinklied im Zentrum des Werks mag ihr das letzte Quentchen an Kraft fehlen, aber vielleicht ist die Zurückhaltung auch gewollt, herrscht hier doch nur gespielte Ausgelassenheit. Schliesslich beginnt schon da der Niedergang; bald sitzt Macbeth, Vladislav Sulimsky fasst das stimmlich bewundernswert, vom Schlaganfall niedergestreckt im Rollstuhl, während sich seine irr gewordene Gattin durch ihre Wahnvorstellungen schleppt. Beide Opern, «Figaro» wie «Macbeth», enden in Jubel. Uns Heutigen bleibt bestenfalls ein Glühwürmchen an Hoffnung.

Hier galt’s der Kunst

Notizen zu den Salzburger Festspielen 2022

Von Peter Hagmann

 

Im Schatten der Debatten

Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.

 

Endspiele

Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.

Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.

Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.

Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.

 

Sängerinnenkult

Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.

In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.

Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.

 

Zwangsjacke aus grauem Tuch

Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.

Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.

Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.

 

Mozart, ganz in der Jetztzeit

Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.

Das Don-Giovanni-Prinzip

Mozarts Oper als hinreissendes Gesamtkunstwerk bei den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Friedhofs-Szene im Salzburger «Don Giovanni». Links am Rand Davide Luciano als Don Giovanni (Bild Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele)

Los geht es, bevor es losgeht. Vor dem schwarzen d-Moll der Ouvertüre wird ein frisch renovierter, hochweiss gehaltener Kirchenraum seiner Attribute entledigt und zur neutralen Spielweise gemacht, so will es Romeo Castellucci, der «Don Giovanni» für die Salzburger Festspiele dieses Sommers auf die weite Bühne des Grossen Festspielhauses gebracht hat. Bei dem italienischen Theaterkünstler, einem phantasievoll assoziierenden Denker, der die Bühne als Ganzes in der Hand hat – bei Castellucci ist der Titelheld nicht ein Mann mit besonderem Fluidum, nicht einmal ein Mensch, er verkörpert vielmehr ein Prinzip. Begehren heisst es. Wirken kann es nur, solange es unerfüllt bleibt. Wenn es aber zur Wirkung kommt, kann es, wie «Don Giovanni» in der Lesart Castelluccis zeigt, durchaus an die Fundamente gehen. Kann ein heiliger Raum seine Funktion verlieren, kann eine Gesellschaft, wie es das erste Finale mit seinem musikalischen Durcheinander erleben lässt, in totalem Chaos versinken, kann selbst die Zeit versteinern. So führt es das Ende der Oper vor, wo sich Don Giovanni die Kleider vom Leibe reisst, sich splitternackt in weisser Farbe wälzt und zu einem jener Gipsabgüsse wird, wie sie aus den Hohlräumen gewonnen wurden, welche die Opfer des Vulkanausbruchs von Pompeji kurz nach der christlichen Zeitenwende hinterlassen haben.

Seine Wurzel hat das Begehren im Narzissmus. Der Salzburger «Don Giovanni» von 2021 zeigt denn auch wenig Aktion und schon gar keine Interaktion. Die Figuren stehen als Chiffren da, die das Zentralgestirn Don Giovanni umkreisen. Ein makellos funktionierendes Räderwerk wird da sichtbar gemacht – in einem klinischen Weiss, das durch subtile, in ihrer Weise sprechende Farbakzente gegliedert wird. Und das durch die ruhige, kongenial auf die Grösse der Bühne reagierende Choreographie von Cindy Van Acker belebt wird. Tatsächlich erhält der szenische Raum seine Modellierung durch einen Bewegungschor, durch Tänzerinnen, vor allem aber durch eine gute Hundertschaft an Frauen aus Salzburg, die vielleicht, möglicherweise, alle ihrem Don Giovanni begegnet sind. Darüber hinaus fehlt es nicht an szenischen Metaphern, die auch gezielt mit Effekt eingesetzt werden. Bevor Leporello – Vito Priante tut das ebenso vornehm wie gekonnt – davon singt, wie genug er von seiner Funktion als Schildwache bei den Abenteuern seines Arbeitgebers hat, fällt eine luxuriöse Limousine mit Getöse aus dem Schnürboden auf die Bühne. Später folgen ihr der zerbeulte Rollstuhl des Commendatore (Mika Kares gibt ihn mit enorm klangvollem Bass) und ein veritabler Flügel, auf dessen Bruchstücken sich Don Giovanni bisweilen selbst begleitet.

Bildertheater ist das. Ganz von ferne erinnert es an die szenische Handschrift Robert Wilsons, aber auch ihr Gegenteil, an die rein illustrierende Bühnentradition italienischer Provenienz. In seiner Abstraktheit, in die scharf konturierte szenische Zeichen einfahren, schafft das Gesamtkunstwerk Romeo Castelluccis Raum für das Mitdenken des Zuschauers, der Zuschauerin. Zugleich aber auch jenes freie Feld, auf dem sich die musikalische Ebene zu entfalten vermag. Sie tut das in einer Intensität und einer Schönheit ganz eigener Art – denn am Pult von musicAeterna und einem durchwegs erstklassig besetzten Ensemble steht Teodor Currentzis, der hier in Salzburg auf den Punkt bringt, was er 2016 mit einer CD-Aufnahme von «Don Giovanni» angelegt und was er 2019 beim Lucerne Festival in der unvergesslichen halbszenischen Aufführung weiterentwickelt hat. Dass der Dirigent in der dritten von insgesamt sechs Vorstellungen am Schluss einige Buhrufe einstecken musste, lässt erahnen, dass die neuen Wege, welche die Mozart-Interpretation in jüngerer Zeit eingeschlagen hat, beim Salzburger Publikum noch nicht angekommen sind. Das ist verständlich, denn wenn es bei Currentzis mit etwas gründlich vorbei ist, dann ist es der apollinisch gelöste Mozart-Ton Karl Böhms.

Currentzis geht kompromisslos zur Sache. Das Orchester ist klein besetzt, klingt jedoch in keinem Moment zu leise oder gar entfernt. Für die unerhörte Präsenz des Musikalischen sorgt der enorm animierende Zugriff des Dirigenten, der seinen Mitstreitern im Graben wie auf der Bühne ein Höchstmass an Expressivität entlockt. Und zwar im Leisen wie im Lauten, im Impulsiven wie im Zärtlichen. Überdies geschieht das ganz selbstverständlich auf der Basis der Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis, die weitherum längst approbiert sind, im grossen Business aber nur zögerlich angenommen werden. So wird hier mit reicher Imagination und durchwegs dem Sprachverlauf entlang phrasiert. Wird nicht auf das Legato als oberstes Prinzip gesetzt, sondern vielgestaltig zwischen Gebundenem und Gestossenem unterschieden. Und wird das Vibrato – nicht von allen Sängerinnen und Sängern, aber von vielen – bewusst als Verzierung verstanden, nicht als Grundlage des sogenannt schönen Tons. Vor allem wird, wenigstens scheint es so, nach Massen extemporiert, werden die wiederholten Teile in den Da-capo-Arien virtuos verziert und die Kadenzen lustvoll ausgekostet. Hervorstechend, wie schon in Luzern, das von der grandiosen Maria Shabashova am Hammerklavier angeführte Continuo, das auch für so manche Überraschung gut ist. Nicht zu vergessen die frischen, wohlgeformt aufeinander bezogenen Tempi und die knackigen Rhythmen. So beginnt die herrliche Musik Mozarts zu sprechen, nimmt sie in ihrer klanglichen Verlebendigung neue Horizonte in den Blick und vermag sie in ungewöhnlicher Intensität zu berühren. Wer Ohren hat zu hören, verlässt den Abend tief bewegt.

Die Friedhofs-Szene gegen Ende des zweiten Akts zum Beispiel. Da verzichtet Romeo Castellucci, wie er es an mancher Stelle des Werks tut, auf das Hergebrachte, auf die Grabmale und die nickende Statue, er zeigt den Friedhof durch ein Tableau an, in dem die schwarz verhüllten Frauen der Bewegungschöre streng geordnete Rechtecke bilden, und überlässt den Raum der Musik. In diesem Augenblick steuern erst das Continuo und später die Stimmführer des Orchesters einen Ausschnitt aus dem Dissonanzen-Quartett Mozarts bei – und schon ist die Atmosphäre da, kann das Finale eingeleitet werden. Das macht staunen. In gleichem Masse übrigens, wie die Kunst von Nadezhda Pavlova bewundert werden kann, die in Salzburg wie damals in Luzern die Donna Anna gibt: als eine grosse Heroin, wenn auch ohne aufgesetztes Pathos. Blendend beherrscht sie die Partie, mit perlenden Läufen, mit perfekter Intonation auch im geraden Ton, mit einem sagenhaften Appell ans Publikum bis hin zu einem expressionistisch zugespitzten Schrei in dem Moment, da sie Don Giovanni als Mörder ihres Vaters erkennt. Angeführt vom Dirigenten, der die Verbindung zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen ebenso emphatisch besorgt wie im Luzerner Konzertsaal, steht das Orchester mit seiner geradezu solistischen Transparenz der Sängerin mit vitaler Zugewandtheit zur Seite.

Erstaunlich auch Michael Spyres. Natürlich erscheint sein Don Ottavio auch hier als der Vertreter der alten, ständischen Ordnung, der sich, letztlich handlungsunfähig, in seine Phantasiewelt verzieht, aber das Weichei, als das er in mancher Produktion von «Don Giovanni» auftritt, ist er nicht. Den grossen Tonumfang der Partie bewältigt er mühelos, jedenfalls besser als die Koloraturen; und wie er seinem Timbre auch heldischen Glanz beizumischen vermag, stellt einen echten Gewinn dar. Als Donna Elvira bringt Federica Lombardi Betroffenheit, aber auch etwas viel Vibrato auf die Bühne. Und alles andere als im Abseits der Nebenrollen der selbstbewusste Masetto von David Steffens und die keineswegs soubrettenhafte, schön konturierte Zerlina von Anna Lucia Richter. Davide Luciano schliesslich als Don Giovanni: ein Energiebündel sondergleichen. Glanz und Metall in der Stimme, Virilität und Agilität im körperlichen Ausdruck lassen keine Wünsche offen. Die Champagnerarie gelingt fabelhaft, auch weil das Orchester hochgefahren und durch Blitzlichtgewitter aus dem Club illuminiert wird. Noch eindrücklicher aber die Verführung Zerlinas, die von hingebungsvoller Zartheit lebt. Dass der Zerlina ein bühnennacktes Double assistiert, das die Beine streckt und anzieht, hat seine Logik, singt die junge Bäuerin doch deutlich genug von ihrem Dilemma – Romeo Castellucci lässt es ebenso unzweideutig wie diskret sehen.

Im Ausnahmezustand – die Salzburger Festspiele 2020

Von Peter Hagmann

Salzburg, ein Sommermärchen?

Im Grunde war es der einzig richtige Weg – im Falle der Salzburger Festspiele erst recht. Während sich das Virus rasant verbreitete, das öffentliche Leben Schritt für Schritt stillgelegt wurde und die grossen Musikfestivals Europas die für den Sommer 2020 geplanten Ausgaben absagten, hielt man in Salzburg erst einmal still. Sehr lange hielt man still. Dann aber, am Abend des 25. Mai, nachdem die österreichische Regierung weitgehende Lockerungen des Corona-Stillstands verfügt hatte, gaben die Salzburger Festspiele bekannt, dass die Ausgabe zum Jubiläum ihres hundertjährigen Bestehens tatsächlich stattfinden werde, wenn auch in modifizierter Form: mit einem ausgeklügelten Sicherheitskonzept für alle Beteiligten, mit einem reduzierten Programm, mit einem deutlich verkleinerten Angebot an Sitzplätzen, mit Anlässen, die, ohne Pause und Gastronomie durchgeführt, eine Dauer von zwei Stunden nicht übersteigen sollten. Das mutige Warten und das tatkräftige Umgestalten des Programms haben sich gelohnt. Die Salzburger Festspiele als die ausstrahlungsmächtigste Institution ihrer Art führten damit vor, dass die Pandemie nicht das Ende der Kultur bedeuten muss.

In Salzburg angekommen, nimmt man mit Erleichterung Anzeichen von Courant normal wahr. Die Flaggen auf der Staatsbrücke wehen wie immer, die Kaffeehäuser sind belegt wie stets, an gewissen Orten herrscht das übliche Gedränge. Und doch: So wie jeden Sommer ist es nicht. Die Masken, in Österreich «MNS» oder «Mund-Nasenschutz» genannt, fallen schon auf, zumal in den Festspielhäusern, wo sie obligatorisch sind. Die Getreidegasse ist so leer, dass man für einmal die Möglichkeit hat, ihre architektonischen Schönheiten zu entdecken. Und im «Bazar» kann man, wenn man sich nicht allzu ungeschickt anstellt, sogar einen Tisch finden. Bemerkenswert auch die Belegung der Spielorte, an denen das Publikum nach der Art eines Schachbretts auf die Sitze verteilt ist; so ist es wenigstens im Grossen Festspielhaus, wo auch einander nahestehende Menschen einen Sitz zwischen sich freizulassen haben (in der Felsenreitschule wird das Prinzip offenbar nicht gar so streng gehandhabt). Der Abstand zum Nächsten ist gefordert – was nicht jedermann als Nachteil empfinden wird, was eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele mit ihrer eminenten sozialen Funktion aber schwer trifft.

Indes geht es in Salzburg wohl doch in erster Linie um die Kunst. In dieser Hinsicht stellte die vollkommene Umstellung des Programms einen Drahtseilakt erster Güte dar, freilich auch einen Schritt, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das Angebot musste überdacht und neu disponiert werden. Bisher verkaufte Karten mussten rückvergütet, Plätze für das neue Programm mussten verkauft werden. Ein Sicherheitskonzept war zu entwerfen und zu testen. Und das alles in kürzester Zeit und unter dem Damoklesschwert von Planungsunsicherheit und unklarer Informationslage. So musste denn von dem schön durchdachten, äusserst reichhaltigen Programm zur Jahrhundertfeier der Festspiele Abschied genommen werden. Endgültig ist der Abschied jedoch nicht; weite Teile des Programms sollen zu späteren Zeitpunkten realisiert werden.  Der aussergewöhnlichen Umstände wegen dauert das Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele denn auch bis zum 31. August 2021, das gilt selbst für die anregende Ausstellung «Grosses Welttheater» im Salzburg Museum am Mozartplatz.

«Elektra»

Ausrine Stundyte (Elekttra) und Asmik Grigorian (Chrysothemis) in der Salzburger ,«Elektra» (Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele)

Statt der geplanten vier Neuinszenierungen gab es bei den Salzburger Festspielen 2020 also nur deren zwei. «Elektra» von Richard Strauss, einem der Gründerväter der Festspiele, wurde unverändert aus dem ursprünglichen Programm übernommen – eine herausragende Produktion, die erwies, dass die Pandemie das eine, die Kunst dagegen das andere ist. Die Wiener Philharmoniker traten, so machte es den Anschein, in voller Besetzung auf und liessen die opulente Partitur in ganzer Pracht erklingen. Im Moment der Katastrophe am Ende des knapp zweistündigen Einakters drehte das Orchester ungehemmt auf – und da wurde wieder einmal deutlich, dass das Fortissimo nicht zu Stärken der Wiener gehört, die Krone gebührt diesbezüglich den Berliner Philharmonikern. Aber die Farbenpalette, die aus dem Graben der Felsenreitschule drang, war von betörender Sinnlichkeit. Nicht zuletzt ist das dem Dirigenten Franz Welser-Möst zu danken, der mit ebenso viel Fingerspitzengefühl wie Temperament bei der Sache war.

Täuschte der Eindruck oder legte Welser-Möst den Akzent tatsächlich weniger auf die geschärften Seiten der Partitur als auf ihre klangsinnliche Ausstrahlung? Klang am Ende, wie Elektra den ahnungslosen Ägisth in die Arme ihres blutig rächenden Bruders treibt, nicht sogar ein wenig «Rosenkavalier» an? Nicht zu überhören war jedenfalls, dass des Dirigenten Deutungsansatz Hand in Hand ging mit den vokalen und den szenischen Intentionen. Elektra wird vom Regisseur Krzysztof Warlikowski von Anfang an als eine gebrochene Frau gezeigt. Zu Beginn sieht man sie, verkörpert von einem Double, nackt unter einer Dusche stehen, wo sie unter Aufsicht einer herrischen Zofe Körperpflege zu betreiben hat; später wird sie ihrem Bruder sagen, sie habe im Palast zu Mykene alles hergeben müssen, selbst ihre Scham. Es ist weniger die Obsession als deren Ursache, als der heillose Schmerz, der Elektra zu Boden drückt. Ausgezeichnet spiegelt sich das in Stimme und Darstellung von Ausrine Stundyte. Die Sopranistin aus Litauen ist keine Heroine, ihr Timbre zeichnete eher fein und stellt die verletzte Seite der Figur in den Vordergrund.

Ganz anders die Chrysothemis von Asmik Grigorian. Die ebenfalls aus Litauen stammende Salome von 2018 verfügt über eine Stimme von fabulöser Ausstrahlung und enormem Ambitus sowie eine szenische Präsenz sondergleichen. So erscheint die Chrysothemis hier, im Gegensatz zu den allermeisten Inszenierungen von «Elektra», nicht als die etwas biedere, nach Eheglück und Kindersegen strebende kleine Schwester, sondern als eine starke, ganz und gar dem Leben zugewandte Frau – als die Einzige in der Familie der Atriden, die nicht von Fluch und Wahn besessen ist, sondern positive Lebenskraft ausstrahlt. Eine grossartige Besetzungsentscheidung und eine in jeder Hinsicht überzeugende Darbietung auf der Bühne war das. Nicht minder eindrücklich der Orest von Derek Welton. Sein Auftritt mit dem lapidaren ersten Satz «Ich muss hier warten» gerät zum Höhepunkt der Oper; genau hier liegt, so der Eindruck an diesem Abend, die dramaturgische Scharnierstelle. Äusserst berührend in der Folge der Vorgang des Erkennens, an dem Jens Larsen als der alte Diener mit Schauspielkunst vom Feinsten teilhat.

Etwas oft wird an der Rampe gesungen, gewiss; störend ist es nicht. Es kommt der klanglichen Balance zugute, und in der Tat bleiben die Stimmen fast jederzeit präsent – ganz anders als in der letzten Salzburger «Elektra» von 2010, in welcher der Dirigent Daniele Gatti mit seinen Fortissimo-Exzessen das Bühnengeschehen zum Stummfilm werden liess. Darüber hinaus sind die Figuren derart plastisch gezeichnet, dass sie auch in Momenten sparsamer Aktion greifbar bleiben. Zum Ausdruck kommt das etwa bei der Klytämnestra von Tanja Ariane Baumgartner, deren Mezzosopran grandiose Kontur gefunden hat und deren Darstellungskraft enorm gewachsen ist. Ohne jeden Druck macht sie die Klytämnestra zu einer buchstäblich unheimlichen Theaterfigur.

Sie wird dadurch zur Quelle allen Übels – was als Feststellung allerdings darum nicht restlos stimmt, weil in der Inszenierung Warlikowskis der Mythos als allgegenwärtig gezeigt wird. Links auf der Bühne von Małgorzata Szczęśniak steht ein ausladender Kasten. Es ist der Schrein der Erinnerung. Durch die gläsernen Wände wird ein Salon sichtbar, in der die vermeintlichen Sieger der Geschichte, die bald ein unrühmliches Ende finden werden, ihr üppiges Leben führen. Wie sich der Mythos zu erfüllen beginnt, bewegt sich der Schrein ins Zentrum, worauf in einer raffinierten Videoarbeit von Kamil Polak auf den geschlossenen Arkaden der Felsenreitschule das Blut fliesst. Gierig aufgesogen wird dieses Blut von einer wachsenden Zahl an Fliegen, die sich nach und nach zu einem kreisenden Wirbel fügen – eine szenische Metapher, wie sie zum Ausbruch des Wahnsinns und zur musikalischen Explosion am Ende von «Elektra» nicht besser passen könnte.

«Così fan tutte»

Lea Desandre als Despina, Marianne Crebassa: als Dorabella und Elsa Dreisig als Fiordiligi in «Così fan tutte» (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Neben Richard Strauss durfte in dem halben Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele Wolfgang Amadeus Mozart nicht fehlen. Im ursprünglichen Programm war «Don Giovanni» mit Teodor Currentzis und Peter Sellars vorgesehen. Der sinnenfreudige Totentanz musste ersetzt werden; an seine Stelle trat – «Così fan tutte». Wie das? Das Dramma giocoso mit seiner Länge von gut drei Stunden an einem pausenlosen Abend? Gewiss nicht, das Stück wurde auf etwas mehr als zwei Stunden gekürzt – ein Eingriff in ein Allerheiligstes des Kanons, von der Pandemie gefordert und durch sie gerechtfertigt. Das lässt sich umso eher sagen, als die Erstellung der Salzburger Bühnenfassung durch die Dirigentin Joana Mallwitz und den Regisseur Christof Loy ausgesprochen geglückt ist. Gestrichen wurde – das Programmbuch lässt es verdienstvollerweise nachvollziehen – in rezitativischen Teilen, wegfallen mussten aber auch Arien: jene der Despina im ersten Akt, drei der beiden Herren und ein Quartett im zweiten Akt, der in mancher Aufführung etwas Länge zeigt. Natürlich ist es schade um die Musik, die nicht erklungen ist, und um die Proportionen, die gestört sind, der dramatischen Stringenz war das Vorgehen eher förderlich.

Unterstrichen wurde es durch eine Inszenierung, deren Minimalismus beinah zu einer halbszenischen Wiedergabe führte. Die Erinnerung an den «Ring des Nibelungen» Richard Wagners 2013 beim Lucerne Festival lag jedenfalls nahe, zumal die Wirkung von «Così fan tutte» im Grossen Festspielhaus von ähnlich bezwingender Direktheit war. Die Bühne von Johannes Leiacker, ganz in Weiss gehalten, begnügte sich mit einer durch zwei Flügeltüren gegliederten Wand und einigen Treppenstufen, beides über die ganze Breite gezogen. Davor ein Sextett von Darstellerinnen und Darstellern, für die Barbara Drosihn fast durchwegs gehobenes Schwarz heutiger Provenienz entworfen hatte; nur für die Verkleidung von Ferrando und Guglielmo sowie für die beiden Auftritte Despinas als Doktor und als Notar waren Kostüme im eigentlichen Sinn in Verwendung – die Differenz zu Szenenbildern früherer Zeit, zumal solchen aus Salzburg, hätte grösser nicht ausfallen können. Eine Verortung des Stücks durchs Optische blieb ebenso aus wie ein Positionsbezug des Regisseurs zu dem eigenartigen Experiment Don Alfonsos mit dem Partnertausch der beiden jungen Paare. Der puristische Ansatz hatte insofern seinen Reiz, als man sich ganz auf die komplexe Interaktion zwischen den Beteiligten konzentrieren konnte. Umso frustrierter liess einen dann aber das Ende zurück – und damit die Frage, was Mozart und Da Ponte mit dem Stück wollten.

Sah die Inszenierung deshalb doch ein wenig nach Notlösung aus, so wurde dieser Eindruck deutlich relativiert durch die Entschiedenheit, mit der Geschehen musikalisch wie szenisch geformt war. Für einmal waren die beiden Paare als solche problemlos zu erkennen: an den Haarfarben, vor allem aber an den Timbres. Als Fiordiligi brachte Elsa Dreisig, blond, einen leicht geführten, hellen Sopran ein, während Andrè Schuen, dunkelhaarig, als ihr Bräutigam Guglielmo mit einem kernigen, in der Tiefe verankerten Bariton aufwartete. Spiegelbildlich angelegt das andere Paar, bei dem Bogdan Volkov, blond, als Ferrando einen lyrischen, obertonreichen Tenor hören liess, dem Marianne Crebassa, dunkelhaarig, einen samtenen, runden Mezzosopran gegenüberstellte. Auf dieser lange nicht in jeder Produktion so klaren Basis konnte der Regisseur witzig und virtuos mit den Irrungen und Wirrungen des Partnertauschs spielen. Ausgezeichnet gelang dies auch dank der entschiedenen Steuerung des Experiments durch Johannes Martin Kränzle, der einen keineswegs altersweisen, sondern durchaus lebensbezogen fordernden Don Alfonso gab und der mit der Despina der quirligen Lea Desandre eine raffinierte Assistentin an der Seite hatte.

Am Pult die junge Joana Mallwitz, die ursprünglich die Wiederaufnahme der «Zauberflöte» hätte dirigieren sollen, nun aber mit «Così fan tutte» Aufsehen erregte. Zügig ihre Tempi, fast so zügig wie bei Arnold Östman. Sehr leicht und agil der Ton, in dem sie durch die besondere Beleuchtung der Bratschen immer für überraschende Akzente sorgte. Nur wirkten leider die Wiener Philharmoniker, anders als bei «Elektra», hier nicht besonders inspiriert. Sie traten mit der Dirigentin nicht wirklich in Dialog, sie versahen ihren Part eher so, wie sie ihn immer versehen. In Fragen der Artikulation und des sprechenden Musizierens blieben einige Wünsche offen. Das führte zumal im zweiten Akt (und trotz der dort vorgenommenen Kürzungen) immer wieder zu Durchhängern in einer sonst sehr animierten Produktion.

Wie auch immer: Gut, dass die beiden Abende stattfanden. Erst recht, dass sie auf diesem Niveau stattfanden. Auf dem Salzburger Niveau – Corona hin, Corona her.

Unentwegt auf der Suche nach der musikalischen Wahrheit

Letzte Begegnungen mit Mariss Jansons

 

Von Peter Hagmann

 

Natürlich: «Was ist Wahrheit?». Die Frage des Pontius Pilatus bleibt im Raum. Vielleicht, weil es die Wahrheit an sich nicht gibt, weil nur verschiedene Wahrheiten denkbar sind. In der Musik als klingendem Kunstwerk ist es definitiv so. Die Partitur ist ein vieldeutiges Zeichensystem, und die Interpreten, die sich auf die Suche nach den Geheimnissen in diesem Zeichensystem aufmachen, stehen alle für ihre je eigenen Sichtweisen ein. Dennoch kommt es, im Konzert noch mehr als in der Oper, immer wieder zu Momenten, da sich beim Zuhörer das Gefühl einstellt, der Wahrheit begegnet zu sein – allem Wissen zum Trotz, dass diese eine Wahrheit nicht existiert. Bei Mariss Jansons, der am 30. November 2019 76-jährig in St. Petersburg gestorben ist, ereignete sich das noch und noch.

Ich denke zurück an die beiden Opernproduktionen bei den Salzburger Festspielen, für die Markus Hinterhäuser den Dirigenten hatte gewinnen können. Bei «Lady Macbeth von Mzensk» von Dmitri Schostakowitsch im Sommer 2017 blieb Jansons der Brutalität des Stoffs und der Härte seiner Vertonung nicht das Geringste schuldig. Wie es seine Art war, durchdrang er die Partitur bis in letzte Einzelheiten und gewann dort Energie und Legitimation für seine Art der klanglichen Schärfung. Zugleich aber war er, wie es ebenfalls zu seinem Künstlertum gehörte, den Figuren und ihren musikalischen Erscheinungen empathisch verbunden, weshalb Schostakowitschs freches Jugendwerk nicht allein seine Fratze zeigte, sondern auch Schönheiten und menschlich anrührende Seiten offenbarte. So also kann dieses Werk erscheinen, mochte man damals denken und sich einer Art Wahrheit nahe fühlen.

Ähnlich und doch gerade umgekehrt lag der Fall bei «Pique Dame» von Peter Tschaikowsky im Jahr darauf. Diese Produktion stand ganz im Zeichen des Dirigenten – trotz dem Regisseur Hans Neuenfels an seiner Seite. Jansons begegnete der Partitur mit unverstellter emotionaler Anteilnahme, liess die Musik glühend aufrauschen und führte sie in einen warmen, vielfarbigen, ruhig voranstrebenden Zug. Weil er aber auch hier den Notentext so beim Wort nahm, wie er es immer tat, gelang es ihm, jeder Sentimentalität aus dem Weg zu gehen – grossartig, hinreissend war das, auch als Leistung des Ensembles und vor allem der Wiener Philharmoniker. In einer ganz eigenen Reinheit, denkbar fern jeden Gedankens an die Verurteilungen Adornos und einer unmittelbar berührenden Schönheit erstand hier die Musik Tschaikowskys. Und Schönheit heisst: Wahrheit.

Die letzte grosse Orchesterliebe Mariss Jansons’ galt dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München. Als er im Herbst 2003 sein Amt antrat, stellte sich durchaus die Frage, welche Optionen da noch offen stünden, denn Jansons’ Vorgänger Lorin Maazel hatte das Orchester zu glanzvoller Ausstrahlung gebracht – die zirzensisch angereicherte «Rosenkavalier»-Suite von Strauss, vor allem aber der Mahler-Zyklus zum Abschluss seiner Ära hatten starke Markenzeichen gesetzt. Aber dann kam Jansons mit seiner akribischen, wenn auch nie pedantischen Probenarbeit, mit der gern unterschätzten Weite seines ästhetischen Horizonts, mit seiner Fähigkeit, die Musiker in eine gemeinsame Idee einzubinden – und verlieh dem Orchester eine ganz neue Identität. Nicht dass es noch besser geworden wäre, das war gar nicht die Frage, das BR-Symphonieorchester ist anders geworden – aber wie.

Zu hören war es etwa an den Osterfestspielen Luzern, die das Orchester, über viele Jahre in Residenz, mitgestaltet hat. Aber auch in den zahlreichen Konzertmitschnitten, die auf dem Label des Bayerischen Rundfunks publiziert worden sind. Anton Bruckners Symphonie Nr. 8 zum Beispiel, selbstverständlich in der Originalfassung, lässt es klar erleben. Grosszügig schwingen die Linien aus, plausibel werden die weitgespannten Verläufe durch die Tempogestaltung strukturiert, mächtig, aber ohne jede Grobheit erhebt sich der Klang. Getragen wird das ruhig atmende Geschehen durch jene Genauigkeit im Einzelnen, die Mariss Jansons ein Leben lang verfolgt hat. Ein Star war er nicht, er war nur Dirigent, nur Musiker, das jedoch ohne Kompromisse.

Erheiternd bissig, farblos schwergewichtig

Salzburger Festspiele (II): Offenbach-Ehrung, Verdi-Flop

 

Von Peter Hagmann

 

Ungewohnt nimmt sich das Bühnenportal im Salzburger Haus für Mozart aus; mit seiner altsilbernen Einkleidung erinnert es an einen Berliner Operettentempel – und das zu Recht. Denn tatsächlich bringen die Salzburger Festspiele diesen Sommer zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren wieder eine Operette heraus. Mit «Orphée aux enfers» von 1858 erinnern sie an den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach, und zugleich fügen sie mit diesem frechen, schwungvollen Zweiakter, der den Beginn der Operette als Gattung markiert, den drei schwergewichtigen Opern mythologischer Ausrichtung das Gewürz des Satyrspiels bei. Nicht zu wenig wird da beigemischt, denn für die Inszenierung zeichnet Barrie Kosky verantwortlich, der Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, der sich in dem Genre wie kein Zweiter auskennt, der seine inszenatorische Handschrift zu einer Virtuosität sondergleichen entwickelt hat und ausserdem keinerlei Berührungsängste kennt.

 

Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele

«Orphée aux enfers» stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was das ehrwürdige Gut der Mythologie überliefert. Eurydike ist keineswegs von vibrierender Liebe erfüllt, sie hat sich vielmehr längst abgewandt von Orpheus, den sie für einen mittelmässigen Geiger und einen Winkelkomponisten hält; lieber vergnügt sie sich mit dem Hirten Aristäos, der in Wirklichkeit Pluto ist und als solcher über das Totenreich herrscht. Orpheus wiederum hält sich schadlos, indem er der treulosen Gattin eine Schlange ins Bett legt, von der sie während des Schäferstündchens mit dem totengöttlichen Hirten erwartungsgemäss gebissen wird – was auch Pluto passt, kann er doch seine Angebetete sogleich ins Totenreich entführen. Dort menschelt es ebenso gewaltig wie auf dem Olymp, was die mythologischen Erzählungen oft genug andeuten, was in der Operette Offenbachs jedoch erheiternd bissig zugespitzt und auf der Salzburger Bühne mit scharfem Witz vorgeführt wird.

Das Problem dabei waren die Dialoge. Wie es sich für die Salzburger Festspiele gehört, sind mit von der Partie nicht nur die Wiener Philharmoniker, die sich unter der Leitung von Enrique Mazzola in den für sie nicht eben alltäglichen Gefilden mit spritzigem Ansatz bewähren, sondern auch ein hochkarätiges Ensemble an Sängerinnen und Sängern, die sich ihrer unterschiedlichen Herkunft wegen für die Dialoge aber nicht einsetzen liessen. Damit sie ihren Witz entfalten können, so Barrie Kosky, müssen die Dialoge in der Landessprache gehalten sein, während die Couplets in der französischen Originalsprache verbleiben können. Gelöst hat das Problem der Berliner Schauspieler Max Hopp, der, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in den glänzend blauen Frack eines Zirkusdirektors gekleidet, den ganzen Abend lang auf der Bühne das Geschehen begleitet. Wenn gesprochen wird, spricht er und nur er. Alle Partien übernimmt er also, die Darstellerinnen und Darsteller bewegen bloss ihre Lippen. Und dazu produziert der Sprecher, der auch singen darf (und es kann…), noch alle anfallenden Geräusche sowie einige mehr. Hochvirtuos ist das. Und hochamüsant.

Bisweilen wird es etwas zu amüsant. Dann zum Beispiel, wenn die Witze nicht nur dick auftragen, sondern auch wiederholt werden. Offenbach war ein zutiefst unanständiger Kerl, der gerade was die gesellschaftlichen Hierarchien betrifft, vor nichts zurückgeschreckt ist. Seine Waffe ist allerdings die scharfe Klinge der Ironie, nicht der Holzhammer, zu dem Barrie Kosky bisweilen greift. Dennoch herrscht an diesem Abend durchgehend gute Laune. Dank der herrlich verzopften Öffentlichen Meinung von Anne Sofie von Otter, dank Kathryn Lewek (Eurydike) und Joel Prieto (Orpheus), dank Marcel Beekman als Pluto, Martin Winkler als Jupiter und Frances Pappas als Juno. Wenn sich die flexible Bühne von Rudolf Didwiszus weitet und die von dem Choreographen Otto Pichler sehr traditionell, aber mitreissend rasant geführten Tänzerinnen und Tänzer in den berühmten Can-Can einfallen, springen die Zapfen wie von selbst von den Champagnerflaschen.

 

Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Es ist exakt dieses Prickeln, das der fünften und letzten Opernpremiere der Salzburger Festspiele 2019 fehlt. «Simon Boccanegra», vielleicht das beste Stück Giuseppe Verdis, erscheint im Grossen Festspielhaus als pflichtschuldig mitprogrammierte B-Produktion. Am Pult der Wiener Philharmoniker: Valery Gergiev, ein guter Dirigent, aber ein zweifelhafter Interpret, der die herrliche Musik Verdis mit den Wiener Philharmonikern schwerblütig, zähflüssig, rhythmisch unsorgfältig und nicht selten zu laut erklingen lässt. Und als Regisseur am Werk: Andreas Kriegenburg, dessen Arbeit ordentlich gelungen, aber nicht mehr geworden ist – jedenfalls nicht das, wodurch sich Festspiele wie jene in Salzburg vom saisonalen Normalbetrieb abheben möchten. Für das heisse Drama Verdis, das war Kriegenburgs Intention, hat Harald B. Thor ein puristisches Bühnenbild in strengen Formen gebaut, das mit seinen lichten Farben und dem durch eine Art Fensterluken durchscheinenden Meer den Spielort Genua leicht assoziieren lässt. Und auch hier ist das Stück, das zeigen die Kostüme von Tanja Hofmann, klar in der Gegenwart verortet. Nicht zu Unrecht übrigens, man muss nur die Zeitung lesen.

Die Geschichte selbst entfaltet jedoch keineswegs die Spannung, die sie erzeugen könnte. Die Ursache dafür liegt vor allem in der mangelhaften Ausgestaltung der Figuren. Als Gabriele Adorno bringt Charles Castronovo einen leuchtkräftigen, wenn auch mit etwas gar viel Schluchzern versüssten Tenor ein, nur steht er so händeringend am Bühnenrand, wie es Sänger italienischer Tradition nun einmal mögen – dem Regisseur ist dagegen kein Mittel eingefallen. Merkwürdig auch die Körperlosigkeit der Inszenierung; wenn sich Simon Boccanegra (Luca Salsi mit einem eher hell timbrierten Bariton) und Amelia Grimaldi (die fabelhafte Marina Rebekka) als Vater und Tochter erkennen, kommt es szenisch zu nicht mehr als einem Handkuss. Vollkommen rollendeckend dafür René Pape in der Partie des Finsterlings Fiesco; welch bedrohliche Schwärze kann in diesem grossartig fundierten Bass anklingen, wie weit gespannt ist das Potential der stimmlichen Ausdifferenzierung. So enttäuschend die Produktion als Ganzes wirkt – in ihren vokalen Höhepunkten erreicht dieser «Simon Boccanegra» das Niveau, das bei den Salzburger Festspielen seine eigene Tradition hat.

Männermacht und Frauenleid

Salzburger Festspiele (I): Opern von Mozart, Cherubini und Enescu

 

Von Peter Hagmann

 

Die künstlerisch hochstehende Interpretation, sie versteht sich in Salzburg von selbst. Für die Begegnung mit selten gespielten, zu Unrecht verkannten Werken gilt das schon weniger. Beides zusammen aber, und dies in enger dramaturgischer Verzahnung und mit zwingendem Blick auf die Welt unserer Tage – das sind die Salzburger Festspiele im dritten Jahr der Intendanz von Markus Hinterhäuser. «Der Mythos» wölbt sich als Leitgedanke über das im Zentrum der Festspiele stehende Opernprogramm. Elektra und Medea, Ödipus und Orpheus treten auf, das durch Neptun verkörperte Meer bringt Flut und Zerstörung oder löscht lodernde Flammen. Das klingt nach solider Bildungsbürgerlichkeit, ist aber das reine Gegenteil davon. Natürlich bilden die mythologischen Erzählungen, wie Hinterhäuser sagt, «das Archiv unserer Welterkenntnis». Ebensosehr verhandeln sie aber Grundfragen menschlicher Existenz: unser Verhältnis zu den Mächten der Natur, unser Umgang miteinander. Da wird, was auf den ersten Blick als klassisches Erbe erscheinen mag, mit einem Mal zur reinen Gegenwart.

«Idomeneo»

Paula Murrihy als Idamante / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Schon gleich in Wolfgang Amadeus Mozarts «Idomeneo», der Eröffnungsproduktion dieses Jahres, trat das zutage. Denn am Regiepult stand, wie vor zwei Jahren bei Mozarts «Clemenza di Tito», Peter Sellars. Der amerikanische Bühnenkünstler sieht «Idomeneo» als ein Stück über den Klimawandel und den an ihm ausbrechenden Generationenkonflikt wie über die Flüchtlingskrise. Die von George Tsypin für die Salzburger Felsenreitschule konzipierte Bühne ist verstellt von grösseren und kleineren Gegenständen aus Plastik; sie erinnern an das drängende Abfallproblem, aber auch an die Tierwelt der Ozeane, der vom Menschen so nachhaltig Schaden zugefügt wird. Und drastisch wird die trojanische Prinzessin Ilia, die von der Chinesin Ying Fang feinfühlig gesungen wird, durch den Kostümbildner Robby Duiveman als eine Flüchtlingsfrau gezeigt, die in einer hochnotpeinlichen Verhörsituation ihr Leid klagt. Idamante freilich, der junge griechische Königssohn, der die Trojanerin liebt, schenkt den Kriegsgefangenen die Freiheit und läutet damit einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch ein – die Irin Paula Murrihy zeigt in dieser für einen Kastraten geschriebenen Partie eindrückliches vokales Potential.

Fürs erste scheitert Idamante jedoch, denn Idomeneo – Russell Thomas leidet auch in dieser Partie unter einer engen Höhe – mag nichts von der Verständigung wissen. Fest hält er die Zügel in der Hand, wovon nicht zuletzt seine elegante Galauniform zeugt. Er hadert mit Neptun (Jonathan Nemalu), dem er zum Preis für die Errettung aus der tobenden Flut den ersten Menschen, dem er am Ufer begegnen werde, als Opfer versprochen hat – und dieses versprochene Opfer ist sein Sohn Idamante. Keinen Sinn hat er auch für die Liebe Idamantes zu Ilia, er hält vielmehr fest an der Verlobung seines Sohnes mit der griechischen Adligen Elettra, die sich aber getäuscht sehen wird – und da sind wir beim Glanzpunkt des Abends. Denn was Nicole Chevalier, die Violetta in der singulären Luzerner Produktion von Giuseppe Verdis «Traviata», an Bühnenpräsenz, dramatischer Ausstrahlung und stimmlicher Agilität einbringt, ist von hinreissender Wirkung. Dass Elettra an ihrer Wut nicht zugrunde geht, sondern sich folgsam ins Ensemble zurückzieht, stellt nur eine der Merkwürdigkeiten der Inszenierung dar. Mehr als das der Aufklärung verbundene Weltbild Mozarts scheint sie mir die gutmenschliche Grundhaltung des Regisseurs zur Geltung zu bringen.

Was dem Abend jedoch einzigartiges Profil verleiht, ist seine instrumentale Seite. Wie schon vor zwei Jahren ist als Dirigent Teodor Currentzis verpflichtet. Er steht allerdings nicht vor der MusicAeterna, der von ihm 2004 in Nowosibirsk gegründeten Formation, sondern vor dem Freiburger Barockorchester, dem ein sensationeller Auftritt gelingt. Herrlich der Klang der ohne Vibrato gespielten, in tiefer Stimmung gehaltenen Darmsaiten, zumal bei den vielen Liegetönen im Hintergrund, wunderbar die Tempi, gerade in der subtil überpunktiert genommenen Ouvertüre und in den Märschen, berührend die sensibel ausgeformten Übergänge. Die Akzente fallen so, wie sie bei Currentzis fallen: scharf und pointiert; aber in keinem Augenblick verliert sich etwas von der eigenartigen Wärme, die das Orchester erzielt. Auffallend auch der virtuose Generalbass mit dem Lautenisten Andrew Maginley und, vor allem, mit Marija Shabashova am Hammerklavier, die sich in der von Currentzis eingeschobenen Konzertarie «Ch’io mi scordi di te?» (KV 505) besonders profiliert. Sehr eigenartig dagegen der Gestentanz des aus Samao stammenden Choreographen Lemi Ponifasio, der zur abschliessenden Ballettmusik gezeigt wird.

«Médée»

Elena Stikhina (Médée) mit ihren beiden Kindern, links Pavel Černoch (Jason) / Bild Thomas Aurin, Salzburger Festspiele

«Idomeneo» nimmt, was die Beliebtheit beim Publikum betrifft, einen hinteren Rang ein. Erst recht gilt das für «Médée», die düstere Oper von Luigi Cherubini – die im Salzburger Grossen Festspielhaus nun allerdings zu einer unerhört spannenden Auslegung gekommen ist. Das Werk des in Frankreich naturalisierten Italieners – es erklingt in der französischsprachigen Originalfassung von 1797, allerdings ohne die dort vorgesehenen Sprechtexte – wird gemieden, weil seine musikalische Faktur als sperrig gilt und weil die Titelrolle besetzt ist durch den Geist von Maria Callas, die in dieser Partie ihren Höhepunkt an Identifikation und Ausstrahlung gefunden hat. Auch die Salzburger Festspiele hatten diesbezüglich ein Problem. Denn Sonya Yoncheva, die vielversprechende Wahl für die Rolle der Médée, hatte ihr Engagement zurücklegen müssen, weil sie in wenigen Wochen ein Kind zur Welt bringen wird. An ihre Stelle trat die junge Russin Elena Stikhina, die ihre Aufgabe auf hohem Niveau gemeistert hat. Ihr vokales Expansionsvermögen und ihr expressives Temperament versahen die komplexe Persönlichkeit, als die Medea in der Oper Cherubinis erscheint, mit fasslichen Zügen. Und zugleich passte ihre stimmliche Wärme genau zu dem Deutungsansatz, den der Regisseur Simon Stone im Sinn hatte.

Als die Ouvertüre anhob, setzten auch die vom Regisseur erstellten Filmsequenzen in Schwarz-Weiss ein – was sich einmal mehr als problematisch erwies. Auf die Musik Cherubinis muss man sich einlassen können, zumal in der Auslegung durch die Wiener Philharmoniker und den Dirigenten Thomas Hengelbrock, die den klassizistischen Duktus in keiner Weise beschönigten, ja ihn durch die sorgfältige Ausleuchtung der strukturellen und klangfarblichen Details noch unterstrichen. Die bewegten Filmsequenzen, welche die Gesichter sehr stark heranholten, forderten da jenes Zuviel an Aufmerksamkeit ein, das im bildlastigen Regietheater üblich ist. Allein, je weiter der Abend voranschritt, desto logischer erschienen die filmischen Einschübe. Jedenfalls wirkte, was sich Simon Stone zusammen mit dem Bühnenbildner Bob Cousins und der Kostümbildnerin Mel Page für diese anspruchsvolle Produktion erdacht haben, so eindringlich, dass die Parameter der Aufführung rasch zu neuer Ordnung fanden.

Stones Auslegung holt das das Geschehen aus der Vorzeit des Mythos heraus und versetzt es radikal in die Gegenwart – so wie es der Regisseur in jener erweiterten Neufassung der «Medea» des Euripides getan hat, die vor einem halben Jahr im Wiener Burgtheater zu sehen war: ein unglaublich bedrückender, weil in schneidender Schärfe gehaltener Abend, der von der überragenden Hauptdarstellerin Caroline Peters geprägt war. In diesem szenischen Projekt richtet Stone das Beziehungsgeflecht so ein, dass Medea jeder Zug ins Pathologische abgeht. Sie erscheint vielmehr als eine ganz normale junge Frau und Mutter, die ihrem Gatten Jason in vertrauensvoller Liebe zugetan ist. Die aber auch als brillante Forscherin Aufmerksamkeit erregt – mehr Aufmerksamkeit als der auf demselben Gebiet tätige Jason. Die Gattin um einige Zentimeter höher als der Gatte, damit hat Jason ein Problem. Er wendet sich der Tochter des Firmenchefs zu und wechselt damit in eine Liaison, die nicht nur eine neue Partnerschaft ohne Kinder, sondern auch steile Aufstiegschancen in Aussicht stellt. Womit die Dinge ihren schrecklichen Lauf nehmen – bis hin zu jenem Schlusspunkt, da Medea das gemeinsame Einfamilienhaus mitsamt der zwei Kinder in Flammen setzt.

Genau so zeigt Simon Stone die Médée Cherubinis: als eine Liebende, die nichtsahnend aus hohem Lebensstandard ins Nichts abstürzt. Am Ende bleiben der Ausländerin, die ihren Aufenthaltsstatus verloren hat und gehen musste, nichts als die verzweifelten Sprachnachrichten auf die Combox des Ex-Gatten, die Amira Casar aus dem Off vorträgt. Jason wiederum, Pavel Černoch lässt das überzeugender sehen, als er es singt, wird als das Ekel vom Dienst vorgestellt. Er ist nicht nur scharf auf Dircé (Rosa Feola), so heisst die Tochter des Königs von Korinth bei Cherubini, zwischendurch vergnügt er sich auch mit Damen anderer Art. Während Créon in seinen perfekt sitzenden Anzügen ganz der unerbittliche Machthaber ist – dank seinem sonoren Bass und seiner furchterregenden Körpersprache gelingt Vitalij Kowaljow hier ein grandioses Rollenporträt. In scharfem Realismus und zum Teil schauerlichen Bildern wird die Geschichte von Medea und Jason als eine durchaus heutige erzählt. Die Audienz, in der Medea dem finsteren Kreon das Aufenthaltsrecht für einen Tag abringt, wird als eine vom Fernsehen live übertragene Szene am Flughafen gezeigt, die Wiederbegegnung der Mutter mit ihren Kindern an einer tristen Bushaltestelle, das Ende mit dem Mietwagen an einer Zapfsäule, der Medea vor den Augen Jasons und einer entsetzten Menge das zur Selbstverbrennung benötigte Benzin entnimmt. Das sind Bilder, die sich einbrennen, der Mythos tritt einem bedrohlich nahe. Der Musik Cherubinis freilich bleibt am Ende vielleicht doch zu wenig Raum.

«Œdipe»

John Tomlinson (Tirésias) und Christopher Maltman (Œdipe) / Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele

Das ist bei «Œdipe», der über lange Jahrzehnte hinweg entstandenen Oper des rumänischen Violinvirtuosen und Komponisten George Enescu, entschieden nicht der Fall. Dafür sorgt zusammen mit den Wiener Philharmonikern, mit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und einem erstklassig besetzten Ensemble der Dirigent Ingo Metzmacher, der sich mit der ihm eigenen Energie in die Partitur hineingekniet hat und sie nicht nur in voller Länge, sondern auch in aller Farbenpracht erstehen lässt. Nein, «auferstehen» muss man sagen, denn «Œdipe», 1936 in der Pariser Oper aus der Taufe gehoben, wird ausserordentlich selten gespielt. Und wird noch viel seltener in einer so überwältigenden szenischen Fassung gezeigt, wie sie der immerhin 85 Jahre alte Theaterzauberer Achim Freyer auf die Bühne der Salzburger Felsenreitschule gebracht hat.

Auch in Enescus Oper tritt Kreon in Erscheinung; es ist zwar nicht Kreon von Korinth, sondern Kreon von Theben (Brian Mulligan), aber auch der ist ein undurchsichtiger Intrigant. Im Zentrum steht freilich Ödipus, dessen Leben von der Geburt bis zum Tod erzählt wird – vom Aufwachsen als Findelkind, vom Mord am nicht erkannten Vater und der Ehe mit der ebensowenig erkannten Mutter, vom Sieg über die Sphinx und von der Zeit als König in Theben bis hin zum Niedergang als Folge der Aufdeckung all der in Unwissenheit begangenen Untaten – ja bis hin zu der, so wollten es Enescu und sein Librettist Edmond Fleg, Verklärung im Tod. Auch hier findet der Mythos lebendige Präsenz, nur geschieht es auf ganz andere Art. Achim Freyer, der wie stets Inszenierung und Ausstattung aus einem Guss gestaltet hat, versetzt die Vita des Ödipus in seine Phantasiewelt, die von übergrossen Gestalten in ausladenden Kostümen bevölkert ist und durch Requisiten in starken Farben bereichert wird. Im weit ausgreifenden Eröffnungsakt, der allein den Freudengesängen rund um die Geburt des Ödipus gilt, liegt Baby Œdipe mit Riesenschädel noch auf dem Rücken und versucht strampelnd, auf die Beine zu kommen – Katha Platz macht das grossartig. Bald schon tritt aber, verkörpert durch den noch immer mit Donnerstimme versehenen Altmeister John Tomlinson, der blinde Seher Tirésias auf und verkündet das drohende Unheil, dem die Sehenden blind entgegeneilen. Inszenierung nicht als Interpretation, wie sie Simon Stone unternimmt, sondern als assoziatives Ins-Bild-Setzen, dies freilich auf allerhöchstem Niveau.

Schon ist Œdipe erwachsen, und schon schlägt die Stunde von Christopher Maltman, dem dieser Auftritt zur Sternstunde gerät. Unglaublich kernig sein Bariton, dabei sorgsam abgestuft in Timbre und Dynamik, dank gepflegter Diktion auch so gut wie jederzeit verständlich. Freyer lässt ihn als Ur-Mann erscheinen, als muskelprotzender Boxer, dem man an keiner Kreuzung in den Weg geraten möchte. Mit den blossen Fäusten erledigt er seinen Vater Laïos (Michael Colvin) und dessen Begleiter; nach jedem Schlag auf eines der Boxkissen, die aus dem Bühnenhimmel heruntergeschwebt sind, erhält er einen dicken Boxerhandschuh – so rot wie der grosse rote Schuh, der als szenisches Erinnerungsmotiv aus mancher Inszenierung Achim Freyers bekannt ist. Hier mag es der Schuh seiner Gattin und Mutter Jocaste (Anaïk Morel) sein, der ihm als Retter und König seiner Vaterstadt zukommt. Als solcher ist Œdipe die Macht selbst – Freyer denkt und arbeitet zwar als bildender Künstler, ist aber genau so viel Theatermann, der in Zusammenarbeit mit seinen Darstellern starke Bühnenfiguren schafft. Eine solche Figur ist die Sphinx (Eve-Maud Hubeaux), ein Monsterkasten von Frau, dem nach der Überwältigung durch Œdipe dann aber eine kleine Person mit Riesenbrüsten entsteigt.

Sehr schön gegliedert die Massenszenen, brillant eingesetzt die Arkaden der Felsenreitschule – und das alles nicht nur in nächtlichem Schwarz, sondern auch in ganz natürlich wirkender Zeitlupe. So, wie die weiten Bögen, in denen Ingo Metzmacher atmet, sich gleichsam von selbst entfalten. Ganz ruhig gleitet der Dirigent durch die riesige Partitur, und die Wiener Philharmoniker antworten ihm mit einem klanglichen Reichtum sondergleichen. Übrigens auch mit einem Fortissimo in denkbar schönster Kraftentfaltung – was sie, wie an diesem Ort schon mehrfach zu erleben war, nicht allen Dirigenten schenken. Ein Meilenstein, dieser Abend; wenn Festspiele einen Sinn finden, dann in einer Produktion wie dieser. In ihrer enormen Ausstrahlung, auch ihrer glücklichen Verbindung zwischen dem Musikalischen und dem Szenischen erinnert sie an «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen im Sommer 1992, dem ersten Jahr unter der Leitung von Gerard Mortier und Hans Landesmann. Damals standen zwei junge Leute mit etwas speziellen Ideen vor der Tür zur Direktionsetage. Einer von ihnen wirkt heute als Intendant der Salzburger Festspiele.