Spielarten des Bösen

Mozarts «Figaro» und Verdis «Macbeth»
an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit sei aus den Fugen, stellen die Salzburger Festspiele mit Shakespeares Hamlet fest. Das kann man wohl sagen. Ebenso liegt auf der Hand, dass eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele sich nicht in den Elfenbeinturm der künstlerischen Höchstleistung zurückziehen kann, dass sie vielmehr bewusst die Zeitläufte in den Blick zu nehmen hat. Ist das doch eingeschrieben im Erbgut einer Idee, die sich nicht zuletzt als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg konkretisiert und 1922 erstmals ihre Form gefunden hat. Dass mit Markus Hinterhäuser, der seit 2016 als Intendant die künstlerische Gesamtverantwortung trägt, etwas expliziter, etwas weniger immanent gelebt wird als ehedem, auch das liegt nahe. Schon in den frühen neunziger Jahren, als er in Salzburg noch eine Randfigur war, sprach Hinterhäuser davon, dass ihn der Krieg in Jugoslawien als Pianisten nicht gleichgültig lasse, die Grenze zu Slowenien sei nicht sehr weit von Salzburg entfernt.

So erstaunt nicht, dass das Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2023 unseren so ungut bewegten Tagen den Spiegel vorhält. Grosse Werke der Vergangenheit erzählen dem Publikum von der Gegenwart. Zum Beispiel, in Mozarts «Nozze di Figaro», vom Grafen Almaviva, einem Grapscher, der über Geld und Privilegien verfügt und sich darum alles erlauben zu können glaubt – ganz unbekannt kommt einem das nicht vor. Oder, in Verdis «Macbeth», von einem Offizier, der eine Machtgier sondergleichen an den Tag legt, der über jede Leiche geht und alles zerstört, am Ende sich selbst – auch das löst nicht eben angenehme Assoziationen aus. Falstaff sodann, in Verdis gleichnamiger Oper, auch er ist ein Mannsbild, wie es im Buche steht; dass er am Ende über sich selber stolpert, schafft eine Art Gerechtigkeit. Einen ganz besonderen Gegenwartsbezug weist «Die griechische Passion» auf, die 1961 in Zürich uraufgeführte, selten gespielte Oper von Bohuslav Martinů, die ein Drama um die Ankunft türkischer Flüchtlinge in einem griechischen Dorf zum Gegenstand hat. Ein Programm in solcher Konsistenz muss zuerst einmal erfunden werden.

«Le nozze di Figaro»

Die Idylle trügt… «Le nozze di Figaro» / Bild Matthias Horn, Salzburger Festspiele

Und dann, vor allem, realisiert werden. «Le nozze di Figaro» von Wolfgang Amadeus Mozart hätte problemlos die leicht tänzelnde, von zartem Humor getragene opera buffa werden können, als die das Stück in weiten Kreisen geliebt wird. Damit hatte der Regisseur Martin Kušej bei seiner Inszenierung im Haus für Mozart rein gar nichts am Hut, er schälte vielmehr heraus, mit welch unbarmherziger Präzision das Stück von Beaumarchais, Da Ponte und Mozart den gesellschaftlichen Gegebenheiten auf den Grund geht und die sich andeutenden tektonischen Verschiebungen skizziert. Dass «Le nozze di Figaro» 1786 in der Wiener Hofoper zur Uraufführung kommen konnte, dass Joseph II. die beissende Kritik zuliess, wo die Komödie Beaumarchais’ in Wien auf der Bühne doch verboten war, nur als Buch in deutscher Übersetzung kursierte – es kann immer wieder erstaunen. Auf den Einfluss Da Pontes am Hof allein ist es nicht zurückzuführen, eher noch auf die Einkleidung der fürwahr scharfen Aussagen in feingliedrige Ironie. Indessen steht genau diese Ironie in unseren Tagen dem Stück im Weg, sie verschleiert seine Brisanz. Dem suchte Kušej entgegenzuwirken. Er tat es in der drastischen Art, die für ihn charakteristisch ist – durchaus erfolgreich, wenn auch nicht zu durchgängiger Begeisterung der Kritik.

Almaviva ist das, was heute ein toxischer Mann genannt wird. Dem Ius primae noctis, das kein Gesetz war, doch ein durch die Praxis sanktioniertes Vorrecht, hat er zwar abgeschworen, er tat es aber nur öffentlich. Wenn er von der versammelten Angestelltenschaft des Schlosses dafür gefeiert wird, wirft eine Gruppe junger, weissgekleideter Mädchen ihre von Blutspuren getränkte Unterwäsche gegen eine Glasscheibe (Kostüme: Alan Hranitelj). Mit Susanna, der mit zauberhaft schlanker Stimme und grossartiger Stilsicherheit agierenden Sabine Devieilhe, geht es jedenfalls klar zur Sache – nur braucht es dafür am Ende doch deren zwei. Zum einen scheint Susanna mit ihrem Bräutigam Figaro (Krzysztof Bączyk) nicht wirklich glücklich zu sein, zum anderen mag sie die Gräfin zum Vorbild nehmen (Adriana González versieht ihre Partie mit warmem Klang und starker Ausstrahlung) – die Rosina aus dem Umfeld eines Barbiers von Sevilla, die durch die Verheiratung mit einem gewissen Almaviva gesellschaftlich einen Schritt nach oben getan hat.

Vielleicht schwimmt sie auch nur im Fahrwasser der nicht nur, aber vor allem erotischen Entfesselung, die im Hause Almaviva herrscht. Dafür steht die fast nackte junge Frau, die den Herrn des Hauses sorgfältig einkleidet. Dafür steht aber auch der juvenile, triebgesteuerte Cherubino, den Lea Desandre körperlich agil und stimmlich unerhört berührend verkörpert. Dafür steht in erster Linie aber Almaviva selbst, dem die Pistole locker im Halfter sitzt – selbst dann, wenn er im Schlafzimmer seiner Gattin eine Tür aufbrechen will. Der allseits gepflegte Griff zur Waffe spricht fvom Heraufdämmern der Revolution mit ihren Gewaltausbrüchen und Blutorgien (der Dramaturg Christian Longchamp hat dazu einen informativen Text verfasst, er steht allerdings im Programmbuch von «Macbeth»). Cherubino springt denn auch nicht in einen Garten, sondern in einen Haufen grosser Müllsäcke. Am Ende, nach den vielschichtigen Verirrungen in dem süssen Dickicht des Bühnenbildners Raimund Orfeo Vogt, hat sich der tiers état erhoben, steht Figaro aufrecht auf einem kleinen Hügel, während der Graf – es ist André Schuen, der über ein samtenes Timbre, aber nicht die nötige Tiefe verfügt – auf den Knien vor seiner Gattin um Verzeihung bittet.

Keine Revolution, aber doch so etwas wie einen Aufstand gab es bei den Wiener Philharmonikern, die sich nicht mit dem Mann am Pult anfreunden mochten. Markus Hinterhäuser versucht hartnäckig, den ästhetischen Horizont des Spitzenorchesters aus der Welthauptstadt der Musik zu erweitern. Darum hat er für den «Figaro» Raphaël Pichon engagiert, einen pointierten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, der mit seinem Ensemble Pygmalion hervorragende Arbeit leistet. Ein mit Spezialisten besetztes Ensemble und die Wiener Philharmoniker sind wahrlich zwei verschiedene Paar Stiefel, zumal wenn der Dirigent stilistisch auf dem neusten Kenntnisstand zu Werk geht. Am Ende haben sich die beiden Parteien aber gefunden. Pichon konnte vielleicht nicht alles realisieren, was er sich vorgenommen hatte, jedenfalls klangen die Wiener Philharmoniker nicht so, als wäre bei ihnen 1789 ausgebrochen. Aber insgesamt durfte sich der musikalische Ansatz des Abends sehr wohl hören lassen. Die Tempi hielten sich jederzeit in natürlichem Rahmen und waren ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Der Klang blieb leicht, transparent, vor allem von federnder Energie und rhythmischer Präzision geprägt. Und das Zusammenwirken mit der Bühne liess in der dritten Vorstellung nichts zu wünschen übrig.

«Macbeth»

Trautes Ehegespräch… «Macbeth» / Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele

Wie sich ein Orchester doch wandeln kann. Unter dem energischen Zugriff des Dirigenten Philippe Jordan klangen die Wiener Philharmoniker bei Giuseppe Verdis «Macbeth» grundlegend anders: unglaublich kraftvoll, ja muskulös, ohne dass die klangliche Schönheit gelitten hätte und die Balance gestört worden wäre, auch ohne jeden Moment der Bedrängnis für die durchs Band ausgezeichneten Sängerinnen und Sänger. Zugleich gelang Jordan dort, wo es die Partitur forderte, der Blick nach innen, hin zu den Befindlichkeiten der einzelnen Figuren und zu den solistischen Einwürfen der Bläser – Verdis Instrumentation erschien an diesem Abend, der zweiten von sechs Vorstellungen von «Macbeth», in neuem, glanzvollem Licht. Hinreissend auch der Auftritt der ausserordentlich gross besetzten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitet worden war.

Alles war da ins Grosse gerichtet – wohl der einzig mögliche Ansatz auf der Riesenbühne im Grossen Festspielhaus. Als Ausstatterin liess Małgorzata Szczęśniak die gesamte Spielfläche benutzen – was insofern eigene Ansprüche stellte, als das Stück nur wenige personalintensive Aufzüge kennt. Sie löste das Problem durch die Vervielfältigung der Zahl der Mitwirkenden und die simultane Präsenz von Nebenschauplätzen. Die immer wieder auftauchenden Hexen sind ein Chor blinder Frauen im Saal eines Behindertenheims, die Geister zahlreiche Kinder mit überlebensgrossen Köpfen, während die Bediensteten in ihrer schwarzen Kluft mit den weissen Handschuhen ohne Zahl sind. Dazu gibt es Videoprojektionen in unterschiedlichen Formaten. Von allem so viel, dass das konzentrierte Zuhören fast unmöglich wird.

Nur, was soll der arme Regisseur machen in einem Stück, das zwar den grossen Gefühlsausbruch kennt, sich aber in kleinen Schritten auf das unabwendbare schreckliche Ende hin zubewegt? Krzysztof Warlikowski stellt sich dem oratorischen Zug von «Macbeth» und positioniert den Chor gerne in schwarzen Gewändern an den Rändern der Bühne. Und er arbeitet gezielt mit Nähe und Ferne, mit Weitblick und Fokus. Zu Beginn rollt eine enorm in die Breite gezogene Sitzbank in den Vordergrund, auf der sich die beiden Feldherren Macbeth und Banco über ihre Erfolge freuen – beide, Vladislav Sulimsky wie Tareq Nazmi, in glänzender Verfassung. Dazu darf man über Video einer in einem seitlichen Tunnel vollzogenen gynäkologischen Untersuchung beiwohnen, an deren Ende Lady Macbeth erfährt, dass sie kinderlos bleiben wird. Das ist der Startschuss für den unglaublichen Antrieb zum Bösen, den die offenkundig zutiefst verletzte Frau auslebt, und der Auftakt zu einer sängerischen Grossleistung von seltenem Format. Asmik Grigorian reiht hier einen weiteren Salzburger Stern an Marie, Salome, Chrysothemis und Suor Angelica. Für das Trinklied im Zentrum des Werks mag ihr das letzte Quentchen an Kraft fehlen, aber vielleicht ist die Zurückhaltung auch gewollt, herrscht hier doch nur gespielte Ausgelassenheit. Schliesslich beginnt schon da der Niedergang; bald sitzt Macbeth, Vladislav Sulimsky fasst das stimmlich bewundernswert, vom Schlaganfall niedergestreckt im Rollstuhl, während sich seine irr gewordene Gattin durch ihre Wahnvorstellungen schleppt. Beide Opern, «Figaro» wie «Macbeth», enden in Jubel. Uns Heutigen bleibt bestenfalls ein Glühwürmchen an Hoffnung.

Hier galt’s der Kunst

Notizen zu den Salzburger Festspielen 2022

Von Peter Hagmann

 

Im Schatten der Debatten

Erstes Gesprächsthema im «Café Bazar» oder im «Triangel»: Teodor Currentzis und Russland, Russland und Teodor Currentzis. In unerbittlicher Schärfe wird die Konfrontation geführt. Ein Dirigent, der das von ihm gegründete Orchester mitsamt seinem Chor von Institutionen aus dem Umfeld des Kremls finanzieren lässt und der bis heute kein klares Wort gegen den abscheulichen Krieg der Russen in der Ukraine gefunden hat – ein solcher Dirigent habe bei den Salzburger Festspielen nichts verloren, betont die eine Seite, darunter ein deutscher Journalist, der durch seine vorlaute Ausdrucksweise auffällt. Markus Hinterhäuser dagegen, der Intendant der Salzburger Festspiele, hält eisern an Currentzis fest. Für ihn wiegt der künstlerische Verlust, der durch den Verzicht auf Currentzis einträte, zu schwer. Und er sieht das moralische Dilemma des Dirigenten, der durch ein einziges Wort die Existenz von Hunderten hochqualifizierter, erfolgreich tätiger Musiker aufs Spiel setzte. Der Fall ist komplex und nichts für den populistischen Zweihänder, der in und um Salzburg immer gern ergriffen wurde – man denke nur an die Reaktionen auf die ersten Auftritte des noch jungen Nikolaus Harnoncourt an der Mozartwoche oder auf den Amtsantritt Gerard Mortiers bei den Festspielen.

 

Endspiele

Judith (Ausrine Stundyte) und Blaubart (Mika Kares) (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Was die Kunst betrifft, und darum geht es bei den Salzburger Festspielen zuallererst, liess Teodor Currentzis keine Wünsche offen. «Herzog Blaubarts Burg» von Béla Bartók war musikalisch eine Offenbarung. Das Gustav Mahler-Jugendorchester klang warm, voll und farblich reichhaltig. Den grossen Moment in C-Dur, da Judith die fünfte Tür öffnet und in die Weite von Blaubarts Landen blickt, das dreifache Forte der riesigen Orchesterbesetzung mit den von der Seite in die Felsenreitschule hineinklingenden Blechbläsern habe ich noch nie so majestätisch gehört, derart wohlgeformt durch Mark und Bein gehend. Absolut geglückt auch die Besetzung mit Mika Kares (Blaubart) und Ausrine Stundyte (Judith). Und bezwingend die szenische Umsetzung aus der Hand von Romeo Castellucci, der die schauerliche Geschichte von der zum Scheitern verurteilten Annäherung der liebenden Frau an den in seine Vergangenheit verstrickten Mann als ein Seelenritual zeigt, das unaufhaltsam voranschreitet und dennoch in jedem Moment von vibrierender Empathie lebt.

Da waten sie denn durch das knöcheltiefe Wasser, das die Bühne bedeckt. Es mag für die unerhört direkte erotische Anziehung stehen, durch die Judith und Blaubart in dieser Inszenierung verbunden sind. Vor den ersten Tönen erklingen Laute eines Neugeborenen: Judith hat Blaubart ein Kind geboren, das im Verlauf des Stücks seine Rolle spielt. Beides, das Wasser wie das Kind, wird uns später wieder begegnen; es ist Teil jenes Denkens in Netzwerken, jenes Schaffens gleichsam unterirdischer Fährten, wie sie die Programmgestaltung Markus Hinterhäusers seit je ausgezeichnet haben. Dazu kommt, dass in den drei Neuinszenierungen dieses Sommers insgesamt sechs Einakter angesetzt waren. Denn auch Leoš Janáčeks «Katja Kabanova» ist, wiewohl abendfüllend und in Akte gegliedert, von der Wirkung her ein Einakter, während Giacomo Puccinis «Trittico», wie der Titel andeutet, drei Einakter unter einen Bogen bindet.

Dass auf «Herzog Blaubarts Burg» das Mysterienspiel «De temporum fine comoedia» von Carl Orff folgte, liess nun allerdings erstaunen. Das späte Werk des Bayern wurde zwar 1973 bei den Salzburger Festspielen aus der Taufe gehoben, und dies von keinem Geringeren als Herbert von Karajan, steht ästhetisch dem derzeit gelebten Profil der Festspiele aber denkbar fern. Gerade darum, um der Horizonterweiterung willen, mag Markus Hinterhäuser Orffs Werk gewählt haben – vielleicht aber auch wegen der höchst aktuellen Thematik. Orff schildert hier einen Endzustand der Welt, von dem wir möglicherweise weniger weit entfernt sind, als wir annehmen. Und er geht der Frage nach, warum in der Schöpfung dem Bösen, Zerstörerischen so viel Gewicht zukomme.

Orff stellt sich der Frage aus der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Und er begegnet ihr mit theologischem Handwerk und zugleich auf der Basis tiefen katholischen Glaubens. Verhandelt wird der Gegenstand mit den Mitteln, die der Komponist in langen Jahren entwickelt und zu seinem Personalstil gemacht hat: mit Sprechchören in stampfenden Rhythmen, mit nervös gespannten Tonrepetitionen, mit heftigen Schlägen eines Orchesters, das mit enormem Schlagwerk und zahlreichen tiefen Instrumenten besetzt ist – Teodor Currentzis ging auch hier beherzt zur Sache. Ein anderer Orff als jener der «Carmina burana» war da zu entdecken: ein Gewinn. Etwas quälend war dieser zweite Teil des Abends aber schon, trotz der vielschichtig belebten Szenerie Romeo Castelluccis. Wie am Schluss die Leiber der Verstorbenen aus dem Bühnenboden stiegen und sich die Felsenreitschule nach und nach mit Choristen in rosa Trikots füllte, wie sich endlich Lucifer in dreimaligem Ausruf seiner Schuld bekannte und sich Gottvater unterwarf, war die Erleichterung mit Händen zu greifen.

 

Sängerinnenkult

Zur Horizonterweiterung gehört auch die Wiederentdeckung Giacomo Puccinis. Hatte Gerard Mortier für sich noch festgehalten, dass Puccini in Salzburg ebenso wenig Platz finde wie Luciano Pavarotti, sieht das Markus Hinterhäuser gelassener. Ja, mehr noch, er schliesst sich den gerade in der deutschsprachigen Musikwissenschaft kursierenden Versuchen an, das Schaffen Puccinis in neues Licht zu stellen. In der ehemals prononciert progressiven, seinerzeit von Heinz-Klaus Metzger begründeten Schriftenreihe «Musik-Konzepte» zum Beispiel ist ein Band erschienen, in dem nachzuweisen versucht wird, dass Puccini keineswegs allein ein Meister im Umgang mit der Tränendrüse gewesen sei, dass sich in seiner Musik vielmehr reichlich gutes Handwerk finde – Handwerk nach deutscher Art mithin? Ob der Ansatz Zukunft hat, darf dahingestellt bleiben.

In der Salzburger Produktion von «Il trittico» war davon nichts zu spüren. Schön, gepflegt kam der Dreiteiler, in seiner vollständigen Form bei den Festspielen zum ersten Mal dargeboten, im Grossen Festspielhaus daher. Dass die drei Teile nicht in der vom Komponisten erdachten Abfolge erschienen, war freilich zu bedauern; «Il tabarro» als dräuendes Drama, «Suor Angelica» als Rührstück, «Gianni Schicchi» als witziger Kehraus – das hat seine bezwingende Logik. Der Regisseur Christof Loy dagegen stieg mit dem erheiternden Erbschaftsstreit ein, der aus Dantes «Divina commedia» stammt, stellte die tödlich endende Eifersuchtsgeschichte in die Mitte und schloss mit dem berückenden Porträt der jungen Frau, die eines unehelich geborenen Kindes wegen ins Kloster verbannt ist. Trotz Loys unverkennbarem Können und trotz der klaren Stimmungen in den Bühnenbildern von Etienne Pluss packte das nicht wirklich, es mag jedoch der übergeordneten Dramaturgie der Festspiele geschuldet sein. Tatsächlich führt Angelica nicht nur ihr Lebensende eigenhändig herbei, auf Anraten Loys blendet sie sich auch noch, worauf ihr kleiner Sohn, von dessen Tod sie erfahren hat, ebenso leibhaftig auf der Bühne erscheint wie das Kind Judiths.

Asmik Grigorian als Giorgetta (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Vor allem aber diente die Änderung in der Abfolge der heimlichen Protagonistin des Abends, denn die drei tragenden Frauenrollen im «Trittico» wurden von ein und derselben Sängerin verkörpert. Asmik Grigorian, in den letzten Jahren als Marie aus Bergs «Wozzeck», als Salome, als Chrysothemis aus Richard Strauss’ «Elektra» gefeiert, erfüllte auch diese Aufgabe hinreissend. Im Stimmlichen wie im Szenischen gleichermassen präsent, war sie das junge Mädchen Lauretta, deretwegen Gianni Schicchi (der vitale Misha Kiria) ans Totenbett des verstorbenen Buoso Donati gerufen wird, verkörperte sie dann die brennende Sehnsucht der Giorgetta im «Tabarro», berührte sie schliesslich als die unglückliche Nonne Angelica, als welche die Sängerin ihre ganze Emotionalität ausspielte. Wenig überzeugend hingegen der Auftritt der bösen Fürstin, die Angelica den Tod ihres Sohnes verkündet; als aufgeregte Managerin im grauen Hosenanzug wirkte Karita Mattila bei weitem nicht so bedrohlich, als es die Situation erforderte. Auch nicht ganz auf ihrer Höhe die Wiener Philharmoniker, die matt agierten und wenig koloristischen Reiz zeigten, zudem von Franz Welser-Möst zu einem Fortissimo von unschöner Schärfe angehalten wurden.

 

Zwangsjacke aus grauem Tuch

Die Hölle auf Erden, sie stand allenthalben im Raum – in der düsteren Burg Blaubarts, in der Apokalypse Orffs, in der Seelenpein der in unmöglicher Liebe entbrannten Giorgetta und jener der unter Nonnen gefangengehaltenen Angelica. Auch für Katja, die Titelheldin in Leoš Janáčeks «Katja Kabanova», gleicht das Leben einer Hölle. Sie ist eingemauert in einer Gesellschaft, die für enges Normendenken steht – Barry Kosky hat dafür in seiner meisterlichen Inszenierung von Janáčeks Oper ein ebenso stupendes wie treffendes Bild gefunden. Er liess die ganze Breite der Felsenreitschule vom Bühnenbildner Rufus Didwiszus vollstellen mit einer dichtgedrängten Menge an menschengrossen, von der Kostümbildnerin Victoria Behr in graues Tuch gekleideten Schaufensterpuppen, die immer wieder anders, aber jederzeit sinnreich angeordnet wurden, wenngleich nur von hinten zu sehen waren. Umso stärker wirkte die Weite der Bühne, welche die jungen Leute auf der Suche nach ihrem eigenen Leben für sich erkundeten und einnahmen.

Unter ihnen eben Katja, die mit dem offenkundig zu nichts fähigen Tichon verheiratet ist (Jaroslav Březina gibt diesen Ehemann grandios), in Wirklichkeit aber restlos unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter Kabanicha steht (auch Evelyn Herlitzius lässt hier keinen Wunsch offen). Eine Geschäftsreise Tichons gibt Katja den Raum, sich ihrem Herzensmann Boris (David Butt Philip) hinzugeben – was die junge Frau jedoch in derartige Gewissensnöte stürzt, dass ihr nichts anderes zu bleiben scheint als die Selbstbefreiung durch den verzweifelten Sprung in die Wolga. Da ist es wieder, das Wasser, das hier den tödlichen Endpunkt bildet, das Blaubart und Judith verband, das vor allem auch in dem von Ivo van Hove auf der Perner-Insel krass danebeninszenierten Schauspiel «Ingolstadt» nach Marieluise Fleisser eine Hauptrolle spielt. Vielleicht sind es tatsächlich diese kleinen Merker, die in dem immensen Angebot der Salzburger Festspiele für Kontextbildung sorgen.

Corinne Winters als Katja (Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele)

Zusammenhalt ergibt sich aber auch durch die Höchstleistungen einzelner Darsteller – Darstellerinnen, muss man hier sagen. Denn wie Asmik Grigorian sorgt auch Corinne Winters in der Hauptrolle von «Katja Kabanova» für einen sensationellen Auftritt. Was spielt sich in ihrem Gesicht nicht alles ab, was zeigt sie mit ihrer körperlichen Agilität nicht an innerer Bewegung, was bringt sie mit ihrer hellen, jugendlichen Stimme nicht alles zum Ausdruck. Alles ist hier Identifikation, vom Zuschauerraum aus verfolgt man es gebannt und bange, beglückt und hingerissen – dafür gehen Menschen ins Theater, ins Musik-Theater, und dafür brechen sie dann in Jubel aus. Corinne Winters hatte das Glück, von einem wunderbaren Orchester getragen zu werden. Am Werk waren erneut die Wiener Philharmoniker, nun aber unter der energischen, zielgerichteten Leitung von Jakub Hrůša, einem Dirigenten für heute und einem für morgen. Mit ihm entfalten sie ihr ganzes Potential: in der Farbenpracht, in der klanglichen Rundung, in der Kompetenz der Sängerbegleitung.

 

Mozart, ganz in der Jetztzeit

Eine Sternstunde anderer Art ereignete sich im Mozarteum – mit den drei letzten Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit dabei war das Mozarteumorchester Salzburg, das vor Jahresfrist beim Lucerne Festival einen ausgesprochen mittelmässigen Auftritt hatte. Hier nun, mit Riccardo Minasi am Pult, brach Frühlings Erwachen aus: Das Orchester wuchs förmlich über sich hinaus und war nicht wiederzuerkennen. Minasi ist ein fulminanter Geiger, der sich, was die historisch informierte Aufführungspraxis betrifft, bis in die innersten Gemächer auskennt; das in den letzten Jahrzehnten ausgebaute Rüstzeug steht ihm zur Gänze und in aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung, er weiss es auch mit einem hohen Mass an Phantasie einzusetzen. Reduktion der Besetzung, nuancierter Einsatz des Vibratos, ganztaktige Phrasierung, differenzierte Artikulation zwischen ausgespieltem Legato und scharfem Akzent, Gewichtungen innerhalb des Taktes – all das bringt er ein. Er tat es mit einer Lust am Musizieren, mit freundschaftlicher Kommunikation, mit einem Temperament, dass man selbst beim Zuhören ausser sich geriet – übrigens genau gleich wie die Orchestermitglieder, die ihrem Tun nicht nur mit hörbarem, sondern auch ersichtlichem Vergnügen nachgingen. Jedenfalls: Die Musik Mozarts klang, als wäre sie von heute; der Gegensatz zu den ausgeebneten Wiedergaben mit einem grantelnden Dirigenten am Pult hätte grösser nicht sein können. Ob das Finale der g-Moll-Sinfonie KV 550 so rasch genommen werden muss, bleibt Geschmackssache; es geriet jedenfalls untadelig. Und ebenso grossartig wie das Finale der C-Dur-Sinfonie KV 551, dessen komplexe Struktur in aller Helligkeit leuchtete. Hier galt’s der Kunst, fürwahr.

Seiner Entstehungszeit verhaftet und doch so gegenwärtig

«Intolleranza 1960» von Luigi Nono an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Maarten Vanden Abeele / Salzburger Festspiele

Die Pandemie ist alles andere als überstanden – die komplexe, aber mit landesüblicher Gelassenheit durchgeführte Eingangskontrolle, die Ermahnungen, für welche die Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler höchstselbst zum Mikrophon gegriffen hat, die allgegenwärtigen FFP2-Masken in den bis auf den letzten Platz besetzten Sälen liessen keinen Zweifel daran. In der Sache selbst sind sich die Salzburger Festspiele aber treu geblieben – und dies in einem Mass, das Vorbildcharakter trägt. Dafür spricht das Memorandum, das zum Jubiläum seines hundertjährigen Bestehens im letzten Sommer von seinen leitenden Gremien für das Festival proklamiert worden ist. Mehr noch zeugt vom selbstbewussten Überlebenswillen das Programm, das es an Reichhaltigkeit und Eindringlichkeit nicht fehlen liess. Es wurde für 2020 entworfen, konnte damals der Umstände wegen jedoch nur in Teilen realisiert werden und wurde darum, ebenfalls partiell, in diesen Sommer übernommen.

«Von allem das Höchste!» – das war die Devise, die sich die Festspielgründer Max Reinhart und Hugo von Hofmannsthal vorgegeben hatten. Sie gilt noch heute, nicht nur auf dem Papier des Memorandums, sondern und erst recht in der Salzburger Dramaturgie Markus Hinterhäusers, der als Intendant in seinem fünften Sommer steht. Offenheit und Beziehungsreichtum prägen sein Programm im Gesamten wie im Einzelnen. Christian Thielemann war da, mit Strauss und Bruckner, Riccardo Muti durfte sich zu seinem achtzigsten Geburtstag und seinem fünfzigsten Salzburger Sommer feiern lassen, Cecilia Bartoli und Anna Netrebo reichten sich die Klinke. Anwesend waren und sind aber auch Johann Sebastian Bach und Morton Feldman, beide auf den ihnen gewidmeten Inseln des Innehaltens mitten im brummenden Betrieb. Von Feldman gab es mit der Sopranistin Sarah Aristidou, dem ORF-Radiosymphonieorchester Wien und dem Dirigenten Roland Kluttig mit «Neither» die 1977 uraufgeführte Nicht-Oper auf einen Text von Samuel Beckett. Und wer für die fabelhafte Aufführung die Kollegienkirche betrat, sah sich mitten im Bühnenbild zu «Don Giovanni» in der Lesart des italienischen Theaterkünstlers Romeo Castellucci. Schade nur, dass die für 2020 geplanten «Moments musicaux» nicht in diesen Sommer übernommen werden konnten. In dieser neuen, reizvoll flexiblen Konzertreihe sollten jeweils nur der Name eines Interpreten sowie Datum, Zeit und Ort bekannt sein; was von wem vorgetragen werde, sollte erst zu Konzertbeginn bekannt werden.

Nicht fehlen durfte in dem um ein Jahr verlängerten Jubiläumsprogramm Luigi Nono, der 1990 verstorbene Komponist aus Venedig, mit dem die Salzburger Laufbahn Markus Hinterhäusers vor bald drei Jahrzehnten begonnen hat. Auf «Prometeo» (1993 und 2011) sowie «Al gran sole carico d’amore» (2009) folgte als drittes der drei Musiktheaterprojekte Nonos diesen Sommer «Intolleranza 1960», die 1961 im Teatro La Fenice Venedig zu tumultuöser Uraufführung gekommene «azione scenica» auf ein vom Komponisten selbst zusammengestelltes Libretto. Das Stück atmet durch und durch den Geist seiner Entstehungszeit, textlich wie musikalisch. Als es entstand, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Vergangenheitsbewältigung in Italien noch kaum in Gang gekommen, waren vielmehr, zumal für die hochsensibilisierten linken Kreise, Spuren der faschistischen Mentalität noch mit Händen zu greifen. «Intolleranza 1960» erzählt keine Geschichte, wiewohl die Rede ist von einem ausgewanderten Bergmann, der in seine Heimat zurückzukehren sucht, auf dem Weg zu einem unschuldigen Opfer von Polizeigewalt wird und schliesslich an einer Flut scheitert. Dieser minimale Erzählstrang wird zum Anlass genommen zu einem Aufschrei gegen die Brutalität, mit der Menschen gegen Menschen vorgehen – dargestellt mit den musikalischen Mitteln der Darmstädter Avantgarde, die sich Nono in sehr persönlicher Weise zu eigen gemacht hat.

In der heftigen Anklage und dem dringenden Aufruf zu einer auf gegenseitigem Respekt beruhenden Gemeinschaftlichkeit bildet «Intolleranza 1960» den radikalen Gegenentwurf zu Mozarts «Don Giovanni» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21), wo das entfesselte Ich herrscht – dieser Kontrast darf sich fürwahr Programmgestaltung nennen. Nonos Stück ist zwar hohe Kunst, und es ist Kunst aus einer Phase der Musikgeschichte, über die man heute gern mit Nachsicht hinweggeht, aber es trifft den Zuhörer, die Zuschauerin von heute mit aller Macht – eindeutiger könnte das Ausrufezeichen einer Institution wie der Salzburger Festspiele nicht ausfallen. Sehr wohl geht das auch auf die grandiose Realisierung in der räumlichen Weite der Felsenreitschule zurück. Am Pult der nicht nur im Orchestergraben, sondern auch auf zwei Emporen über der Spielfläche positionierten Wiener Philharmoniker sowie der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor behält der Dirigent Ingo Metzmacher die klanglichen Massierungen optimal unter Kontrolle. Als der im Mittelpunkt stehende Emigrant bringt Sean Panikkar einen blendenden hohen Tenor ins Spiel, während Anna Maria Chiuri als die erste, zurückgelassene Geliebte ihrem Zorn klangmächtig Ausdruck verleiht. Besondere Eindrücke hinterlässt Sarah Maria Sun, die als die zweite, neugewonnene Partnerin nicht nur grandios singt, sondern auch als eine äusserst sportliche Tänzerin in Erscheinung tritt.

Das alles in einer Inszenierung, die der belgische Theaterkünstler Jan Lauwers als Regisseur und Bühnenbildner (die Kostüme gehen auf Lot Lemm zurück) entworfen hat. Wie beim «Don Giovanni» von Romeo Castellucci herrschen auch hier weit ausschwingende choreographische Verläufe. Tänzerinnen und Tänzer von Needcompany, Bodhi Project und der Salzburg Experimental Academy of Dance sorgen für elegante optische Wirkungen und mehr noch für Ausbrüche körperlicher Energie, welche die musikalischen Verläufe optimal spiegeln. Ob die Szene, in welcher der zufällig in eine Demonstration geratene und dort verhaftete Emigrant gefoltert wird, so explizit gezeigt werden muss, darf offenbleiben – gerade in einer Zeit wie der heutigen, da auf dem Netz noch ganz andere Szenen konsumiert werden können. Ich glaube, dieses Kitzels bedarf es nicht, die Musik sagt genug dazu. Weitaus stärker wirkt der Moment, da der von Lauwers ins Stück eingelassene Dichter (Victor Afung Lauwers) seine Donnerstimme erhebt und ernste Fragen stellt, die vom Volk auf der Bühne mit höhnischem Gelächter beantwortet werden. Das ist, das vermag Theater.

Kontext und Kontrast

Im Konzert bei den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Christian Reiner (Er), der Dirigent Beat Furrer, Katrien Baerts (Sie) sowie Cantando Admont und das Klangforum Wien bei Furrers «Begehren» in der Salzburger Kollegienkirche (Bild Marco Borrelli, Salzburger Festspiele)

Heiss ist es in Salzburg – wie andernorts auch. Bei den Salzburger Festspielen, sie stehen diesen Sommer zum zweiten Mal unter der Gesamtverantwortung von Markus Hinterhäuser, kommen aber noch innere Hitzewellen dazu, geht es heuer doch um Leidenschaften wie das Begehren oder die Passion. Das edle Paar in Mozarts «Zauberflöte» hat einen Leidensweg zu absolvieren, bevor es zueinander finden darf. Die Titelheldin in Richard Strauss’ Einakter «Salome» verzehrt sich nach einem Mann, den sie erst dann küssen kann, wenn ihm der Kopf vom Leib getrennt ist. Ende Woche folgt mit Tschaikowskys «Pique Dame» eine Oper über die Spielsucht, später kommt Monteverdis «Poppea» dazu, wo ein Herrscher vor einer Frau Vernunft und Mass verliert. Den Abschluss macht mit den «Bassariden» von Hans Werner Henze, 1966 in Salzburg aus der Taufe gehoben, ein Klassiker der Moderne, der die Macht des Dionysischen verhandelt. Eine thematisch so konzise Abfolge, und das im hochkomplexen Betrieb des Musiktheaters, muss man erst zustande bringen.

Markus Hinterhäuser kann nicht anders. Seine Programme gehorchen nicht den Interessen von Künstlern mit grossen Namen oder ihrer Verfügbarkeit  – einem von seinem Vorgänger Alexander Pereira lustvoll und virtuos gehandhabten Verfahren. Hinterhäuser denkt konzeptionell, weshalb bei den Salzburger Festspielen alles mit allem irgendwie zusammenhängt. Selbst im Bereich des Konzerts. Wiewohl mit weniger gesellschaftlichem Aufsehen verbunden als die Oper und in früheren Zeiten bisweilen als Stiefkind behandelt, hat das unter Beizug von Florian Wiegand durchgeführte Konzertprogramm im Salzburger Spielplan neues Gewicht erhalten. Besondere Aufmerksamkeit erfährt es während der «Ouverture spirituelle», einem gut einwöchigen Format vor der eigentlichen Eröffnung und den ersten Opernpremieren. Und sein Gewicht erhält es durch die die spezifische Konsistenz in der Programmgestaltung. «Passion» hiess das Thema der «Ouverture spirituelle», und eröffnet wurde die Reihe mit einer Aufführung der Lukas-Passion des 84-jährigen Polen Krzysztof Penderecki durch bekannte Vokalsolisten, Chorsänger aus Polen und das Orchestre symphonique de Montréal mit seinem Musikdirektor Kent Nagano.

Wut und Verzweiflung

Nicht fehlen durfte in diesem Zusammenhang die Komponistin Galina Ustwolskaja, die 1919 in St. Petersburg geborene, 2006 daselbst gestorbene Schostakowitsch-Schülerin, für deren einzigartig unbequeme, den Zuhörer regelrecht durchschüttelnde Musik sich Markus Hinterhäuser als Pianist seit langem einsetzt. Ihre sechs Klaviersonaten, riesige Findlinge ganz eigener Art, spielt er immer wieder; schon vor zwanzig Jahren hat er sie auf CD aufgenommen, vor vier Jahren hat er sie Wien präsentiert, jetzt sind sie nach Salzburg gekommen – wo der Grosse Saal im Mozarteum, nota bene, so gut wie ausverkauft war. Hinterhäusers interpretatorischer Zugriff war von radikaler Kompromisslosigkeit; niemanden schonte der Pianist, sich selber nicht, den Steinway noch weniger, das Publikum am allerwenigsten.

In den frühen Sonaten, sie stammen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, herrscht spröde Einstimmigkeit, die Hinterhäuser durch subtilen Pedalgebrauch klanglich etwas ausstaffierte. Kommt es in diesen kantigen, von repetitiver Insistenz geprägten Verläufen einmal zu einem Akkord, wirkt es als Schock – beim Zuhören wird man da aufs Elementare zurückgeworfen. Ab der zweiten Sonate zeigen sich dann hie und da auch Sanglichkeit, auch Momente klaren Strukturdenkens, in der vierten zudem eine Neigung zu fast impressionistisch wirkenden Zusammenklängen. Ein Hammer sondergleichen dann die beiden späten Sonaten fünf und sechs; in den achtziger Jahren entstanden, sind sie im Gegensatz zu den frühen Werken jeweils kurze Zeit nach Abschluss der Niederschrift aus der Taufe gehoben worden. Wüste Schläge, metallische Klangflächen, die um einen Zentralton kreisen, scharf gehämmerte Bässe – unbarmherzig drängt sich da die Assoziation an tosende Wut und nagende Verzweiflung auf. An ein Leiden unvorstellbaren Ausmasses.

Absolut quer steht Galina Ustwolskaja in der Landschaft der neuen Musik; mit niemandem, mit nichts lässt sie sich in Verbindung bringen – selbst der Rückgriff auf den Futurismus, auf Musik wie die «Eisengiesserei» Mossolows, greift zu kurz. In der Sowjetunion musste sie sich bedeckt halten, im Westen ist sie spät in ihrem Leben entdeckt geworden. Der niederländische Dirigent Reinbert de Leeuw brachte sie und ihre Musik 1998 zum Festival «Wien modern». Unvergesslich die vereinbarte Begegnung mit der Komponistin in einem grossen Wiener Hotel; ausser einigen verlegenen Höflichkeiten brachte ich kein Wort heraus, derart überwältigt war ich vom Charisma dieser unscheinbar, fast etwas verängstigt wirkenden, zugleich aber auch wie mit einer anderen Welt verbundenen Frau. Hin und weg war ich dann auch von der damals vorgestellten Komposition Nr. 2, «Dies irae», für acht Kontrabässe, Holzwürfel und Klavier von 1973. Dass die Kontrabässe nicht nur im Verein brummen, sondern auch im Alleingang jammernde Höhen erklimmen, dass der Holzwürfel mit verschiedenartigen Schlägeln bespielt werden kann und beileibe nicht nur, wie in Mahlers Sechster oder den Orchesterstücken Bergs, als Ausdruck des Apokalyptischen erscheinen muss – das alles machten die Mitglieder des Klangforums Wien und ihr Dirigent Ilan Volkov deutlich.

Reine Schönheit

Indessen wird das Randständige, das Exzentrische in den Salzburger Konzerten nicht als Moment des exotischen Reizes eingesetzt, es bildet vielmehr Teil eines Geflechts, das anregende Verbindungen und frappante Kontraste schafft. Da bieten denn Teodor Currentzis und sein Orchester MusicAeterna aus Perm eine Gesamtaufführung der neun Sinfonien Beethovens, wozu die Berliner Philharmoniker mit ihrem neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko insofern Stellung nehmen, als sie in Salzburg drei Tage später mit Beethovens Siebter Station machen. Akzente setzte auch die Verbindung zwischen dem wenig bekannten Neuen und dem ebenso selten gespielten Alten. Das ist zugegebenermassen keine genuine Salzburger Erfindung. Im Zuge der Neuen Sachlichkeit aus dem frühen 20. Jahrhundert wurden alte und neue Musik gerne kombiniert – und wurde das als Einspruch gegen die in ihrer Spätblüte dominante Romantik verwendet, zum Beispiel bei dem 1926 von Paul Sacher gegründeten Basler Kammerorchester. Die Idee der Gegenüberstellung von Alt und Neu hat allerdings nicht an Reiz verloren, die Salzburger Konzerte unterstrichen vielmehr die Fruchtbarkeit dieser Konfrontationen. Vor allem, wenn sie sich auf interpretatorisch so schwindelerregender Höhe ereignen, wie es hier der Fall war.

«Zeit mit Ustwolskaja», so nannte sich der fünfteilige Zyklus, der die russische Komponistin porträtierte. Der Abend mit Ustwolskajas «Dies irae» – er brachte auch die Komposition Nr. 1, «Dona nobis pacem», für Piccolo, Tuba und Klavier sowie die Komposition Nr. 3, «Benedictus, qui venit» für vier Flöten, vier Fagotte und Klavier –, dieser Abend in der Salzburger Kollegienkirche hatte einen ersten Teil, der den «Musikalischen Exequien» von Heinrich Schütz galt, einer grossen Trauermusik, die 1636, mitten im dreissigjährigen Krieg, im thüringischen Gera erklang. Nach Salzburg gekommen waren dafür die Sänger und die Instrumentalisten des Collegium Vocale Gent mit seinem Gründer und langjährigen Leiter Philippe Herreweghe. Die schier unfassbare Schönheit dieses ersten Konzertteils, die berührende Musik, ihre makellose klangliche Umsetzung und die herrliche Akustik des barocken Kirchenbaus schufen einen Kontrast zur Fortsetzung des Programms, wie er sich stärker kaum denken lässt. Zumal Herreweghe und seine Kräfte zwei Tage danach Bachs h-moll-Messe auf der nämlichen Höhe zur Aufführung brachten. Allerdings in der für ein solches Unterfangen wenig geeigneten Felsenreitschule: Herreweghes Chor umfasst einen Solisten und zwei unterstützende Sänger, das Orchester ist dementsprechend klein besetzt, und beides ermöglicht eine musikalische Agilität, die sich freilich nur hochpräzisem Zuhören erschliesst.

«Zeit mit Furrer» heisst der zweite, derzeit noch laufende Schwerpunkt im Salzburger Konzertprogramm. Der vierteilige Zyklus ist dem Komponisten Beat Furrer gewidmet, dies als würdige Reverenz, nachdem der Österreicher aus der Schweiz (oder der Schweizer in Österreich) im Mai dieses Jahres den Siemens-Musikpreis hat entgegennehmen können (was im Netz der Netze einen hämischen, mehr durch Grossmäuligkeit als Kenntnis getragenen Kommentar auslöste). Auch dieser Zyklus setzt auf den Überblick über das gesamte Schaffen des Komponisten; vom Ensemblestück «Gaspra» aus dem Jahre 1989 bis zu dem vor zwei Jahren entstandenen Klarinettenquintett «intorno al bianco» reicht der Bogen. Und auch hier kam es wieder zum Zusammentreffen von Alt und Neu. «Invocation VI» für Sopran und Bassflöte (2002) mit der grossartigen Sängerin Katrien Baerts und der souveränen Flötistin Eva Furrer sowie das Klarinettenquintett von Furrer umgaben im zweiten Konzert des Zyklus ein Requiem für sechsstimmigen Chor a cappella von Tomás Luis de Victoria aus dem frühen 17. Jahrhundert – dies mit den (anfangs etwas von den Tenören dominierten) Tallis Scholars von Peter Phillips.

Allerdings fielen die Kontraste da weniger herb aus – denn Beat Furrers Musik kennt ihre eigene, sehr persönliche Schönheit. In ihrer ganzen Vielfalt zu erkennen war sie in der konzertanten Aufführung der Oper «Begehren» von 2001 – einer feinst ziselierten Antwort auf die Grossmannsgeste in Strauss’ «Salome», die zwei Tage zuvor in Premiere gegangen war. Auch in «Begehren» stehen sich ein Mann und eine Frau in der Unmöglichkeit einer Begegnung gegenüber. Es sind Orpheus und Eurydike, die sich nach dem verbotenen Blick des Sängers auf die Geliebte für immer getrennt sehen. Er, so heisst Orpheus in der vom Komponisten aus verschiedenen Quellen selbst zusammengestellten Libretto, hat seinen Gesang verloren; er spricht nur mehr, wenn auch in rhythmisch hochkomplexer Artifizialität – Christian Reiner bewältigte seine Aufgabe bewundernswert. Sie dagegen, also Eurydike, bedient sich des Lateinischen als einer entfernten, im Programmbuch nicht übersetzten Altsprache.

Die nicht verständlich werden muss, weil die Kommunikation zwischen den beiden ohnehin für immer unterbrochen ist. Die aber auch nicht verständlich werden kann, da der Text in höchstem Mass fragmentiert, auf einzelne Vokale oder Konsonanten zerlegt ist (auch da leistete die junge belgische Sopranistin Katrien Baerts Vorzügliches). Auch der ganz ins Instrumentalensemble integrierte Chor, der von Cordula Bürgi vorbereitete Cantando Admont, mischt sich eher geräuschhaft ins Geschehen. In ein Geschehen, dessen Vielschichtigkeit vom Klangforum Wien unter der Leitung des Komponisten zu optimaler Fasslichkeit gebracht wurde. Ein unglaubliches Spektrum an Klangerscheinungen ist da wahrzunehmen. Furrers Musik bewegt sich vornehmlich im Bereich des Leisen, des Gehauchten, des Geflüsterten; sie wird aber auch (eine Aufgabe, für die Peter Böhm in gewohnter Souveränität einstand) diskret verstärkt und in den Raum projiziert. Wer die Ohren spitzt, kann hier eine ganze Welt von Zischlauten und Piano-Tropfen, von übereinander gelegten und sich aneinander reibenden rhythmischen Verläufen, von klanglichen Aufspaltungen und, handkehrum, schimmernden Unisono-Wirkungen erleben. Nichts bewegt sich, nichts ereignet sich, die Energien sind ganz ins Innere verlegt und entfalten dort geradezu explosive Kraft. Das ist Kunst-Musik, Musik-Kunst von heute. Wer hören mag, wird reich beschenkt.

Macht in ihrer rohen Naturform

Salzburger Festspiele III – «Lady  Macbeth von Mzensk» von Dmitri Schostakowitsch

Von Peter Hagmann

 

Gefährliche Hochzeit: «Lady Macbeth von Mzensk» in Salzburg / Bild Thomas Aurin, Salzburger Festspiele

 

Macht, das ist das Thema, das die verschiedenen Programmschienen der Salzburger Festspiele 2017 umkreisen – ein Angebot, das von so feinsinniger Zusammenstellung und so vielfältiger Anregung lebt, wie es Markus Hinterhäuser, der neue Intendant der Festspiele, nun einmal liebt. Auffallend dabei ist, dass von den fünf neuen Opernproduktionen, mit denen Hinterhäuser seine Amtszeit eröffnet, drei ganz selbstverständlich Werke aus dem 20. Jahrhundert umfassen: Neben «La clemenza di Tito» von Mozart (1791) und Verdis «Aida» (1871) treten Alban Bergs «Wozzeck» von 1925 sowie «Lady Macbeth von Mzensk» von Dmitri Schostakowitsch aus dem Jahre 1932 und später im Kalender Aribert Reimanns «Lear» von 1978.

In Entsprechung dazu setzt das Konzertprogramm zwei Akzente – zusätzlich zu der aus der kurzen Ära Pereira übernommenen, leicht umgestalteten «Ouverture spirituelle». Unter dem Titel «Zeit mit Schostakowitsch» stellt der eine Schwerpunkt konzertante Werke des bis heute nicht wirklich ins Repertoire aufgenommenen Russen an die Seite seiner frühen Oper, zum Beispiel das verinnerlichte Streichquartett Nr. 8 mit dem Hagen-Quartett, das bruchlos aus Bachs «Kunst der Fuge» hervorwuchs, oder die Symphonien Nr. 1 und Nr. 15 mit den Berliner Philharmonikern und ihrem noch amtierenden Chefdirigenten Simon Rattle. Der andere Schwerpunkt, er nennt sich «Zeit mit Grisey», geht dem Schaffen des früh verstorbenen französischen Spektralisten Gérard Grisey nach. In einem raffiniert gebauten Programm stellte etwa das von Peter Rundel geleitete Klangforum Wien Musik Griseys Werken von Giacinto Scelsi und Tristan Murail gegenüber. Hinterhäusers Programme waren und sind immer Netzwerke.

Das gilt für das Festival insgesamt und somit auch für den Opernspielplan. Die Frage nach der Macht wird da von den verschiedensten Seiten her beleuchtet. Während Mozarts «Titus» dem Absolutismus die Prinzipien der Aufklärung gegenüberstellt und sich in Verdis «Aida» zwei im Krieg miteinander verstrickte Staaten gegen ein aus den verfeindeten Nationen stammendes Liebespaar durchsetzen, zeigt Schostakowitschs frühe Oper «Lady Macbeth von Mzensk» die Ausübung von Macht in ihrer rohen Naturform. Macht von Männern über Frauen, Macht von Reichen über Arme, Macht des Triebs über die Vernunft. Unterhaltsam oder gar lustig ist das nicht, vielmehr lässt die explizite Aufführung im Salzburger Grossen Festspielhaus handgreiflich nachvollziehen, wie die Mechanismen der Unterdrückung funktionieren. Anders als Andreas Homoki, der 2013 in Zürich die schreckliche Geschichte um Katerina Lwowna Ismailowa in die Groteske steigerte und Schostakowitschs Werk damit in ein expressionistisches Kabarett umkippen liess, bleibt Andreas Kriegenburg ganz und gar realistisch.

Einheitsspielort ist der düstere, von Treppen durchzogene Innenhof einer Mietskaserne, in die von links und rechts auf weit auskragenden Rampen Räumlichkeiten wie das Schlafzimmer Katerinas, das Büro ihres im Alkoholrausch verkommenen Gatten Sinowi Borissowitsch Ismailow oder die Polizeistation hineingefahren werden können – wie die Werkstätten den Entwurf von Harald B. Thor umgesetzt haben, stellt ein Gesellenstück eigener Art dar. An diesem Schreckensort wird auf Anhieb deutlich, wer oben steht und wer unten. Oben steht zum Beispiel Boris Timofejewitsch Ismailow, der Chef des Familienclans und Besitzer eines mysteriösen Unternehmens, der von Tanja Hofmann in bestes Tuch gehüllt ist und sich beständig mit Eau de cologne besprüht – Unterschied muss sein. Unten wiederum sind alle anderen, die in Lumpen gekleideten Arbeiter, aber auch die Anzugträger der mittleren Führungsschicht.

Unten ist auch Katerina. Sie ist eine Frau. Und sie hat noch keinen Erben geboren – wobei sie rechtzeitig, wenn auch nicht zu ihrem Vorteil darauf hinweist, dass es zum Kinderzeugen deren zwei braucht. Lüstern wird sie von ihrem Schwiegervater Boris (Dmitri Ulyanov) umkreist, und das um so aufdringlicher, nachdem sie ihm verraten hat, dass ihr Gatte Sinowi (Maxim Paster) ein Problem mit seiner Männlichkeit hat. So etwas kennt Sergej nicht; Draufgänger, der er ist, nimmt der soeben in den Betrieb eingetretene Arbeiter gleich, und zwar vor allen anderen, die Herrin in Besitz. Katerina lässt es geschehen – nicht ungern, so suggeriert es die Inszenierung, denn der Neue bietet, was dem Gatten versagt bleibt. Nina Stemme bewältigt das alles heldenhaft. Etwas Mühe hat sie mit der obersten Lage und dort dem Pianissimo, sonst ist sie aber phantastisch bei Stimme; sie verfügt über eine Kraft sondergleichen und bleibt darum noch gepflegt hörbar, wenn das Orchester seine Muskeln spielen lässt.

Das tun die Wiener Philharmoniker nach Massen – so wie die von Ernst Raffelsberger einstudierte Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor mit ihrer Strahlkraft zur Geltung bringt, dass «Lady Macbeth von Mzensk» auch eine Choroper ist. So laut wie bei der von Valery Gergiev geleiteten Salzburger Produktion von 2001 geht es allerdings nicht zu – vor allem nicht so durchgehend laut. Mariss Jansons, der 2006 in der Niederländischen Oper Amsterdam eine sensationelle Produktion von Schostakowitschs Oper dirigiert hat, leuchtet die Partitur bis in ihre hintersten Winkel aus, ohne dass der Abend an Schwung verlöre. Er weiss genau, wie weit er in der dynamischen Expansion gehen kann. Und er weiss auch, was dieses gefährlich freche Jugendwerk an stilleren Momenten und an Schönheiten der musikalischen Erfindung bereithält – zum Beispiel die Passacaglia am Schluss des zweiten Akts.

Kurz vor der Passacaglia: der erste Mord. Katerina verabreicht dem verhassten Schwiegervater ein Pilzgericht, das mit Rattengift angereichert ist. Boris hat Appetit, weil er zuvor Sergej, der sich bei Katerina eingeschlichen hatte, halbtot gepeitscht hat. In der Inszenierung von Andreas Kriegenburg bleibt der Mord selbst eigenartig harmlos, zumal der Auftritt des herbeigerufenen und natürlich betrunkenen Popen (Stanislav Trofimov) reichlich klischeehaft wirkt. Spannender gerät die Zeichnung der einzelnen Figuren und der Beziehungen zwischen ihnen. Sergej, der von Brandon Jovanovich mit kraftvollem Ton gegeben wird, ist zwar Macho durch und durch, spürt aber sogleich, wie er Katerina für seine Zwecke instrumentalisieren kann. Diese Art Macht – und das zu zeigen ist dem Regisseur ausgezeichnet gelungen – ist die schrecklichere als die Überwältigung und Erdrosselung des Wodka-getränkten Sinowi. Die Folgen dieser Tat sind allerdings erheblich: Katerina wie Sergej sehen sich bald unterwegs ins sibirische Arbeitslager. Dieses letzte Bild misslingt in der Inszenierung. In dem Moment, da Katerina sich in einem nahegelegenen See ertränkt und dabei ihre neue Nebenbuhlerin Sonetka (Ksenia Dudnikova) mit sich zieht, fallen zwei Puppen erhängter Frauen über ein Treppengeländer – szenisch eine Peinlichkeit. Es steht für eine Produktion, die insgesamt eher konventionellen Zuschnitts bleibt.

Theater ohne Theater als neues Theater?

Salzburger Festspiele II – Verdis «Aida» im Grossen Festspielhaus

 

Von Peter Hagmann

 

Der Triumphmarsch, oratorisch / Bild Monika Rittershaus, Salburger Festspiele

 

Golden prangt der Eiserne Vorhang, der die ganze Breite der Bühne im Salzburger Grossen Festspielhaus abdeckt. Verständlich, «Aida» steht auf dem Programm der Salzburger Festspiele 2017, da darf die vorsorgliche Assonanz an das Ausstattungstheater, das nicht nur in der Arena von Verona mit Giuseppe Verdis Oper verbunden ist, nicht fehlen. Allein, wer auf ein diesbezügliches Fest setzt, muss die Segel streichen. Kein einziger Elefant weit und breit. Aber was dann?

Musik, ganz einfach. Mit Riccardo Muti steht ein ausgewiesener Fachmann am Pult, und die Wiener Philharmoniker, die diesen Sommer neben ihren fünf doppelt bis dreifach geführten Konzerten vier der fünf neuen Produktionen im Opernprogramm bestreiten – die Wiener Philharmoniker geben dem Dirigenten, was sie zu geben vermögen. Dass sie hellwach auf die subtilen Tempoveränderungen reagieren, mit deren Hilfe Muti entweder den Sängern zur Seite bleibt oder das Geschehen vorantreibt, versteht sich angesichts der Erfahrung, über welche die Musiker, hauptberuflich Mitglieder des Wiener Staatsopernorchesters, naturgemäss verfügen. Aber die klangliche Flexibilität, die sie in den Abend einbringen, die leuchtende Transparenz im Leisen und die samtene Kraft im Lauten, vor allem aber die zartgliedrige, in vielen Farben schimmernde Lineatur, das ist nur bei diesem Orchester zu hören. Muti weiss wie kein Zweiter auf dieser Klaviatur zu spielen.

Und dann die Besetzung: erstklassig. Als ein profunder, seine Machtposition eins zu eins in seinen klangvollen Bass umlegender Oberpriester Ramfis eröffnet Dmitry Belosselskiy die Geschichte um die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Äthiopien und Ägypten und die Liebe zwischen zwei jungen Menschen aus den gegnerischen Lagern. Und schon schlägt die Stunde für «Celeste Aida», wo sich Francesco Meli (Radamès) als Inbegriff des kultivierten italienischen Tenors vorstellt. Weil ihm Muti und das Orchester Raum lassen, braucht er nirgends zu drücken, sein schlanker, glänzender Ton breitet sich gleichsam von selbst im Raum aus. Italienische Gesangkunst, sie kann auch so klingen.

Einen Lidschlag später droht die erste Konfrontation, denn Amneris, die als Tochter des ägyptischen Königs (Roberto Tagliavini) auf ihre Ansprüche achtet, sind die Emotionen des jungen Offiziers nicht entgangen. Lauernd versucht sie die Situation zu erkunden, und das wirkt um so stärker, als Ekaterina Semenchuk auf einen Mezzosopran mit metallener Tiefe und grandioser Expansion vertrauen kann. Doch kaum ist man sich dessen gewahr, weitet sich das Duett zum Terzett, denn dazu tritt jetzt Aida, und das ist in diesem Fall Anna Netrebko: ganz in sich ruhend, mit perfektem Ausgleich zwischen den Registern und einem Timbre, das den weiten Ambitus der Stimme in jedem Moment trägt. «Ritorna vincitor» wird da zu einem ersten Höhepunkt.

Womit schon bald der Triumphmarsch ansteht. Überraschend rasch und behende steigt Muti in das gross angelegte Tableau ein; der von ihm eingeschlagene Weg zeigt an, dass er bei aller Grösse, bei aller emotionalen Dringlichkeit jedem Zug ins Demonstrative aus dem Weg zu gehen sucht. Sorgsam baut er die klanglichen Weiterungen auf; die ägyptischen Trompeten strahlen um die Wette, ohne dass je eine Spur Schärfe aufkäme. Und bewusst steuert er in den Tempi auf die abschliessende Hymne hin, die er dann breit aussingen lässt. Weil aber die Attacke jederzeit geschmeidig bleibt, schleicht sich kein Pomp ein. An Grösse freilich fehlt es diesem zweiten Finale nirgends; jeder Elefant wäre hier als schwergewichtig überflüssig aus dem musikalisch mit allem Raffinement gestalteten Rahmen gefallen. Dann allerdings wird es schwierig.

Markus Hinterhäuser, der neue Intendant der Salzburger Festspiele, hatte die gewiss reizvolle Idee, mit der im Exil lebenden Iranerin Shirin Neshat eine im Visuellen tätige Künstlerin zu verpflichten, die als Regisseurin des Abends für einen frischen Blick sorgen sollte. «Aida» auf der Opernbühne, und das bei den Salzburger Festspielen und mit Riccardo Muti, der für das rigorose Durchsetzen seiner musikalischen Interessen bekannt ist – es gibt einfachere Ausgangslagen. Dass das Experiment gescheitert sei, kann man so einfach nicht sagen, es ist aber auch nicht wirklich geglückt. Abstrakt, in kühlem, reinem Weiss hält Christian Schmidt die Bühne; sie bleibt frei von jeder Dekoration, jeder Annäherung an orientalisierende Formen und prunkendes Gold. Farbakzente setzen die sehr streng geschnittenen und dennoch strahlende Pracht verbreitenden Kostüme von Tatyana van Walsum.

Augenschmaus vom Feinsten bietet das, und in der ausgeprägten Kontrastbildung zu dem zwar klar kontrollierten, aber doch heftig aufwallenden musikalischen Geschehen bildet es eine spannungsvolle Folie. In den beiden eher statisch angelegten Akte eins und zwei bis hin zum Triumphmarsch funktioniert das glänzend. Unglaublich schön der riesige, weisse, in zwei Hälften geteilte Würfel, in dem sich die diversen szenischen Konstellationen effektvoll arrangieren lassen. Und das mit Sinn für symmetrische Bildungen, zum Beispiel mit der geistlichen Macht in Schwarz und Weiss auf der einen Seite und der weltlichen in Weiss und Schwarz auf der anderen.

Ob der blendenden Schönheit, die der musikalischen Qualität in nichts nachsteht, fällt nur wenig auf, dass sich die Darsteller zur Hauptsache an der Rampe aufhalten, wo der Dirigent sie haben will, und ausserdem so stereotyp agieren, wie es ihnen behagt. Das ist es, was in den Akten drei und vier, wo sich der Fokus verengt und das Licht auf die einzelnen Figuren fällt, zum Problem wird. So gut das Konzept von Shirin Neshat die Grand Opéra in Verdis «Aida» fasst, so sehr fällt es dort, wo das Drama an die Stelle des Tableaus tritt und das Theater sein Recht einfordert, wo Menschen in Erscheinung treten und Interaktion entsteht, in sich zusammen.

Als Amonasro, als äthiopischer König und Vater Aidas, bringt Luca Salsi einen weichen, warmen Bariton ein; mit dieser Stimme formuliert er aber eine Botschaft von ausgesuchter Grausamkeit, zwingt er doch seine Tochter, ihren Geliebten dazu zu bringen, ein innerstes militärisches Geheimnis preiszugeben. Aus der Spannung zwischen dem stimmlichen Profil und der inhaltlichen Brutalität vermag die Regisseurin jedoch keinerlei szenische Energie zu gewinnen – dazu fehlt ihr schlicht das Handwerk, das es bekanntlich auch in diesem Bereich braucht. So bleiben die Begegnungen zwischen Aida und Radamès, die besonders den vierten Akt tragen, musikalisch hochgradig erfüllt, szenisch aber unterentwickelt.

Am Ende des Abends dominierte das Gefühl, einer halbszenischen Aufführung von Verdis Oper «Aida» beigewohnt zu haben. Einer Aufführung, in der sich das Hörbare und das Sichtbare in einer sehr speziellen, bisweilen überaus glücklichen Weise begegnen, in der zur Musik aber kein Theater tritt und Musiktheater somit nicht entstehen kann, wenigstens nicht Musiktheater der hergebrachten Art. Weist diese Salzburger «Aida» ähnlich wie der unvergessliche «Ring des Nibelungen» beim Lucerne Festival des Sommers 2013 in die Richtung einer neuen Existenz des musikalischen Theaters oder handelt es sich bei dieser Produktion um eine hochästhetisch abgespeckte Version der als überholt empfundenen Ausstattungsoper italienischer Provenienz? Darüber darf nachgedacht werden.

Geist der Erneuerung, Lust an der Debatte

Salzburger Festspiele I – Mozarts «Clemenza di Tito» zur Eröffnung des Opernprogramms

Von Peter Hagmann

 

Mozarts «Clemenza di Tito» in Salzburg mit Florian Schuele (Bassettklarinette) und Marianne Crebassa (Sesto) / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

 

Dass die Salzburger Festspiele 2017, die erste Ausgabe unter der Gesamtleitung von Markus Hinterhäuser, ihr Opernprogramm mit «La clemenza di Tito» eröffneten, hat seine eigene Logik. Die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts stand 1992, als Gerard Mortier als Intendant und Hans Landesmann als Geschäftsführer und Konzertdirektor die Salzburger Festspiele neu auszurichten begannen, an dritter Stelle im Opernprogramm – nach «Aus einem Totenhaus» von Leoš Janáček und der unvergesslichen Produktion von Olivier Messiaens Riesen-Oper «Saint-François d’Assise». Mit der Wahl von «La clemenza di Tito» verbeugt sich Hinterhäuser vor seinen Vorgängern, in deren Ära er selbst in die Welt der Salzburger Festspiele hineingewachsen ist – damals mit dem «Zeitfluss», dem Festival im Festival, das Mortier und Landesmann um so lieber in ihr Programm aufnahmen, als sie in seinem Anliegen viel von ihren ästhetischen und gesellschaftlichen Auffassungen wiederfanden. Zugleich zeigt sich in der Entscheidung für diese etwas abseits vom Kanon stehende Oper Mozarts, welcher Geist an den Salzburger Festspielen in den kommenden Jahren wieder herrschen soll. Es ist der Geist der ästhetischen Erneuerung und der inhaltlichen Debatte – deutlicher könnte der Kontrast zur jüngeren Vergangenheit der Festspiele nicht ausfallen.

Im Zeichen der Rückkehr zu einer qualifizierten Vorstellung dessen, was ein Festival sein soll, stehen auch die Namen auf dem Programmzettel. Für die Inszenierung von «La clemenza di Tito» kehrten der Regisseur Peter Sellars und der Bühnenbildner George Tsypin nach Salzburg zurück, die in der Ära Mortier/Landesmann für manchen Akzent gesorgt hatten. Und die musikalische Leitung hatte Teodor Currentzis übernommen, der mit den vokalen und instrumentalen Kräften von MusicAeterna aus dem russischen Perm angereist war. Gewiss, auch Peter Ruzicka hatte seine fünfjährige Intendanz 2003 mit Mozarts «Titus» eröffnet, und auch er hatte mit Nikolaus Harnoncourt einen prominenten, von Salzburg lange ferngehaltenen Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis ans Pult gebeten. Currentzis jedoch steht für eine Enkelgeneration der Arbeit mit alten Instrumenten und den ihnen entsprechenden Spielweisen, vor allem aber für einen pointierten Umgang mit den Notentexten und eine eigenwillige Expressivität. Widerspruch tut sich da keiner auf. Wenn die historisch informierte Aufführungspraxis zu den Quellen zurückging, so tat sie das, um dem schrankenlosen Subjektivismus zu entgehen, den die Interpreten der Spätromantik kultiviert hatten, und um andererseits dem scheinbar objektiven Musizieren entgegenzutreten, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als das Mass aller Dinge etabliert hatte. Interpretation war aber auch im Bereich der historischen Praxis stets eingeschlossen, denn ohne Interpretation keine Musik.

Und interpretiert wird in der neuen Salzburger Produktion von «La clemenza di Tito» sehr ausgeprägt. Das von Mozart in allerhöchstem Auftrag komponierte und unter grösstem Zeitdruck zu Papier gebrachte Werk, das im Herbst 1791 anlässlich der Prager Krönungsfeierlichkeiten für den Habsburger Leopold II. zur Uraufführung kam, erscheint hier in keinem Augenblick als die feierliche Huldigungsoper, als die es gemeint sein mochte. Sellars und Currentzis haben sich dem Libretto von Caterino Tommaso Mazzolà zugewandt und es auf die Veränderungen hin geprüft, die Mozarts Textdichter an seiner Vorlage, einem von 1734 stammenden Libretto Pietro Metastasios, vorgenommen hat. Auf dieser Basis stellen sie «La clemenza di Tito» als Hohelied der Aufklärung heraus; sie zeigen, wie subtil und zugleich eindeutig das Werk Einspruch erhebt gegen die Prinzipien der absolutistischen Herrschaft – Leopold II. ist in der Geschichte ja als der Übergangskaiser bekannt, der viele der gesellschaftlichen Lockerungen, die sein 1790 verstorbener Bruder Joseph II. eingeführt hatte, wieder rückgängig gemacht hat. Machtausübung und Unterdrückung, so sehen Sellars und Currentzis die Botschaft der Oper, führe unweigerlich zu Gewalt; nur das Prinzip der Gleichheit aller Menschen und gegenseitiger Respekt liessen ein gedeihliches Zusammenleben entstehen. Das Loblied auf die Güte des Herrschers demnach als Aufforderung an ihn.

Und als Aufforderung an uns alle, die wir diese Jetztzeit bewohnen. Sellars siedelt «La clemenza di Tito» auf der abstrakt gehaltenen Bühne der Salzburger Felsenreitschule nicht in der fernen Antike an, sondern in der Gegenwart der Menschenströme und der Terroranschläge. Der (übrigens wieder ganz ausgezeichnete) Chor erscheint in den Kostümen von Robby Duiveman als eine Gruppe von Flüchtlingen, wie sie jeden Tag an einer Grenze erscheinen. Tito Vespasiano, der von Russell Thomas mit leuchtendem Timbre, aber wenig Koloraturensicherheit gesungen wird, ist kein Kaiser, sondern ein Präsident von heute mit Publio (der würdige Willard White) als seinem Sicherheitschef. Von Vitellia, einer auch in dieser Produktion exaltierten, von Golda Schultz mit etwas viel Druck gegebenen Frau, welche die Aufmerksamkeit des Herrschers als Zeichen der Liebe missversteht und sich zurückgesetzt fühlt, geht der Aufruf zur Gewalt aus, den Sesto (die sängerisch wie darstellerisch hinreissende Marianne Crebassa) zusammen mit einer Gruppe junger Rucksackträger ausführt. Titus wird schwer verwundet; anders als im originalen Text kämpft er im zweiten der zwei Akte auf einem mächtigen Spitalbett um sein Leben, erliegt am Ende aber seinen Verletzungen. Die Oper mündet in Salzburg also in schwarzes c-moll – und in einen Abgesang auf die Werte der Aufklärung?

Sellars Deutung fordert einige Verrenkungen, zu denen man stehen kann, wie man will. Die Aufrechterhaltung der dramaturgischen Stringenz erfordert zudem musikalische Eingriffe, die man goutieren kann oder nicht. Legitim sind sie aber vielleicht allemal; nicht nur war das im 18. Jahrhundert gängige Praxis, Mozart selbst hat, weil er unter so starkem Zeitdruck stand, für die Rezitative die Hilfe Franz Xaver Süssmayrs in Anspruch genommen. Die Zutaten von fremder Hand wollten Sellars und Currentzis entfernen, sie haben dafür Teile aus der c-moll-Messe, Adagio und Fuge in c-moll und einen Abschnitt aus der Maurerischen Trauermusik eingefügt. Das hatte zuallererst einen beinah subversiven Effekt – insofern nämlich, als auf Anhieb hörbar wurde, um wie viel die eingeschobene Musik in der kompositorischen Substanz die Oper überragt. Das wurde durch die Interpretation noch unterstrichen. Im Kyrie aus der c-moll-Messe, das zu Beginn des zweiten Akts erklang, liess einen die Sopranistin Jeanine De Bique, in der Oper mit der Partie des Annio betraut, durch ihr grossartiges Zurücknehmen von Spitzentönen geradezu den Atem anhalten. Indes gab es auch in der Oper selbst tief berührende Momente. Etwa das Duett zwischen Annio und Servilia, bei dem die junge Sopranistin Christina Gansch durch den Liebreiz ihrer Stimme, die Mühelosigkeit in der Höhe und die Sicherheit in den Koloraturen berückte. Oder die grosse Arie des Sesto im ersten Akt, für die sich Florian Schuele mit seiner Bassettklarinette auf die Bühne begab.

Durch die Einschübe ergab sich allerdings eine Tendenz zum Sakralen, die sich als ironisierende Überhöhung verstehen liess, die aber auch eine Spur Kitsch enthielt. Wenn der Kaiser ohne Zorn auf Servilia verzichtet und dann durch das «Laudamus te» aus der c-moll-Messe verherrlicht wird – wie soll man sich da fühlen? Auch macht es sich Peter Sellars, der im Programmbuch sehr anregend über seine Arbeit nachdenkt, wohl doch etwas zu einfach, wenn er behauptet, hinter jedem Sprengstoffgürtel stecke ein Problem der mangelnden Wahrnehmung; es gibt ja auch den blinden, fanatischen Hass und die Gehirnwäsche. Dessen ungeachtet setzt die Begegnung mit «La clemenza di Tito» in Salzburg, die ein hohes Mass an sinnlicher Erfüllung bringt, den Denkapparat mächtig in Gang. Das ist, was Markus Hinterhäuser schon immer gesucht hat, auch im «Zeitfluss», auch in den Programmen, die er als Konzertdirektor entworfen hat. Und was sich im Opernspielplan der Salzburger Festspiele 2017 vorbildlich verwirklicht. «Macht» heisst das Thema dieses Sommers. Mozarts späte Opera seria hat dazu eine so vielschichtige wie eindeutige Wortmeldung abgegeben.

Und sternlos war die Nacht

Eine Schumann-CD mit Matthias Goerne und Markus Hinterhäuser

 

Von Peter Hagmann

 

Vorhang auf für die ersten Salzburger Festspiele. Nein, nicht die ersten an sich, aber doch die ersten, die voll und ganz von Markus Hinterhäuser verantwortet werden. Angesichts der Strahlkraft dieser Aufgabe könnte leicht untergehen, dass Hinterhäuser nicht nur Intendant ist, sondern auch und ebenso sehr Musiker: Pianist. Daran erinnert eine sehr besondere CD, die er zusammen mit Matthias Goerne vorlegt – mit dem Bariton, mit dem er 2014, in der ersten der drei von ihm konzipierten Ausgaben der Wiener Festwochen, Schuberts «Winterreise» in einem szenischen Arrangement von William Kentridge gestaltet und im Rahmen zahlreicher Gastspiele in die Welt getragen hat. Die beiden sind vertraut miteinander, das ist auf Anhieb zu hören. Und zu verstehen ist auch, dass eine so klar auf das Leise, auf das Innerliche, auf das Innehalten ausgerichtete Aufnahme nur entstehen kann, wenn zwischen den Beteiligten vollkommene ästhetische Übereinstimmung, ja Freundschaft herrscht.

Die neunzehn Lieder Robert Schumanns, welche die CD präsentiert, führen von der Sammlung «Myrthen» aus der Zeit unmittelbar nach dem Liederfrühling von 1840 bis weit ins Spätwerk, für welches etwa das «Abendlied» von 1851 steht. Der Aufbau des Programms folgt aber weder der Chronologie noch den Textdichtern, er zeichnet vielmehr thematische und atmosphärische Kurven, wie sie aus vielen von Markus Hinterhäuser für Salzburg erdachten Konzertprogrammen bekannt sind. Um Einsamkeit und Melancholie geht es, um Abschied und Tod, um die Liebe, die «zu Tränen nur gemacht», und die Nacht, in der kein Stern zu sehen ist – so hat es Nikolaus Lenau in seinem Gedicht «Der schwere Abend» in Worte gefasst. Einfache Kost ist das nicht; den Kreuzweg zu durchschreiten verspricht jedoch mannigfache Belohnung.

Denn wie Schumann mit den (qualitativ durchaus unterschiedlichen) Texten umgeht, zeugt eindrücklich von des Komponisten Sinn für prägnant gefasste Ausssagen, ja für Vokale und Konsonanten – und überdies von der ungebrochenen Kreativität auch in den Jahren der Schwermut. Radikal reduziert erscheint bisweilen die Schreibweise, und die beiden Interpreten scheuen keinen Augenblick davor zurück, diese Radikalität in der Umsetzung spürbar werden zu lassen. «Über allen Gipfeln ist Ruh»: In dem berühmten «Nachtlied» Goethes spiegeln sie den von keinem Laut gestörten Naturzustand in einem sehr langsamen Tempo und in Pausen, die ebenso wichtig werden wie das Klingende. Sie bilden damit ab, was Text und Musik meinen, und lassen zugleich die Fragilität des geschilderten Moments spüren.  Mit seiner ganz in der Tiefe ruhenden Stimme singt Matthias Goerne in einer Zurückhaltung, wie sie sich gewagter kaum denken lässt – ohne dass er irgendetwas demonstrieren oder zelebrieren müsste. Und Markus Hinterhäuser steht mit einer Aufmerksamkeit und einer klanglichen Zartheit an Goernes Seite, die des Pianisten Erfahrung im Begleiten von Liedern, aber auch seine Affinität zu langsamer, stiller Musik wie etwa jener von Morton Feldman zu erkennen geben. Äusserst mutig, diese CD. Und grossartig dazu.

Robert Schumann: Einsamkeit – Lieder. Matthias Goerne (Bariton), Markus Hinterhäuser (Klavier). Harmonia mundi 902243.