Mozarts «Così fan tutte»
mit dem Kammerorchester Basel
Von Peter Hagmann
«Ausverkauft» – so heisst es auch an diesem Abend des Kammerorchesters Basel. Kein Wunder, im wunderschön renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos wird «Così fan tutte» gegeben, das Dramma giocoso Lorenzo Da Pontes, mit dem Wolfgang Amadeus Mozart im Jahre 1 nach der Französischen Revolution für Wellenschlag gesorgt hat. Was es bis heute tut. Selbst in unseren Tagen gibt es Opernfreunde, die dem von Don Alfonso arrangierten Partnertausch mit Vorbehalten begegnen – trotz der Genialität von Mozarts Musik. Und kommt das Stück auf die Bühne, tritt nicht selten heraus, wie hilflos die Regisseure mit der krassen Absurdität von «Così fan tutte» umgehen. Kann es tatsächlich sein, dass die beiden Frauen ihre Geliebten, die ihnen in notdürftiger Kostümierung übers Kreuz die Aufwartung machen, nicht erkennen und auf das Spiel hineinfallen? Und ist effektiv denkbar, dass, wenn der ganze Schwindel aufgeflogen ist, die Frauen düpiert dastehen und die Männer ihre Wunden lecken, doch wieder Friede Freude Eierkuchen eintritt?
An Fragen fehlt es nicht. Unter der Leitung seines Ersten Gastdirigenten Giovanni Antonini – einen Chefdirigenten kennt das sich selbst verwaltende Ensemble nicht – hat das Kammerorchester Basel eine starke, wenn nicht gar die einzige plausible Antwort gegeben. Es hat auf die Musik Mozarts gehört und ihre Expressivität in aller Eindringlichkeit herausgestellt. Schon in der, was das Tempo betrifft, mässig genommenen Ouvertüre liess das historisch informiert, aber nicht durchwegs auf alten Instrumenten spielende Orchester hören, welches Qualitätsniveau es pflegt. Klangschönheit und Expressivität in den Bläsern, Agilität und Vitalität in den Streichern liessen keinen Wunsch offen – ohne Zweifel hat die dem Basler Abend vorangegangene Tournee nach Luxemburg, Paris und Hamburg die Formation zusammengeschweisst und die Interpretation geschärft. Wenn die Emotionen hochgingen, nahmen die Musikerinnen und Musiker, angefeuert durch ihren bisweilen arg schnaubenden Dirigenten, kein Blatt vor den Mund. Während sie in den Momenten des Innehaltens, der Unsicherheit, des Fragens offen waren für jedes Mitfühlen, für jede Zärtlichkeit. Das alles in dem von ebenso eleganten wie präsenten Tiefen getragenen Gesamtklang wie in den teils stupenden solistischen Einlagen.
Glänzenden Reflex fand dieses musikalische Bild im Auftritt von Julia Lezhneva als Fiordiligi. In den letzten Jahren grossartig aufgeblüht, bewältigt die junge Sopranistin die enormen Anforderungen dieser Partie absolut hinreissend. Der besonders weite Stimmumfang, den ihr Mozart abverlangt, bereitet ihr keinerlei Schwierigkeit; ohne Mühe springt sie aus höchster Höhe zwei Oktaven in die Tiefe, und dass dafür ganz unterschiedliche stimmliche Ansätze vonnöten sind, tritt nicht in Erscheinung, so perfekt sind die Register aufeinander abgestimmt und miteinander verschmolzen. Dazu kommen Stilbewusstsein, Phantasie und Mut im Umgang mit Verzierungen, die staunen machen; mit den reichhaltigen, niemals aufgesetzt wirkenden, vielmehr jederzeit emotional unterfütterten Verzierungen, welche die Sängerin einzusetzen wusste, geriet «Per Pietà», ihre grosse Arie im zweiten Akt, zum Höhepunkt des Abends. Allerdings blieb dieses vokale Niveau die Ausnahme. Als Dorabella hielt Susan Zarrabi, eingesprungen für die erkrankte Emőke Baráth, zuverlässig stand, bildete jedoch nicht das hier geforderte Gleichgewicht. Dafür sorgte eher Sandrine Piau, eine hocherfahrene Expertin für die Partie der vorlauten Dienerin Despina. Die Herren dagegen, sie blieben deutlich zurück, weil sie durchs Band zu viel Druck gaben und immer wieder die Balance zwischen vokalem und instrumentalem Ausdruck bedrohten. Als Ferrando zeigte Alasdair Kent schöne Höhe, die er auch im Pianissimo zu nutzen verstand, geriet aber gern in eine unbefriedigende Schärfe, während Tommaso Barrea als Guglielmo mehr Stimmkraft als Gestaltungsvermögen erkennen liess. Konstantin Wolff schliesslich, auch hier mit leicht belegtem Timbre, zeichnete Don Alfonso weniger als gelassenen Aufgeklärten denn als herb fordernden Intriganten.
Mag sein, dass Mängel dieser Art auch auf die szenische Einrichtung des Abends zurückgingen. Salomé Im Hof versah das Geschehen auf dem Konzertpodium dergestalt mit Aktion und Kostüm, dass Mozarts Oper zu veritabler halbszenischer Aufführung kam. Dabei setzte sie ganz auf die komische Seite, womit sie manchen Lacher im Publikum generierte, die Ambivalenz des Stücks aber völlig ausser Acht liess. Das war zu viel des Guten, zudem echt hausbacken, jedenfalls nicht auf dem Niveau des Kammerorchesters Basel.
Über die lieblichen, von Weinbergen durchzogenen Gefilde des Oberrheins erstreckt sich eine Kulturlandschaft von eigenem Reiz. Zwischen Basel und Strassburg, im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, steht eine Fülle an zum Teil eindrücklichen Theaterbauten und Konzerthäusern – alle mit Publikum. Einen Schwerpunkt bildet die Opéra national du Rhin in Strassburg. Seinen Namen trägt das Institut zum einen, weil es vom französischen Staat subventioniert wird, zum anderen aber, weil es neben seinem Hauptsitz das Théâtre municipal de Colmar und das Théâtre municipal de Mulhouse mit seinen beiden Spielorten in der modernen Filature und dem 1868 eröffneten Théâtre de la Sinne bedient – eine Konstruktion, nur wesentlich komplexer, wie im Theater-Orchester Biel-Solothurn oder der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg.
Ob so etwas funktionieren kann – das war die Frage, der sich jetzt anhand der Produktion von «Così fan tutte» nachgegangen werden konnte: Mozart an drei Stationen im Elsass. Die Premiere war kurz vor Ostern in Strassburg über die Bühne gegangen – mit durchzogenem Erfolg, wie ich fand (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 20.04.22). Weitere fünf weitere Vorstellungen gab es daraufhin im Stammhaus. Nach einem kurzen Unterbruch folgten zwei Aufführungen im alten Haus von Mulhouse und eine im 1849 eröffneten Stadttheater von Colmar. Die Gewichtung mag erstaunen, ist Colmar mit 65’000 Einwohnern doch fast doppelt so gross wie die südlich davon, auf halbem Weg nach Basel gelegene Schwester. Mulhouse scheint mir allerdings kulturell ambitionierter, wovon die 1993 abgeschlossene Errichtung der Filature zeugt und, vor allem, die Führung des städtischen Orchestre Symphonique de Mulhouse, das sich auch an den Produktionen der Strassburger Oper beteiligt und dort sehr anständige Figur macht. Für die Stadt mit ihrer heiklen sozialen Struktur, aber auch einem reizenden, von Leben erfüllten alten Kern nicht eben selbstverständlich.
Drei Mal dasselbe gab es also – und es wirkte drei Mal anders, allen Konstanten zum Trotz. Schon vom Klima im Zuschauerraum her. In Strassburg, der stolzen Stadt Europas, kam das merklich bürgerlich ausgerichtete Publikum der Kenner und Liebhaber zusammen; es nahm «Così fan tutte» mit der gewohnten Distinguiertheit entgegen. Ganz anders im reizenden Haus von Mulhouse, wo bei der Vorstellung an einem wunderschönen Sonntagnachmittag im Parkett und den drei Rängen gespannte Aufmerksamkeit herrschte – es knisterte förmlich im Saal. In Colmar schliesslich, auch hier in einer Sonntagnachmittagsvorstellung in einem nicht weniger würdigen Haus à l’talienne, gab man sich leger; es wurde vernehmlich gesprochen und daraufhin zurechtgewiesen, und als nach der Abreise der beiden Verlobten in den Kriegsdienst als ein äusserst wirksamer coup de théâtre ein toter Soldat mit Getöse aus dem Schnürboden auf die Bühne fiel, entstand eine Heidenaufregung – etwas Italienisches hatten die Publikumsreaktionen an sich.
Ähnliche Wandlungen liess die musikalische Anmutung erkennen. Nach dem unverbindlichen Eindruck der Strassburger Premiere schälte sich in den kleineren Räumen von Mulhouse und Colmar heraus, wie plausibel Duncan Ward als musikalischer Leiter der Produktion kammermusikalische Ansätze verfolgte. Das Orchester war klein besetzt; ein Kontrabass und ein Violoncello genügten für das Fundament. Das ergab ein lichtes Klangbild, in dem die hervorragenden Bläser des Orchestre philharmonique de Strasbourg dominierten – und dabei erkennen liessen, wie viel Bedeutung, auch wie viele anforderungsreiche Aufgaben Mozart diesen Instrumenten in «Così fan tute» zugedacht hat. Wards frische Tempi orientierten sich am Klangbild, das war einsichtig und erschien als logisch. Dass sich der Dirigent, unverkennbar begabt, so wenig auf die emotionale Tiefe dieser Musik einliess, dass er naiv, ja beinah kindlich über so berührende Momente wie das «Addio»-Ensemble nach der Abreise der (angeblich) zu Soldaten gewordenen Verlobten hinwegmusizierte, blieb freilich auch hier, in der trennscharfen Akustik von Colmar noch mehr als in Mulhouse, unverständlich. Statt atemlos dem Aufbau der eigenen Karriere nachzuhecheln, könnte sich der junge Brite ein wenig mit der Rezeptionsgeschichte des Werks, mit Nikolaus Harnoncourt, René Jacobs oder Teodor Currentzis befassen. Und sich von ihnen für die Entwicklung einer echt individuellen Sicht anregen lassen.
Im Rahmen des Gegebenen ausgezeichnet bewährt hat sich das Sextett der Vokalsolisten. Die beiden Paare, der das Spiel leitende «Philosoph» und seine Helfershelferin – sie hatten sich in den beiden letzten Vorstellungen der Serie regelrecht freigespielt. Musikalisch blieben freilich dieselben Desiderate offen wie bei der Premiere. Sehr überzeugend gab Nicolas Cavallier den Don Alfonso nicht als einen gelangweilten, vom Leben enttäuschten Dandy, sondern als einen ausgefuchsten Zyniker, ja einen Frauenhasser von beträchtlichem Zerstörungspotential. Immer wieder zerstört hat der Sänger allerdings auch die Aufführung selbst: durch seine rhythmische Ungenauigkeit und sein dröhnendes stimmliches Auftrumpfen. Darunter litten zumal die Ensembles – aber nicht nur darunter: weil alle Sängerinnen und Sänger üppiges Vibrato einsetzten, blieben die Lineaturen unscharf und verlor der Zusammenklang seine Wirkung. Als besonders störend fiel nicht zuletzt die Art und Weise auf, in der alle Beteiligten auf die Schlusssilben hinsangen und auf ihnen sitzenblieben – von sprechendem Singen keine Spur, im Opernbetrieb ist das leider noch immer viel zu weit verbreitet.
Stärkste Überraschung bot sich auf der Ebene der Inszenierung; drei Mal dasselbe führte hier zu Vertiefung und Wachstum des Verständnisses. Bei David Hermann spielt «Così fan tutte» nicht an einem Tag, sondern in einem Lebensabschnitt, der von den jungen Tagen vor 1914 über den Verlust des Kontakts im Ersten Weltkrieg, die Wiederbegegnung in der Zwischenkriegszeit und die Langeweile in erkalteten Beziehungen bis hin in das fatale Finale von 1945 mit der vorgetäuschten Doppelhochzeit. Das ist als Ansatz ambitioniert, zu ambitioniert vielleicht für einen einmaligen Opernbesuch. Doch ist da alles mehr als anregend, nämlich messerscharf durchdacht und in vielschichtiger Hochpräzision ausgeführt – auch in den subtil unterstreichenden Kostümen von Bettina Walter und dem beweglichen, problemlos an die unterschiedlichen Dimensionen der Bühnen ausserhalb von Strassburg adaptierbaren Bühnenbild von Jo Schramm. Am Schluss löst sich alles auf. Freilich nicht mit dem fragwürdigen Hinweis, es sei alles bloss ein Scherz gewesen, und nicht mit der unglaubwürdigen Rückkehr der beiden Paare in die alte Konstellation. Sondern mit einer scharfen körperlichen Attacke der beiden Bräutigame auf Don Alfonso und wütenden Anklagen der beiden Frauen an die Adresse ihrer Männer. Fiordiligi und Dorabella, sie sind ihrer Zofe Despina auf dem Weg der Emanzipation gefolgt und stehen vierzig Jahre nach dem Beginn der Geschichte gründlich an einem anderen Ort des Selbstverständnisses. Wovon der «Notar» beim Verlesen des Ehekontrakts in einer spassigen Einfügung Zeugnis ablegt.
Das letzte Wort zu «Così fan tutte» ist nicht gesprochen. Die einen stossen sich bis heute an der Frivolität der von Lorenzo da Ponte zum Libretto geformten Geschichte, an dem durch einen in die Jahre gekommenen Müssiggänger angezettelten Partnertausch, der sich am Ende aber doch in einem Happy End auflöst – eventuell, eventuell aber auch nicht. Die anderen schätzen die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts, können mit der offenkundigen Unwahrscheinlichkeit der Vorlage aber überhaupt nichts anfangen: mit der Art und Weise, in der hier Frauen für dämlich verkauft werden – natürlich Frauen aus dem Adel, denen Mozart im Grunde nur in einer einzigen Hinsicht gewogen war. Jedenfalls stellt «Così fan tutte» die Opernhäuser immer wieder aufs Neue vor beträchtliche Schwierigkeiten.
Das ist jetzt auch in der Opéra national du Rhin in Strassburg zu erleben, wo sich der deutsch-französische Regisseur David Hermann, ein kraftvoll geistreicher Vertreter des interpretierenden Theaters, der Oper Mozarts gestellt hat. «Così fan tutte» spielt bei ihm nicht an einem Tag als ein von Don Alfonso inszenierter Streich, die Verstrickungen zwischen den beiden Paaren Dorabella und Ferrando auf der einen Seite, Fiordiligi und Guglielmo auf der anderen ziehen sich vielmehr durch ein fast ganzes Leben; Eckdaten bilden hier die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und dann die Zeit des Wirtschaftswunders um 1950.
Als abgeklärter Intellektueller trägt Don Alfonso stets eine Zeitung bei sich – aus der er von der Mobilmachung 1914 erfährt. Nicht nur Ferrando und Guglielmo, auf Alfonso selbst ziehen sich den Rucksack über. Wenig später kehren die beiden Liebhaber schwer gezeichnet zurück, doch ihre Damen wollen nichts wissen von zwei durch den Krieg so schauerlich entstellten Monstern. Das gibt einem schon ziemlich zu denken, gerade angesichts der Kriegsbilder, die derzeit so dominant im Raum stehen. Erneute Annäherung zwischen den Partnern ergibt sich nicht durch den Einfluss des Mesmerschen Apparats, sondern durch eine wilde Vorstellung in einem Kabarett der zwanziger Jahre, in dem sich die beiden Männer mitsamt Alfonso als Schauspieler verdingen.
Womit wir im zweiten Akt angelangt wären – und damit in den dreissiger Jahren. Nach zehn Jahren der Ehe sind sich die beiden Paare schon ziemlich gleichgültig geworden, weshalb sie von Alfonso und seiner Assistentin Despina in einen Swingerclub geführt werden. Dort geschieht es dann. Doch schon bricht der Zweite Weltkrieg aus und kommt es zu neuerlicher, wenn auch weitaus gravierender, Verunsicherung. Eine grosse Bombe wird aus dem Schnürboden in die von Jo Schramm entwickelte Szenerie heruntergelassen, und erneut stellt sich die Frage, ob solche Bilder in der augenblicklichen Situation erträglich sind. Das Finale selbst lässt alles offen, das Dramma giocoso zerstiebt. Das ist alles anregend erdacht und, bis hin den aussagekräftigen Kostümen von Bettina Walter, handwerklich untadelig durchgeführt – dem Verständnis des schwierigen Stücks dient es wenig. Zu weit hergeholt wirken die Konstruktionen, die diesem Abend althergebrachten Regietheaters zugrunde liegen, zu sehr verschwindet im Hintergrund, wozu eine Inszenierung Stellung zu beziehen hätte.
Die musikalische Seite der Produktion vermag da nicht wirklich dagegenzuhalten. Der junge Brite Duncan Ward ist ein erkennbar begabter Dirigent, stilistisch ist er aber noch nicht in der Lage, dem Kosmos Mozarts beizukommen. Nicht dass die historisch informierte Aufführungspraxis das Mass aller Dinge sein müsste, aber deren für die Weiterentwicklung der musikalischen Interpretation zentralen Erkenntnisse haben doch Wege offengelegt, die einen fruchtbaren Blick unter die Oberfläche des Notentextes ermöglichen. Duncan Ward erlaubt sich, auf den Stand von Karl Böhm zurückzukehren; leicht, flüssig und vor allem natürlich soll «Così fan tutte» klingen. Artikulation und Phrasierung bieten keine Nahrung, hurtig wird über vieles hinwegmusiziert – was vom Orchestre philharmonique de Strasbourg bewundernswert gemeistert wird. Von der berührenden Emotionalität, auch der tiefen Melancholie, die in dem angeblich so lustigen Experiment des Don Alfonso zum Tragen kommt, ist allerdings wenig zu spüren, viel zu wenig. Da kann der Abend schon lange werden.
Und dies trotz einer ganz ausgezeichneten Besetzung. Als Don Alfonso hat Nicolas Cavallier mit seinem mächtigen Bariton das Heft jederzeit in der Hand; er singt ausgezeichnet, aber ganz und gar für sich selbst, ohne Kommunikation mit dem Graben. Aufsehenerregend auch Lauryna Bendžiūnaitė als als eine agile und zugleich klangvolle Despina. Bei den Herren bringt Björn Bürger als Guglielmo einen wunderbar gerundeten Bariton ein, während Jack Swanson als Ferrando bisweilen etwas sehr an Fritz Wunderlich und damit an einen Mozart-Ton von ehedem erinnert. Von grossartiger Präsenz Gemma Summerfield als Fiordiligi, warm im Timbre und ausstrahlungsstark Ambroisine Bré als Dorabella.
Nach den sechs Vorstellungen im Stammhaus zieht die Produktion im Mai weiter nach Mulhouse und Colmar, die beiden elsässischen Städte, die, ähnlich dem Modell der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg oder den Theatern von Biel und Solothurn von Strassburg aus bespielt werden. Was die unterschiedlichen räumlichen Konstellationen für die Aufführung bedeuten, wird sich weisen.
Im Grunde war es der einzig richtige Weg – im Falle der Salzburger Festspiele erst recht. Während sich das Virus rasant verbreitete, das öffentliche Leben Schritt für Schritt stillgelegt wurde und die grossen Musikfestivals Europas die für den Sommer 2020 geplanten Ausgaben absagten, hielt man in Salzburg erst einmal still. Sehr lange hielt man still. Dann aber, am Abend des 25. Mai, nachdem die österreichische Regierung weitgehende Lockerungen des Corona-Stillstands verfügt hatte, gaben die Salzburger Festspiele bekannt, dass die Ausgabe zum Jubiläum ihres hundertjährigen Bestehens tatsächlich stattfinden werde, wenn auch in modifizierter Form: mit einem ausgeklügelten Sicherheitskonzept für alle Beteiligten, mit einem reduzierten Programm, mit einem deutlich verkleinerten Angebot an Sitzplätzen, mit Anlässen, die, ohne Pause und Gastronomie durchgeführt, eine Dauer von zwei Stunden nicht übersteigen sollten. Das mutige Warten und das tatkräftige Umgestalten des Programms haben sich gelohnt. Die Salzburger Festspiele als die ausstrahlungsmächtigste Institution ihrer Art führten damit vor, dass die Pandemie nicht das Ende der Kultur bedeuten muss.
In Salzburg angekommen, nimmt man mit Erleichterung Anzeichen von Courant normal wahr. Die Flaggen auf der Staatsbrücke wehen wie immer, die Kaffeehäuser sind belegt wie stets, an gewissen Orten herrscht das übliche Gedränge. Und doch: So wie jeden Sommer ist es nicht. Die Masken, in Österreich «MNS» oder «Mund-Nasenschutz» genannt, fallen schon auf, zumal in den Festspielhäusern, wo sie obligatorisch sind. Die Getreidegasse ist so leer, dass man für einmal die Möglichkeit hat, ihre architektonischen Schönheiten zu entdecken. Und im «Bazar» kann man, wenn man sich nicht allzu ungeschickt anstellt, sogar einen Tisch finden. Bemerkenswert auch die Belegung der Spielorte, an denen das Publikum nach der Art eines Schachbretts auf die Sitze verteilt ist; so ist es wenigstens im Grossen Festspielhaus, wo auch einander nahestehende Menschen einen Sitz zwischen sich freizulassen haben (in der Felsenreitschule wird das Prinzip offenbar nicht gar so streng gehandhabt). Der Abstand zum Nächsten ist gefordert – was nicht jedermann als Nachteil empfinden wird, was eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele mit ihrer eminenten sozialen Funktion aber schwer trifft.
Indes geht es in Salzburg wohl doch in erster Linie um die Kunst. In dieser Hinsicht stellte die vollkommene Umstellung des Programms einen Drahtseilakt erster Güte dar, freilich auch einen Schritt, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das Angebot musste überdacht und neu disponiert werden. Bisher verkaufte Karten mussten rückvergütet, Plätze für das neue Programm mussten verkauft werden. Ein Sicherheitskonzept war zu entwerfen und zu testen. Und das alles in kürzester Zeit und unter dem Damoklesschwert von Planungsunsicherheit und unklarer Informationslage. So musste denn von dem schön durchdachten, äusserst reichhaltigen Programm zur Jahrhundertfeier der Festspiele Abschied genommen werden. Endgültig ist der Abschied jedoch nicht; weite Teile des Programms sollen zu späteren Zeitpunkten realisiert werden. Der aussergewöhnlichen Umstände wegen dauert das Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele denn auch bis zum 31. August 2021, das gilt selbst für die anregende Ausstellung «Grosses Welttheater» im Salzburg Museum am Mozartplatz.
«Elektra»
Statt der geplanten vier Neuinszenierungen gab es bei den Salzburger Festspielen 2020 also nur deren zwei. «Elektra» von Richard Strauss, einem der Gründerväter der Festspiele, wurde unverändert aus dem ursprünglichen Programm übernommen – eine herausragende Produktion, die erwies, dass die Pandemie das eine, die Kunst dagegen das andere ist. Die Wiener Philharmoniker traten, so machte es den Anschein, in voller Besetzung auf und liessen die opulente Partitur in ganzer Pracht erklingen. Im Moment der Katastrophe am Ende des knapp zweistündigen Einakters drehte das Orchester ungehemmt auf – und da wurde wieder einmal deutlich, dass das Fortissimo nicht zu Stärken der Wiener gehört, die Krone gebührt diesbezüglich den Berliner Philharmonikern. Aber die Farbenpalette, die aus dem Graben der Felsenreitschule drang, war von betörender Sinnlichkeit. Nicht zuletzt ist das dem Dirigenten Franz Welser-Möst zu danken, der mit ebenso viel Fingerspitzengefühl wie Temperament bei der Sache war.
Täuschte der Eindruck oder legte Welser-Möst den Akzent tatsächlich weniger auf die geschärften Seiten der Partitur als auf ihre klangsinnliche Ausstrahlung? Klang am Ende, wie Elektra den ahnungslosen Ägisth in die Arme ihres blutig rächenden Bruders treibt, nicht sogar ein wenig «Rosenkavalier» an? Nicht zu überhören war jedenfalls, dass des Dirigenten Deutungsansatz Hand in Hand ging mit den vokalen und den szenischen Intentionen. Elektra wird vom Regisseur Krzysztof Warlikowski von Anfang an als eine gebrochene Frau gezeigt. Zu Beginn sieht man sie, verkörpert von einem Double, nackt unter einer Dusche stehen, wo sie unter Aufsicht einer herrischen Zofe Körperpflege zu betreiben hat; später wird sie ihrem Bruder sagen, sie habe im Palast zu Mykene alles hergeben müssen, selbst ihre Scham. Es ist weniger die Obsession als deren Ursache, als der heillose Schmerz, der Elektra zu Boden drückt. Ausgezeichnet spiegelt sich das in Stimme und Darstellung von Ausrine Stundyte. Die Sopranistin aus Litauen ist keine Heroine, ihr Timbre zeichnete eher fein und stellt die verletzte Seite der Figur in den Vordergrund.
Ganz anders die Chrysothemis von Asmik Grigorian. Die ebenfalls aus Litauen stammende Salome von 2018 verfügt über eine Stimme von fabulöser Ausstrahlung und enormem Ambitus sowie eine szenische Präsenz sondergleichen. So erscheint die Chrysothemis hier, im Gegensatz zu den allermeisten Inszenierungen von «Elektra», nicht als die etwas biedere, nach Eheglück und Kindersegen strebende kleine Schwester, sondern als eine starke, ganz und gar dem Leben zugewandte Frau – als die Einzige in der Familie der Atriden, die nicht von Fluch und Wahn besessen ist, sondern positive Lebenskraft ausstrahlt. Eine grossartige Besetzungsentscheidung und eine in jeder Hinsicht überzeugende Darbietung auf der Bühne war das. Nicht minder eindrücklich der Orest von Derek Welton. Sein Auftritt mit dem lapidaren ersten Satz «Ich muss hier warten» gerät zum Höhepunkt der Oper; genau hier liegt, so der Eindruck an diesem Abend, die dramaturgische Scharnierstelle. Äusserst berührend in der Folge der Vorgang des Erkennens, an dem Jens Larsen als der alte Diener mit Schauspielkunst vom Feinsten teilhat.
Etwas oft wird an der Rampe gesungen, gewiss; störend ist es nicht. Es kommt der klanglichen Balance zugute, und in der Tat bleiben die Stimmen fast jederzeit präsent – ganz anders als in der letzten Salzburger «Elektra» von 2010, in welcher der Dirigent Daniele Gatti mit seinen Fortissimo-Exzessen das Bühnengeschehen zum Stummfilm werden liess. Darüber hinaus sind die Figuren derart plastisch gezeichnet, dass sie auch in Momenten sparsamer Aktion greifbar bleiben. Zum Ausdruck kommt das etwa bei der Klytämnestra von Tanja Ariane Baumgartner, deren Mezzosopran grandiose Kontur gefunden hat und deren Darstellungskraft enorm gewachsen ist. Ohne jeden Druck macht sie die Klytämnestra zu einer buchstäblich unheimlichen Theaterfigur.
Sie wird dadurch zur Quelle allen Übels – was als Feststellung allerdings darum nicht restlos stimmt, weil in der Inszenierung Warlikowskis der Mythos als allgegenwärtig gezeigt wird. Links auf der Bühne von Małgorzata Szczęśniak steht ein ausladender Kasten. Es ist der Schrein der Erinnerung. Durch die gläsernen Wände wird ein Salon sichtbar, in der die vermeintlichen Sieger der Geschichte, die bald ein unrühmliches Ende finden werden, ihr üppiges Leben führen. Wie sich der Mythos zu erfüllen beginnt, bewegt sich der Schrein ins Zentrum, worauf in einer raffinierten Videoarbeit von Kamil Polak auf den geschlossenen Arkaden der Felsenreitschule das Blut fliesst. Gierig aufgesogen wird dieses Blut von einer wachsenden Zahl an Fliegen, die sich nach und nach zu einem kreisenden Wirbel fügen – eine szenische Metapher, wie sie zum Ausbruch des Wahnsinns und zur musikalischen Explosion am Ende von «Elektra» nicht besser passen könnte.
«Così fan tutte»
Neben Richard Strauss durfte in dem halben Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele Wolfgang Amadeus Mozart nicht fehlen. Im ursprünglichen Programm war «Don Giovanni» mit Teodor Currentzis und Peter Sellars vorgesehen. Der sinnenfreudige Totentanz musste ersetzt werden; an seine Stelle trat – «Così fan tutte». Wie das? Das Dramma giocoso mit seiner Länge von gut drei Stunden an einem pausenlosen Abend? Gewiss nicht, das Stück wurde auf etwas mehr als zwei Stunden gekürzt – ein Eingriff in ein Allerheiligstes des Kanons, von der Pandemie gefordert und durch sie gerechtfertigt. Das lässt sich umso eher sagen, als die Erstellung der Salzburger Bühnenfassung durch die Dirigentin Joana Mallwitz und den Regisseur Christof Loy ausgesprochen geglückt ist. Gestrichen wurde – das Programmbuch lässt es verdienstvollerweise nachvollziehen – in rezitativischen Teilen, wegfallen mussten aber auch Arien: jene der Despina im ersten Akt, drei der beiden Herren und ein Quartett im zweiten Akt, der in mancher Aufführung etwas Länge zeigt. Natürlich ist es schade um die Musik, die nicht erklungen ist, und um die Proportionen, die gestört sind, der dramatischen Stringenz war das Vorgehen eher förderlich.
Unterstrichen wurde es durch eine Inszenierung, deren Minimalismus beinah zu einer halbszenischen Wiedergabe führte. Die Erinnerung an den «Ring des Nibelungen» Richard Wagners 2013 beim Lucerne Festival lag jedenfalls nahe, zumal die Wirkung von «Così fan tutte» im Grossen Festspielhaus von ähnlich bezwingender Direktheit war. Die Bühne von Johannes Leiacker, ganz in Weiss gehalten, begnügte sich mit einer durch zwei Flügeltüren gegliederten Wand und einigen Treppenstufen, beides über die ganze Breite gezogen. Davor ein Sextett von Darstellerinnen und Darstellern, für die Barbara Drosihn fast durchwegs gehobenes Schwarz heutiger Provenienz entworfen hatte; nur für die Verkleidung von Ferrando und Guglielmo sowie für die beiden Auftritte Despinas als Doktor und als Notar waren Kostüme im eigentlichen Sinn in Verwendung – die Differenz zu Szenenbildern früherer Zeit, zumal solchen aus Salzburg, hätte grösser nicht ausfallen können. Eine Verortung des Stücks durchs Optische blieb ebenso aus wie ein Positionsbezug des Regisseurs zu dem eigenartigen Experiment Don Alfonsos mit dem Partnertausch der beiden jungen Paare. Der puristische Ansatz hatte insofern seinen Reiz, als man sich ganz auf die komplexe Interaktion zwischen den Beteiligten konzentrieren konnte. Umso frustrierter liess einen dann aber das Ende zurück – und damit die Frage, was Mozart und Da Ponte mit dem Stück wollten.
Sah die Inszenierung deshalb doch ein wenig nach Notlösung aus, so wurde dieser Eindruck deutlich relativiert durch die Entschiedenheit, mit der Geschehen musikalisch wie szenisch geformt war. Für einmal waren die beiden Paare als solche problemlos zu erkennen: an den Haarfarben, vor allem aber an den Timbres. Als Fiordiligi brachte Elsa Dreisig, blond, einen leicht geführten, hellen Sopran ein, während Andrè Schuen, dunkelhaarig, als ihr Bräutigam Guglielmo mit einem kernigen, in der Tiefe verankerten Bariton aufwartete. Spiegelbildlich angelegt das andere Paar, bei dem Bogdan Volkov, blond, als Ferrando einen lyrischen, obertonreichen Tenor hören liess, dem Marianne Crebassa, dunkelhaarig, einen samtenen, runden Mezzosopran gegenüberstellte. Auf dieser lange nicht in jeder Produktion so klaren Basis konnte der Regisseur witzig und virtuos mit den Irrungen und Wirrungen des Partnertauschs spielen. Ausgezeichnet gelang dies auch dank der entschiedenen Steuerung des Experiments durch Johannes Martin Kränzle, der einen keineswegs altersweisen, sondern durchaus lebensbezogen fordernden Don Alfonso gab und der mit der Despina der quirligen Lea Desandre eine raffinierte Assistentin an der Seite hatte.
Am Pult die junge Joana Mallwitz, die ursprünglich die Wiederaufnahme der «Zauberflöte» hätte dirigieren sollen, nun aber mit «Così fan tutte» Aufsehen erregte. Zügig ihre Tempi, fast so zügig wie bei Arnold Östman. Sehr leicht und agil der Ton, in dem sie durch die besondere Beleuchtung der Bratschen immer für überraschende Akzente sorgte. Nur wirkten leider die Wiener Philharmoniker, anders als bei «Elektra», hier nicht besonders inspiriert. Sie traten mit der Dirigentin nicht wirklich in Dialog, sie versahen ihren Part eher so, wie sie ihn immer versehen. In Fragen der Artikulation und des sprechenden Musizierens blieben einige Wünsche offen. Das führte zumal im zweiten Akt (und trotz der dort vorgenommenen Kürzungen) immer wieder zu Durchhängern in einer sonst sehr animierten Produktion.
Wie auch immer: Gut, dass die beiden Abende stattfanden. Erst recht, dass sie auf diesem Niveau stattfanden. Auf dem Salzburger Niveau – Corona hin, Corona her.
Lucerne Festival IV: Mozarts Da Ponte-Zyklus mit Currentzis
Von Peter Hagmann
Das Lucerne Festival als ein Ort der Oper? Gewiss – wenn auch nicht so, wie es für die Salzburger Festspiele gilt, wo als Schwerpunkt des Programms vier bis fünf Neuinszenierungen herausgebracht und in einer Mischung zwischen Stagione- und Repertoirebetrieb über Wochen hinweg gezeigt werden. In Luzern dagegen liegt der Akzent nach wie vor bei dem einzigartigen Gipfeltreffen der grossen Orchester der Welt, doch haben unter der Leitung von Michael Haefliger andere Schauplätze an Gewicht erhalten. Zum Beispiel die neue Musik mit der von Mark Sattler betreuten Reihe «Moderne» und der Lucerne Festival Academy, die mit Wolfgang Rihm über eine prominente Galionsfigur verfügt, die im Bereich der Interpretation seit dem abrupten (und bis heute unerklärten) Abgang des Dirigenten und Komponisten Matthias Pintscher jedoch eine spürbare Vakanz aufweist. Einen anderen Schauplatz dieser Art stellt das Musiktheater dar. Seit Haefligers Amtsantritt 1999 findet in Luzern Jahr für Jahr auch Oper statt. Nicht als konventionelle Inszenierung auf der Guckkastenbühne, sondern in den verschiedensten Formen konzertanter und halbszenischer Darbietung. Das mag als Notlösung erscheinen in einem Raum wie dem Konzertsaal im KKL, der sich nicht wirklich zur Bühne umbauen lässt, ist aber weit mehr als das (vgl. dazu NZZ vom 20.07.19).
Oper ohne Bühne
Oper am Lucerne Festival stellt vielmehr den kontinuierlich und phantasievoll vorangetriebenen Versuch dar, dem Musiktheater andere Formen der Existenz zu erschliessen – Formen jenseits des Szenischen. Sie verzichten auf Bühnenbild und Kostüm, auf Bebilderung und optisch wahrnehmbare Interpretation, sie fokussieren auf das rein Musikalische. Dabei tritt zutage, dass der Verzicht auf das Gesamtheitliche von Wort, Musik, Bild und Körpersprache nur auf den ersten Blick einen Verlust mit sich bringt. Bei näherem Zusehen erweist sich nämlich, in welch hohem Mass das Theatrale der Oper allein in der vom Text getragenen Musik lebt. Eine Darbietung, die das Szenische nur andeutet, das Musikalische dafür schärft und in den Vordergrund stellt, führt – so paradox das erscheinen mag – näher an den Gehalt des Kunstwerks heran.
Das hat sich in den konzertanten oder halbszenischen Opernaufführungen beim Lucerne Festival vielfach bestätigt – nicht zuletzt bei der epochalen Wiedergabe von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» unter der Leitung von Jonathan Nott im Sommer 2013 oder bei der unvergesslichen Monteverdi-Trilogie mit John Eliot Gardiner von 2017. In dem von Teodor Currentzis geleiteten Zyklus der drei Opern, die Wolfgang Amadeus Mozart und sein Textdichter Lorenzo Da Ponte in den Jahren rund um die Französische Revolution geschaffen haben, ist es erneut und in überwältigender Weise zur Geltung gekommen. Ein fulminanter Schlusspunkt und eine denkbar starke Konkretisierung des Leitgedankens «Macht», unter dem das Luzerner Festival diesen Sommer stand.
Halbszenisch in unterschiedlicher Schattierung
Natürlich gab es an diesen drei restlos ausverkauften Abenden im KKL auch etwas zu sehen – und dies in durchaus unterschiedlichem Mass. Bei «Le nozze di Figaro» – die drei Opern wurden in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt – lag der optische Akzent auf den Kostümen, die diskret, aber unmissverständlich die gesellschaftliche Schichtung und den Verlauf des Geschehen unterstrichen. Der Graf im Smoking, sein Figaro in grobem Tuch – so weit, so klar. Anders die Gräfin und ihre Kammerdienerin Susanna, die als heimlich Verbündete Kleid und Jupe in ähnlicher Farbe trugen, sich mehr noch durch ihre Schuhe unterschieden, die hier hohe, dort tiefe Absätze aufwiesen – was in der Verkleidungsszene zu einem fast unmerklichen Rollentausch genutzt werden konnte.
Bei «Don Giovanni» fehlten solche Elemente. Der Herr und der Diener trugen beide Smoking, eine Art Konzertkleidung, Don Giovanni allerdings einen mit rotem Innenfutter und mit ebenfalls rotem Einstecktuch – dies als Hinweis auf jene gesellschaftlichen Unterschiede, die durch Leporello entschieden relativiert werden. Beim nächtlichen Mittelstück der Trilogie wurde dafür mehr mit Lichtwirkungen gearbeitet – bis hin zu jener vollständigen Dunkelheit, in welcher der Auftritt des Dirigenten erfolgte. Der steinerne Komtur im weissen Dinner Jacket vor den leer gelassenen Sitzreihen der Orgelempore verfehlte seine Wirkung nicht.
«Così fan tutte» schliesslich erschien am stärksten den Konventionen verpflichtet. Dort wurde gestisch doch ziemlich auf den Putz gehauen und durften für die beiden Verkleidungsszenen, für die Auftritte Despinas als Doktor und als Notar, weder das Erste-Hilfe-Köfferchen noch das allgemeine Zittern, weder der Talar noch das näselnde Singen fehlen – leider, muss man sagen. An allen drei Abenden aber nutzten die Regisseurin Nina Vorobyova, die Kostümbildnerin Svetlana Grischenkova und der Lichtdesigner Alexey Koroshev, die sich dem Publikum nicht zeigten, den engen Raum zwischen dem Orchester und dem Podiumsrand geschickt aus. Und sorgten in allen drei komischen Opern für erheiternde Momente – etwa dort, wo Figaro als scheinbar verspäteter Konzertbesucher bei schon laufender Ouvertüre seinen Platz sucht, um dann singend das Podium zu erklimmen.
Historische Praxis 3.0
Wie in all den Luzerner Opernabenden halbszenischer Art blieb mächtig Raum für die Musik, für ihre hochgradig intensivierte Darbietung und ihre dementsprechend gesteigerte Wahrnehmung. Teodor Currentzis, kompromisslos und umstritten, war hier genau der Richtige. Seine Prämisse ist unüberhörbar die historisch informierte Aufführungspraxis, wie sie durch Nikolaus Harnoncourt vor einem guten halben Jahrhundert neu angestossen worden und wie sie heute, beträchtlich weiterentwickelt, so etwas wie Allgemeingut geworden ist. Anders als bei Mozarts «Idomeneo» an den Salzburger Festspielen dieses Jahres (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 14.08.19), bei dem das Freiburger Barockorchester einen sagenhaften Auftritt hatte, stand Currentzis in Luzern vor Chor und Orchester der von ihm begründeten, inzwischen nicht mehr mit der Oper Perm verbundenen, sondern selbständigen, privat finanzierten Formation MusicAeterna.
Mit seinen 33 Mitgliedern verbreitet der Chor dank klar zeichnender, nicht durch übermässiges Vibrato beeinträchtigter Linienführung bemerkenswerte Leuchtkraft. Das klein besetzte Orchester wiederum verwendet auf dem tiefen Stimmton von 430 Hertz Instrumente nach der Art des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die dazu gehörigen Spielweisen: Streicher mit Darmsaiten (aber nicht Barockbögen), Bläser in enger Mensur und ohne die heute üblichen Ventile, Pauken mit reinen Holzschlägeln. Was die historisch informierte Aufführungspraxis hervorgebracht hat, versteht sich hier von selbst und gilt als Basis. Die Streicher spielen nicht immer, aber in der Regel ohne Vibrato, was die Dissonanzen schärft und deren Auflösung in die Konsonanz stärker als gewöhnlich empfinden lässt. Ebenso hörbar wird die Belebung, die von der nuancierten Artikulation und der kleinteiligen, klar am Sprachverlauf orientierten Phrasierung ausgeht. Das alles auf technisch höchstem Niveau: Was dieses Orchester an Agilität und Präzision im hochgetriebenen Prestissimo zu leisten vermag, lässt immer wieder staunen.
Es erlaubt Teodor Currentzis, dem Akrobaten auf dem Dirigentenpodium, den musikalischen Ausdruck ganz unerhört zuzuspitzen: im Leisen wie im Lauten, im Schnellen wie im Langsamen. Er gehört damit zu den (mehr oder weniger) Jungen Wilden der klassischen Musik, wie sie von der Geigerin Patricia Kopatchinskaja prominent vertreten werden. Mit seiner zum Teil erschreckend harschen Attacke, dem reinen Gegenteil der apollinischen Verklärung Mozarts in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, schliesst Currentzis durchaus an Harnoncourt an. Zugleich nutzt er aber auch die vielen Freiheiten, die noch von Harnoncourt selbst, besonders aber von seinen Nachfolgern entdeckt und verbreitet wurden. Die Tempi werden nicht einfach im Gleichschlag durchgezogen, sondern vielmehr reichaltig und ganz dem expressiven Moment entsprechend nuanciert – was durchaus neueren Erkenntnissen der Interpretationsforschung entspricht. Und wie es René Jacobs tut, setzt Currentzis auf einen sehr vitalen, sehr präsenten Basso continuo – nicht nur in den Rezitativen, sondern überall. Was Marija Shabashova am Hammerklavier mit ihren witzigen Anspielungen, was der Lautenist Israel Golani und der Cellist Alexander Prozorov in Luzern hören liessen, war von hohem Reiz.
Dazu kommt, dass in der Mozart-Da Ponte-Trilogie des Lucerne Festival nicht nur das Instrumentale, sondern auch das Vokale dem aktuellen Stand des Wissen entsprach – nicht bei allen Mitgliedern der drei Ensembles, aber doch bei vielen. Dass bei zwei gleich hoch liegenden Tönen Appogiaturen gemacht, dass in wiederholten Teilen Verzierungen angebracht und unter den grossen Fermaten Kadenzen eingefügt werden können, war ebenso selbstverständlich wie das unterschiedlich gestaltete Vibrato und die vokale Formung aus dem Text heraus, also mit Hebung und Senkung sprechend und nicht, wie zu Karajans und Böhms Zeiten, auf die weit gespannte Linie und das durchgehende Legato hin ausgerichtet. Mit einigen Sängerinnen und Sängern scheint Currentzis intensiv gearbeitet zu haben, andere animierte er durch seine ungewöhnliche, durchaus gewöhnungsbedürftige körperliche Präsenz auf dem Podium. Wie überhaupt durch jene Nähe zwischen den Akteuren, die der Konzertsaal bietet, eine Verzahnung von Vokalem und Instrumentalem entstand, wie sie selten genug zu erleben ist.
Glanzpunkte, Schwachstellen
Der langen Vorrede kurzer Sinn: Die drei Luzerner Abende mit Mozart und Da Ponte waren ein hinreissendes Erlebnis. Sie zeigten, dass Oper auch jenseits der Bühne Oper sein kann. Und wie Musik allein zu Theater werden kann – dann nämlich, wenn das Ausdruckspotential der Partituren so explizit genutzt wird, wie es Teodor Currentzis tat. Vor allem aber waren die Darbietungen von glanzvollen vokalen Leistungen getragen; sie liessen nicht zuletzt erkennen, wie sehr die drei unerhört aufmüpfigen Opern Mozarts in ein und dieselbe Richtung weisen und wie individuelle Züge sie zugleich tragen. Im «Figaro» von 1786, dessen Ouvertüre nicht elegant tänzelnd, sondern vorrevolutionär rasselnd erklang, gab es neben dem souveränen, wenn auch etwas routinierten Figaro von Alex Esposito die herrlich schillernde Susanna von Olga Kulchynska sowie neben dem etwas unverbindlichen Grafen von Andrei Bondarenko die sehr innige, in ihrer Weise ehrliche Gräfin von Ekaterina Scherbachenko mit ihrem üppigen Vibrato und ihrem reichen Portamento. Vor allem kamen in diesem Stück die kleineren Rollen ans Licht: der Cherubino von Paula Murrihy und die zarte Barbarina von Fanie Antonelou, die auf der CD-Einspielung mit Currentzis die Susanna singt. Schade nur, dass hier die Übertitel pauschal blieben – zu pauschal für eine Interpretation, die so ausgeprägt aus dem Text hervorwuchs.
Auch in dem nächtlichen «Don Giovanni» von 1787 traten zwei Partien heraus, die gewöhnlich etwas im Schatten bleiben. In der Stimme quirlig, aber auf Distanz zum Soubrettenton, und in der Körpersprache geschmeidig, bot Christina Gansch einen sehr differenzierten Blick auf die junge Bäuerin Zerlina, im Geist eine Schwester der Susanna. Als ein besonders starrköpfiger Masetto hatte Ruben Drole einen prächtigen Auftritt; sein kraftvoller Bass liess das Vorhaben Masettos, den ihn bedrängenden Lüstling um die Ecke zu bringen, als durchaus glaubhaft erscheinen. Auffallend, dass Kyle Ketelsen als aufbegehrender Diener Leporello ähnlich unscharfes Profil gewann wie Figaro am Abend zuvor. Umso ansprechender dafür Dimitris Tiliakos als ein nicht mit metallener Virilität agierender, sondern ausgesprochen lyrisch angelegter Don Giovanni. In «La ci darem la mano» liess er gegenüber Zerlina seine ganzen Verführungskünste spielen, während die Champagner-Arie erwartungsgemäss überschäumend geriet. Vor allem aber schlug hier die Stunde von Nadezhda Pavlova, die mit ihrer grossartigen Singkunst die Figur der Donna Anna zu einem geradezu expressionistisch zugespitzten Charakter machte. Witzig, dass die Oper, wie es Mozart für die Wiener Zweitaufführung von 1788 vorgesehen hatte, mit dem Untergang des Protagonisten zu enden schien, was verunsicherten Beifall auslöste – dass das finale Sextett dann aber doch noch nachgereicht wurde, freilich als Oktett unter tatkräftiger Mitwirkung der beiden Toten.
Weniger überzeugend «Così fan tutte» von Anfang 1790. Zum einen der halbszenischen Einrichtung wegen, die doch etwas grobkörnig geraten war. Zum anderen darum, weil Cecilia Bartoli in der Partie der Despina als Star vorgeführt wurde und sich auch so gab – beides wollte nicht so recht ins Konzept passen. Zumal ihr halsbrecherisches Parlando nach wie vor stupend wirkte, die stimmliche Kontrolle an diesem Abend aber nicht restlos gegeben war. Auch nicht ganz auf der Höhe Konstantin Wolff als Don Alfonso; der philosophierende Strippenzieher war hier ein junger Mensch wie seine vier Opfer, er litt unter einem etwas bedeckten Timbre und blieb gerne auf den Schlusssilben sitzen, was im Umfeld dieser Produktion besonders als altmodisch auffiel. Neben Paul Murrihy (Dorabella), die das im «Figaro» erreichte Niveau würdig hielt, fiel noch einmal Nadezhda Pavlova auf, die als Fiordiligi fabelhafte Sicherheit in den Sprüngen, wunderschöne Rubato-Kunst, spannende Verzierungen und grandiose Koloraturen zum Besten gab. Und von dem etwas röhrenden Guglielmo von Konstantin Suchkov hob sich der Ferrando von Mingjie Lei angenehm ab; seine Arie «Un‘ aura amorosa» aus dem ersten Akt geriet zu einem Meisterstück vokal-instrumentalen Konzertierens.
Eine gewaltige Reise war das, eine von erschöpfender Kraft und nachhaltiger Denkwürdigkeit. Einmal mehr erwies sich, dass das Lucerne Festival auch für Anhänger des Musiktheaters eine Destination sein kann.
«Così fan tutte» hat Hochsaison. Vor zwei Wochen eröffnete Mozarts Oper die Saison des Berner Musiktheaters in einer fulminanten Produktion aus dem Geist des erneuerten Regietheaters (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.10.18) ), jetzt ist das Werk von der sehr lebendigen Opéra de Lausanne auf ihren Spielplan gesetzt worden. Wer angesichts der ganz anders gelagerten Operntradition in der französischen Schweiz eine eher konventionelle Auslegung erwarten zu können glaubte, sah sich ebenso überrascht wie bestätigt. Beim Nachdenken über die Frage, wo eine so verrückte Geschichte wie die von «Così fan tutte» spielen könnte, hat sich Jean Liermier der reality shows im Fernsehen erinnert – und so spielen Wette und Partnertausch in einem Aufnahmestudio, das vom Ausstatter Rudy Sabounghi als ein durchgestyltes Apartment italienischer Provenienz eingerichtet worden ist. Produzent und Regisseur der Show ist Don Alfonso, der hier weder alt noch ein Philosoph ist, von Bruno de Simone vielmehr als ein mit allen Wassern gewaschener Strippenzieher gezeigt wird.
Vielleicht geschieht das etwas zu deutlich; ob dem heftigen Grimassenschneiden des Darstellers wird die Partie bisweilen zur Charge – genau gleich wie jene der Despina. Mit ihrem Trippeln, Gestikulieren, Kaugummikauen tut Susanna Cordón des Guten zu viel, und das nimmt der konsequent gedachten, in der Personenführung überzeugend ausgeführten Inszenierung Jean Liermiers die Schärfe. Mag sein, dass dem aus dem Schauspiel stammenden Regisseur – Liermier leitet das Théâtre de Carouge bei Genf – bisweilen das Vertrauen in die Musik fehlt, Tatsache ist jedenfalls, dass das Komische da und dort dermassen überzeichnet wird, dass man an biedere Inszenierungen früherer Tage zu denken geneigt ist. Unterstrichen wird das durch einen musikalischen Habitus, der gerade im Vergleich zu der klanglich pointierten Berner Produktion doch sehr brav, wenn nicht gestrig wirkt. Unter der Leitung seines Chefdirigenten Joshua Weilerstein pflegt das Orchestre de chambre de Lausanne jenen kammermusikalisch leichten Mozartstil, der die starken Emotionen der Partitur auf Distanz und das Instrumentale unter dem Deckel hält. Jedenfalls kam es an der Premiere nicht zum Dialog mit der Bühne, es blieb beim Nebeneinander.
Dabei sind auf der Bühne starke Charaktere am Werk. Die junge Moldawierin Valentina Nafornita zeichnet die Figur der ernsthaften, nach innen gekehrten Fiordiligi sehr eindringlich. Allerdings macht ihr ein ausgeprägtes, dominantes Vibrato hie und da einen Strich durch die Rechnung. Durchwegs packend dagegen Stéphanie Guérin, die stimmlich wie vom Körperausdruck her glaubhaft macht, wie sie mit Guglielmo, dem Bräutigam ihrer Schwester, zur Frau wird – kein Wunder angesichts der feurigen Verführungskunst, die Robert Gleadow in seine Partie einbringt. Sehr berührend wiederum Joel Prieto, der einen ausnehmend scheuen, sensiblen Ferrando gibt; sein Scheitern an Fiordiligi erhält existentielle Züge, während später das Zueinanderfinden der beiden um so stärker wirkt. Die Konstellation der Figuren lässt erahnen, wohin die reality show Don Alfonsos führen wird: zu einer neuen Wirklichkeit, einer jenseits von Konvention und Verstellung. Tatsächlich benötigen Guglielmo und Ferrando für das üble Spiel mit den Frauen keine Verkleidung, sie erscheinen vielmehr als die Hipster, die sie sind. Verkleidet sind die beiden Männer in der Rahmenhandlung zu Beginn und am Ende, wo sie als Offiziere mit falschen Bärten in den ihnen von der Gesellschaft zugedachten Rollen erscheinen.
So hat es seine eigene Logik, dass im zweiten Finale Dorabella und Guglielmo getrennte Wege gehen, während sich Ferrando still und heimlich zu Fiordiligi stellt, weil er in ihr die Richtige erkannt hat. Der Zynismus und die Frauenfeindlichkeit, die man «Così fan tutte» anlasten könnte, sie sind hier gebrochen durch eine Selbsterkenntnis, wie sie sich in der turbulenten Fernsehproduktion nach und nach herausbildet. Und die unsägliche Demütigung der beiden Frauen, denen im zweiten Finale von den angestammten Bräutigamen die Eheverträge mit dem jeweils Andren unter die Nase gehalten werden, ist zumindest relativiert. Womit die Prüfung, vor die Mozarts unerhört schwierige Oper jedes Prodktionsteam stellt, in allen Ehren bestanden wäre.
Ein gigantischer Scherbenhaufen – das ist, was am Ende übrig bleibt. Und es ist zugleich, was im Stadttheater Bern den Ausgangspunkt von «Così fan tutte» bildet. Denn während die Ouvertüre zu Wolfgang Amadeus Mozarts Oper aus dem Orchestergraben hervorwirbelt, kehrt Don Alfonso, der in der Inszenierung Maximilian von Mayenburgs kein alter Philosoph, sondern ein ausgesprochen rüstiger Barkeeper ist, vor dem bühnenbreiten Tresen die Scherben der vergangenen Nacht zusammen. Eine Verlobungsfeier war es; an Alkohol hat es nicht gefehlt – die imposante Ansammlung harter Getränke aus der Hand des Bühnenbildners Christoph Schubiger deutet es an. Dorabella und Fiordiligi, die beiden Bräute, schlafen auf den Barhockern ihren Kater aus, die beiden Bräutigame Ferrando und Guglielmo rappeln sich auf und halten sich knapp auf den Beinen. In dieser Lage überrascht sie der Barkeeper mit dem Vorschlag zu einem Experiment. Einem Menschenversuch.
Er führt ins totale Desaster. Wenn im zweiten und letzten Finale die ausladende Bar wieder zu sehen ist, wird gefeiert, was gewöhnlich auf eine Verlobung folgt, eine Hochzeit nämlich – nur geht die in diesem Fall übers Kreuz, was von Don Alfonso alsbald als perfid inszenierte Täuschung offengelegt wird. Schon sind die fürs Festmahl vorbereiteten Teller zu Boden gefallen – und da ist er erneut, der Scherbenhaufen, nun allerdings endgültig. Drastisch zeigt die Inszenierung, wie unbarmherzig das Stück der Katastrophe zustrebt, dem Gegenteil des von der Konvention verlangten «lieto fine». Die Gefühle und die von ihnen getragenen Beziehungen sind in Brüche gegangen, die Gegenwart ist erschreckend geworden, die Zukunft hochgradig unsicher. Die leicht schlüpfrige Tändelei im Rokoko-Kostüm, der bildungsbürgerlich geschilderte Abschied junger Menschen von unbeschwerter Liebe – von edlen Deutungsansätzen solcher Art ist hier keine Rede mehr. In Bern wird «Così fan tutte» zum Zeitstück.
Es ist nicht zu überhören. Kevin John Edusei, der Chefdirigent der Berner Oper, nimmt eine radikale Gegenposition ein zu dem kammermusikalisch aufgelichteten, geglätteten, ja harmlosen Ton, wie er gerade bei dieser Oper Mozarts lange Zeit üblich war. Er raut den Klang auf, indem er die Streicherbesetzung klein hält, den Bläsern Raum schafft und im Blech wie bei den Pauken auf Instrumente nach der Art des späten 18. Jahrhunderts setzt. Zudem spielen die Streicher oft mit wenig Vibrato, was die vielen liegenden Mittelstimmen heraustreten und den Instrumentalsatz in seiner ganzen farblichen Vielfalt leuchten lässt. Edusei ist kein genuiner Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis; dass er die in diesem Bereich gewonnen Erkentnnisse so selbstverständlich zu nutzen weiss, spricht aber sehr für ihn. Und für das Berner Symphonieorchester, das hier ganz ausgezeichnete Figur macht.
Messerscharf fallen die instrumentalen Akzente. Die tiefe Emotionalität des Stücks, die Nikolaus Harnoncourt so meisterhaft ans Licht gehoben hat, scheint allerdings nicht wirklich auf; das berührende Abschiedsquintett im ersten Akt bleibt darum beiläufig – auch weil das Verhaltene noch nicht leise genug klingt. Die Schärfe in der musikalischen Formulierung stimmt freilich überein mit dem szenischen Ansatz, der «Così fan tutte», entstanden 1789/90, als Essay über das Zerbrechen einer Gesellschaftsordnung vorführt. Schon die symmetrische Anlage mit der Bar zu Beginn und zum Schluss, vollends aber das weite Spiegelkabinett, in dem Don Alfonso das Labor für seinen Menschenversuch eingerichtet hat – sie nehmen den abgezirkelten Formverlauf der Oper auf, erinnern aber auch an die strengen französischen Gärten und das straff normierte Hofzeremoniell, die damals als Inbegriff des Ancien Régime galten.
Davon ist nun freilich schon einiges ins Wanken gekommen. Wenn Dorabella und Fiordiligi, wie es sich für Damen ihres Standes geziemt, zum Frühstück feinste heisse Schokolade erwarten und die vorlaute Dienerin Despina stattdessen mit einem billigen Glas Nutella aufkreuzt, ist das natürlich ein Gag, zugleich aber auch ein Fingerzeig darauf, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen Mozarts Oper handelt, schon erheblich verändert haben und sich zweifellos noch weiter verändern werden. Das ist es, was Don Alfonso, ein Aufklärer der ersten Stunde, seinen Schützlingen beibringen möchte. Um sie mit der neuen Welt vertraut zu machen, lässt er sie Brillen aufsetzen – seine Brillen, durch die sie erkennen sollen, was er heraufziehen sieht. Es sind Sonnenbrillen, damit den vier jungen Adligen das Licht der Aufklärung – les lumières – nicht allzu sehr aufs Auge schlage. Sie haben sie bald nicht mehr nötig, wie auch die diversen Verkleidungen entbehrlich sind. Machen sie mit oder doch eher gute Miene zum bösen Spiel?
Wie dem auch sei: Don Alfonso – der nur ein einziges, kurzes Mal zu einer Arie ansetzt, im übrigen aber beim Rezitativ bleibt – Don Alfonso beherrscht die Szene jederzeit virtuos. Anders als gewöhnlich steht er absolut im Zentrum des Geschehens; mit seinem sonoren Bass und seiner herrlich süffisanten Attitüde lässt Todd Boyce keinen Zweifel an seiner Funktion. Dennoch gelingt der Aufklärungsversuch nur bedingt, die Beteiligten spielen mit unterschiedlichem Feuer mit. Fiordiligi ist eine besonders harte Nuss, sie tut sich schwer, das Neue (oder den Neuen) anzunehmen – was Oriane Pons mit eindrücklicher Gestaltungskraft zum Ausdruck bringt. Zum Beispiel in ihrer grossen Arie im zweiten Akt – bei der dann aber unvermutet Regen ans Fenster schlägt: einer jener nicht ganz seltenen Momente, in denen der Regisseur zum Überschiessen neigt, so als hätte er kein Vertrauen in die Musik.
Dorabella dagegen, von Eleonora Vacchi mit mehr Selbstbewusstsein versehen als gewöhnlich, bricht bald einmal auf. Und Guglielmo ist rasch und bereitwillig zur Stelle – Michal Marhold lässt es mit seinem hellen Bariton hören und mit den roten Unterhosen, die ihm die Kostümbildnerin Marysol del Castillo besorgt hat, unzweideutig sehen. Ferrando, ganz anders veranlagt, macht das schwer zu schaffen; mit seinem geschmeidigen Tenor, aber ohne die geringste Spur von Kitsch bringt Nazariy Sadivskyy seine Probleme auf den Punkt. Am Ende kommt er aber doch ans Ziel – und hat auch er brav zu jenem Scherbenhaufen beigetragen, für dessen Anwachsen Orsolya Nyakas als eine behende, in keinem Augenblick aufs Maul gefallene Despina erfolgreich mitgesorgt hat. In Bern, unter der Verantwortung des Operndirektors Xavier Zuber, wird konsequent dem Ensemblegedanken nachgelebt. Wie erfolgreich das geschehen kann, der Abend mit «Così fan tutte» zeigt es.