Jenseits der Marktgesetze

Konzerte an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Durch das Gepränge der Gattung und den mit ihm verbundenen Aufwand, durch die mediale Aufmerksamkeit und die mit den Produktionen verbundenen Aufreger – durch Aspekte solcher Art gerät das Musiktheater bei den Salzburger Festspielen traditionellerweise in den Fokus der Wahrnehmung. Dies jedoch durchaus zu Unrecht. Das seit 2017 und noch bis diesen Sommer von der Schweizerin Bettina Hering geleitete Schauspiel dümpelt zwar vor sich hin, jedenfalls bildet es keineswegs mehr jenes Standbein, als das es bei der Gründung angelegt war. Aber jenseits dessen blüht ein Garten von seltener Vielfarbigkeit. Er bietet ein ausgebautes Kinder- und Jugendprogramm. Er wartet mit hochkarätig besetzten Nischen der der Reflexion auf, zum Teil kuratiert von Markus Hinterhäuser, dem Intendanten der Festspiele. Er lädt zum Besuch einer unter der Leitung der Festspiel-Dramaturgin Margarethe Lasinger entstandenen Ausstellung über Max Reinhardt, einen der Gründerväter der Festspiele – dies zum 150. Geburtstag des legendären Theaterkünstlers und -unternehmers. Vor allem aber, und in erster Linie, gibt es: das Konzert.

Unter erkennbarer Mitwirkung des Intendanten durch den Spartenleiter Florian Wiegand betreut, trägt das Salzburger Konzertprogramm ein sehr eigenes Gesicht und bezieht daraus seine Bedeutung – jedenfalls bietet es weitaus mehr als Füllmaterial zwischen den Opernabenden. Formal herrscht ein feststehendes Raster. Dazu gehören etwa die unter der Intendanz Alexander Pereiras eingeführte Ouverture spirituelle eine Woche vor dem eigentlichen Beginn der Festspiele, die fünf mehrfach geführten Auftritte der Wiener Philharmoniker zu der für dieses Orchester traditionellen Stunde vor Mittag, das doppelte Gastspiel der Berliner Philharmoniker zum Ende der Festspiele, bevor sie nach Luzern weiterziehen sowie die Mozart-Matineen des Salzburger Mozarteumsorchesters. Hinzu kommt ein weitgespanntes Angebot an Kammerkonzerten, an Liederabenden und Solistenkonzerten.

Quer durch die formale Ordnung ziehen sich thematische Linien. Die Ouverture spirituelle stand diesen Sommer im Zeichen von «Lux aeterna», dies als fühlbarer Kontrast zum Opernprogramm, das der aus den Fugen geratenen Welt nachging (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.08.23). Und hier ist auch der Ort, an dem Altes direkt auf Neues stösst; nach der Eröffnung mit den grossformatigen «Eclairs sur l’Au-delà» von Olivier Messiaen in der Felsenreitschule standen sich da zum Beispiel die «Prophetiae Sibyllarum», die Motetten Orlando di Lassos, dem einstündigen Entwurf «ET LUX» von Wolfgang Rihm gegenüber. Besonders bemerkenswert war in dieser Hinsicht die Reihe «Zeit mit…», die in jährlichem Wechsel einem bestimmten Komponisten gewidmet ist. Diesen Sommer galt die Aufmerksamkeit György Ligeti, an dessen Geburt vor 100 Jahren erinnert wurde. Eröffnet wurde die Reihe mit dem «Poème Symphonique» für 100 Metronome, dessen gleichsam vielstimmiges Ticken immer lauter wird, bevor es wieder erstirbt – Werden und Vergehen innerhalb eines Lebens.

Vergangen ist an Ligetis Musik freilich nicht das Geringste, in Salzburg erst recht nicht. 1993 ist der Komponist dort, auf Initiative des damaligen Finanz- und Konzertdirektors hin, zusammen mit György Kurtág in einem Doppel-Porträt präsentiert worden. Markus Hinterhäuser war dabei, denn damals hat er mit einer Aufführung von Luigis Nonos «Prometeo» in Salzburg ein erstes Zeichen gesetzt. Inzwischen ist Hinterhäuser Intendant und Ligeti ein Klassiker. So gedacht nicht bei den irrwitzigen Klavier-Etüden, die Pierre-Laurent Aimard auf dem Programm hatte, wohl aber bei der Sonate für Violoncello solo, die Jean-Guihen Queyras souverän bewältigt und wunderschön vorgetragen hat – vielleicht etwas zu schön?

Dass auch bei Ligetis Musik die Interpretation ihre Rolle spielt, erwiesen die Geigerin Isabelle Faust, der Hornist Johannes Hinterholzer und der Pianist Alexander Melnikov, die das ebenso klangschöne wie intrikate Horn-Trio Ligetis in ihrer Auslegung phantastisch zuspitzten. Erst recht verwirklichte sich das bei jenem Trio für dieselbe Besetzung aus der Feder von Johannes Brahms, das Ligeti zum Ausgangspunkt seines Werks genommen hat. Die Besonderheit lag darin, dass Johannes Hinterholzer nicht das zu Brahms’ Zeiten schon bekannte, heute übliche Ventilhorn an die Lippen setzte, sondern das damals im Verschwinden begriffene Naturhorn, bei dem die Töne nur auf der Basis der durch die Natur gegebene Obertonreihe, allein mit den Lippen und der einen Hand im Schallbecher, geformt werden. Brahms, dem das Instrument aus eigenem Tun heraus vertraut war, schrieb sein Trio explizit für das Naturhorn – und warum er das tat, war in dieser einzigartigen Aufführung klar zu hören, verleihen die gestopften Töne den Melodielinien doch ganz eigene Kontur. Zu hören war das auch, weil Isabelle Faust wie Alexander Melnikov Instrumente aus der Entstehungszeit des Werks benützten – Exemplare mit betörendem Klang (zu denen das Programmheft leider keine Angaben enthielt). Wie sich Geige und Horn gleichsam zu einer einzigen Stimme verbanden und wie sinnlich sich das Klavier daruntermischte, das machte gerade den langsamen Satz zu einem zutiefst berührenden Erlebnis.

So ist es in eben jener neuen Generation von Musikerinnen und Musikern, die nicht auf das klassisch-romantische Repertoire allein, auch nicht auf den schönen Ton und das gepflegte Legato, schon gar nicht auf die Position im Markt fixiert sind. Sie sind offener, berücksichtigen auch älteres wie neueres Repertoire und gehen dabei in derselben Leidenschaft wie auf der Höhe des aktuellen Kenntnisstandes zu Werk. Ein Beispiel dafür bieten der Dirigent François-Xavier Roth und das von ihm gegründete Orchester Les Siècles, die in Salzburg höchst erfolgreich debütiert haben. Und das mit einem allseits anspruchsvollen Doppel-Abend, dessen erster Teil György Ligeti galt. Klangschön im zweiten Satz, virtuos im dritten das Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten (und Instrumentalistinnen) – nicht zuletzt darum, weil nicht ein Synthesizer, sondern eine echte Hammond-Orgel zum Einsatz kam. Bestechend die Farbenspiele in den «Ramifications» für zwei Mal sechs Streicher(innen). Das Violinkonzert mit der unerhört identifizierten Solistin Isabelle Faust liess ungeahnte Welten des Flüsterns und die Sehnsuchtsklänge der aus dem wohltemperierten System ausbrechenden Okarina erleben. Schliesslich das «Concert Românesc» aus Ligetis früher Zeit in Budapest als Zeugnis eines Künstlertums, das der von oben herab herrschenden Kulturbürokratie die Stirn bot. Mehr davon bietet eine bei Harmonia mundi soeben erschienene CD.

Nach einem Moment der Erholung dann Wolfgang Amadeus Mozart. Erst das Klavierkonzert in A-Dur KV 488, für das sich Alexander Melnikov an einen wenig günstig, nämlich mitten im Orchester aufgestellten und darum klanglich oft bedrängten Hammerflügel setzte. Und zum Abschluss die C-Dur-Sinfonie KV 551, die «Jupiter». Bekanntlich verwendet das Orchester Les Siècles durchwegs Instrumente, die der Entstehungszeit der vorgetragenen Werke entsprechen. Ob dieses Alleinstellungsmerkmal auch für sein Salzburger Mozart-Programm galt, darf allerdings bezweifelt werden. Bei den Bläsern war es so, bei den Streichern klang es sehr nach hergebrachtem Instrumentarium – das Orchester hätte dafür ja einen vollständigen Satz an Streichinstrumenten mit Darmsaiten und den entsprechenden Bögen mitführen müssen. Ein kleiner Etikettenschwindel? Davon abgesehen war François-Xavier Roth bei Mozart allzu sehr auf forsche Attacke fokussiert. Knallende Pauken, schmetternde Trompeten, ein harsches Tutti, das ist noch nicht alles, eher Revolution von gestern. Bei Jordi Savall und dem von ihm gegründeten Orchester Le Concert des Nations herrschte jedenfalls ein ganz anderer Ton. Klar, Savall ist ein älterer Herr, der, auch wenn er sein Temperament keineswegs verloren hat, gestisch nicht mehr viel Aufhebens macht. Das Ergebnis, bei Ludwig van Beethovens Sinfonien Nr. 3 (in Es-Dur) und Nr. 5 (in c-Moll): warm opulente, elegant federnde, jederzeit durchhörbare Klanglichkeit. Sie bot enormen Reichtum, ohne dass das ungeheure Aufbäumen der sogenannten Schicksalssinfonie unterspielt worden wäre.

Vielschichtig, farbenreich: Mahlers Vierte

Eine neue Aufnahme mit Les Siècles und François-Xavier Roth

 

Von Peter Hagmann

 

In der jüngsten Nummer der «Schweizer Musikzeitung» klagt Alfred Brendel darüber, dass heute manche Streicherin, mancher Streicher mit wenig, bisweilen gar keinem Vibrato spiele. Das sei legitim für Musik aus der Barockzeit, nicht aber für solche aus dem späten 18. Jahrhundert (und somit auch aus dem darauffolgenden Säculum). Die Einschränkung des Vibratos führe zu einem Verlust an Persönlichkeit, auch zu einem Mangel an Wärme und Farbe, Charakter und Nuance. Über 91 Jahre alt, darf der berühmte Pianist, der inzwischen Streichquartette in Musik von Beethoven und Schubert unterweist, durchaus dieser Meinung sein – auch wenn sie überholt ist.

Sie basiert auf Prämissen aus dem mittleren 20. Jahrhundert und ist durch die Erkenntnisse der historisch informierten Spielweise doch merklich relativiert worden. Das bewusst und mit Geschmack als Verzierung eingesetzte, nuanciert angewandte Vibrato auf der Basis des geraden Tons gehörte in früheren Zeiten zu den Grundpfeilern der musikalischen Praxis, bis es in der jüngeren Vergangenheit durch die Auffassung ersetzt wurde, dass nur ein vibrierter Ton ein schöner Ton sei. Mittlerweile haben zahlreiche Interpretinnen und Interpreten jedoch vorgeführt, dass das Dauervibrato nicht sein muss, dass der gerade Ton keineswegs Gegenteil von Mangelerscheinungen, vielmehr zu ganz ausserordentlichen Hörerlebnissen führt.

Zu diesen Interpreten gehört François Xavier Roth. Als Kölner Generalmusikdirektor hat der gut fünfzigjährige Franzose das Gürzenich-Orchester fabelhaft vorangebracht; in der Branche ist er ebenfalls gut verankert, auch als Spezialist der neuen Musik, als der er sich an der Spitze des ehemaligen SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg einen Namen gemacht hat. Vor allem aber hat er mit dem von ihm 2003 gegründeten «Originalklang-Orchester» Les Siècles bemerkenswerte Auslegungen auch und gerade der Musik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erarbeitet. Auslegungen, die nicht zuletzt vom sorgfältigen Einsatz des Vibratos leben – wie sich jetzt wieder, in der neuen Aufnahme von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 4 in G-dur erweist.

Schon im Kopfsatz wird an zahlreichen Stellen deutlich, welchen Zuwachs an Charakterisierung der gerade Ton auszulösen vermag – etwa beim Übergang von der Exposition zur Durchführung, in dem sich Geschehen beruhigt. Vollends gilt es für den traumverlorenen dritten Satz, der in der Aufnahme mit Les Siècles in einer gläsernen Durchsichtigkeit und einer Zartheit erklingt, die einem noch und noch Schauer über den Rücken schickt. Im fröhlichen Finale, einem nur scheinbar naiven, weil höchst kunstvollen Satz, schliesst sich die Sopranistin Sabine Devieilhe dem sensiblen Umgang mit dem Vibrato an. Der streng zuschauende Sankt Peter im Himmel bekommt gerade Töne, die Englein, die das Brot backen, und die zweifellos üppige Sankt Martha in der Küche werden durch das Vibrato ausgezeichnet.

Zum sorgsamen, sinnreichen Umgang mit diesem heiklen Ausdrucksmittel kommen die Instrumente aus der Entstehungszeit der Komposition, die den Mitgliedern von Les Siècles zur Verfügung stehen; sie schaffen einen hellen, leichten, farbenreichen Ton – zu dem das schlanke Timbre von Sabine Devieilhe, die übrigens auch im Deutschen eine ausgezeichnete Diktion pflegt, hervorragend passt. Doch nicht nur die sogenannten Originalinstrumente, auch nicht die vergleichsweise kleine Besetzung des Streicherkörpers macht die Besonderheit der Aufnahme aus. Mit dem historisch informierten Zugang verbindet sich vielmehr ein Blick auf die Partitur, der tief ins Innere dringt und Schichten freilegt, die andernorts im Sound untergehen. An Emotion fehlt es darob freilich keineswegs.

Den vom Komponisten als bedächtig und gemächlich bezeichneten Eröffnungssatz nimmt François-Xavier Roth so flüssig, wie es seinerzeit Pierre Boulez tat. Damit muss, ja kann man sich abfinden. Es ist nun einmal so, dass sich der der eher gemütliche österreichische Lebensrhythmus und der eher schnelle französische Puls grundlegend voneinander unterscheiden, das ist auch bei den Märschen und den Walzern zu beobachten. Auf der Basis des behenden Zeitmasses entwickelt sich nun allerdings eine da und dort überraschende, im Ganzen aber bemerkenswert stringent wirkende Tempodramaturgie, die das Diskontinuierliche der Partitur ans Licht hebt. Noch mehr fällt ins Gewicht, wie der Dirigent die Aufmerksamkeit auf die Spannungen im Inneren der musikalischen Vorgänge richtet. Treten wenige Takte nach Beginn der Sinfonie die Hörner heraus, stellen sich sogleich und deutlich akzentuiert die Fagotte dazu – das zu hören macht Lust.

Ebenso ausgeprägt sind die Dialoge zwischen den Ersten und den Zweiten Violinen gestaltet; darin liegt der Vorteil der deutschen Tradition, gemäss der die beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten sitzen. Und mit geradezu dramatischem Aplomb erscheint kurz vor der Reprise des Kopfsatzes jene Trompeten-Fanfare, mit der Mahler zwei Jahre später seine fünfte Sinfonie eröffnen wird. In gleicher Weise nachdrücklich wird mit den zahllosen Glissandi umgegangen, die nie unterspielt werden. Sie sind weder technischem Unvermögen noch dem Zufall geschuldet, sondern vom Komponisten bewusst als Anklang an den Kitsch eingesetzt.

Etwas umgewöhnen muss man sich schon, wenn man Mahlers Vierter in der anregenden Deutung von François-Xavier Roth begegnet. Wohliges Zurücklehnen, wie es mit dieser gerne als naiv, wenn nicht gar kindlich empfundenen Sinfonie verbunden wird, bietet sich hier nicht an. Schon eher das Glück der Entdeckung – der Erkundung eines viel reicher gegliederten Tonsatzes als üblicherweise empfunden, des Vergnügens an überraschenden Einwürfen und prägnanten Instrumentalfarben. Nicht wenig trägt dazu das Orchester Les SIècles bei, eine voll ausgebaute sinfonische Formation aus der Richtung der historischen Praxis, die, was die technische Kompetenz und die klangliche Agilität betrifft, keine Wünsche offen lässt.

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4 in G-dur. Sabine Devieilhe (Sopran), Les Siècles, François-Xavier Roth (Leitung). Harmonia mundi 905357 (CD, Aufnahme 2021, Produktion 2022).

Mit weitem Blick und ausgeprägter Kreativität

François-Xavier Roth ist der Dirigent der Stunde. Davon zeugt eine stolze Reihe neuer Aufnahmen – eine interessanter als die andere.

 

Von Peter Hagmann

 

Wie schafft er das nur? Sechs neue CD-Veröffentlichungen mit François-Xavier Roth sind in diesem Jahr auf dem Markt und in den Streaming-Diensten erschienen, und es ist nicht auszuschliessen, dass vor Weihnachten noch eine weitere dazukommt. Gewiss, vieles davon ist in Konzerten aufgezeichnet worden. Aber ein Stück wie Beethovens Fünfte verlangt doch Besonderes an Vorbereitung; da reicht es nicht, sich die Partitur zu eigen zu machen und sie in vier halben Proben mit dem Orchester einzustudieren – mit einem Orchester, das wie manch anderes vorgibt, ein Werk wie dieses zu kennen und es im Traum spielen zu können. François-Xavier Roth verfügt offenbar über eine schnelle Auffassungsgabe, er stellt sich und seinen Mitwirkenden rasch die richtigen Fragen und ist vor allem – hochmusikalisch.

Wer sich dem letzten Satz von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 3 zuwendet, erkennt es auf Anhieb. Äusserst sorgfältig ist der Bogen über den Satz gespannt. Sehr zart hebt er an, mit Streichern, die ohne Vibrato spielen und die Zartheit überhaupt erst ermöglichen – das Vibrato kommt später dazu und macht dann ganz besonderen Effekt. Packend ist der Spannungsverlauf gezügelt. Es fehlt nicht an Emotion, wohl aber ist das Gefühlhafte, das in diesem Satz so leicht abrutschen kann, durch die Luzidität des Klangs gebändigt. Die instrumentalen Farben sind ungewöhnlich plastisch ausgeformt, sie treten prägnant in Erscheinung und verleihen dem musikalischen Geschehen vital bewegte Konturen. Der krönende Abschluss, der manchem Dirigenten entgleitet und darum im Bombast ertrinkt, kommt hier zu wahrer, um nicht zu sagen: wahrhafter Grösse.

Das Gürzenich-Orchester, dem François-Xavier Roth seit 2015 als Kölner Generalmusikdirektor vorsteht, zeigt in der Aufnahme von Mahlers Dritter, welch blendendes Niveau es erreicht hat. Roth macht in Köln nicht nur aufsehenerregende Programme, er sorgt nicht nur für Abende im Geist des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, das er von 2011 bis zu der unsäglichen Liquidation dieses geschichtsträchtigen Klangkörpers 2016 leitete. Nein, Roth leistet in Köln auch orchestrale Feinarbeit, er hat das Gürzenich-Orchester regelrecht verwandelt. Grossartig zu erleben ist das auf der im Sommer dieses Jahres erschienenen Aufnahme von Schumanns Sinfonien Nr. 1 und 4 mit den Kölnern. Hell ist der Grundton, und weil der Dirigent auf einen freilich alles andere als inhomogen wirkenden Spaltklang setzt, kann man tief in die Partituren hineinhören. Dazu kommt in der Ersten, der sogenannten Frühlingssinfonie, ein unerhört federnder Schwung, ein Drängen und Ziehen, dem sich niemand, der zuzuhören weiss, verschliessen kann.

Dass Roth der Ersten die Vierte in der wenig bekannten Urfassung an die Seite stellt, ist von eigener Plausibilität. Nicht nur, weil Johannes Brahms die viel später entstandene Zweitfassung der Sinfonie Schumanns, die heute üblicherweise auf den Programmen steht, abgelehnt hat. Sondern auch, weil die Vierte, unmittelbar nach dem Erfolg der Ersten ebenfalls 1841 entstanden, eigentlich die Zweite ist und die in der Ersten angelegten Vorstellungen von der Sinfonie als einem poetischen Ganzen konkret weiterentwickelt. Auch hier fällt das französische Temperament des 1971 in Neuilly bei Paris geborenen Dirigenten auf. Er geht von den Farben aus, die er sensibel ineinander fügt, und schafft damit eine Transparenz, die das lange gepflegte Klischee von den Ungeschicklichkeiten in Schumanns Instrumentation entschieden ausser Kraft setzt. Und als Kenner der alten Musik arbeitet er auch bei Schumann pointiert mit der Artikulation. Nimmt er in der Romanza des zweiten Satzes die Punktierten sehr weich und lässt er am Satzschluss die Stimmen förmlich ineinanderfliessen. Unterscheidet er im dritten Satz messerscharf zwischen Portato und Staccato. Und nimmt er das Allegro vivace im Finale sehr leichtfüssig, was ein virtuoses Tempo ermöglicht.

Ohne Zweifel profitiert die Arbeit von François-Xavier Roth mit einem Klangkörper wie jenem aus Köln in hohem Mass von den Erfahrungen, die der Dirigent mit dem 2003 von ihm gegründeten Orchester Les Siècles gesammelt hat. Die Besonderheit dieses Ensembles besteht darin, dass es die gesamte Breite des Repertoires abdeckt, also Boulez so gut wie Lully bewältigt, für seine Interpretationen aber durchwegs Instrumente und Spielweisen aus der Entstehungszeit der vorgetragenen Werke verwendet. Das führt zu unerwarteten Hörerlebnissen, wie etwa die Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns oder die erste Sinfonie Mahlers in der Urfassung mit dem Titel «Titan» erweisen. Bei der soeben aufgelegten Interpretation von Beethovens Fünfter wiederholt sich das. Wild, aber nicht massiv, zugespitzt und scharf kommt diese revolutionäre Musik hier daher – so wild wie bei Teodor Currentzis, aber wesentlich klarer strukturiert in der Aussage und gepflegter im Klang. Wie viel von der französischen Musik seiner Zeit Beethoven in die Fünfte einfliessen liess, zeigt auf dieser CD zudem eine Sinfonie des Franzosen François-Joseph Gossec. So instinkthaft musikalisch er wirkt – allein aus dem Bauch kommt bei François-Xavier Roth nichts.

Aufnahmen mit dem Dirigenten François-Xavier Roth:
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3. Gürzenich-Orchester Köln. Harmonia mundi 905314.15 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2019)
Robert Schumann: Sinfonien Nr. 1 und 4 (Urfassung). Gürzenich-Orchester Köln. Myrios 028 (CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020)
Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5. François-Joseph Gossec: Symphonie en dix-sept parties. Les Siècles. Harmonia mundi 902423 (CD, Aufnahme 2017, Publikation 2020)
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 mit «Blumine». Les Siècles. Harmonia mundi  905299 (CD, Aufnahme 2018, Publikation 2019)
Camille Saint-Saëns: Sinfonie Nr. 3. Daniel Roth (Orgel), Les Siècles. Actes Sud ASM 04 (CD, Aufnahme 2010, Publikation 2010)

Titan mit Blumine

Mahlers Erste in historisch informiertem Klangbild

 

Von Peter Hagmann

 

Auf Schritt und Tritt überrascht die jüngste Einspielung von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1. Nicht nur, weil sie als eine «Tondichtung in Symphonieform in zwei Teilen und fünf Sätzen für grosses Orchester», also mit dem Titel der Erstfassung angekündigt wird. Sondern auch und vor allem, weil in dieser Aufnahme die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis zur Anwendung kommen. Unter ihrem feurigen Leiter François-Xavier Roth verwenden die Mitglieder des Orchesters «Les Siècles» Instrumente, wie sie zur Zeit der Budapester Uraufführung des Werks 1889 üblich gewesen sein mögen. Ausserdem orientieren sie sich auch an Spielweisen von damals; die Streicher spielen grundsätzlich, aber natürlich nicht immer, ohne Vibrato, und das Klangbild zielt eher auf die Trennung der Farben als auf deren Vermischung.

Das führt schon in der langsamen Einleitung zum Kopfsatz zu heller Klarheit. Interessant, wie die Schichten, die sich hier übereinanderlegen, also solche wahrzunehmen sind. Und grossartig, wie präzis die Akzente gesetzt werden und wie sorgsam die Artikulation ausgeführt ist; beides verleiht dem musikalischen Geschehen scharfes Profil. Weniger gelungen erscheint die Tempowahl. Die Gemächlichkeit, die Mahler in diesem Satz immer wieder fordert (und die ein konstituierendes Merkmal seiner kompositorischen Handschrift darstellt), ist nicht immer überzeugend getroffen; oft geraten Temposteigerungen etwas hektisch – mag sein, dass hier die noch geringe Erfahrung des Dirigenten im Umgang mit diesem Komponisten zu Buche schlägt.

Auf den Kopfsatz folgt nicht wie üblich das Scherzo, sondern ein zweiter Satz unter dem Titel «Blumine», den Mahler später aus dem Werk herausgelöst hat. Das wohl darum, weil er das Werk von einer Tondichtung in zwei Teilen zu einer Sinfonie in vier Sätzen zu verwandeln suchte. Aus dem gleichen Grund entfernte er nach den ersten Aufführungen alle programmatischen Erläuterungen aus seiner Feder, auch den von ihm ursprünglich gewählten Titel «Titan», der auf den gleichnamigen Roman Jean Pauls zurückgeht. Von da her ist nur logisch, dass der Dirigent sowohl im ersten Satz als auch im Scherzo, das in dieser Aufnahme an dritter Stelle steht, die mit der traditionellen Form der Sinfonie verbundenen Wiederholungen auslässt. Musikalisch ist die «Blumine» übrigens ein wundervolles Stück Musik. Schade, dass es so selten zu hören ist – aber wenn man es spielen will, muss man Mahlers sinfonischen Erstling, wie es François-Xavier Roth tut, tatsächlich als Sinfonische Dichtung aufführen.

Auf die «Blumine», die mit einem ganz leisen, von fern her klingenden Harfenakkord endet, folgt ein wildes, wahrhaft stürmisches Scherzo – in dem aber nicht mit Kraftausdrücken operiert wird, sondern mit pointierten Instrumentalfarben, zum Beispiel jener des ventillosen und darum auf Stopfungen angewiesenen Horns. Auffällig, wie wörtlich Roth dafür die Spielanweisungen des Komponisten nimmt. Die Glissandi, in anderen Aufführungen verschämt unterdrückt, werden bewusst als solche herausgestellt, und wenn Mahler an einer Stelle im Trio nach dem Scherzo für Flöte und Oboe «Zeit nehmen» verlangt, führt das zu einem sehr deutlichen Rubato.

Im langsamen Satz erstaunt, dass das Tempo in den ersten Takten überraschend flüssig genommen wird, dass es sich in der Folge aber verlangsamt – soll das auf eine Intention des Dirigenten zurückgehen? Sehr schön dagegen die ausgesprochen geheimnisvoll klingende Volksliedstelle.  Im Finale schwingt sich das Orchester mit seinen Instrumenten aus der Zeit Mahlers zu letzter Kraftanstrengung auf – die als solche auch hörbar wird. Und ohne etwas zu sehen, kann man mit einem Mal verstehen, warum Mahler am Ende die sieben Hornisten, die in dieser Aufnahme eben nicht die Wucht moderner Instrumente einbringen können, um der verstärkten Wirkung willen aufstehen lässt. Alles total spannend – auch wenn Meisterinterpretationen mit Abbado oder Haitink dadurch nicht aus den Angeln gehoben werden.

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 mit «Blumine». Les Siècles, François-Xavier Roth. Harmonia mundi  905299 (1 CD, Aufnahme 2018)

Im Westen manch Gutes

Von Sonntag bis Sonntag in der Tonhalle Maag, Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Glücklich im Provisorium – und ein Schuss vor den Bug

Etwas peripher liegt sie schon, die Tonhalle Maag in Zürich: in einem ehemaligen Industriequartier im Westen der Stadt, wo sich lärmige Verkehrsstränge kreuzen, wo man Freitag-Taschen kauft, wo man im Schuppen von Frau Gerold speist. In diesem Neu-Zürich, mit dem sich nicht alle Zürcher identifizieren mögen, herrscht aber nicht nur das Klima der Ausgehmeile, es gibt auch klassische Kultur. Im Schiffbau, dem auf einen Ausruf des Zürcher Regisseurs Christoph Marthaler hin errichteten Theaterhaus mit seiner einzigartigen Atmosphäre, präsentiert das Schauspielhaus Zürich einen Teil seines Angebots. Und in den Gebäuden der ehemaligen Zahnradfabrik Maag hat sich das Tonhalle-Orchester Zürich – aus eigener Kraft notabene – einen provisorischen Konzertsaal errichtet, um zu überwintern, während die Tonhalle am See erneuert wird.

Doch, sagt Ilona Schmiel, die Intendantin des Orchesters, die Saison laufe gut. Mit einem gewissen Einbruch beim Verkauf von Abonnementen sei zu rechnen gewesen; dafür gebe es mehr spontane Besuche, besonders an Freitagabenden, die in der Tonhalle am See als schwierig gegolten hätten. Gleichwertig neben die Statistik stellt die Intendantin jedoch die Veränderungen im Klima. Tatsächlich führt das Foyer die Menschen zusammen; nicht ungern bleibt man nach dem Konzert noch auf ein Glas beisammen, wozu das kulinarische Angebot wie die freundlichen Mitarbeiterinnen hinter dem Tresen und an der Garderobe das Ihre beitragen. Der Saal selbst darf als Prunkstück eines Provisoriums gelten, der Bereich hinter dem Podium lässt sich fast besser nutzen als im angestammten Haus, und die Anbindung an den öffentlichen Verkehr ist wesentlich komfortabler als am Bürkliplatz.

Allein, der Horizont hat sich verdüstert. Vor wenigen Wochen gab das Hochbaudepartement der Stadt Zürich bekannt, dass sich die Instandsetzung von Kongresshaus und Tonhalle am See infolge unvorhergesehener Faktoren um ein halbes Jahr auf März 2021 verlängere und sich eine Kostensteigerung von insgesamt 13 Millionen Franken bei gesamten Baukosten von 165 Millionen Franken abzeichne. Darin eingerechnet sind 3,7 Millionen Franken, welche die Tonhalle-Gesellschaft der Stadt in Rechnung stellt, weil die vollständig geplante Saison 2020/21 überarbeitet werden und weil mitten in der Spielzeit umgezogen werden muss. Ungünstiger lässt es sich nicht denken. Nicht nur fällt die feierliche Eröffnung der zweiten Saison unter der Leitung des neuen Chefdirigenten Paavo Järvi weg, nicht nur muss der Konzertkalender äusserst kurzfristig umgebaut werden, das Tonhalle-Orchester muss auch mitten in der Saison, ab Ende Januar 2021, für einen guten Monat pausieren, damit – und dies unter enorm engen zeitlichen Gegebenheiten – der Umzug zurück an den See vollzogen werden kann. Das kostet Nerven und Geld. Ändern lässt es sich nicht. Neuer Stichtag für die Wiedereröffnung ist nun der 11. März 2021. Was mit der Tonhalle Maag danach geschieht, steht noch in den Sternen; sicher sei nur, sagt Ilona Schmiel, dass sie nicht von der Tonhalle-Gesellschaft weiter betrieben werden wird.

 

Auf und ab in den Konzerten

Einstweilen herrscht aber noch gute Laune, sehr gute sogar, wie vier Abende in der Tonhalle Maag innerhalb einer Woche erwiesen. Naturgemäss waren sie von unterschiedlichem Format, auch unterschiedlichem Glück im Gelingen der Vorhaben, sie liessen jedoch spüren, welch quirliges Leben in diesen so gar nicht provisorisch wirkenden heiligen Hallen an der Zahnradstrasse herrscht. Zwei Auftritte des Tonhalle-Orchesters gab es, ausserdem Kammermusik und schliesslich ein Gastspiel des aus Paris angereisten Ensemble Intercontemporain mit seinem Chefdirigenten Matthias Pintscher – der deutsche Komponist und Dirigent ist bekanntlich Inhaber des Creative Chair dieser Saison. Dementsprechend weit gespannt war der stilistische Horizont dieser musikalischen Woche, sowohl hinsichtlich der aufgeführten Werke als auch der Interpretationen.

In höchst unterschiedlicher Verfassung präsentierte sich das Tonhalle-Orchester – das wieder einmal erwies, dass der Mann am Pult nicht einfach, wie Bernard Haitink sagt, «Luft sortiert», sondern das klingende Ergebnis vielmehr entscheidend prägt. Für meinen Geschmack einen Tiefpunkt erreichte das Orchester mit dem tschechischen Gastdirigenten Tomáš Netopil, einem tüchtigen Opernkapellmeister, der als Konzertdirigent grobschlächtig zu Werk geht. Im Violinkonzert Mendelssohns in e-Moll begleitete er zuverlässig den Solisten Klaidi Sahatçi, einen der drei Konzertmeister des Orchesters; in dem merklich pauschalen Zugriff liess er jedoch schon erahnen, was dann folgen würde. Es war die Sechste Dvořáks, in D-Dur, aber nicht die beste unter den Sinfonien des tschechischen Meisters. Warum nicht die Dritte in Es-Dur? Sie ist das wesentlich interessantere Stück als die Sechste. Wie auch immer: Netopil setzte auf Lautstärke – und vor allem: auf eine nervtötende, weil undifferenzierte, zudem hässlich aufgebauschte Kraftentfaltung. Das Orchester klang deutlich unter seinem Niveau.

Dabei hatte es die Tage zuvor genau das Gegenteil erleben lassen. Unter der energiegeladenen, präzisen Leitung des Franzosen François-Xavier Roth zeigte es, was es kann. Roth entlockte dem hochmotiviert mitgehenden Orchester einen hellen, farbenreichen Klang, der in seiner klaren Zeichnung das musikalische Geschehen in deutliche Form brachte. Dass zu Beginn von Mahlers «Lied von der Erde» der Tenor nur wenig zu hören und schon gar nicht zu verstehen war, ist nicht die Schuld von Eric Cutler und auch nicht jene des Dirigenten. Wenn schon ist es jene Mahlers, der seine Partitur so dicht besetzte, dass die Singstimme als voll und ganz ins instrumentale Ganze integriert erscheint, also nicht über einer Begleitung schwebt. Bei Isabelle Druet stellten sich solche Fragen nicht; mit ihrem obertonreichen Mezzosopran hob sie sich deutlich vom Instrumentalen ab – und ihr war nicht zuletzt auch zu verdanken, dass die letzte der sechs Nummern, «Der Abschied», überaus eindringlich gelang. François-Xavier Roth band die Mahlers Musik nicht unter einen beschwichtigenden Bogen, sondern liess sie – ganz im Geist der Moderne – regelrecht zerfallen. Anders und doch vergleichbar der Einstieg ins Programm mit Beethovens zweitem Klavierkonzert in B-Dur. Tongebung und Artikulation liessen erkennen, dass Roth seine Erfahrungen mit der historischen Praxis gemacht hat, und der bestens gelaunte Solist Paul Lewis trat in lebendig konzertierenden Kontakt mit dem Orchester.

Ein grossartiger Abend, der mit dem Auftritt des Pariser Ensemble Intercontemporain eine nicht minder eindrückliche Fortsetzung erhielt. Zwei Konzerte György Ligetis bildeten den ersten Teil, das Klavierkonzert von 1988 und das Cellokonzert von 1966. Und beide Stücke boten Höhepunkte an moderner, heutiger Virtuosität. Matthias Pintscher ist genau der Richtige am Pult vor dieser Versammlung erstklassiger Solisten. Seine Körpersprache zeigt, dass er die Partituren bis ins Letzte versteht und ausgezeichnet voraushört. Als sei es altgewohnte Musik, dirigierte er die beiden Stücke Ligetis, und das Ensemble folgte ihm in hellwacher Reaktion. Was aber die beiden Solisten boten, liess einen staunend zurück. Sébastien Vichard, der junge Pianist des Ensembles, brillierte mit unendlichen Perlenketten an raschen Läufen und fand dabei noch Gelegenheit, mit seinen Kollegen aktiv zu kommunizieren, während Pierre Strauch, der seit über vierzig Jahren zum Ensemble gehört, seinen meist leisen Part mit einer Souveränität sondergleichen meisterte. Dass Matthias Pinterscher im zweiten Teil mit «Bereshit» ein Stück aus eigener Feder dirigierte, lag angesichts seiner Position als Inhaber des Creative Chair beim Tonhalle-Orchester nahe. Ein guter Dienst war es nicht, zu deutlich hörbar war die Distanz zu den beiden Meisterwerken Ligetis.

Mit dem Klavierkonzert Beethovens, der Sinfonie Dvořáks, dem «Lied von der Erde» und den beiden Instrumentalkonzerten Ligetis war das stilistische Spektrum der ereignisreichen Woche beim Tonhalle-Orchester Zürich denkbar weit gespannt. Zu ihrem Abschluss gab es noch Kammermusik – mit einem der angesagtesten Steichquartette dieser Tage. Allein, das Quarteto Casals hatte nicht seinen besten Moment. Vera Martínez ist als Primgeigerin nicht die ideale Besetzung; sie wirkte verkrampft und gehemmt in der klanglichen Ausstrahlung, zudem vermochte sie das Ensemble nicht voranzuziehen, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre. Die Führung der drei Hirsche an den anderen Instrumenten stellt allerdings besondere Anforderungen. Abel Tomàs, der auch als Primgeiger wirkt, an diesem Abend aber die Zweite Geige versah, erschien mit seinem unbändigen Temperament als ein veritabler Tiger im Tank, während der Bratscher Jonathan Brown, vorne rechts sitzend, seine Mittelstimme prägnant herausstellte und Arnau Tomàs am Cello für ein kraftvoll ruhendes Bassfundament sorgte. Warum aber die grauslichen Glissandi bei den Sextsprüngen im Kopfsatz von Bartóks erstem Streichquartett? Und weshalb das verzweifelte Suchen nach Form in Beethovens Opus 131? Das späte Streichquartett in cis-Moll gehört zu den anspruchsvollsten Werken der Gattung, weil es so zerklüftet ist; die Interpreten stehen hier vor der Aufgabe, einen Weg durch diese von Überraschungen gesäumten Landschaft zu finden. Da gibt es beim Quarteto Casals, das ich über alles schätze, noch Luft nach oben.

 

Ein Neubeginn in der nächsten Saison

Mit dem Antrittskonzert von Paavo Järvi als neuem Chefdirigenten (und, wie er sich nennen lassen will, «Music Director») des Tonhalle-Orchesters Zürich beginnt am 2. Oktober 2019 die nächste Saison in der Tonhalle Maag. Sie bringt einige Veränderungen – nicht nur im Format des nun fadengehefteten Generalprogramms. Auch nicht in Bezug auf die künstlerischen Kompetenzen. Wie bisher ist der Chefdirigent für alle Fragen des Orchesters und für seine zehn Programme zuständig – dies in Zusammenarbeit mit der Intendantin, aber doch mit einem Vorrecht der Wahl. Ilona Schmiel wiederum gestaltet das übrige Programm, dies ihrerseits in Absprache mit Paavo Järvi. Beibehalten wird die Einrichtung des Creative Chair, doch wird das 2019/20 eher ein Composer in Residence sein, denn berufen in diese Funktion ist der estnische Komponist Erkki-Sven Tüür, ein langjährige Weggefährte und Freund des Chefdirigenten. Ebenfalls aus Nordeuropa stammen die drei Interpreten jüngerer Generation, die in Residenz eingeladen sind: der schwedische Klarinettist Martin Fröst, der finnische Geiger Pekka Kuusisto und die lettische Akkordeonistin Ksenija Sidorova. Das verspricht doch einiges.

Damit ist auch der thematische Schwerpunkt angedeutet, den Paavo Järvi verfolgt. Er bringt Musik aus der Gegend seiner Herkunft nach Zürich – Bekanntes und weniger Bekanntes, vor allem auch eine Sprache der neuen Musik, die hierzulande noch zu entdecken ist. Das Eröffnungskonzert gilt «Kullervo» von Jean Sibelius, eine Art Sinfonischer Dichtung für Vokalsolisten, Chor und Orchester über das gleichnamige Nationalepos aus Finnland. Järvi nimmt sich ausserdem der sechs Sinfonien Tschaikowskys an und leitet zum Saisonende im Sommer 2020 eine halbszenische Aufführung von Beethovens «Fidelio». Dies im Zusammenhang mit dem Beethoven-Jahr, zu dem das Belcea-Quartett mit der Aufführung von acht Streichquartetten Beethovens beiträgt (die Fortsetzung besorgt in der Saison darauf dann das Quatuor Ebène). Im übrigen bleibt alles in gewohnten Bahnen. Von den grossen Alten treten Herbert Blomstedt, Christoph von Dohnányi, Heinz Holliger und David Zinman wieder ans Dirigentenpult, unter den jüngeren Dirigenten sind Alondra de la Parra, Gianandrea Noseda, Rafael Payare, Krzystof Urbánski  und Joshua Weilerstein zu nennen. Krzysztof Penderecki erweist dem Tonhalle-Orchester die Ehre. Und die Geigerin Isabelle Faust kommt zusammen mit dem Dirigenten Philippe Herreweghe nach Zürich. An Leben wird es weiterhin nicht fehlen.

François-Xavier Roth beim Tonhalle-Orchester Zürich

Transparenz und Emphase bei «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg

 

Von Peter Hagmann

 

Dass mit Arnold Schönberg beim Publikum kein Staat zu machen ist, auch nicht mit der spätromantischen Tondichtung «Pelleas und Melisande», ist ein Allgemeinplatz. Interessanter ist, dass sich das Tonhalle-Orchester Zürich bei der Aufführung von Schönbergs Frühwerk erneut von einer ganz ausgezeichneten Seite gezeigt hat. Schon in den Konzerten mit Paavo Järvi und Bernard Haitink im Dezember letzten Jahres sowie mit Kent Nagano Anfang Januar hatten sich die Musikerinnen und Musiker voll auf den Dirigenten eingelassen; sie waren damit zu Interpretationen gekommen, die in Brillanz und Aussagekraft weit über dem Durchschnitt standen. Ähnlich war es jetzt mit dem Franzosen François-Xavier Roth, einem Musiker jener neuen Art, wie sie sich heute mehr und mehr verbreitet.

Sein Profil geschaffen hat sich Roth am Pult des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, des besten Rundfunkorchesters Deutschlands, das inzwischen einer bürokratischen Massnahme zum Opfer gefallen ist. Mit diesem hochkarätigen, durch seine Wirksamkeit in der Musik des 20. Jahrhunderts bekannten Orchester hat Roth mehrere Jahre lang bei den Donaueschinger Musiktagen das Neuste vom Tage aus der Taufe gehoben, zum Beispiel das mikrotonale Konzert für acht Klaviere und Orchester des Österreichers Georg Friedrich Haas, dessen Uraufführung 2010 unvergessen ist. Von der nämlichen Überzeugungskraft sind die Einspielungen von Tondichtungen Richard Strauss‘, die Roth mit dem Orchester in den Jahren ab 2012 erarbeitet hat; sie leben von feuriger Virtuosität und erfrischender Klarheit zugleich.

Erstaunlich ist das nicht. Mit der Musik der späten Romantik und der frühen Moderne beschäftigt sich Roth seit langem – konkret seit der Gründung von Les Siècles 2003, und dort in einer besonderen Weise. Das Orchester vertritt die Richtung der historischen informierten Aufführungspraxis, es benützt für jedes der von ihm aufgeführten Werke Instrumente und Spielweisen aus der Entstehungszeit der Kompositionen. Und das eben nicht nur bei barocker oder klassischer, sondern bei jeder Art Musik. Eben erst nahmen die Musiker von Les Siècles in Reims an einer halbszenischen Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium «Israel in Ägypten» teil, während ihre jüngste CD der Musik György Ligetis galt. Ganz zu schweigen von der Orgelsymphonie von Camille Saint-Saëns, dem «Zauberlehrling» von Paul Dukas oder Claude Debussys Tondichtung «La Mer» – alles in einem Klangbild, das sich um historische Plausibilität bemüht.

Davon konnte beim Gastspiel, das Roth beim Tonhalle-Orchester Zürich gab, nicht die Rede sein – genau so wenig wie in Köln, wo François-Xavier Roth derzeit als Generalmusikdirektor der Oper und des Gürzenich-Orchesters wirkt. Es war aber nicht zu überhören, wie sehr sich die so unterschiedlich gelagerten Erfahrungen des Dirigenten in seiner Auslegung von «Pelleas und Melisande» konkretisierten. Weder liess er sich zu einem Klangbad in den spätromantischen Wogen verleiten noch setzte er anachronistisch auf die Wegweiser in Richtung Moderne. Nein, Roth liess sehr genau spüren, wie lustvoll sich Schönberg mit seinem Werk von 1903 im Fahrwasser Wagners tummelt und wie entschieden es ihn zugleich drängt, die Grenzen der harmonischen Tonalität nicht nur auszuloten, sondern zu überschreiten.

Akkurat liess Roth die Leitmotive heraustreten, die das unheilvolle Dreieck zwischen der jungen, geheimnisvollen Melisande, dem in die Jahre gekommenen, undurchsichtig bedrohlichen Golaud und dem jugendlich stürmischen, von Melisande auf Anhieb ins Herz geschlossenen Pelleas umreissen. Das gelang dem Dirigenten um so besser, als er das Klangbild jederzeit unter Kontrolle hatte, weil helle, leuchtende Transparenz sein erstes Ziel war. Herrlich, um nur diese Beispiele zu nennen, das glühende Englischhorn, die glänzenden Posaunen, die klagenden Bratschen. Dabei bildeten die Instrumentalfarben in gleichem Masse Kontraste, wie sie sich miteinander verbanden. Das Ergebnis war kunstvoll gestaltete Emphase. Ebenso sehr wurde deutlich, wie dicht gewoben diese Partitur ist. Und war zu erfahren, wie stark die Farbenkunst der französischen Impressionisten auf Musik des deutschen Kulturkreises eingewirkt hat.

Anregend war das und vom Orchester brillant umgesetzt. Für den ersten Teil des Abends, für das Klavierkonzert Nr. 1 in d-moll von Johannes Brahms, gilt das nicht im gleichen Mass. Auch hier ging François-Xavier Roth von Feinzeichnung aus: von jenem lichten Klangbild, das der alte Brahms an dem für ihn jungen Dirigenten Felix Weingartner so schätzte. Kleiner als gewohnt war die Orchesterbesetzung, der Klang dementsprechend weniger wuchtig, dafür aber äusserst spannungsgeladen. Benjamin Grosvenor, ein von vielen Seiten namhaft unterstützter Engländer, schien davon keine Kenntnis zu nehmen; er donnerte, als sässe er vor dem Chicago Symphony Orchestra in Vollbesetzung – und das in einem harten, trockenen Ton, der in seiner perkussiven Anlage den gesanglichen Zug des zweiten Satzes besonders missglücken liess. Zudem glaubte der junge Pianist, die Tempi des Dirigenten korrigieren, nämlich bei seinen ersten Einsätze langsamer nehmen zu müssen. Und wenn ein Solist, wie es zu Begin des dritten Satzes geschah, Begleitfiguren unbekümmert laut vor sich hintrommelt, wo die thematische Hauptsache doch bei den Geigen läge, gibt zu erkennen, dass die Eierschalen noch nicht ganz abgefallen sind.

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Richard Strauss: Tondichtungen. SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, François-Xavier Roth (Leitung). Hänssler Classic. – [1] Ein Heldenleben, Tod und Verklärung. CD 93299. – [2] Till Eulenspiegel, Don Quixote, Macbeth. CD 93.304. – [3] Also sprach Zarathustra, Aus Italien. CD 93320. – [4] Eine Alpensinfonie, Don Juan. CD 93.335.