Im Feuer, und wie

Rafael Payare beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Mit dem Konzert gehe es bergab, bald werde das immer ältere Publikum ausgestorben sein. Nach Diversität wird deshalb gerufen – nach Frauen, nach musikalischen Menschen mit anderer als weisser Hautfarbe. Auch nach geteilter Verantwortung und, vor allem, nach der Abkehr von Traditionen im Repertoire und den Darbietungsformen. Ein bisschen etwas davon verwirklichte das Gastspiel von Rafael Payare beim Tonhalle-Orchester Zürich. Der nicht mehr ganz so junge Dirigent, er ist heute 44 Jahre alt, stammt aus Venezuela und hat wie Gustavo Dudamel seine künstlerischen Wurzeln im sozial-musikalischen Projekt El Sistema von José Antonio Abreu. Sein Instrument ist das Horn, im Símon Bolívar Symphony Orchestra nahm er die Position des Solohornisten ein. Dort kam er auch in Kontakt mit Claudio Abbado, später assistierte er Daniel Barenboim an der Staatsoper Unter den Linden Berlin. Inzwischen hat er in der Landschaft der grossen Orchester hat er seinen Platz gefunden; seit der Saison 2022/23 ist er als Musikdirektor beim Orchestre Symphonique de Montréal tätig, dies als Nachfolger von Kent Nagano.

Da hat es also einer geschafft. Hat er es geschafft, weil er hierzulande postulierten Anforderungen an Diversität genügt, weil er Protektion von erster Stelle aus genossen hat? Vielleicht. Die Herkunft des Dirigenten aus Südamerika und seine exorbitante Haarpracht, sie mögen ihre Wirkung getan haben; dazu kam ein wundervolles Ohrwurm-Programm mit Peter Tschaikowskys erstem Klavierkonzert und der Tondichtung «Ein Heldenleben» von Richard Strauss – der Saal war jedenfalls ausgezeichnet besetzt, und das keineswegs nur mit den gerne geschmähten Vertretern des Silbersees, sondern auch mit Turnschuh-Publikum. Jenseits dessen wurde vor allem aber deutlich, dass Rafael Payare über eine immense Begabung verfügt und dass er sie in fruchtbarer, ja begeisternder Weise einzusetzen versteht. Mit einer Ausstrahlung sondergleichen nimmt er das Orchester mit, seine Blicke, seine Gesten sind für alle da, wenn es erforderlich ist. Und seine Einsicht in die Partituren, in deren Strukturen wie deren Emotionen, dringt noch und noch ans Licht.

So steigerte denn Payare die Brillanz, die in Tschaikowskys berühmtem b-Moll-Konzert angelegt ist, zu einem mit Ah und Oh aufgenommenen Feuerwerk. Es konnte das tun, weil er in Kirill Gerstein mit einem Solisten zusammenarbeitete, dem, so der Eindruck, keine Grenzen gesetzt sind. Enorm seine Fingerfertigkeit (die ihm ganz selbstverständlich erlaubte, immer wieder Blickkontakt zu konzertierenden Orchestermitgliedern aufzunehmen), überwältigend seine Kraft (die freilich den Steinway an seine Grenzen brachte), ja überhaupt seine Phantasie, mit der er das perkussiv angelegte Soloinstrument zum Singen und zum Jubeln in den allerschönsten Klangfarben brachte. Und unter der anfeuernden Zeichengebung Rafael Payares kostete das Tonhalle-Orchester Zürich seinen Part nach Massen aus. Glücklichstes Zusammenspiel und vollendetes Glück des Zuhörens.

Nicht weniger muskulös ging Payare das «Heldenleben» an. Selber ein Musiker, der mit ungeheurem Körpereinsatz dirigiert, dem Orchester aber nirgends den Atem nimmt, stellte er heraus, dass mit dieser ausladenden, überreich mit Ideen und Farbwirkungen genährten Tondichtung ein Komponist vors Publikum trat, der dem Ungestüm seiner Jugendlichkeit freien Lauf liess (und der unter anderem genau dafür von seinen Kritikern gescholten wurde). Das Orchester liess sich das nicht zweimal sagen und stürzte sich mit hörbarer Lust ins Getümmel – kraftvoll, doch jederzeit kontrolliert in Dynamik, Balance und Färbung. Mit seinen virtuos bewältigten solistischen Einlagen zeichnete der Konzertmeister Andreas Janke Madame Strauss als eine ebenso zänkisch aufbegehrende wie hingebungsvoll säuselnde Gattin, die Trompeter verliehen den Reden der Feinde, die den Komponisten verfolgen, alle Schärfe, und schliesslich öffnete sich der Raum für jene Behaglichkeit, die zu den musikalischen Kennzeichen von Richard Strauss gehören. Mag sein, dass in einem helleren, lockerer gefügten Klangbild, wie es etwa Lorin Maazel so blendend pflegte, der ironische Boden, auf dem das in Musik gegossene Selbstporträt ruht, noch besser spürbar wird. Davon ist Rafael Payare noch weit entfernt, und das darf so sein.

Wie auch immer: Diversität hin oder her – in der etwas aufgeheizten Debatte fällt gerne unter den Tisch, dass es beim Musizieren weder um Geschlecht noch um Hautfarbe noch um Herkunft geht, sondern einzig und allein: um die Qualität des Tuns.

Hoffnungsschimmer?

Rafael Payare und Vilde Frang zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Er verkörpert Hoffnungen, wie sie El Sistema ausstrahlt, das venezolanische Netzwerk mit klassischer Musik, aus dem er hervorgegangen ist. Es sind Hoffnungen auf neues Leben im angeblich verkrusteten Klassik-Betrieb: auf neue Energie in der Interpretation des hergebrachten Repertoires und auf eine Lockerung der Gebräuche in der äusseren Form des Konzerts. In seiner äusseren Erscheinung mag Rafael Payare, der demnächst vierzigjährige venezolanische Dirigent, solchen Hoffnungen Nahrung geben. Wieviel Erneuerung in der Sache selbst, im Musikalischen, von ihm ausgeht, das liess sein Auftritt beim Tonhalle-Orchester Zürich dagegen offen.

Das Orchester selbst zeigte sich bei diesem Gastspiel von denkbar aufgeräumter Seite. Hellwach in der Reaktion, kernig in der Attacke und leuchtend im Klang ging es die Suite aus Béla Bartóks Ballett «Der wunderbare Mandarin» an. Dass das Stück dennoch zu oft in orgiastischen Lärm auswuchs, geht weniger auf die Musiker als auf den Dirigenten zurück, der die klangliche Schärfe der Partitur zu wenig im Griff hatte – vielleicht auch eine Frage der Erfahrung. Natürlich fehlt es bei diesem Werk Bartóks nicht an Extraversion und Zuspitzung; auf der anderen Seite handelt es sich aber doch immer noch um Musik, um Kunst – um artifiziellen Lärm, nicht um wirklichen. Fragen liess auch die Darbietung von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 7 in d-moll offen. Das Klima des Stücks traf Payare sehr überzeugend. Um es metaphorisch auszudrücken: Es herrschte heller Sonnenschein, Munterkeit, Fröhlichkeit. Aber auch eine Art Äusserlichkeit, die zu den Klischees rund um die musikalische Physiognomie Dvořáks gehört. Weniger auf Vitalität allein, mehr auf Ausleuchtung im Inneren der Partitur ausgerichtet, strahlt diese Musik ganz anders.

Den emotionalen Höhepunkt des Abends bot das Violinkonzert Nr. 1 in a-moll von Dmitri Schostakowitsch – dies dank überragenden Präsentation durch die Solistin Vilde Frang. Die 33-jährige Norwegerin lässt sich restlos auf die Musik und ihre inneren Werte ein, daraus gewinnt sie Ausstrahlung und Überzeugungskraft. Wie sie im Kopfsatz die Töne zieht und ihnen dadurch Kraft verleiht, ist schon grossartig; Erschütterung löst jedoch ihre Identifikation mit dem Notentext und den in ihm verborgenen Botschaften aus. Dabei bleibt sie klanglich jederzeit nobel, kontrolliert und frei von Überdruck – ihr Umgang mit dem Vibrato spricht diesbezüglich Bände. Das gilt auch für die Groteske des zweiten Satzes, der sie nichts an Schärfe schuldig blieb. Tief bewegend die Passacaglia des dritten Satzes, ein immenser Klagegesang, der in eine enorme Kadenz mündet. Wenn es Hoffnungsschimmer braucht für die klassische Musik, dann ist es eine Künstlerin wie Vilde Frang, die hierzu Licht beisteuert.