Liszts h-Moll-Sonate, erzählt und gesungen

Eine Aufnahme mit dem jungen Pianisten Titien Collard

 

Von Peter Hagmann

 

Das sei keine Musik mehr, das sei nur Lärm. So rief Clara Schumann aus, als sie zum ersten Mal der Klaviersonate in h-Moll von Franz Liszt begegnete. Der Postbote hatte ein Paket für Robert Schumann gebracht. Zuoberst lag, tintenfrisch, die h-Moll-Sonate, die Liszt seinem Freunde gewidmet hatte, doch der dämmerte bereits in der Psychiatrischen Klinik in Bonn-Endenich vor sich hin. Clara Schumann warf einen raschen Blick auf die handschriftliche Partitur und bat dann den zufällig anwesenden Hausfreund Johannes Brahms, ihr das Stück vorzuspielen. Dass Brahms das gelang, zeugt von seiner Kunst als Pianist. Wie es ihm gelang, das mag angesichts der Schwierigkeit des Notentextes auf einem anderen Blatt stehen.

Hätte sie die einsätzige, sich aber über mehr als eine halbe Stunde erstreckende Sonate mit Titien Collard und dem von ihm gespielten Konzertflügel von Stephen Paulello kennengelernt, wäre ihr Eindruck zweifellos ein anderer gewesen. Tatsächlich wartet die neue Aufnahme der h-Moll-Sonate, die jetzt beim Label Indesens Calliope erschienen ist, mit einigen Besonderheiten auf. Zur Verwendung kommt nicht einer der hergebrachten Konzertflügel, sondern ein Instrument mit der Bezeichnung Opus 102 aus der Werkstatt von Stephen Paulello im burgundischen Villethierry. Das Instrument ist ein Unikat, das eine ganze Reihe von Innovationen der Bauweise aufweist – nicht zuletzt einen Tonumfang von 102 anstelle der üblichen 88 Tasten; sie können Typen ganz speziell hergestellter Saiten anspielen. Da für Paulello der Raum und Instrument genau zueinander passen sollen, fand die Aufnahme denn auch in seinem eigenen Studio statt.

Dass sich da klanglich ganz Aussergewöhnliches ereignet, ist auf Anhieb zu hören – zumal der junge Pianist Titien Collard, der zuletzt an der Musikhochschule Genf bei Cédric Pescia studierte und heute eine Klasse in Fribourg führt, das Potential des Instruments voll zu nutzen versteht. Dies im Dienst einer glasklaren, sorgfältig gebauten interpretatorischen Konzeption. Während eine Vielzahl von Pianisten Liszts h-Moll-Sonate zum Anlass zu Tastengedonner und virtuoser Exaltation nutzen, bringt Titien Collard das Stück zum Erzählen, ja zum Singen. Die Tempi sind plausibel aufeinander abgestimmt und stehen in engem Bezug zu den dynamischen Verhältnissen. Das im Fortissimo gehaltene Grandioso kurz nach Beginn des Stücks klingt voll und majestätisch, aber nicht brutal; ähnlich das dreifache Forte im Rahmen des später folgenden Rezitativs, das seine Kraft durch Lautstärke, das gewiss, aber auch durch die pointierte Artikulation erhält – und was der Flügel von Stephen Paulello hier an klanglicher Schönheit bietet, sucht seinesgleichen. Die Fuge steigert Collard bis in Momente des Wahnsinns, doch immer wieder hält er in den Verläufen inne, lässt er das Geschehen einlaufen und sorgt so für Atem und Raum. Besonders dienlich ist ihm dabei die reiche Palette an Klangfarben seines Instruments, die ihm erlaubt, den langen Schluss der Sonate kompromisslos auszukosten.

Kontrolle ist hier alles, Inspiration sorgt für Glanzlichter. Was Liszt in seiner Sonate von 1853 intendierte, nämlich eine Musik, die nicht als klingende Form für sich selber steht, sondern aussermusikalische Ideen in Töne fasst – die packende Auslegung durch Titien Collard lässt es in denkbar packender Weise erfahren.

Franz Liszt: Klaviersonate in h-Moll, Bénédicition de Dieu dans la Solitude (aus den Harmonies poétiques et religieuses), Consolations. Titien Collard (Konzertflügel Opus 102 von Stephen Paulello). Indesens Calliope Records IC 057 (CD).

Wenn das Konzert zum Theater wird

Olga Pashchenko spielt das d-Moll-Klavierkonzert Mozarts

 

Von Peter Hagmann

 

Der Schock, den der Einstieg auslös, ist durchaus spürbar. Die Synkopen, mit denen die Streicher Mozarts Klavierkonzert in d-Moll KV 466 eröffnen, sie wirken hier drängend, nervös, aufgeladen – das hervorragende Ensemble Il Gardellino, vom Konzertmeister Evgeny Sviridov angeführt, stellt das mit aller Energie, aber in transparentem, federndem Klang heraus. Mit von der Partie ist auch das Soloklavier. Olga Pashchenko spielt ein wunderschönes Pianoforte, den Nachbau eines Instruments Anton Walters von zirka 1792; sein Diskant glänzt, seine Bässe klingen samten und kraftvoll zugleich. Da und dort tritt das Soloinstrument mit einem Augenzwinkern aus dem einleitenden Orchestertutti heraus – doch in dem Augenblick, da der Solopart einsetzt, scheint ein veritables Ausrufezeichen auf. Die erste Note, ein Viertel, das als eine Art Auftakt gehört werden kann, dehnt Olga Pashchenko fast zu einer Fermate aus. Und schon sind die Ohren gespitzt.

Sie sind offen für das phantasievolle Auszieren ihres Parts, dem sich die Solistin, hier als prima inter pares, mit Leidenschaft hingibt, ganz besonders in der mit Sentiment, aber ohne Larmoyanz gegebenen Romanze des zweiten Satzes. Mozart hätte nichts dagegen gehabt, als Komponist am Soloinstrument spielte er ja auch nicht aus den Noten, die wurden oft erst nach der Uraufführung niedergeschrieben. Zugespitzt gilt das für die Kadenz im Kopfsatz, von der keine Niederschrift existiert – klar, Mozart hat sie extemporiert. Olga Pashchenko tut es ihm gleich; sie spart dabei nicht an geistreichen Überraschungen. Später, an einer Stelle in der Kadenz zum dritten Satz, lässt sie sogar den Komtur aus «Don Giovanni» hinter dem Vorhang hervorzwinkern.

Den Komtur? Was hat diese Opernfigur in dem Instrumentalkonzert zu suchen? Tatsächlich legt Olga Pashchenko das d-Moll-Konzert keineswegs in dem düsteren, bisweilen schwerfälligen Ton an, wie er bis heute in den Konzertsälen verbreitet ist. Spritzig, energiegeladen, bisweilen wütend kommt das Stück in ihrer Auslegung daher. Natürlich ist sie sich der Nähe des Klavierkonzerts zum Requiem bewusst. Doch mehr noch zieht sie das theatrale Moment an, die Verbindung zur Oper «Don Giovanni», einem Stück ebenfalls in d-Moll.  Mit dem angeblichen Frauenhelden hat sie nichts am Hut, ihre Ablehnung mag in mancher Passage des Soloparts zur Geltung kommen. Jedenfalls sieht sie Mozarts Klavierkonzert in d-Moll in einem grösseren Kontext und lässt das aufscheinen. Das ist Interpretation im genuinen Wortsinn.

Gelöst und entspannt die Romanze in der Mitte, ein Feuerwerk das Allegro assai des Finalsatzes. Überall ist historisch informiertes Spiel in durchaus subjektiver Ausgestaltung zu erleben. Ganztaktige Phrasierung, klare Abwechslung zwischen gebundenem und gestossenem Spiel, pikante Akzentsetzung, geschärfte Farbgebung etwa durch die mit Stopftechnik arbeitenden Hörner und ein Temperament sondergleichen gibt es hier zu erleben. Die auf einer CD von Alpha publizierte, aber auch im Netz greifbare Auslegung des berühmten d-Moll-Klavierkonzerts von Mozart – sie ist ein Must. Ganz einfach.

Wolfgang Amadeus Mozart: Konzerte für Klavier und Orchester in d-Moll KV 466 und A-dur KV 488. Olga Pashchenko (Hammerklavier), Il Gardellino. Alpha 942 (1 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2024).

Ein Klavierwunder

Salzburger Festspiele:
Das Début des Franzosen Alexandre Kantorow

 

Von Peter Hagmann

 

Das Festival von Aix-en-Provence biete das interessantere Programm als die Salzburger Festspiele, verkündete ein Weltblatt aus Zürich Mitte Juli dieses Jahres. Anders als an der Salzach versammle sich in der Sommerhitze Südfrankreichs die Crème de la crème der europäischen Opernbranche. So einfach ist es mit den Vergleichen und den dabei angelegten Massstäben. Allein, Äpfel sind bekanntlich keine Birnen. In Salzburg, wo mit Markus Hinterhäuser ein nicht nur weitblickender, sondern auch ein dramaturgisch denkender, die Programme bis in die Einzelheiten durchgestaltender Künstler-Intendant am Werk ist, herrscht ein grundlegend anderer Geist als in Aix. Nicht ein besserer, nicht ein schlechterer, einfach ein anderer.

Zu erleben war es beim Début von Alexandre Kantorow, dem 27-jährigen Pianisten, der schlagartig ins Licht geriet, als er 2019 als erster Franzose den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewann. Seither eilt er von Erfolg zu Erfolg, das Publikum liegt ihm zu Füssen, in Kritiken wird zu hymnischen Vergleichen gegriffen. Von einem Wunder darf tatsächlich die Rede sein. Von einem Wunder an Geläufigkeit und Gedächtnis zuallererst. Nichts scheint dem jungen Mann zu heikel zu sein, Berge von Zweiunddreissigsteln meistert er mit seinen grossen Händen geradezu nonchalant – so selbstverständlich, dass die Frage aufkommt, ob solches Handwerk überhaupt erlernbar sei. Indessen bleibt es, anders als es gemeinhin der Nachwuchs aus Fernost zu erkennen gibt, nicht bei den manuellen und geistigen Grundlagen, Kantorow nutzt das Rüstzeug vielmehr für eine Aussagekraft, für eine Einsicht in Strukturen und eine Dringlichkeit in deren klanglicher Verlebendigung von ungewöhnlichem Format.

Erst recht auffallend war freilich das Programm, mit dem sich Kantorow im Salzburger Haus für Mozart vorstellte – ein Programm der Salzburger Art, das in einer ganz eigenen Stringenz selten gespielte, überaus anspruchsvolle Werke miteinander verband. Die Eröffnung besorgte die Rhapsodie in h-Moll op. 79 Nr. 1 von Johannes Brahms, die Kantorow mit freiem Atem und in klanglicher Grosszügigkeit darbot. Worauf es weiterging zu Franz Liszt, dem auf den Konzertpodien seiner Zeit gefeierten, in Wien jedoch mit Skepsis wahrgenommenen Antipoden Brahms’. «Chasse neige» aus den «Etudes d’exécution transcendante» wurde zu einem Schneesturm, der sich aus dem Nichts aufbaute, höllische Intensität erreichte und am Ende dorthin entschwand, woher er gekommen war – was für eine Fingerfertigkeit, was für ein Klangsinn, was für ein dramatischer Atem ohne äusserliches Gedonner. Auf die introvertierte «Vallée d’Obermann» aus dem Schweizer Band der «Années de pèlerinage» folgte eine weitere Rhapsodie, nämlich das Opus 1 von Béla Bartók, ein Jugendwerk von 1904, das überraschende Wurzeln des damals 23-jährigen Komponisten bei Liszt hören liess.

Nach der Pause die erste Klaviersonate von Sergej Rachmaninow – nicht die häufiger gespielte zweite, sondern die erste, die weniger eingängige, experimentellere Züge aufweist.  Ganz weich und flexibel wurde das Klavier in diesem Werk, das Instrument liess seine perkussive Grundanlage vergessen und begann zu singen. Gebannt überliess man sich dem Strom der aus kleinteiligen Motiven gebildeten, in Halbtonschritten aufsteigenden Wellen, ohne dass je, wie es bei Rachmaninow leicht geschehen kann, die Atmosphäre des gemütlichen Cheminéefeuers aufgekommen wäre. Schliesslich kehrte Alexandre Kantorow zu Brahms zurück, aber nicht zum Komponisten, sondern zu Arrangeur, der die Chaconne aus der Partita in d-Moll für Violine solo in eine Fassung für die linke Hand des Klaviers gebracht hat. Obwohl der Pianist gewisse Schwierigkeiten, die sich bei einer Realisierung der Partitur auf der modernen Geige nicht vermeiden lassen, auch auf seinem Instrument hörbar machte, führte er doch vor, in welcher Klarheit, in welcher Fülle die musikalische Substanz dieses majestätischen Satzes unter Brahms’ Hand erscheint. Und wie tief sich Brahms vor seinem grossen Ahnen verbeugt hat.

Gipfelstürmer

Zwei Soloabende in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Mit einem tosend in die Tiefe stürzenden Lauf und gleich darauf einem heftigen, sich in erregte Tremoli auflösenden Akkord, so hebt Sergej Rachmaninows Klaviersonate Nr. 2 in b-moll an – ein stärkeres Ausrufezeichen ist kaum denkbar. Ohne die Spur eines Zweifels aufkommen zu lassen, nahm Francesco Piemontesi die Herausforderung an. Mit stählerner Kraft und staunenswerter Fingerfertigkeit stürzte sich der Tessiner an seinem Zürcher Klavierabend in den Kampf mit den Elementen. Liess er den Steinway, ein Instrument mit herrlichen Bässen, in aller denkbaren Kraft, aller vorstellbaren Farbenpracht aufrauschen – so als sässe nicht ein einsamer Solist auf dem Podium in der Grossen Tonhalle Zürich, sondern ein ganzes Orchester. Piemontesi, was Rachmaninow betrifft in den letzten Tagen beim Tonhalle-Orchester und bei der Philharmonia aus dem Opernhaus sehr beschäftigt, spielte die erste Fassung der Sonate von 1913 und machte vergessen, was der Komponist selbst an seinem in drei Teile gegliederten, im Grunde aber einsätzigen Werk bemängelte: zu viel der Noten. In einem grossartigen Bogen zog der Pianist durch die Partitur, und als er am Schluss die riesigen Akkordtürme in hellstes Licht stellte, war jeder Widerstand gebrochen. War wieder einmal deutlich, dass gegen die Verführungskünste Rachmaninows am Ende doch kein Kraut gewachsen ist.

Das war der Mittel- und Höhepunkt eines vom Tonhalle-Orchester Zürich gemeinsam mit der Genfer Konzertagentur Caecilia in ihrer Reihe Meisterinterpreten veranstalteten Klavierabends – der im Ganzen doch auch etwas Zweifel aufkommen liess. Und zwar in der Programmgestaltung wie den interpretatorischen Ansätzen. Nach der schweren Kost Rachmaninows kam es zwar zur Pause, doch dann folgte die nicht weniger schwierige, wenn auch ganz anders gelagerte Klaviersonate in B-dur, D 960, von Franz Schubert. Das war keine glückliche Wahl, Schuberts fragile Kunst hatte da zu wenig Chancen. Zumal Piemontesi die Charaktere dieser vielgestaltigen Musik eher pauschal formte. Im zweiten Satz zum Beispiel, einem Andante sostenuto, liess er den untergründig mitlaufenden Trauermarsch kaum zur Geltung kommen, weil er die Aufmerksamkeit einseitig auf die Melodielinien fokussierte. Und was diese Melodielinien betrifft, war an mancher Stelle zu beobachten, wie der Pianist die Bässe zurückhielt, um die Lineaturen der Oberstimmen singen zu lassen; so schön das geriet, gerade dank dem subtil eingesetzten Rubato, so sehr fehlte da doch bisweilen der Boden. Auch etwas wenig Biss hatte die Auswahl von sechs Stücken aus dem zweiten Band der Préludes von Claude Debussy. Gewiss, «Général Lavine – eccentric» geriet witzig, und das «Feu a’artifice» sparte nicht an glitzerndem Effekt. Doch andernorts, etwa bei den Farbenspielen in den «Brouillards» oder im «Clair de lune», mischten sich auch Züge gepflegter Beliebigkeit ins Spiel.

Solche Momente blieben bei Iveta Apkalna aus. Die lettische Organistin, in ihrer Art eine Gipfelstürmerin wie Francesco Piemontesi, leitete ihren Auftritt an der neuen Orgel in der Tonhalle Zürich mit einer «Evocation» des französischen Organisten und Komponisten Thierry Escaich ein – mit einem effektvollen Stück, in dem sich die tausendundeine Möglichkeiten des Instruments von Orgelbau Kuhn aus Männedorf schon gut erahnen liessen. Erst recht gilt das für die «Deux Visions de l’Apocalypse» von Lionel Rogg, einer Art aufgezeichneter Improvisation des Westschweizer Organisten und Komponisten, die im Ton Olivier Messiaens anhebt, in der Folge aber wilde, farbenreiche Kreise zieht. Schliesslich das Ricercar a sei aus dem «Musikalischen Opfer» Johann Sebastian Bachs. Sehr plausibel ging Iveta Apkalna das kontrapunktische Wunderwerk aus dem Geist des späteren 19. Jahrhunderts an, vermied sie den auf der Orgel in der Tonhalle gewiss auch möglichen Barockklang und formte stattdessen eine mächtige Steigerung hin zu einem Klang, der seine Verankerung im Wesen der Orchesterorgel behielt.

Dann aber die Kulmination: die Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» von Franz Liszt – einem Sturm, der einen während mehr als dreissig Minuten durchschüttelt. Heute wird das ins Riesenhafte auswachsende Stück, wenn überhaupt, dann eher auf dem Klavier als auf der Orgel gespielt (zum Beispiel von Igor Levit, der das Werk 2018 beim Lucerne Festival zu hinreissender Aufführung brachte). Erdacht und niedergeschrieben ist «Ad nos» jedoch ganz klar als eine auf der Spieltechnik der Klaviervirtuosen aus dem 19. Jahrhundert basierenden, klanglich jedoch genuin für die spätromantische Orgel konzipierte Schöpfung – Iveta Apkalna hat das in eindrucksvollster Weise erleben lassen. Untadelig ihre Fingertechnik wie ihr Pedalspiel, staunenswert ihre Körperbeherrschung im Umgang mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten der Registersteuerung, die das grosse Zürcher Instrument bietet – und dass all das nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen war, gehörte mit zu den Besonderheiten des Rezitals. Bezaubernd das flüsterleise Summen einer Flöte oder das kehlige Singen eines Zungenregisters, umwerfend aber vor allem die geschmeidigen, farblich vielfach abgestuften Steigerungen bis hin zu einem Fortissimo, das jenem eines Orchesters in keiner Weise nachsteht. Da blieb kein Wunsch offen.

Fazit, wieder einmal festgehalten: Beim Tonhalle-Orchester Zürich gibt es das Tonhalle-Orchester Zürich, aber eben nicht nur.

Im Fruchtland des Kontrapunkts

Bachs Wohltemperiertes Klavier
mit dem Cembalisten Andreas Staier

 

Von Peter Hagmann

 

Zurückhaltend, ja bescheiden hebt das berühmte Präludium in C-Dur an; die Folge der gebrochenen Akkorde, die Johann Sebastian Bach wie in einem Rausch erfunden zu haben scheint, ist in das gedämpfte Licht des Lautenzugs getaucht. Andreas Staier ist nicht ein Mann der grossen Töne, auch hier nicht, bei seiner Beschäftigung mit dem Wohltemperierten Klavier. Begonnen hat Staier seine nun auf vier Compact Discs vorliegende Arbeit im Aufnahmestudio allerdings nicht mit dem ersten, sondern mit Band II der je vierundzwanzig Präludien und Fugen durch die zwölf Dur- und die zwölf Moll-Tonarten der hierzulande üblichen Tonleiter. 1740 entstanden, ist dieser zweite Band einer Schaffensphase zuzurechnen, in welcher der Komponist Bilanz zu ziehen suchte; anders als der knapp zwanzig Jahre zuvor entstandene Band I, in dem neben der einzigartigen kontrapunktischen Weisheit gerne auch Bachs konzertantes Temperament durchdringt, wirkt dieser zweite Durchgang ernster, intentionaler, daher etwas spröder, auch etwas anspruchsvoller, aber nicht weniger attraktiv. Diesen Stier hat Andreas Staier 2020 bei Teldex in Berlin für das Label Harmonia mundi bei den Hörnern gepackt; im Jahr darauf folgte dann der erste Band.

Anders als dort beginnt in Band II das Präludium in C-Dur – im Wohltemperierten Klavier folgen sich die Stücke ansteigend nach der Ordnung der Klaviertastatur – mit einem klaren Statement: mit einer Oktave auf c in der linken Hand. Bei Staier ist es Paukenschlag. Ans Licht tritt hier eine der Besonderheiten seiner Einspielung. Er verwendet ein grossartiges Instrument, das er grossartig bedient. Viel zu erfahren ist davon leider nicht. Die Booklets vermelden, dass es sich um die Kopie eines 1734 in Hamburg erbauten Cembalos von Hieronymus Albrecht Hass handle, die 2004 von Anthony Sidea und Frédéric Bal in Paris angefertigt worden sei – mehr nicht. Zu hören ist ein Cembalo, das offenkundig mit zwei Manualen und einer Dämpfung nach der Art des Lautenzugs, vor allem aber mit einer 16-Fuss- und einer 4-Fuss-Lage versehen ist, die angespielten die Töne mithin eine Oktave tiefer oder eine höher erklingen lassen kann. Von solchen Instrumenten hat sich die frühe Bewegung der alten Musik ebenso radikal abgewandt wie von der Spielweise etwa Karl Richters. Verächtliche Worte waren da an der Tagesordnung. Bevorzugt und als adäquat angesehen wurden weniger üppig ausgestattete, allerdings gleichwohl hervorragend klingende Cembali allein auf 8-Fuss-Basis.

Nun kommt ein Musiker wie Andreas Staier, der ja keineswegs von gestern, vielmehr klar in der Gegenwart der alten Musik verankert ist und auf dem Stand der aktuellen Erkenntnis agiert – und der effektvoll mit 16-Fuss und 4-Fuss, der Kopplung der Manuale und anderem arbeitet. Die Zeit der ideologischen Scheuklappen ist vorbei, neue Freiheit, die Lust am Spielerischen hat Raum gegriffen – das lässt auch, um nur dies eine Beispiel zu nennen, ein Dirigent wie René Jacobs hören. Basis von Staiers Tun bildet bei aller Freiheit jedoch ganz selbstverständlich die historisch informierte Spielweise mit all ihren Vorzügen. Dazu gehört die klare Unterscheidung zwischen gebundenem und gestossenem Spiel, und mehr noch: die vielfältige Differenzierung dieser Unterscheidung; die Länge des einzelnen Tons innerhalb eines Verlaufs ist auf dem Cembalo (wie auf der Orgel) von ganz besonderer Bedeutung für den musikalischen Ausdruck. Von prägender Wirkung sind ausserdem der ungleichzeitige Anschlag gleichzeitig notierter Töne sowie bisweilen die Abkehr vom regelmässig durchlaufenden Schlag – genauer: die momentane Anpassung der Zeitmasse an die musikalische Struktur oder das Ausdrucksbedürfnis des Interpreten.  Nicht zuletzt gilt das für den sorgsam phantasievollen Umgang mit Verzierungen.

Von all dem lebt die Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers Johann Sebastian Bachs durch Andreas Staier, und dies im Verein mit der phantastischen technischen Versatilität und der enorm ausgebauten Vorstellungskraft des Musikers. Pralles Leben in sinnlichen Klangwelten herrscht da, der kunstvoll gedrechselte Kontrapunkt wird, wie es Bach gewollt, zu unmitttelbar ausstrahlender Musik – wer sich auf diese Welt einlässt, mag nimmer davon lassen. Auf das zarte C-Dur-Präludium am Anfang des ersten Bandes folgt eine vierstimmige Fuge in fürwahr mächtigem Klang – das Cembalo ist in dieser Einspielung von sehr nahe aufgenommen, was der Realität in einem heutigen Konzertsaal wenig entspricht, die Wirkung des Instruments in den viel kleineren Räumen des 18. Jahrhunderts aber sehr wohl spiegelt. Noch majestätischer klingt es im darauffolgenden c-Moll-Präludium, dies durch den Einsatz des besagten 16-Fuss-Registers – und gern führt Staier die Schlussakkorde nicht nur zu deutlicher Kulmination, er lässt sie auch oft lange liegen, wie überhaupt das Nachklingen des Instruments nach dem Abheben der Finger von den Tasten hörbar bleibt.

Immer noch im ersten Band gibt es ein Präludium in Cis-Dur, bei dem zu erleben ist, wie mit Hilfe einer Technik, die den einzelnen Ton in den nächstfolgenden hineinklingen lässt, ein von opulentem Legato getragenes Klangbild entsteht. Etwas Schwierigkeiten mag das Präludium in cis-Moll auslösen; hier nötigt die Stimmung zu einigen Hörkompromissen. Das Wohltemperierte Klavier wird von Staier ja nicht in der heute üblichen Temperierung gespielt, wie es die Pianisten tun; der Stimmer Rainer Sprung hat vielmehr eine, wie es im Booklet heisst, «pragmatische» Mitteltönigkeit verwirklicht, die durch ihre minimalen «Verstimmungen» ein Gefühl dafür aufkommen lässt, welche Revolution das «Wohltemperierte» und somit das Spielen in allen möglichen Tonarten im 18. Jahrhundert bedeutet hat. Äusserst klar in der Folge die fünfstimmige Fuge in cis-Moll, bei deren Wiedergabe die pointierte Artikulation für Durchhörbarkeit sorgt, während zugleich die Arbeit mit dem Tempo für Spannung sorgt – fast möchte man an dieser Stelle von einer Art Steigerungsfuge sprechen. Ausserordentlich virtuos sodann das zweistimmige Präludium in G-Dur wie später das dreistimmige Präludium in A-Dur; Staier geht es frei von Angst vor den nach einem Wechsel in der Gestik eintretenden Sechzehntelketten, jedenfalls in mutig belebtem Tempo an.

Auch im zweiten Band folgt Entdeckung auf Entdeckung, abendfüllend liesse sich davon berichten. Die Rede wäre etwa von der vierstimmigen Fuge in c-Moll, die eine gewaltige Steigerung des Ausdrucks erfährt – dies notabene auf einem Instrument, bei dem man lange Zeit (und vielleicht zu Recht) genau das, die Möglichkeiten des Ausdrucks, als beschränkt moniert hat. Die dreistimmige Fuge in d-Moll: vital artikuliert, auch dort, wo leicht fliessende Triolen dazutreten. Die vierstimmige Fuge in Es-dur: eine Kathedrale in Klängen. Und ganz zum Schluss, ähnlich dem C-Dur-Präludium im ersten Band, die dreistimmige Fuge in h-Moll, die den riesigen Gang zwei Mal durch alle Tonarten ohne Pomp, ein wenig scheu, ja lapidar abschliesst. So ist Andreas Steier: nüchtern und glühend zugleich. Seine Auslegung von Bachs Wohltemperiertem Klavier öffnet ein neues Kapitel in der langen, reichen Interpretationsgeschichte der beiden Bände und stellt der Dominanz der Auslegungen auf dem Klavier ein fulminantes Plädoyer für das Cembalo entgegen.

Johann Sebastian Bach: Das wohltemperierte Klavier. Andreas Staier (Cembalo).
Band 1: Harmonia mundi 902680.81 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023).
Band 2: Harmonia mundi 902682.83 (2 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Geistreiches Vergnügen

A la française – Yaara Tal und
Andreas Groethuysen an zwei Klavieren

 

Von Peter Hagmann

 

Immer noch und immer wieder wissen sie zu überraschen. Unermüdlich durchforsten Yaara Tal und Andreas Groethuysen die Bibliothekskataloge nach Musik für Klavier zu vier Händen oder für zwei Klaviere, und sind sie fündig geworden, tragen sie ihre Schätze mit fulminantem Können und spritzigem Temperament an die Öffentlichkeit. So auch jetzt wieder mit ihrer jüngsten CD-Publikation bei Sony, ihrem Label seit mehr als drei Jahrzehnten, das die Neuerscheinung selbstverständlich auch auf den angesagten Plattformen im Netz greifen lässt. Nach den 18 Studien über Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge», einem anspruchsvollen Werk des Deutschen Reinhard Febel, kommt nun eine sehr hübsch angerichtete Platte mit geistreich unterhaltender Musik aus der spätromantischen Küche Frankreichs auf den Tisch.

Louis Théodore Gouvy – kennen Sie den aus dem Saarland stammenden, in Paris ausgebildeten Komponisten? Vielleicht dem Namen nach. Seine Sonate in d-moll op. 66 von 1876, erst recht aber die kurz danach entstandenen Variationen über das irische Volkslied «Lilli Bulléro» belohnen den hörenden Annäherungsversuch durch individuell geprägten Umgang mit Traditionen, durch speziell gefärbte Harmonik und originelle Einfälle – das alles im Spannungsfeld zwischen deutscher und französischer Kultur. Weiter als Gouvy ging der eine Generation später geborene Théophile Ysaÿe, der heute vergessene, seinerzeit angesehene Bruder des berühmten Geigers. Seine Variationen op. 10 von 1910 durchmessen in der Abfolge der Tonarten zwei Oktaven in Terzschritten, nur ist das kaum wahrzunehmen, denn harmonisch schwebt der musikalische Satz frei im Geiste Debussys. Attraktiv ist das, und was das Stück an technischem Raffinement bereithält, macht staunen.

Im Gegensatz dazu nehmen sich die Variationen über ein Thema Beethovens von Camille Saint-Saëns, sie tragen die Opuszahl 35 und sind 1874 entstanden, klassizistisch aus; sie glänzen jedoch mit sprühendem Witz und untadeligem Handwerk. Das Thema entnahm der Komponist Beethovens Klaviersonate op. 31 Nr. 3. Das Menuett zum Trio dieser Sonate in Es-dur spaltet sein Thema in einen tiefen und einen hohen Bereich, gleichsam in eine Wechselrede zwischen Mann und Frau: die ideale Anlage für eine Verarbeitung auf zwei Klavieren. Der dialogische Effekt geht allerdings etwas verloren, weil die Aufnahme die beiden Klaviere nah zueinander rückt, so wie sie auf dem Podium ja auch aufgestellt sind, darum aber wenig Räumlichkeit erzeugt. Ausgezeichnet ist aber wahrzunehmen, mit welcher Phantasie Saint-Saëns zu Werk geht – wie er das Thema dreht und wendet, es aus hingetupften Akkorden herausscheinen lässt, es zu einem Trauermarsch formt und ihm zum Schluss noch die obligate Fuge abgewinnt. Der «Tourbillon», der Wirbelwind, der Französin Marguerite Méran-Guéroult bietet daraufhin den zündenden Kehraus.

Prickelnd und belebend ist das alles. Und leicht fügt es sich ins Ohr; wer jedoch genauer zuhört, stösst auf manche präzis gesetzte Pointe. Denn Yaara Tal und Andreas Groethuysen gehen mit verschmitzter Spiellust ans Werk. Die geradezu zirzensische Fingerfertigkeit, die hier bisweilen gefordert ist, meistern sie blendend. Und unter ihrem Zugriff klingen ihre beiden Klaviere herrlich opulent, samten in den Bässen, silberhell im Diskant. Viel Vergnügen.

Avec Esprit. Werke für zwei Klaviere. Louis Théodore Gouvy: Sonate in d-moll op. 66, Variationen über das irische Volkslied «Lilli Bulléro» op. 62. Théophile Ysaÿe: Variationen op. 10. Camille Saint-Saëns: Variationen über ein Thema von Beethoven op. 35. Marguerite Méran-Guéroult: Tourbillon. Yaara Tal und Andreas Groethuysen (Klaviere). Sony 196587 10722 (CD, Aufnahme 2022, Produktion 2023).

Rausch und Bogen

Krystian Zimerman spielt Karol Szymanowski

 

Von Peter Hagmann

 

Was für ein Flügel. Ob es wie üblich sein eigener, auch eigenhändig betreuter war? Wie auch immer, als Krystian Zimerman im Juni dieses Jahres ins japanische Fukuyama reiste, um sich dort der wunderbaren, leider viel zu selten gespielten Musik seines Landsmannes Karol Szymanowski (1882-1937) zu widmen, war Steinway & Sons zur Stelle, im Booklet zur jüngsten CD-Veröffentlichung des polnischen Pianisten wird mit speziellem Dank darauf hingewiesen. Es ist also anzunehmen, dass die hohen Anforderungen, die Zimerman ans Instrument stellt, erfüllt worden sind – zumal es ganz danach klingt. Obertonreich und entsprechend hell der Ton, fulminant und orchestral die Bässe, brillant die Präsenz in ihrer Mischung zwischen Direktheit und Räumlichkeit – wozu die akustisch von Yasuhisa Toyota konzipierte Fukushima Hall of Art & Culture, aber natürlich auch die Tontechnik aus den Emil Berliner Studios das Ihre beigetragen haben. Das ist ein Erlebnis eigener Art.

Welche Bedeutung all dem zukommt, wird ohrenfällig im zweiten Schritt der vierteiligen CD. Dort stehen von Karol Szymanowski die «Masques» op. 34 an. Zimerman hat die drei Charakterstücke aus der Zeit des Ersten Weltkriegs schon 1994 in einer Aufnahme festgehalten, die jedoch nie erschienen ist. Für die Einspielung im Kopenhagener Tivoli stand ein ebenfalls sehr ordentlicher Flügel zur Verfügung, nur fehlt seinem Klang viel von dem, was die Besonderheit des Instruments in Fukuyama ausmacht. Etwas enger, im Fortissimo etwas angestrengt erscheint das Klangbild – und gerade Fortissimo braucht es hier reichlich. In «Tantris le Bouffon», dem mittleren der drei Stücke, denkt Szymanowski die Figur des Tristan weiter, der sich seiner Isolde zunächst als Tantris vorstellt. Gefordert sind hier anforderungsreiches Laufwerk, Kraftentfaltung und ein hohes Mass an Koloristik – Krystian Zimerman bietet das alles hinreissendem Mass. Auch für Scheherazade in Nummer eins, die vorliest und zugleich um ihr Leben fürchtet, wie für den grossspurigen, die Gitarre für sein Ständchen stimmenden Don Juan hat Zimerman alle Sympathie.

Nur eben: der Flügel. Die Differenz fällt auf, wenn man die «Masques» von den vier Préludes aus op. 1 her erreicht. Staunenswert, was dem 18-jährigen Komponisten in seinem Erstling gelungen ist; die Anklänge an das grosse Vorbild Chopin sind nicht zu überhören, das Aufkeimen der eigenen Handschrift aber ebenso wenig. Und Zimerman, der leider etwas vernehmlich mitsingt, schenkt diesen frühen Werken seine ganze Liebe. In den vier Beispielen aus den Mazurken op. 50 von 1924/25 ist dann eindrücklich zu erleben, in welche Richtung Szymanowski unter dem Einfluss impressionistischer Anregungen seine Handschrift weiterentwickelt hat. Vielleicht braucht es etwas Zeit, bis man dieser Musik näherkommt, Krystian Zimerman hilft einem dabei aber mit seinem Einfühlungsvermögen und seiner einzigartigen Kunst. Erst recht gilt das für für die Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10 aus den Jahren 1900 bis 1904, ein erstaunliches Frühwerk, das in seiner Grundhaltung bei der von Béla Bartók und Zoltán Kodály gepflegten Auseinandersetzung mit der autochthonen Volksmusik anschliesst. Welch ganz eigenen Weg Szymanowski schon hier einschlägt, wie exzessiv er das Rauschhafte in der Musik pflegt und wie er zugleich einen geradezu dramaturgisch wirkenden Bogen über die zehn Variationen schlägt, in Krystian Zimermans formidabler Auslegung kommt es bester Geltung.

Karol Szymanowski: Préludes op. 1 (Auswahl), Masques op. 34, Mazurken op. 50 (Auswahl), Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10. Krystian Zimerman (Klavier). Deutsche Grammophon 4863007 (CD, Aufnahmen 1994 (Masques) und 2022, Publikation 2022)

Reiz und Sinn der Exzellenz

Lucerne Festival (2):
die Berliner Philharmoniker
zwischen Höhenflug und Diensterfüllung

 

Von Peter Hagmann

 

Nach wie vor, und trotz all der wahrhaft aufwühlenden Diskussionen um Hautfarbe und Geschlecht in der sogenannten klassischen Musik, gilt beim Lucerne Festival das Primat der Kunst. Unbarmherzig, wie der Stand der besetzten Sitze im Saal des KKL Luzern erweisen. Und unbeirrbar, was die künstlerische Qualität betrifft. Beispiel dafür war das Klavierrezital des 38-jährigen Isländers Vikingur Ólafsson: neunzig Minuten unterbrechungslose Konzentration, die das Publikum am Ende sogleich von den Sitzen aufspringen liess. Wie er es auf seiner 2021 bei der Deutsche Grammophon vorgelegten CD tat, schuf er ein klingendes Porträt Wolfgang Amadeus Mozarts in seinen späteren Jahren, dies aber nicht nur mit Werken des Komponisten, sondern auch und vor allem mit Stücken aus dessen künstlerischer Umgebung.

Namen wie die von Carl Philipp Emanuel Bach, Domenico Cimarosa, Baldassare Galuppi tauchten da auf – Namen, die nie auf Konzertprogrammen erscheinen. Und Stücke erklangen, die von auffallender Originalität waren, die gleichzeitig aber auch das Genie Mozarts nur umso deutlicher aufscheinen liessen. Und das in einem wunderbar geschlossenen, im Inneren jedoch vielfältig bewegten Bogen. Der Grund für diese Geschlossenheit lag in dem Umstand, dass das Programm streng nach den Regeln des Quintenzirkels gebaut war, dass die Werke also in verwandten Tonarten zueinandergestellt waren. Nur zweimal gab es Rückungen, anfangs einmal von a-Moll nach h-Moll, am Ende einmal von c-Moll nach h-Moll – das fuhr in dieser wohltemperierten Anordnung überraschend ein.

So erzeugte die Werkfolge nach allen Regeln der Kunst einen Bann sondergleichen – auch und gerade nach den Kriterien der Interpretation. Vikingur Ólafsson kann nicht nur unerhört schnell spielen; das kann er selbstverständlich auch. Und er kann nicht nur unerhört grossen Ton hervorbringen, auch das kann er natürlich. Noch beeindruckender ist aber sein dynamisches Spektrum im Leisen: Was kann der Mann flüstern auf dem Konzertflügel, und welche Ruhe herrscht dann im Saal – es entstehen da Momente der Introspektion, die es im Kosmos des Klavierspiels selten genug gibt. Nicht weniger hinreissend des Pianisten Vermögen, die Verläufe beim Wort zu nehmen, sie gegebenenfalls bis fast in zum Zerreissen zu dehnen und dabei dem Einzelnen nachzuhorchen, nachzuspüren. Das führte in Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 oder seiner Sonate in c-Moll KV 457 zu unglaublicher Vertiefung und stellte auch ein Werk wie die sattsam bekannte Sonata facile in C-dur KV 545 in ganz neues Licht. Joseph Haydns h-Moll-Sonate Hob. XVI:32 ging Ólafsson an, wie es auf einem Steinway möglich und erlaubt ist, nämlich jenseits jeder Annäherung an den Klang des Hammerklaviers. So wie es Franz Liszt in seiner Adaption des «Ave verum» aus Mozarts Requiem getan hat; zu Bergen wohlklingender Kraft erhob sich hier die Musik Mozarts, um schliesslich im Verstummen zu enden. Das ist Exzellenz, wie sie für das Lucerne Festival steht.

Das Nämliche ereignete sich einige Tage später, am ersten der beiden Gastspiele der Berliner Philharmoniker, die wie stets den Höhepunkt des Festivals darstellten. Damit verbunden war freilich einiges Pech. Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner, hatte sich am rechten Fuss verletzt, wurde erfolgreich operiert und muss sich nun im Interesse der vollständigen Wiederherstellung Schonung auferlegen. So konnte er nur eines der beiden Konzerte dirigieren. Im zweiten Auftritt glänzte Tabea Zimmermann mit einer intensiven, auch wohlklingenden Auslegung des Bratschenkonzerts von Alfred Schnittke, worauf die vierte Sinfonie Anton Bruckners erklang. Die Berliner gaben das Stück auf ihrem Niveau, am Pult stand Daniel Harding, der dazu den Takt schlug, ohne Nennenswertes zu erzielen. Harding zeigte Dinge an, die im Orchester nicht geschahen, dort wiederum geschahen Dinge, denen er beflissen folgte. Das Tutti war eine Katastrophe; weder am Schluss des Kopfsatzes noch am Ende der Sinfonie war der kennzeichnende Hornruf zu vernehmen, er ging im Getöse unter. Genug; mit Exzellenz hatte das nichts zu tun, mit Dienst allerdings schon.

Gerade umgekehrt war es bei Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 am Abend zuvor, einem zerklüfteten, dementsprechend selten gespielten Stück (in Luzern stand es, wie das einmal mehr sehr informative Programmheft mitteilt, erst 85 Jahre nach seiner Prager Uraufführung von 1908 auf dem Programm). Wie es Vikingur Ólafsson gelang, band Kirilll Petrenko die fünf Viertelstunden in einen schlüssigen Verlauf, ohne die Individualität der fünf Sätze zu unterspielen oder ihre Diskontinuitäten auszuebnen. Im Gegenteil, er stellte die Schärfe der Partitur, ihre Gebrochenheit, auch ihren Zeitbezug in aller Unerbittlichkeit heraus und blieb, auf der anderen Seite, der sehrenden Melancholie und ihrer fast schon gläsernen Schönheit nichts schuldig.

Die Eröffnung des Kopfsatzes breitete gleich die grandiose Farbpalette der Berliner Philharmoniker aus. Das zweite Thema nahm Petrenko langsam, und schon da war zu hören, welche Flexibilität der Tempogestaltung er anstrebt und ihm das Orchester verwirklicht. In bewundernswerter Übersicht zog er durch den Satz, Drängen stellte sich neben das Schwelgen, scharfe Blitze fuhren in die gelöste Ruhe. Den Marsch am Ende des Satzes nahm Petrenko so schneidend, dass mit Händen zu greifen war, was der Komponist im Augenblick der Niederschrift ahnte. Darauf der Mittelteil mit den beiden Nachtmusiken und dem schattenhaft dahinhuschenden Scherzo. Grossartig in der ersten Nachtmusik das eröffnende Hornsolo und sein Echo, atmosphärisch treffend die Herdenglocken, ungeheuer die diskrete, untergründige  Spannung, die nicht zuletzt durch die explizite Körpersprache des Dirigenten erzeugt wie unterstützt wurde. Freundlicher Serenadenton und ausgefeilte Kammermusik prägten die zweite Nachtmusik, in der die Gitarre und die Mandoline, rechts aussen platziert, einmal nicht nur als Geräusch, sondern mitsamt ihren Tonhöhen zu hören waren. Dies auch darum, weil die Berliner Philharmoniker nicht nur über ein glänzendes Forte verfügen, sondern auch über eine Kultur des Leisen, deren Wurzeln im Wirken Claudio Abbados liegen. Im Rondo-Finale schliesslich brach der selbstbewusste Lärm der Jahrhundertwende von 1900 aus, freilich jederzeit kontrolliert durch vorzügliche Balance, so dass auch Nebensachen zu gebührender Wirkung kamen. Höchste Orchesterkultur und sinnreiche Imagination des Interpreten am Pult kamen da in bezwingender Weise zusammen.

Musikdämmerung? Nein, Frühlings Erwachen

Die Klavierkonzerte Beethovens mit Krystian Zimerman und Simon Rattle

 

Von Peter Hagmann

 

Ist die Musik als Kunst am Ende? Wer die derzeit laufenden Debatten verfolgt, kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Von Diversität ist die Rede, von Inklusion, von Immersion, von Partizipation; mehr junge Menschen mit anderer als der weissen Hautfarbe und mehr solche weiblichen Geschlechts, mehr Zugänglichkeit für die von der Kunst Ausgeschlossenen, mehr Intensität des Erlebens durch optische und räumliche Wirkungen, mehr eigenes Mitwirken, das sei der Königsweg. In Vergessenheit gerät ob dem Wedeln mit den zeitgeistigen Vokabeln die Hauptsache – die Musik als Kunst eben, die sich ja, die Pandemie und ihre Folgen jetzt einmal ausgenommen, keineswegs in einer Sackgasse befindet, vielmehr zu voller Blüte gebracht werden kann und die ganze Zukunft vor sich hat. Wer zuzuhören in der Lage und dazu bereit ist, wird es rasch feststellen. Wenn es ein Problem gibt, dann liegt es dort: beim Zuhören.

So gedacht bei der Begegnung mit einer drei Compact Disc umfassenden Produktion der Deutschen Grammophon, die selbstverständlich auch auf den einschlägigen Plattformen im Netz verfügbar ist. Zum 250. Geburtstag des Komponisten im vergangenen Jahr, so nahm es sich der Pianist Krystian Zimerman vor, wolle er die fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens einspielen. Und dies gemeinsam mit Simon Rattle, der zurzeit noch dem London Symphony Orchestra vorsteht und diese Formation in grossartiger Weise vorangebracht hat. So setzten sich mitten in der Pandemie die Orchestermitglieder an weit auseinanderliegenden, von transparenten Schutzwänden umgebenen Pulten, der Dirigent und der Solist in der zum Probenraum umgebauten Londoner Kirche St Luke’s vor die Mikrophone. Was sie dort, es liegt nun genau ein Jahr zurück, zustande gebracht haben, ist eine Sensation. Sie zeugt von der Vitalität der Musik Beethovens und vom ungebrochenen Potenzial, über das die Kunst der Interpretation im besten Fall verfügt.

Die Klavierkonzerte Beethovens hat Krystian Zimerman schon einmal eingespielt: 1989 mit den Wiener Philharmonikern und Leonard Bernstein, nach dem Tod des Dirigenten 1990 mit dem Orchester allein. Respektabel war das, mehr nicht. Ein zweiter Anlauf mit dieser vom Pianisten über alles geliebten Musik lag darum nahe, zumal angesichts der Suche nach dem Besseren, die Zimerman mit nicht nachlassender Intensität umtreibt. Dazu kommt, dass sich die interpretatorischen Rahmenbedingungen in den vergangenen drei Jahrzehnten grundlegend gewandelt haben – die jüngst an dieser Stelle besprochene Aufnahme zweier Klavierkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts durch Olga Pashchenko und das Orchester Il Gardellino (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 10.11.21) mag in besonderer Weise davon zeugen. Zu Vertretern der historisch informierten Aufführungspraxis sind weder Zimerman noch Rattle geworden, doch ist nicht zu überhören, in welchem Masse Spurenelemente dieses bedeutenden ästhetischen Richtungswechsels in das Denken und das Tun der beiden Musiker eingedrungen sind. Das ist es, was dieser Aufnahme der Klavierkonzerte Beethovens, die aufs erste Anhören hin doch ganz und gar auf dem Boden des Hergebrachten zu stehen scheint, das besondere Gewürz beimischt.

Zimerman spielt auf seinem eigenen Flügel, offenkundig einem Steinway, aber Klaviertechniker, der er ebenso sehr ist, verwendet er verschiedene, unterschiedliche Tastaturen. Für das lyrische G-dur-Konzert, das vierte, setzt er auf eine Tastatur, die den Klang etwas in die Richtung eines Hammerklaviers aus der Zeit Beethovens bewegt – wer vom Finale des dritten Konzerts, c-moll, in den Kopfsatz des vierten einsteigt, bemerkt es auf Anhieb. Das sind Modifikationen der feinen Art, aber sie wirken sich aus, genau so wie es die Anleihen an den Manieren des frühen 19. Jahrhunderts tun. In dieser zweiten Aufnahme zieht Zimerman die Musik weitaus weniger durch als noch in der ersten; er nimmt sich Freiheiten in der Tempogestaltung und nützt sie dazu, Ausdruck, bisweilen gar sprechendem Ausdruck zu erzielen. Besonders deutlich wird das im Finalsatz des Es-dur-Konzerts, des fünften, wo er das Geschehen, auch dank geschärfter Artikulation, aufregend zuspitzt. Schon das eröffnende Allegro weist in diese Richtung. Die gebrochenen Akkorde stellt er mit aller Brillanz heraus, tut es zugleich aber klanglich feinfühlig – wie auch die Akzente deutlich gesetzt, durch die sofortige Zurücknahme der Lautstärke aber gleich relativiert werden. Heroisch, gar kaiserlich, ist hier nur die Widmung.

Auffällig ist hier, und zwar im langsamen Satz, das ausgeprägte Vibrato der hohen Streicher. Es klingt so besonders, als wären die Wiener Philharmoniker am Werk – nur wird es vom London Symphony Orchestra nicht durchgehend, sondern explizit zu expressiven Zwecken eingesetzt. Denn vorherrschend bleibt bei Simon Rattle das Non-vibrato, auch das die Übernahme einer Praxis aus der Zeit Beethovens. Was für überirdisch schöne Momente die sogenannten geraden Töne hervorbringen, lässt das G-dur-Konzert hören; der Abschluss des zweiten Satzes sucht seinesgleichen, und die solistischen Einwürfe des Cellos im Finalsatz finden ganz besondere Eindringlichkeit. Überhaupt ist das von Rattle ebenso phantasievoll wie sorgsam angeführte Orchester mit letzter Präsenz bei der Sache; nicht nur schmiegt es sich, wie Zimerman im Booklet formuliert, wie ein Handschuh an den Solisten an, es trägt auch dessen leichten, unpathetischen, spielfreudigen Ton aktiv mit.

Vorgegeben wird dieser lustvolle Zugang durch das erste Konzert, jenes in C-dur, das eigentlich das zweite ist. Für sich selbst als Solisten geschrieben, wartet Beethoven hier mit manch überraschendem Effekt auf – mit geistreichen Einfällen, denen Zimerman nichts schuldig bleibt. Flüssig geht er das Allegro con brio des Kopfsatzes an; die aufschiessenden Läufe bringt er zum Blitzen, und stürzt dann einer herunter, so gerät das zu einem Elementarereignis. Erstaunlich nicht zuletzt das Konzert in c-moll, das dritte der Reihe. Feierlich kommt es im daher, aber in subtil modelliertem Klang – wie wenn der Konzertflügel ein Fortepiano wäre. Die Oktaven singen, das Staccato springt geschmeidig, die Gewichte innerhalb der Takte sind bewusst gestaltet. Und der Mittelsatz in der entlegenen Tonart E-dur entfaltet sich ausgesprochen poetisch.

Nichts ist in dieser Auslegung der Klavierkonzerte Beethovens auf spektakulären Effekt ausgerichtet, zu entdecken gibt es aber mehr als genug. Aller Tage Abend ist für die Musik als Kunst also noch lange nicht.

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 1 bis 5. Krystian Zimerman, London Symphony Orchestra, Simon Rattle (Leitung). Deutsche Grammophon 4839971 (3 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).