Geistreiches Vergnügen

A la française – Yaara Tal und
Andreas Groethuysen an zwei Klavieren

 

Von Peter Hagmann

 

Immer noch und immer wieder wissen sie zu überraschen. Unermüdlich durchforsten Yaara Tal und Andreas Groethuysen die Bibliothekskataloge nach Musik für Klavier zu vier Händen oder für zwei Klaviere, und sind sie fündig geworden, tragen sie ihre Schätze mit fulminantem Können und spritzigem Temperament an die Öffentlichkeit. So auch jetzt wieder mit ihrer jüngsten CD-Publikation bei Sony, ihrem Label seit mehr als drei Jahrzehnten, das die Neuerscheinung selbstverständlich auch auf den angesagten Plattformen im Netz greifen lässt. Nach den 18 Studien über Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge», einem anspruchsvollen Werk des Deutschen Reinhard Febel, kommt nun eine sehr hübsch angerichtete Platte mit geistreich unterhaltender Musik aus der spätromantischen Küche Frankreichs auf den Tisch.

Louis Théodore Gouvy – kennen Sie den aus dem Saarland stammenden, in Paris ausgebildeten Komponisten? Vielleicht dem Namen nach. Seine Sonate in d-moll op. 66 von 1876, erst recht aber die kurz danach entstandenen Variationen über das irische Volkslied «Lilli Bulléro» belohnen den hörenden Annäherungsversuch durch individuell geprägten Umgang mit Traditionen, durch speziell gefärbte Harmonik und originelle Einfälle – das alles im Spannungsfeld zwischen deutscher und französischer Kultur. Weiter als Gouvy ging der eine Generation später geborene Théophile Ysaÿe, der heute vergessene, seinerzeit angesehene Bruder des berühmten Geigers. Seine Variationen op. 10 von 1910 durchmessen in der Abfolge der Tonarten zwei Oktaven in Terzschritten, nur ist das kaum wahrzunehmen, denn harmonisch schwebt der musikalische Satz frei im Geiste Debussys. Attraktiv ist das, und was das Stück an technischem Raffinement bereithält, macht staunen.

Im Gegensatz dazu nehmen sich die Variationen über ein Thema Beethovens von Camille Saint-Saëns, sie tragen die Opuszahl 35 und sind 1874 entstanden, klassizistisch aus; sie glänzen jedoch mit sprühendem Witz und untadeligem Handwerk. Das Thema entnahm der Komponist Beethovens Klaviersonate op. 31 Nr. 3. Das Menuett zum Trio dieser Sonate in Es-dur spaltet sein Thema in einen tiefen und einen hohen Bereich, gleichsam in eine Wechselrede zwischen Mann und Frau: die ideale Anlage für eine Verarbeitung auf zwei Klavieren. Der dialogische Effekt geht allerdings etwas verloren, weil die Aufnahme die beiden Klaviere nah zueinander rückt, so wie sie auf dem Podium ja auch aufgestellt sind, darum aber wenig Räumlichkeit erzeugt. Ausgezeichnet ist aber wahrzunehmen, mit welcher Phantasie Saint-Saëns zu Werk geht – wie er das Thema dreht und wendet, es aus hingetupften Akkorden herausscheinen lässt, es zu einem Trauermarsch formt und ihm zum Schluss noch die obligate Fuge abgewinnt. Der «Tourbillon», der Wirbelwind, der Französin Marguerite Méran-Guéroult bietet daraufhin den zündenden Kehraus.

Prickelnd und belebend ist das alles. Und leicht fügt es sich ins Ohr; wer jedoch genauer zuhört, stösst auf manche präzis gesetzte Pointe. Denn Yaara Tal und Andreas Groethuysen gehen mit verschmitzter Spiellust ans Werk. Die geradezu zirzensische Fingerfertigkeit, die hier bisweilen gefordert ist, meistern sie blendend. Und unter ihrem Zugriff klingen ihre beiden Klaviere herrlich opulent, samten in den Bässen, silberhell im Diskant. Viel Vergnügen.

Avec Esprit. Werke für zwei Klaviere. Louis Théodore Gouvy: Sonate in d-moll op. 66, Variationen über das irische Volkslied «Lilli Bulléro» op. 62. Théophile Ysaÿe: Variationen op. 10. Camille Saint-Saëns: Variationen über ein Thema von Beethoven op. 35. Marguerite Méran-Guéroult: Tourbillon. Yaara Tal und Andreas Groethuysen (Klaviere). Sony 196587 10722 (CD, Aufnahme 2022, Produktion 2023).

Rausch und Bogen

Krystian Zimerman spielt Karol Szymanowski

 

Von Peter Hagmann

 

Was für ein Flügel. Ob es wie üblich sein eigener, auch eigenhändig betreuter war? Wie auch immer, als Krystian Zimerman im Juni dieses Jahres ins japanische Fukuyama reiste, um sich dort der wunderbaren, leider viel zu selten gespielten Musik seines Landsmannes Karol Szymanowski (1882-1937) zu widmen, war Steinway & Sons zur Stelle, im Booklet zur jüngsten CD-Veröffentlichung des polnischen Pianisten wird mit speziellem Dank darauf hingewiesen. Es ist also anzunehmen, dass die hohen Anforderungen, die Zimerman ans Instrument stellt, erfüllt worden sind – zumal es ganz danach klingt. Obertonreich und entsprechend hell der Ton, fulminant und orchestral die Bässe, brillant die Präsenz in ihrer Mischung zwischen Direktheit und Räumlichkeit – wozu die akustisch von Yasuhisa Toyota konzipierte Fukushima Hall of Art & Culture, aber natürlich auch die Tontechnik aus den Emil Berliner Studios das Ihre beigetragen haben. Das ist ein Erlebnis eigener Art.

Welche Bedeutung all dem zukommt, wird ohrenfällig im zweiten Schritt der vierteiligen CD. Dort stehen von Karol Szymanowski die «Masques» op. 34 an. Zimerman hat die drei Charakterstücke aus der Zeit des Ersten Weltkriegs schon 1994 in einer Aufnahme festgehalten, die jedoch nie erschienen ist. Für die Einspielung im Kopenhagener Tivoli stand ein ebenfalls sehr ordentlicher Flügel zur Verfügung, nur fehlt seinem Klang viel von dem, was die Besonderheit des Instruments in Fukuyama ausmacht. Etwas enger, im Fortissimo etwas angestrengt erscheint das Klangbild – und gerade Fortissimo braucht es hier reichlich. In «Tantris le Bouffon», dem mittleren der drei Stücke, denkt Szymanowski die Figur des Tristan weiter, der sich seiner Isolde zunächst als Tantris vorstellt. Gefordert sind hier anforderungsreiches Laufwerk, Kraftentfaltung und ein hohes Mass an Koloristik – Krystian Zimerman bietet das alles hinreissendem Mass. Auch für Scheherazade in Nummer eins, die vorliest und zugleich um ihr Leben fürchtet, wie für den grossspurigen, die Gitarre für sein Ständchen stimmenden Don Juan hat Zimerman alle Sympathie.

Nur eben: der Flügel. Die Differenz fällt auf, wenn man die «Masques» von den vier Préludes aus op. 1 her erreicht. Staunenswert, was dem 18-jährigen Komponisten in seinem Erstling gelungen ist; die Anklänge an das grosse Vorbild Chopin sind nicht zu überhören, das Aufkeimen der eigenen Handschrift aber ebenso wenig. Und Zimerman, der leider etwas vernehmlich mitsingt, schenkt diesen frühen Werken seine ganze Liebe. In den vier Beispielen aus den Mazurken op. 50 von 1924/25 ist dann eindrücklich zu erleben, in welche Richtung Szymanowski unter dem Einfluss impressionistischer Anregungen seine Handschrift weiterentwickelt hat. Vielleicht braucht es etwas Zeit, bis man dieser Musik näherkommt, Krystian Zimerman hilft einem dabei aber mit seinem Einfühlungsvermögen und seiner einzigartigen Kunst. Erst recht gilt das für für die Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10 aus den Jahren 1900 bis 1904, ein erstaunliches Frühwerk, das in seiner Grundhaltung bei der von Béla Bartók und Zoltán Kodály gepflegten Auseinandersetzung mit der autochthonen Volksmusik anschliesst. Welch ganz eigenen Weg Szymanowski schon hier einschlägt, wie exzessiv er das Rauschhafte in der Musik pflegt und wie er zugleich einen geradezu dramaturgisch wirkenden Bogen über die zehn Variationen schlägt, in Krystian Zimermans formidabler Auslegung kommt es bester Geltung.

Karol Szymanowski: Préludes op. 1 (Auswahl), Masques op. 34, Mazurken op. 50 (Auswahl), Variationen über ein polnisches Volkslied op. 10. Krystian Zimerman (Klavier). Deutsche Grammophon 4863007 (CD, Aufnahmen 1994 (Masques) und 2022, Publikation 2022)

Reiz und Sinn der Exzellenz

Lucerne Festival (2):
die Berliner Philharmoniker
zwischen Höhenflug und Diensterfüllung

 

Von Peter Hagmann

 

Nach wie vor, und trotz all der wahrhaft aufwühlenden Diskussionen um Hautfarbe und Geschlecht in der sogenannten klassischen Musik, gilt beim Lucerne Festival das Primat der Kunst. Unbarmherzig, wie der Stand der besetzten Sitze im Saal des KKL Luzern erweisen. Und unbeirrbar, was die künstlerische Qualität betrifft. Beispiel dafür war das Klavierrezital des 38-jährigen Isländers Vikingur Ólafsson: neunzig Minuten unterbrechungslose Konzentration, die das Publikum am Ende sogleich von den Sitzen aufspringen liess. Wie er es auf seiner 2021 bei der Deutsche Grammophon vorgelegten CD tat, schuf er ein klingendes Porträt Wolfgang Amadeus Mozarts in seinen späteren Jahren, dies aber nicht nur mit Werken des Komponisten, sondern auch und vor allem mit Stücken aus dessen künstlerischer Umgebung.

Namen wie die von Carl Philipp Emanuel Bach, Domenico Cimarosa, Baldassare Galuppi tauchten da auf – Namen, die nie auf Konzertprogrammen erscheinen. Und Stücke erklangen, die von auffallender Originalität waren, die gleichzeitig aber auch das Genie Mozarts nur umso deutlicher aufscheinen liessen. Und das in einem wunderbar geschlossenen, im Inneren jedoch vielfältig bewegten Bogen. Der Grund für diese Geschlossenheit lag in dem Umstand, dass das Programm streng nach den Regeln des Quintenzirkels gebaut war, dass die Werke also in verwandten Tonarten zueinandergestellt waren. Nur zweimal gab es Rückungen, anfangs einmal von a-Moll nach h-Moll, am Ende einmal von c-Moll nach h-Moll – das fuhr in dieser wohltemperierten Anordnung überraschend ein.

So erzeugte die Werkfolge nach allen Regeln der Kunst einen Bann sondergleichen – auch und gerade nach den Kriterien der Interpretation. Vikingur Ólafsson kann nicht nur unerhört schnell spielen; das kann er selbstverständlich auch. Und er kann nicht nur unerhört grossen Ton hervorbringen, auch das kann er natürlich. Noch beeindruckender ist aber sein dynamisches Spektrum im Leisen: Was kann der Mann flüstern auf dem Konzertflügel, und welche Ruhe herrscht dann im Saal – es entstehen da Momente der Introspektion, die es im Kosmos des Klavierspiels selten genug gibt. Nicht weniger hinreissend des Pianisten Vermögen, die Verläufe beim Wort zu nehmen, sie gegebenenfalls bis fast in zum Zerreissen zu dehnen und dabei dem Einzelnen nachzuhorchen, nachzuspüren. Das führte in Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 oder seiner Sonate in c-Moll KV 457 zu unglaublicher Vertiefung und stellte auch ein Werk wie die sattsam bekannte Sonata facile in C-dur KV 545 in ganz neues Licht. Joseph Haydns h-Moll-Sonate Hob. XVI:32 ging Ólafsson an, wie es auf einem Steinway möglich und erlaubt ist, nämlich jenseits jeder Annäherung an den Klang des Hammerklaviers. So wie es Franz Liszt in seiner Adaption des «Ave verum» aus Mozarts Requiem getan hat; zu Bergen wohlklingender Kraft erhob sich hier die Musik Mozarts, um schliesslich im Verstummen zu enden. Das ist Exzellenz, wie sie für das Lucerne Festival steht.

Das Nämliche ereignete sich einige Tage später, am ersten der beiden Gastspiele der Berliner Philharmoniker, die wie stets den Höhepunkt des Festivals darstellten. Damit verbunden war freilich einiges Pech. Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner, hatte sich am rechten Fuss verletzt, wurde erfolgreich operiert und muss sich nun im Interesse der vollständigen Wiederherstellung Schonung auferlegen. So konnte er nur eines der beiden Konzerte dirigieren. Im zweiten Auftritt glänzte Tabea Zimmermann mit einer intensiven, auch wohlklingenden Auslegung des Bratschenkonzerts von Alfred Schnittke, worauf die vierte Sinfonie Anton Bruckners erklang. Die Berliner gaben das Stück auf ihrem Niveau, am Pult stand Daniel Harding, der dazu den Takt schlug, ohne Nennenswertes zu erzielen. Harding zeigte Dinge an, die im Orchester nicht geschahen, dort wiederum geschahen Dinge, denen er beflissen folgte. Das Tutti war eine Katastrophe; weder am Schluss des Kopfsatzes noch am Ende der Sinfonie war der kennzeichnende Hornruf zu vernehmen, er ging im Getöse unter. Genug; mit Exzellenz hatte das nichts zu tun, mit Dienst allerdings schon.

Gerade umgekehrt war es bei Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 am Abend zuvor, einem zerklüfteten, dementsprechend selten gespielten Stück (in Luzern stand es, wie das einmal mehr sehr informative Programmheft mitteilt, erst 85 Jahre nach seiner Prager Uraufführung von 1908 auf dem Programm). Wie es Vikingur Ólafsson gelang, band Kirilll Petrenko die fünf Viertelstunden in einen schlüssigen Verlauf, ohne die Individualität der fünf Sätze zu unterspielen oder ihre Diskontinuitäten auszuebnen. Im Gegenteil, er stellte die Schärfe der Partitur, ihre Gebrochenheit, auch ihren Zeitbezug in aller Unerbittlichkeit heraus und blieb, auf der anderen Seite, der sehrenden Melancholie und ihrer fast schon gläsernen Schönheit nichts schuldig.

Die Eröffnung des Kopfsatzes breitete gleich die grandiose Farbpalette der Berliner Philharmoniker aus. Das zweite Thema nahm Petrenko langsam, und schon da war zu hören, welche Flexibilität der Tempogestaltung er anstrebt und ihm das Orchester verwirklicht. In bewundernswerter Übersicht zog er durch den Satz, Drängen stellte sich neben das Schwelgen, scharfe Blitze fuhren in die gelöste Ruhe. Den Marsch am Ende des Satzes nahm Petrenko so schneidend, dass mit Händen zu greifen war, was der Komponist im Augenblick der Niederschrift ahnte. Darauf der Mittelteil mit den beiden Nachtmusiken und dem schattenhaft dahinhuschenden Scherzo. Grossartig in der ersten Nachtmusik das eröffnende Hornsolo und sein Echo, atmosphärisch treffend die Herdenglocken, ungeheuer die diskrete, untergründige  Spannung, die nicht zuletzt durch die explizite Körpersprache des Dirigenten erzeugt wie unterstützt wurde. Freundlicher Serenadenton und ausgefeilte Kammermusik prägten die zweite Nachtmusik, in der die Gitarre und die Mandoline, rechts aussen platziert, einmal nicht nur als Geräusch, sondern mitsamt ihren Tonhöhen zu hören waren. Dies auch darum, weil die Berliner Philharmoniker nicht nur über ein glänzendes Forte verfügen, sondern auch über eine Kultur des Leisen, deren Wurzeln im Wirken Claudio Abbados liegen. Im Rondo-Finale schliesslich brach der selbstbewusste Lärm der Jahrhundertwende von 1900 aus, freilich jederzeit kontrolliert durch vorzügliche Balance, so dass auch Nebensachen zu gebührender Wirkung kamen. Höchste Orchesterkultur und sinnreiche Imagination des Interpreten am Pult kamen da in bezwingender Weise zusammen.

Musikdämmerung? Nein, Frühlings Erwachen

Die Klavierkonzerte Beethovens mit Krystian Zimerman und Simon Rattle

 

Von Peter Hagmann

 

Ist die Musik als Kunst am Ende? Wer die derzeit laufenden Debatten verfolgt, kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Von Diversität ist die Rede, von Inklusion, von Immersion, von Partizipation; mehr junge Menschen mit anderer als der weissen Hautfarbe und mehr solche weiblichen Geschlechts, mehr Zugänglichkeit für die von der Kunst Ausgeschlossenen, mehr Intensität des Erlebens durch optische und räumliche Wirkungen, mehr eigenes Mitwirken, das sei der Königsweg. In Vergessenheit gerät ob dem Wedeln mit den zeitgeistigen Vokabeln die Hauptsache – die Musik als Kunst eben, die sich ja, die Pandemie und ihre Folgen jetzt einmal ausgenommen, keineswegs in einer Sackgasse befindet, vielmehr zu voller Blüte gebracht werden kann und die ganze Zukunft vor sich hat. Wer zuzuhören in der Lage und dazu bereit ist, wird es rasch feststellen. Wenn es ein Problem gibt, dann liegt es dort: beim Zuhören.

So gedacht bei der Begegnung mit einer drei Compact Disc umfassenden Produktion der Deutschen Grammophon, die selbstverständlich auch auf den einschlägigen Plattformen im Netz verfügbar ist. Zum 250. Geburtstag des Komponisten im vergangenen Jahr, so nahm es sich der Pianist Krystian Zimerman vor, wolle er die fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens einspielen. Und dies gemeinsam mit Simon Rattle, der zurzeit noch dem London Symphony Orchestra vorsteht und diese Formation in grossartiger Weise vorangebracht hat. So setzten sich mitten in der Pandemie die Orchestermitglieder an weit auseinanderliegenden, von transparenten Schutzwänden umgebenen Pulten, der Dirigent und der Solist in der zum Probenraum umgebauten Londoner Kirche St Luke’s vor die Mikrophone. Was sie dort, es liegt nun genau ein Jahr zurück, zustande gebracht haben, ist eine Sensation. Sie zeugt von der Vitalität der Musik Beethovens und vom ungebrochenen Potenzial, über das die Kunst der Interpretation im besten Fall verfügt.

Die Klavierkonzerte Beethovens hat Krystian Zimerman schon einmal eingespielt: 1989 mit den Wiener Philharmonikern und Leonard Bernstein, nach dem Tod des Dirigenten 1990 mit dem Orchester allein. Respektabel war das, mehr nicht. Ein zweiter Anlauf mit dieser vom Pianisten über alles geliebten Musik lag darum nahe, zumal angesichts der Suche nach dem Besseren, die Zimerman mit nicht nachlassender Intensität umtreibt. Dazu kommt, dass sich die interpretatorischen Rahmenbedingungen in den vergangenen drei Jahrzehnten grundlegend gewandelt haben – die jüngst an dieser Stelle besprochene Aufnahme zweier Klavierkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts durch Olga Pashchenko und das Orchester Il Gardellino (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 10.11.21) mag in besonderer Weise davon zeugen. Zu Vertretern der historisch informierten Aufführungspraxis sind weder Zimerman noch Rattle geworden, doch ist nicht zu überhören, in welchem Masse Spurenelemente dieses bedeutenden ästhetischen Richtungswechsels in das Denken und das Tun der beiden Musiker eingedrungen sind. Das ist es, was dieser Aufnahme der Klavierkonzerte Beethovens, die aufs erste Anhören hin doch ganz und gar auf dem Boden des Hergebrachten zu stehen scheint, das besondere Gewürz beimischt.

Zimerman spielt auf seinem eigenen Flügel, offenkundig einem Steinway, aber Klaviertechniker, der er ebenso sehr ist, verwendet er verschiedene, unterschiedliche Tastaturen. Für das lyrische G-dur-Konzert, das vierte, setzt er auf eine Tastatur, die den Klang etwas in die Richtung eines Hammerklaviers aus der Zeit Beethovens bewegt – wer vom Finale des dritten Konzerts, c-moll, in den Kopfsatz des vierten einsteigt, bemerkt es auf Anhieb. Das sind Modifikationen der feinen Art, aber sie wirken sich aus, genau so wie es die Anleihen an den Manieren des frühen 19. Jahrhunderts tun. In dieser zweiten Aufnahme zieht Zimerman die Musik weitaus weniger durch als noch in der ersten; er nimmt sich Freiheiten in der Tempogestaltung und nützt sie dazu, Ausdruck, bisweilen gar sprechendem Ausdruck zu erzielen. Besonders deutlich wird das im Finalsatz des Es-dur-Konzerts, des fünften, wo er das Geschehen, auch dank geschärfter Artikulation, aufregend zuspitzt. Schon das eröffnende Allegro weist in diese Richtung. Die gebrochenen Akkorde stellt er mit aller Brillanz heraus, tut es zugleich aber klanglich feinfühlig – wie auch die Akzente deutlich gesetzt, durch die sofortige Zurücknahme der Lautstärke aber gleich relativiert werden. Heroisch, gar kaiserlich, ist hier nur die Widmung.

Auffällig ist hier, und zwar im langsamen Satz, das ausgeprägte Vibrato der hohen Streicher. Es klingt so besonders, als wären die Wiener Philharmoniker am Werk – nur wird es vom London Symphony Orchestra nicht durchgehend, sondern explizit zu expressiven Zwecken eingesetzt. Denn vorherrschend bleibt bei Simon Rattle das Non-vibrato, auch das die Übernahme einer Praxis aus der Zeit Beethovens. Was für überirdisch schöne Momente die sogenannten geraden Töne hervorbringen, lässt das G-dur-Konzert hören; der Abschluss des zweiten Satzes sucht seinesgleichen, und die solistischen Einwürfe des Cellos im Finalsatz finden ganz besondere Eindringlichkeit. Überhaupt ist das von Rattle ebenso phantasievoll wie sorgsam angeführte Orchester mit letzter Präsenz bei der Sache; nicht nur schmiegt es sich, wie Zimerman im Booklet formuliert, wie ein Handschuh an den Solisten an, es trägt auch dessen leichten, unpathetischen, spielfreudigen Ton aktiv mit.

Vorgegeben wird dieser lustvolle Zugang durch das erste Konzert, jenes in C-dur, das eigentlich das zweite ist. Für sich selbst als Solisten geschrieben, wartet Beethoven hier mit manch überraschendem Effekt auf – mit geistreichen Einfällen, denen Zimerman nichts schuldig bleibt. Flüssig geht er das Allegro con brio des Kopfsatzes an; die aufschiessenden Läufe bringt er zum Blitzen, und stürzt dann einer herunter, so gerät das zu einem Elementarereignis. Erstaunlich nicht zuletzt das Konzert in c-moll, das dritte der Reihe. Feierlich kommt es im daher, aber in subtil modelliertem Klang – wie wenn der Konzertflügel ein Fortepiano wäre. Die Oktaven singen, das Staccato springt geschmeidig, die Gewichte innerhalb der Takte sind bewusst gestaltet. Und der Mittelsatz in der entlegenen Tonart E-dur entfaltet sich ausgesprochen poetisch.

Nichts ist in dieser Auslegung der Klavierkonzerte Beethovens auf spektakulären Effekt ausgerichtet, zu entdecken gibt es aber mehr als genug. Aller Tage Abend ist für die Musik als Kunst also noch lange nicht.

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 1 bis 5. Krystian Zimerman, London Symphony Orchestra, Simon Rattle (Leitung). Deutsche Grammophon 4839971 (3 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Licht an für Camille Saint-Saëns

Das neue Klavierfestival des Luzerner Sinfonieorchesters

 

Von Peter Hagmann

 

«Das Klavierfestival ist tot. Es lebe das Klavierfestival.» So pfiffen es die Spatzen dieser Tage von den Dächern des KKL Luzern. Tatsächlich hat das Lucerne Festival das jeweils im November durchgeführte «Piano Festival» 2019 auslaufen lassen – warum, ist nie bekannt geworden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 27.11.19) Das Luzerner Sinfonieorchester mit seinem Intendanten Numa Bischof hat postwendend darauf reagiert – so postwendend, wie es die Planungsfristen und die Pandemie zuliessen – und ist jetzt mit einem eigenen Klavierfestival auf den Plan getreten. «Le piano symphonique» nennt sich die neue, zweimal im Jahr in gedrängter Form durchgeführte Konzertreihe, die das Klavier aus dem Blickwinkel des Orchesters ins Licht stellt. Die erste Ausgabe hat soeben stattgefunden und war ausserordentlich gut besucht. Und dies, obwohl durchaus auf Risiko gesetzt worden war. Im Zentrum stand nämlich Camille Saint-Saëns, dessen Todestag sich am 16. Dezember 2021 zum hundertsten Male jährt.

Saint-Saëns, ein Musiker von unerhörter Fruchtbarkeit, zu seiner Zeit eine Eminenz, weitherum bewundert und hochdekoriert, ist heute so gut wie vergessen. Noch bekannt und gerade auch von Kindern geliebt ist «Le Carnaval des animaux» (1886) für Erzähler und grosses Kammerensemble, auf CD vor allem mit dem witzigen, durch ihn selbst mit unnachahmlicher Ironie vorgetragenen Text von Loriot. Geschätzt, aber auch ein wenig belächelt wird die Sinfonie Nr. 3 (1886), die «Orgel-Sinfonie», die mit ihrer effektvollen Gestik immer dann beigezogen wird, wenn es gilt, sich vor der Königin der Instrumente zu verneigen. Ab und zu, aber eher im französischsprachigen Kulturkreis, stösst man auf die attraktive Oper «Samson et Dalila» (1877). Vollkommen unbekannt, weil nie gespielt, in ihrer Weise aber grossartig ist die nicht in die Zählung aufgenommene Sinfonie «Urbs Roma» (1856), mit der sich Saint-Saëns vergeblich um den Prix de Rome bewarb. So geht es den allermeisten Werken des französischen Romantikers, und das bei einem Œuvre, das zwischen dem «Oratorio de Noël» (1858) und der Filmmusik «L’Assasinat du Duc de Guise» (1908) weit über 150 Stücke umfasst.

Die Musik von Camille Saint-Saëns gilt eben als verstaubt, akademisch, heute nur mehr schwer zu hören. Ausserdem hat sich der mit einem langen Leben gesegnete Komponist, er starb 1821 im Alter von 86 Jahren, als militanter Nationalist hervorgetan. Richard Wagner war ihm der Inbegriff des Feindbilds; zusammen mit César Franck gründete er nach der Niederlage seines Vaterlands im Deutsch-Französischen Krieg 1871 die «Société Nationale de Musique», die sich die Emanzipation von der Vorherrschaft der deutschen Instrumentalmusik auf die Fahnen geschrieben hatte. In der Tat eignet Saint-Saëns’ Musik etwas Störrisches; auf Passagen hochgetriebener Virtuosität im Geist des Pariser Conservatoire folgen ungelenk klingende Momente, die sich schwer ins Ohr fügen – nur lässt sich das von manchem Werk Franz Liszts in genau gleichem Mass behaupten (allerdings zählt auch Liszt nicht gerade zu den häufig aufgeführten Komponisten). All das gilt in je eigenem und besonderem Grad für die fünf Klavierkonzerte von Saint-Saëns, die in den Mittelpunkt des Programms von «Le piano symphonique» gestellt waren.

Schwierigkeiten mit Saint-Saëns haben freilich nicht nur Zuhörerinnen und Zuhörer, sondern auch Interpreten und Interpretinnen, der erste Abend des neuen Luzerner Klavierfestivals liess es nur zu deutlich hören. Nichts gegen den Wagemut, nichts gegen unerhörte Versatilität, mit denen die armenische Pianistin Nareh Arghamanyan dem Klavierkonzert Nr. 1 in D-dur (1858) begegnete. 23 Jahre alt war Saint-Saëns bei der Komposition. Er schwelgt in der Instrumentalmusik seiner Zeit, will sagen: in der deutschen Instrumentalmusik, und versetzt sie mit blitzendem Laufwerk, was die die Solistin rein manuell fabelhaft meisterte. Aber eine lebendige Erzählung stellte sich nicht ein. Auch nicht restlos überzeugend erschien die Zusammenarbeit mit dem Luzerner Sinfonieorchester und seinem Gastdirigenten Fabien Gabel; manche Übernahmen vom Solo ins Orchester gelangen knapp oder nicht wirklich.

Dass der Interpretation im Fall Saint-Saëns besondere Bedeutung zukommt, beim Klavierkonzert Nr. 2 in g-moll (1868) war es mit Händen zu greifen. Am Steinway sass diesmal – für die fünf Klavierkonzerte waren als Partner des Luzerner Orchesters zwei Pianistinnen und drei Pianisten eingeladen – Kit Armstrong. Der bald 30-jährige amerikanische Pianist, Organist und Komponist, der in seinem Auftritt noch immer jungenhaft wirkt, in seinem Künstlertum aber auf einem ganz anderen Planeten zuhause scheint, bewältigte die horrenden Anforderungen des Soloparts mit scheinbar nonchalanter Selbstverständlichkeit, einer Gelassenheit sondergleichen und stupender Präzision. Zugleich aber war zu hören und spüren, wie sehr er sich das Stück zu eigen gemacht hatte, wie fasslich er es gestaltete und wie bewundernswert er es Musik werden liess. Wie vom Tisch gewischt erschienen die Vorbehalte, die heutzutage gegen das Schaffen von Camille Saint-Saëns vorgebracht werden. Die Virtuosität hatte hier nichts Zirzensisches, nichts Artifizielles, sondern trug restlos natürliche Züge. Das schlug sich auch in der Kooperation mit dem Orchester nieder, die nichts zu wünschen übrigliess.

«Le piano symphonique», das hiess hier: die fünf Klavierkonzerte von Camille Saint-Saëns an zwei Abenden (für die drei anderen Konzerte waren Nelson Goerner, Lise de la Salle und Jean-Yves Thibaudet engagiert). Zu den Klavierkonzerten traten kurze Orchesterstücke, zum Beispiel das Vorspiel zu Wagners «Meistersingern» als augenzwinkernder Hinweis auf die politischen Ansichten Saint-Saëns’. Leider wurde dieses fulminante Stück Musik vom Dirigenten Fabien Gabel in sportiver Rasanz durchgezogen, was das Luzerner Sinfonieorchester ohne Fehl und Tadel mittrug, was aber doch merklich hinter der Komposition zurückblieb. Zu den beiden Orchesterkonzerten im KKL kam eine ganze Reihe von Kammerkonzerten, die andere Seiten von Saint-Saëns, aber auch seine musikalischen Nachbarschaften zur Geltung brachten. In seiner Vielgestaltigkeit erinnert «Le piano symphonique» an das Festival «Zaubersee» des Luzerner Sinfonieorchesters, das im kommenden Mai wieder durchgeführt wird. Als Spielorte diente im kammermusikalischen Teil des Festivals unter anderem das superbe Orchesterhaus in Kriens, der Sitz und Arbeitsort des Luzerner Sinfonieorchesters beim Südpol. Und zu bestaunen war der musikalische Freundeskreis, der hier in Aktion trat. Im «Carnaval des animaux» trat niemand Geringerer als Martha Argerich an den Flügel, der Cellist Steven Isserlis war bei Kammermusik mit von der Partie.

Ein spannendes, weil dramaturgisch konsequent durchgestaltetes Projekt; es spricht für die Vitalität des Luzerner Orchesters. Zum Klagen ist hier keine Zeit, Probleme sind vielmehr dazu, gelöst zu werden – es herrscht ein Geist des positiven Vorausdenkens. Das ist zu hören. Und schon ist die nächste Ausgabe von «Le piano symphonique» angekündigt; sie gilt Johannes Brahms. Das Lucerne Festival wiederum bringt anstelle des aufgegebenen Klavierfestivals ein neues Format unter dem Titel «Lucerne Festival Forward». Mehr davon demnächst an dieser Stelle.

Was Interpretation vermag

Aufnahmen mit der Pianistin Olga Pashchenko

 

Von Peter Hagmann

 

So und nicht anders muss Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert in Es-dur, KV 271, klingen. Die Aussage ist natürlich unsinnig, weil es die einzig richtige Interpretation eines musikalischen Kunstwerks seiner Offenheit wegen nicht geben kann. Wer der Aufnahme des früher «Jeunehomme», heute «Jenamy» genannten Konzerts mit Olga Pashchenko begegnet, dürfte sich der 35-jährigen Russin jedoch sogleich und vorbehaltslos anschliessen. Vom ersten Ton an packend, entfaltet sich hier ein Mozart-Bild von unerhörtem Reichtum: hell und klar im Ton, vielgestaltig in der Attacke, verspielt und überraschungsreich in der Ausgestaltung des Einzelnen.

Olga Pashchenko verwendet hier, beim Es-dur-Konzert von 1777, einen von Paul McNulty hergestellten Hammerflügel nach einem Instrument von Johann Andreas Stein aus dem Jahre 1784, eine Kopie zwar, aber eine in hohem Masse gelungene. Grossartig die Bässe, die nicht donnern, die ihre Tiefe vielmehr durch Farbe spürbar machen. Wunderbar der Obertonreichtum im Diskant – es sind Obertöne ganz anderer Art, nicht auf Brillanz getrimmte, sondern auf inneren Glanz hin ausgerichtete. Etwas anders, sinnvoll anders, der ebenfalls von McNultry gebaute Hammerflügel nach einer Vorlage Anton Walters von 1792, den Pashchenko im zweiten Stück auf der CD aus dem Hause Alpha spielt. Das G-dur-Konzert KV 453 von 1784 rechnet mit einer grösseren Öffentlichkeit als das «Jenamy», stammt es doch aus der Wiener Zeit, in der sich der Komponist als freier Künstler zu etablieren suchte. Im etwas kernigeren, extravertierten Klang des Hammerflügels nach Walter mag sich das spiegeln.

Begleitet wird Olga Pashchenko vom belgischen Ensemble Il Gardellino, und das ist fürwahr der Rede wert. Dirigenten braucht es keinen, denn zum einen umfasst die Formation lauter stilistisch sattelfeste Spezialisten aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis. Zum anderen genügt neben dem Hammerflügel eine kleine Besetzung mit solistischen Bläsern sowie fünf Ersten und vier Zweiten Geigen, drei Bratschen, zwei Celli und einem Bass. Das stilistische Bewusstsein und die kammermusikalische Anlage ergeben einen ganz anderen Ton als gewohnt. Wenn die Hörner eintreten, können sie das schmetternd tun, ohne dass sich ein Zug ins Bombastische einstellte. Die Streicher setzen das Vibrato sensibel ein, was den liegenden Tönen besonderen Reiz verschafft und den Satz in aller Transparenz leuchten lässt. Und sagenhaft, was der eine Bass an Tiefenwirkung erzielt.

Das alles in engster Übereinstimmung mit der Solistin. Hebt das Es-dur-Konzert an, wird der Bass durch die linke Hand des Soloklaviers  nicht wirklich verstärkt, aber doch bekräftigt. Überhaupt sieht sich Olga Pashchenko als Mitglied des Ensembles; jedenfalls ist sie auch in den Tutti-Passagen lustvoll mit von der Partie und trägt dort, gerade bei wiederholten Passagen, Auszierungen mancher Art bei. In jedem Moment zeigen sich dabei die Vorteile ihres Spiels: ihr genaues, lebendiges Artikulieren jenseits der üblichen Fokussierung auf das gewiss schöne, aber stilistisch inadäquate Legato, ihre spritzigen Akzentsetzungen, ihr Arbeiten mit Tempoveränderungen und ungleichzeitigem Einsatz gleichzeitig gedachter Töne – alles Spielmanieren aus dem 18. Jahrhundert, die im philharmonischen Saal ausser Gebrauch gekommen sind, und alles, nicht zuletzt, auf der Basis einer superben Technik. Übrigens bleibt der Hammerflügel klanglich jederzeit in seinem Rahmen; nirgends wird er gezwungen, auch im Forte nicht, und was das Instrument, etwa in den langsamen Sätzen der beiden Konzerte, an Kantabilität ermöglicht, ist absolut erstaunlich.

Ganz selbstverständlich bewegt sich Olga Pashchenko, wenn sie die Klavierkonzerte Mozarts, die sie in ihrer Gesamtheit einzuspielen gedenkt, angeht, in den Gefilden der alten Musik. Das macht es eben aus, auch bei den drei Klaviersonaten Ludwig van Beethovens, die sie auf einem Hammerflügel von Conrad Graf aus dem Jahre 1824 im Beethoven-Haus Bonn aufgenommen hat. In was für Klangwelten die Pianistin dank subtilem Umgang mit den spezifischen Möglichkeiten des Instruments vorstösst, besonders in der Sonate «Les Adieux», ist geradezu atemberaubend. Ähnliches gilt dann, wenn sie Georg Nigl in Liedern von Franz Schubert begleitet. Der nachgebaute Hammerflügel von Conrad Graf (1819) ermöglicht ihr, auf die delikaten seelischen Regungen, die der tenoral timbrierte, fein zeichnende Bariton zum Beispiel in der «Taubenpost» hören lässt, sehr genau zu reagieren, ja sie feinsinnig mitzugestalten. Und kommt es in dem sinnreich zusammengestellten Programm zu den Gryphius-Liedern «Vermischter Traum», die Wolfgang Rihm 2017 nach schwerer Krankheit niedergeschrieben hat, wechselt Olga Pashchenko zum Steinway und trägt dort pointiert dazu bei, dass einem diese äusserst persönliche Musik schmerzhaft unter die Haut fährt. Übrigens spielt die russische Musikerin, die in Moskau ausgebildet wurde, ihren Feinschliff aber von Alexei Lubimov und Richard Egarr erhielt und in ihrem Werdegang durchaus an die Geigerin Alina Ibragimova denken lässt, auch Orgel, auch Cembalo.

Olga Pashchenko, den Namen darf, nein: muss man sich merken.

Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzerte in Es-dur, KV 271, und in G-dur, KV 453. Olga Pashchenko, Il Gardellino. Alpha 726 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).
Ludwig van Beethoven: Klaviersonaten in C-dur, op. 53 («Waldstein»), in f-moll, op. 57 («Appassionata»), in Es-dur, op. 81a («Les Adieux»). Olga Pashchenko. Alpha 365 (CD, Aufnahme 2016, Publikation 2016).
Vanitas. Lieder von Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Wolfgang Rihm. Georg Nigl (Bariton), Olga Pashchenko (Klavier). Alpha 646 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2020).

Besser hören – bei Brahms

Die beiden Klavierkonzerte mit András Schiff und dem Orchestra oft the Age of Enlightenment

 

Von Peter Hagmann

 

Von Johannes Brahms ist bekannt, dass er die Art, in welcher der Dirigent Felix Weingartner seine Musik zum Klingen brachte, besonders schätzte. Der leichte, transparente Klang, den Weingartner bei Brahms pflegte, hatte es dem Komponisten angetan. Inzwischen kann man sich das kaum mehr vorstellen. Wer Karajan im Ohr hat oder Abbado, der kennt den kraftvollen, festgefügten Ton, der bei Brahms heute die Regel ist. Nur wenige Dirigenten unserer Zeit haben auf diesem Feld nach neuen Wegen gesucht, Günter Wand zum Beispiel oder, besonders folgenreich, Nikolaus Harnoncourt, in seinen späten Jahren auch Bernard Haitink. Ganz langsam hat sich das Brahms-Bild zu wandeln begonnen.

Anteil daran nimmt auch András Schiff. Nachdem der Pianist schon bei seiner wegweisenden Gesamtaufnahme der Klaviersonaten Ludwig van Beethovens aus den Jahren 2004 bis 2006 zwei Flügel verwendet hatte, sowohl den gebräuchlichen Steinway als auch den leider nicht sehr verbreiteten Bösendorfer, wandte er sich zunehmend Instrumenten aus der Entstehungszeit der von ihm interpretierten Kompositionen zu – und dezidiert vom Steinway ab. Für die «Diabelli-Variationen» Beethovens oder die Klaviersonaten Franz Schuberts liess er sich gar auf Hammerflügel ein.

Nun also Brahms, und zwar die beiden Klavierkonzerte in d-Moll von 1854 und B-Dur von 1881, für deren Aufführung Schiff einen Blüthner-Flügel von zirka 1859 beigezogen hat. Und nicht nur das. Begleiten lässt er sich von Orchestra of the Age of Enlightenment, einer profilierten Formation aus dem Bereich der Originalklangszene. Dirigent braucht es da keinen; die Mitglieder des englischen Klangkörpers wirken, wie es in vielen Projektorchesters üblich ist, aus einem emanzipierten Selbstverständnis heraus. Und die Besetzung mit zehn Ersten Geigen und insgesamt fünfzig Musikern bleibt so überschaubar, dass Schiff am Flügel und die Konzertmeisterin Kati Debretzeni das Ensemble im Griff zu halten vermögen. Koordinationsprobleme treten jedenfalls in keinem Moment auf.

Das Orchestra of the Age of Enlightenment spielt auf sogenannt alten Instrumenten. Die Streicher etwa verwenden Darmsaiten, die Hornisten Instrumente ohne Ventil. Das ergibt insgesamt einen obertonreicheren, trennschärferen, klarer zeichnenden Klang als bei Orchestern in herkömmlicher Besetzung. Geringer bleibt die Lautstärke; die Instrumente des 19. Jahrhunderts waren nicht für die grossen Konzertsäle heutiger Zeit mit 2000 und mehr Sitzplätzen gedacht. Die Musikerinnen und Musiker können denn auch nach Massen aus dem Vollen schöpfen, ohne dass sich jene Wucht einstellt, die Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern und Maurizio Pollini mit seinem metallischen Fortissimo erzielt haben. Wobei zu sagen ist, dass dieses Klangbild durchaus und nach wie vor über Wirkung wie Berechtigung verfügt. Nach Rom führen viele Wege.

András Schiff freilich meidet diesen Pfad. Alles andere als ein Vertreter donnernder Kraftentfaltung, hat er auch in seiner frühen Aufnahme des d-Moll-Konzerts mit Georg Solti und den Wiener Philharmonikern die lyrischen Seiten Brahms’ betont – und so leuchtet ein, dass er für die soeben bei ECM erschienene Einspielung der beiden Brahms-Konzerte diesen sehr charakteristischen Blüthner-Flügel aus der Entstehungszeit des ersten Konzerts gewählt hat. Mit klaren Worten begründet er im Booklet diese Entscheidung. Tatsächlich verfügt das Instrument – das sich damit ideal mit der Sonorität des Orchesters verbindet – über ein ausgebautes Obertonspektrum. Zudem sind die Register des Flügels nicht konsequent einander angeglichen, sie führen vielmehr ihr je eigenes Leben, was die musikalischen Verläufe in bisweilen frappanter Weise auszeichnet.

Zu den Instrumenten treten die Spielweisen. Das Orchester spielt mit nuanciertem Vibrato. Und bisweilen erlaubt es sich ein gut hörbares Portamento, jenes Gleiten vom einen Ton zum anderen, das noch bis ins frühe 20. Jahrhundert zu den gebräuchlichen Ausdrucksmitteln gehörte, heute aber verpönt ist. Schiff selbst gibt sich diesbezüglich etwas zurückhaltender – anders als auf der wunderschönen Aufnahme der beiden Klarinettensonaten von Brahms mit Jörg Widmann, wo der Pianist in reichem Masse Ausdrucksmittel des 19. Jahrhunderts zur Geltung kommen lässt (vgl «Mittwochs um zwölf» vom 07.10.20). Dennoch: Wie Schiff in den beiden Konzerten die Klangballungen schlank bleiben lässt, wie er mit geschmeidigen Rubato die Musik zum Schwingen und Sprechen bringt, wie er das Geschehen durch sorgfältige Artikulation belebt, allein schon das sichert dieser Aufnahme ihren herausragenden Rang.

Dazu kommt, weil der Orchesterklang so enorm Masse durchhörbar bleibt, eine neuartige Beziehung zwischen Solo und Tutti – ein Freiraum, den András Schiff mit jener Wachheit und jener Phantasie nutzt, die sein Künstlertum seit je auszeichnen. Wer erfahren möchte, was sich in den beiden Klavierkonzerten von Johannes Brahms alles verbirgt, sollte zu dieser Einspielung greifen. Überraschende Hörerfahrungen sind garantiert.

Johannes Brahms: Klavierkonzerte Nr. 1 in d-Moll, op. 15 (1854), und Nr. 2 in B-Dur, op. 83 (1881). András Schiff (Klavier, Blüthner 1859, und Leitung), Orchestra of the Age of Enlightenment. ECM 4855770 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021).

Beethovens Bagatellen – Wunderwerke an Verdichtung und Originalität

Der Pianist Christoph Scheffelt legt die überraschungsreichen Miniaturen in einer vorbildlichen Aufnahme vor.

 

Von Peter Hagmann

 

Klein sind sie, aber fein. Kurz, doch voller Überraschungen. Sein Leben lang hat sich Ludwig van Beethoven auch mit Petitessen abgegeben. Nicht Versuche, nicht Entwürfe sind es, sondern abgeschlossene Werke kürzester Ausdehnung für Klavier – Aphorismen gleichsam, in denen sich Verdichtung unerhörter Art und frappante Originalität finden. Erste Beispiele dazu stammen von 1783, der Komponist war da knapp dreizehn Jahre alt. Etwas älter geworden, bezeichnete er diese Werke als Bagatellen; der Titel taucht 1795 erstmals auf – in jenem Jahr, da Beethoven auch das Rondo mit dem Titel «Die Wut über den verlorenen Groschen» schrieb. Wohl 1802, Beethoven hatte sich inzwischen in Wien niedergelassen, entstanden sieben Bagatellen, die dem Komponisten so wertvoll waren, dass er sie als Opus 33 in sein offizielles Werkverzeichnis aufnahm. Immer wieder wandte sich Beethoven diesen Kleinigkeiten zu – bis hin in die späte Zeit seines Schaffens, aus der die elf Bagatellen op. 119 und die sechs Bagatellen op. 126 stammen.

Im Konzert werden diese Miniaturen vergleichsweise selten gespielt, in Aufnahmen sind sie aber recht ordentlich vertreten. Im nun zu Ende gehenden Beethoven-Jahr haben hier einige Einspielungen von sich reden gemacht. Grigori Sokolov hat seine Sicht auf die Bagatellen op. 119 mitschneiden lassen, Paul Lewis und Tanguy de Williencourt haben alle drei mit Opuszahlen versehenen Gruppen eingespielt – und genau dieses hat auch der als Deutscher in Chile aufgewachsene, heute in der Schweiz lebende Pianist Christoph Scheffelt getan. Seine Aufnahme klingt ganz besonders gut, was die Begegnung mit den Bagatellen Beethovens besonders attraktiv macht. Für ein solches Klangerlebnis braucht es natürlich und in erster Linie einen begabten Pianisten; ebenso bedeutsam ist aber auch der Techniker, der die Mikrophone platziert, das Mischpult überwacht und schliesslich den Schnitt besorgt. In diesem Fall ist das Andreas Werner, der das Spiel Scheffelts im Frühling dieses Jahres in der Kirche Boswil gebannt hat.

Ganz unmittelbar klingt der Flügel in dieser Aufnahme, aber nicht so direkt, als ob man die Ohren ins Instrument hielte. Zugleich herrscht ein sinnlicher Raumklang, der die Musik einkleidet und das, was von der Zeitdauer her als klein erscheint, mit Grösse versieht – mit der Grösse des Einfalls eben. In seinen Auslegungen der Bagatellen arbeitet Christoph Scheffelt das in packender Eindeutigkeit heraus. Ohne die Grenze zum Manierierten zu überschreiten, spitzt er die charakteristischen Züge der Kompositionen zu, bringt sie auf den Punkt und lässt sie den Zuhörer ungeschmälert wahrnehmen. Beispielhaft zu erleben ist es in der g-Moll-Bagatelle, der zweiten aus dem Opus 126; der Pianist unterstreicht den dialogischen Charakter der Stücks und macht es zur Szene. Eine aufbrausende Geste, die er in einem feurigen, technisch blendenden Allegro nimmt, begegnet einer sehr lyrischen, kantablen Antwort, aus der heraus sich die Fortsetzung entwickelt – eine Fortsetzung, die allerdings zu insistenten Fragen führt. Ausgezeichnet getroffen ist das.

Die auch auf den Streaming-Diensten greifbare CD ist in Koproduktion mit Radio SRF 2 Kultur entstanden und bei Prospero Classical erschienen. Prospero? Ja, so nennt sich das neue Schweizer Label, das Martin Korn, lange Jahre bei Sony Music als Labelmanager für die Schweiz tätig, gegründet hat und mit Erfolg betreibt. Acht Alben hat Prospero im ersten Jahr des Bestehens herausgebracht, weitere Produktionen sind geplant – mit Christoph Scheffelt, aber auch mit Pianisten wie Oliver Schnyder, Ulrich Koella oder Alena Cherny. Das stilistische Spektrum ist weit, es reicht vom Solistischen über Kammermusik bis zu einzelnen Orchesteraufnahmen. Die Zeit der sogenannten Majors ist vorbei, die CD lebt aber weiter; das grosse Geschäft wartet hier nicht mehr, in den diversen Nischen blühen jedoch Pflanzen von ungeahntem Reichtum – in Form wie Farbe.

Ludwig van Beethoven: Bagatellen für Klavier opp. 33, 119, 126; Bagatelle in a-Moll «Für Elise». Christoph Scheffelt (Klavier). Prospero Classical 0008 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2020).

Beziehungsgeflechte

Yaara Tal mit einem Programm aus dem Hause Schumann

 

Von Peter Hagmann

 

1839 war für sie ein goldenes, aber auch ein schwieriges Jahr. Clara Wieck und der neun Jahre ältere Robert Schumann hatten versucht, die von Claras Vater hintertriebene Eheschliessung durch einen Gerichtsbeschluss zu erzwingen, worauf eine lange Zeit bangen Wartens folgte. Die Liebe aber, sie war überschäumend – nur: Es gab noch eine andere, es gab noch Julie. Drei Jahre jünger als Robert Schumann, brannte Julie von Webenau ebenfalls für den Komponisten.

Von dem nicht gerade ausbalancierten Dreieck geht die Pianistin Yaara Tal in ihrer jüngsten, wiederum geistreich konzipierten und hochstehend realisierten CD aus. Zwei Fantasiestücke, von Julie Webenau 1839 Schumann gewidmet, eröffnen das Programm. «L’Adieu» und «Le Retour» nennen sie sich, was sofort zu hören und noch leichter zu verstehen ist – Schumann jedenfalls verstand, konnte aber nicht im gewünschten Sinn antworten. Nicht erstrangige, aber doch hübsche Musik ist das. Mutatis mutandis gilt das auch für die drei Romanzen, die im selben Jahr 1839 Clara Wieck als Zwanzigjährige ihrem Bräutigam zugeeignet hat. Anregend, sich in diese Stücke einzuhören und dabei zu erkunden, wo und wie sich die Handschriften von Clara und Robert berühren.

Das gelingt umso besser, als Yaara Tal nicht nur ein sensibles, das Verträumte subtil unterstützendes Rubato einbringt, sondern auch sorgfältig, wenngleich ohne Penetranz, die Strukturen aufscheinen lässt. Das kommt vor allem dem zweiten Teil des CD-Programms zugute. Er gilt Clara Schumann, die drei Jahre nach ihres Gatten Tod als Vierzigjährige, als allseits gefeierte Virtuosin eine Romanze mit Theodor Kirchner durchlebte – und dafür von dem vier Jahre jüngeren Komponisten sein Opus 9, eine Reihe von Präludien, zugeeignet bekam. Im Cantabile der Nummer zehn zeigt Yaara Tal sehr schön die Nähe des Tonfalls zu jenem des jungen Schumann – als ob sich Kirchner ein Stück Identität Schumanns hätte aneignen wollen.

Johannes Brahms, Hausfreunde bei den Schumanns, hatte das nicht nötig. Er blieb sich selber. Ein fescher Kerl, war er dankbar für die grosszügige Förderung durch Robert; ausserdem hatte er nicht wenig übrig für Clara. Von Brahms finden sich auf der CD die Variationen über ein Thema von Robert Schumann für Klavier zu vier Händen op. 23 – ein unerhört animiertes, phantasievolles Werk, das Yaara Tal im Duo mit ihrem Gatten Andreas Groethuysen zu prächtiger, klanglich opulenter Wirkung bringt. Allerdings sind diese Variationen nicht Clara Schumann gewidmet, sondern ihrer Tochter Julie, der Brahms als stiller Verehrer zugetan war.

Als Julie Schumann 1869 heiratete, fungierte Brahms als Trauzeuge – dies mit mässiger Begeisterung. Wie schwer ihn diese Eheschliessung niederdrückte, lässt die Rhapsodie für Alt, Männerchor und Orchester hören, die Brahms als Hochzeitsgabe mitbrachte. «Aber abseits wer ist’s? / Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, / Hinter ihm schlagen / Die Sträucher zusammen. / Das Gras steht wieder auf, / Die Öde verschlingt ihn.», heisst es da in den Worten Goethes, und Brahms’ Vertonung unterstreicht es.

Dies düstere Werk, so sehr es der Stimmungslage Brahms’ entsprach, sei kein Brautgeschenk, wendet Yaara Tal im Booklet ein. Weshalb sie das Stück kurzerhand neu setzen liess: für Tenor, Frauenchor und Klavier (wobei die Fassung mit Klavier anstelle des Orchesters von Brahms selbst stammt). Das ist fürwahr frappant, zumal Julian Prégardien mit seiner Tiefe und seinem wunderschönen Non-Vibrato für starken Ausdruck sorgt, während die Damen aus dem Chor des Bayerischen Rundfunks für engelsgleiche Töne sorgen. Die Umkehrung der vom Komponisten geschaffenen Besetzung drängt sich nicht auf, sie stellt jedoch die biographische Situation, der die Alt-Rhapsodie verpflichtet ist, klar heraus. So wie es alle Stücke dieser wunderbaren CD tun.

und Theodor Kirchner sowie von Johannes Brahms die Variationen über ein Thema von Robert Schumann für Klavier op. 23 zu vier Händen und Rhapsodie op. 53. Yaara Tal (Klavier), Andreas Groethuysen (Klavier), Julian Prégardien (Tenor), Chor des Bayerischen Rundfunks (Yuval Weinberg, Leitung). Sony 19075963082 (1 CD, Aufnahme 2018/19).