Une soirée parisienne

«Fortunio» von André Messager
in der Opéra de Lausanne

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Carole Parodi / Opéra de Lausanne

Man kennt ihn aus dem Lexikon, nicht aus gelebter Erfahrung. Dabei war André Messager (1853 bis 1929) Lichtgestalt wie Zentralfigur im Musikleben der Belle Epoque, jener Ära zwischen dem für Frankreich schmählichen Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 und dem Ausbruch der Ersten Weltkriegs 1914. Ausbildet an der Ecole Niedermeyer in Paris und von da her in gutem Einvernehmen mit Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré, trat er von der kleinen Orgel in der Pariser Madeleine aus den Gang durch die Institutionen an; er führte ihn als Musikdirektor an die Opéra-Comique, als künstlerischer Leiter zur Covent Garden Opera London und schliesslich als Direktor an die Pariser Opéra. Am Ende sah er sich geehrt als Commandeur in der Légion d’Honneur. Das Dirigieren nahm einen wichtigen Platz ein; dass er bei der Uraufführung von Claude Debussys «Pelléas et Mélisande» am Pult der Opéra-Comique stand, hat ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert. Auch komponiert hat er, und nicht wenig, doch das ist heute so gut wie vergessen.

Leider – das darf sagen, wer in der Opéra de Lausanne «Fortunio» gesehen und gehört hat, eine comédie-lyrique André Messagers, die auf einer Komödie von Alfred de Musset basiert. Als Messager als Dirigent der Uraufführung seines Werks 1907 ans Pult trat, soll ihn das Orchester der Opéra-Comique mit Ovationen begrüsst haben – so ist es der Rezension zu entnehmen, die Gabriel Fauré für «Le Figaro» verfasst hat. Tatsächlich hat es die Partitur in sich; sie klingt ausgeprägt französisch, ohne jeden Anklang an den Wagnerismus von César Franck, an die schwere Süsse von Jules Massenet oder den Klassizismus von Saint-Saëns – ganz eigen eben, aber durchaus eingebettet in die musikalische Umgebung ihrer Zeit. Leichtfüssig, aber nie seicht erzählt sie die Geschichte der jungen, schönen, biestigen Jacqueline, die mit dem in die Jahre gekommenen Notar Maître André verheiratet ist, daneben aber gerne auf Nebengeleisen fährt, etwa mit dem smarten Hauptmann Clavaroche oder dem Unschuldslamm Fortunio, das es freilich faustdick hinter den Ohren hat.

Nach der Uraufführung wurde «Fortunio» bis 1953 gegen achtzig Mal gespielt, in Frankreich hielt sich das Stück bis ins frühe 21. Jahrhundert auf den Bühnen, im deutschsprachigen Kulturbereich dagegen scheint es bloss verächtliches Schulterzucken erzeugt zu haben. Claude Cortese, der neue Direktor der Opéra de Lausanne, sieht gerade darin seine Chance. Er will in seinem Haus vornehmlich Stücke zeigen, die in Lausanne bisher nicht zu sehen waren. Und er will, so jedenfalls der implizite Tenor, die gar nicht so kleine Oper von Lausanne mit ihren drei Rängen und ihrem modernen Anbau als Stätte der Produktion zu einem Hafen für die französische Oper in der mehrsprachigen Schweiz etablieren. Das ist im besten Fall eine klare Ansage und schafft ein interessantes Gegengewicht zu dem ungleich grösseren, mächtig ausstrahlenden Grand Théâtre de Genève, das mit seinem Intendanten Aviel Cahn entschieden den Anschluss an das internationale Opernbusiness gesucht und gefunden hat.

In Lausanne hat sich Claude Cortese, ein mit allen Wassern gewaschener Theaterpraktiker, daran erinnert, dass es 2009 an der Pariser Opéra-Comique zu einer Produktion von André Messagers «Fortunio» gekommen ist, die gute Resonanz erzeugt und sogar auf das Medium der DVD gefunden hat. Die Produktion, nicht selbstverständlich, war noch zu haben – und so hat sie Cortese eingekauft: eine ausgezeichnete Tat. Die Inszenierung von Denis Podalydès, einem Sociétaire der Comédie-Française, hält sich denkbar weit entfernt von Ideen des Regietheaters, sie zeigt das Stück als Stück, was allerdings nicht eben wenig ist. Sie tut es mit schauspielerischer Energie und Spielwitz, schlägt den Zuschauer wie die Zuschauerin in Bann und schafft echtes Theatervergnügen. Das Bühnenbild von Eric Ruf spielt geschickt mit den Situationen und den mit ihnen verbundenen Klischees, die Kostüme von Christian Lacroix verorten das Stück amüsant lavierend zwischen der Entstehungszeit des Textes von Musset und jener der Musik. Und die Akteure auf der Bühne geraten in Fahrt, dass es eine Freude ist.

Wesentlich getragen wird das Vergnügen durch die Tatsache, dass in Lausanne ein Ensemble versammelt ist, dessen Mitglieder allesamt französischer Muttersprache zu sein scheinen. Das ist darum von Belang, weil sich die Musik André Messagers elegant dem Sprachduktus des Französischen anschmiegt. Gepflegte Diktion herrscht hier, eine geradezu lustvolle Sorgfalt etwa in der Färbung der Vokale und im Umgang mit Hebung und Senkung. So ist der bisweilen von Ironie geprägte Text über weite Strecken gut verständlich, auch bei den Stimmen in hoher Lage. Nicht zuletzt ist das dem Orchester Sinfonietta de Genève zu verdanken, das unter der Leitung von Marc Leroy-Calatayud einen schlanken, allerdings etwas unpersönlichen, die Farbigkeit der Musik unterspielenden Ton hören lässt.

Umso prachtvoller kommt dank Sandrine Buendia die Sinnlichkeit der im Zentrum der männlichen Begehrlichkeiten stehenden Jacqueline zur Geltung, wogegen der in der Partie des Fortunio sehr authentische Pierre Derhet als zuletzt lachender Vierter im Bunde bisweilen etwas viel Druck aufsetzt. Umwerfend Marc Barrard als der alte Notar und mehrfach gehörnte Ehemann, ein Schüler des grossen Gabriel Bacquier und sein würdiger Nachfahre. Während Christophe Gay als der mehr als wendige Hauptmann Clavaroche nicht nur durch einen höhensicheren Tenor, sondern auch durch akrobatische Beweglichkeit in Erinnerung bleibt. Während in Zürich und München die Pimmel hüpfen, blickt Lausanne auf die Sache, auf die Kunst. Zum Glück.

Der Ritt über den Genfersee

«Guillaume Tell» von Gioachino Rossini
an der Opéra de Lausanne

 

Von Peter Hagmann

 

Gessler und seine mutigen Opfer / Bild Carole Parodi, Opéra de Lausanne

«Guillaume Tell», die neununddreissigste und letzte Oper Gioachino Rossinis, ist in jeder Hinsicht übermässig: in ihrer Aufführungsdauer, in den Aufzügen der Chöre, in den Spitzentönen, die dem primo tenore abverlangt werden, nicht zuletzt in der heiss geliebten Ouvertüre mit ihren irrwitzigen Anforderungen an die Kantabilität wie die Virtuosität des Orchesters. Wie soll ein solcher Koloss in der nicht besonders ausladenden Opéra de Lausanne Platz finden? Tatsächlich ist «Guillaume Tell», ohnehin vergleichsweise selten gespielt, in Lausanne noch nie gegeben worden. Wir können das, sagte sich jedoch Claude Cortese, der neue Direktor des Hauses, der sich beim Publikum nicht mit einer eingekauften, sondern einer an Ort und Stelle neu erstellten Produktion einführen wollte. Cortese konnte das Risiko abschätzen, verfügt er doch über reiche Erfahrung im Metier. So wagte er es – und hat Recht behalten. Die Produktion ist in hohem Mass gelungen und lässt für die Zukunft einiges erwarten.

Hinreissend schon die Ouvertüre mit dem elegischen, von solistisch eingesetzten Celli getragenen Beginn und dem wirbelnden Ende. Das Orchestre de Chambre de Lausanne war schon hier ausgesprochen guter Laune; überhaupt zeigte es sich äusserst agil und geschmeidig – was nicht zuletzt auf den Dirigenten Francesco Lanzillotta zurückgeht. Mit acht Ersten Geigen spielte das Orchester gleichsam in einer Kammerbesetzung; wahrzunehmen war es jedoch nicht wirklich, das Instrumentale entwickelte ausreichend Präsenz, und die Balance, jene zwischen den Bläsern und den Streichern wie jene zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen, blieb jederzeit gewahrt. Eine imposante Leistung bot an der Premiere auch der von Alessandro Zuppardo vorbereitete Chor der Oper Lausanne; schöner, homogener, klar gezeichneter Klang war da zu hören – die grossen Aufzüge liessen nichts zu wünschen übrig.

Wie das Spiel in Lausanne anhebt, erstrahlt auf der Bühne von Alex Eales ein bekanntes Bildnis Ferdinand Hodlers, vielleicht «Landschaft am Genfersee»; dazu kommen die Herren im Chor, die gerne die Bewegungen des ebenfalls von Hodler so markig abgebildeten Holzfällers andeuten. Der Regisseur Bruno Ravella verortet die von Schiller in seinem Schauspiel erzählte Geschichte vom Kampf eines Volkes um seine Freiheit eindeutig in der Schweiz und im mythologischen Gewand. Am Ende jedenfalls fährt der Felsbrocken, auf dem Wilhelm Tell mit seiner Armbrust steht, dergestalt in die Höhe, dass der siegreiche Held wie die berühmte Helvetia auf der gegenwärtig im Umlauf befindlichen Ein-Franken-Münze erscheint. Dass es in diesen Tagen noch ein anderes Volk gibt, das um seine Freiheit kämpft, zeigt sich allein in zwei Bändern mit den ukrainischen Landesfarben, die in der Feier zur Hochzeit von drei jungen Paaren zu Beginn des Eröffnungsaktes verwendet werden. Das ist gut so; jede konkrete Anspielung an das Geschehen unserer Tage, so nahe es läge, käme einer Plattitüde gleich.

Die Besetzung der Urschweiz durch die Habsburger wird in der Inszenierung allerdings in schauerlicher Genauigkeit vorgeführt. Mit seinem kernigen Timbre gibt Luigi De Donato einen zynisch brutalen Gessler, der mit einer Fingerbewegung über Leben und Tod entscheidet. Und die von Sussie Juhlin-Wallén weinrot gekleidete Soldateska geht mit ihren Knüppeln schonungslos gegen Mann wie Frau vor. Das bildet den Hintergrund. Im Zentrum des Geschehens, so will es die Grand Opéra, steht aber das private Drama. Die Eindringlichkeit, mit der die zwischenmenschliche Interaktion szenisch wie musikalisch realisiert wird, ist von zutiefst berührender Wirkung. Wenn Tell von Gessler in der nicht enden wollenden Szene vor dem Apfelschuss erniedrigt wird, gibt Jean-Sébastien Bou das Letzte an darstellerischer Intensität und vokaler Expression. Ihm zur Seite steht Jemmy, der von der kleinen, ebenfalls ausdrucksstarken und stimmlich erstaunlichen Elisabeth Boudreault als der mutige Sohn seines Vaters gezeigt wird. Die Dritte im Bunde ist die Gattin und Mutter Hedwige, die von Géraldine Chauvet mit würdigem Profil versehen wird.

Und dann eben die liaison dangereuse zwischen dem jungen Arnold von Melchtal und Mathilde, der habsburgischen Prinzessin im Gefolge Gesslers. Im entscheidenden Moment des (übrigens leicht, aber geschickt gekürzten) Stücks nimmt die junge Frau aus dem gegnerischen Lager den von Gessler bedrohten Sohn Tells unter ihren Schutz stellt und wechselt damit die Seiten – schade nur, dass sie dann nicht ihre weinrote Schärpe von der Schulter nimmt und nicht auch im Gewand als eine Gleiche unter Gleichen von der Bühne geht. Wie die Ukrainerin Olga Kulchynska, neben Luigi De Donato das zweite Ensemblemitglied nichtfranzösischer Zunge, ihre Partie zum Leben erweckt, wie hoch ihre nur ganz leicht gefärbte Diktion steht, wie tadellos ihr die Koloraturen gelingen, wie treffend sie ihre Gefühle mit ihrer wunderschönen Stimme zur Geltung bringt, es verdient alle Bewunderung. In nichts steht ihr Julien Dran nach, der als einer der hohen französischen Tenöre den Ritt über den Genfersee prächtig meistert; souverän erklimmt er die Spitzen in der Partie des Arnold, und ohne Einbusse lässt er auf den stimmlichen Gipfeln seiner Partie Glanz und fassbaren Klang erstrahlen – das alles in Verbindung mit vorbildlicher Diktion.

Wer wissen möchte, worin die Kunst des französischen Gesangs bestehen kann, an diesem Abend kann er es erfahren. In der Akzentsetzung auf dem Frankophonen, die der Spielplan der Saison 2024/25 andeutet, findet die Opéra de Lausanne anregenden Kontrast zu dem eher international ausgerichteten Programm des Grand Théâtre de Genève. Wenn ab der Spielzeit 2026/27 Alain Perroux, bis vor kurzem der Chef von Claude Cortese,  als Nachfolger Aviel Cahns von Strassburg nach Genf kommt, könnte die bekanntlich nicht ganz konfliktreiche Beziehung zwischen beiden Kantonshauptstädten auch auf dem Gebiet des Musiktheaters richtig spannend werden.

Herbe Schönheit

Asmik Grigorian mit Jonathan Nott beim
Orchestre de la Suisse Romande in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Bild ph

Kaum ist das Konzert zu Ende, bricht in der Seitenstrasse neben der Genfer Victoria Hall hektisches Treiben aus. Schwere Lastwagen fahren vor, von erfahrenen Spezialisten millimetergenau an den Randstein gelotst. Auf dem Gehsteig, wo kaum mehr ein Durchkommen ist, warten enorme Kisten auf Rädern. In ihnen verstaut sind Pauken und anderes Schlagwerk, die Kontrabässe mitsamt den Fräcken der jeweiligen Musiker, das Podest für den Dirigenten. Die Situation gleicht der auf Tournee; auch dort geht es, wenn der Beifall verklungen ist, bei den Orchestertechnikern erst richtig los – nur sind wir ja zu Hause, in Genf. Allein, zu Hause ist das Orchestre de la Suisse Romande (OSR) in der Victoria Hall keineswegs. Es gibt dort zwar seine Konzerte und hält auch die Proben ab. Doch zum Schluss muss das Podium jeweils piekfein aufgeräumt werden, selbst nachmittags nach der Generalprobe und vor dem Konzert. Der Saal gehört eben der Stadt Genf, das Orchester bespielt ihn zur Miete und muss das Gebäude nach absolviertem Dienst für Veranstaltungen anderer Art freigeben. Stauraum gibt es keinen in der innerstädtischen Lage der Victoria Hall, darum die komplexen Transporte. Und eine vertretbare Garderobe fehlt ebenso – nur dem Dirigenten und den Solisten stehen ultrakleine camerini zur Verfügung. Das war einer der Gründe für das privat finanzierte Projekt einer «Cité de la Musique» für das Orchester und die Musikhochschule. Es ist einer Volksabstimmung zum Opfer gefallen.

Da drängen sie sich nun also um einen grossen Tisch, die Musikerinnen und Musiker, doch es herrscht ausgezeichnete Stimmung. Die offizielle Saison ist zu Ende, das Abschlusskonzert formidabel gelungen. Selbst den ersten Teil des Abends kann man gelten lassen, denn hier gab es eine Uraufführung. Aus der Taufe gehoben wurde ein Werk, das für das OSR entstand, der Pandemie wegen aber noch nicht gespielt werden konnte. Ein Werk ausserdem, das als Konzert für Streichquartett und Orchester eine äusserst seltene Besetzung aufweist. Gewiss, im Barock gab es konzertante Formen wie das Concerto grosso mit seinen Wechselspielen zwischen dem solistisch besetzten Concertino und dem vollen Orchester als dem Ripieno, später dann die konzertante Sinfonie mit mehreren solistisch behandelten Instrumenten vor der Gesamtheit des Orchesters. Aber das Streichquartett in expliziter solistischer Vorrangstellung vor dem Orchester, das ist eine ausgesuchte Rarität. Arnold Schönberg hat sie (im Geiste Georg Friedrich Händels) gepflegt, vor ihm Louis Spohr, nach ihm Bohuslav Martinů oder der Schweizer Conrad Beck. Jetzt gesellt sich Yann Robin dazu, der bald fünfzigjährige Franzose, der hierzulande trotz einem gut bestückten Werkkatalog so gut wie unbekannt ist. Sein Konzert für Streichquartett und Orchester lässt die Herkunft des Komponisten aus dem Jazz nicht verkennen. Die Musik ist von pulsierender rhythmischer Energie getragen, bisweilen gerät sie regelrecht ins Keuchen, worauf ein tiefes Löwengebrüll (eine umgekehrte Trommel, durch deren einziges Fell ein dickes Seil gezogen wird) für Ordnung sorgt. Was heisst hier «Ordnung»? Chaotisch geht es zu in dieser über weite Strecken lauten, aber alles andere als ungeordneten Partitur. Äusserst viel wird von den Solisten verlangt – und diese Position war mit dem im Bereich des Zeitgenössischen hochversierten Quatuor Tann (mit Antoine Maisonhaute und Ivan Lebrun an den Geigen, Natanael Ferreira an der Bratsche und Jeanne Maisonhaute am Cello) hervorragend besetzt. Da flogen die Bogenhaare, und Jonathan Nott sorgte dafür, dass das Orchester jederzeit bei der Stange blieb.

Damit war die Temperatur vorgegeben. Sie erfüllte sich im zweiten Teil, in der Musik von Richard Strauss. Fulminant stieg Jonathan Nott in den «Schleiertanz» aus der Oper «Salome» ein, man konnte beinah ins Fürchten geraten. Bald glätteten sich jedoch die Wogen und wurde deutlich, dass nach dem Ausrufezeichen des Beginns das Ritual, in dessen Verlauf die Stieftochter vor dem geilen Herodes die Schleier fallen lässt, in grandios gezügeltem Spannungsverlauf gesteigert wird. Phänomenal die solistischen Einwürfe etwa der kernigen Bratsche oder der klangvollen, subtiles Vibrato beifügenden Flöte. Und grossartig die Streicher, die zu einem warmen, kompakten, aber nirgends schwergewichtigen Klang gefunden haben. Doch dann erschien Asmik Grigorian, die Sopranistin aus Vilnius, die von den Salzburger Festspielen aus aufgestiegen ist und heute zu den gefragtesten Vertreterinnen ihres Fachs gehört. Würde die 42-jährige Sängerin die ganz gelöste, zurückhaltende Nostalgie der Vier letzten Lieder von Richard Strauss treffen können? Würde sie sich mit dem herben Stahl in ihrer Stimme und mit ihrer sagenhaften Präsenz in den ziselierten Orchestersatz einfügen? Die «dämmrigen Grüfte» im «Frühling» nährten anfangs noch Zweifel, die Solistin klang da bisweilen dominant, verselbständigt. Aber rasch hatte die unerhört professionell agierende und gleichzeitig spontane Expressivität ausstrahlende Künstlerin ihre vokalen Möglichkeiten und die Raumakustik im Griff. Vom «September» an konnte man sich voll auf die nahezu perfekte Diktion einlassen, «Beim Schlafengehen» kam die von Hermann Hesse angesprochene Seele tatsächlich in ein ruhiges Schweben – und schliesslich «Im Abendroth» auf einen Text Joseph von Eichendorffs: eine Offenbarung. Ganz diesseitig, aufrauschend – das Orchester zeigte hier seine ganzen Qualitäten – der Beginn, dann freilich das zusehende Zurücksinken bis hin zur Frage nach dem Tod: zusammen mit Jonathan Nott hat das Asmik Grigorian hinreissend gestaltet. Ganz einfach: richtig, hier ist das in Fragen der musikalischen Interpretation falsche Adjektiv am Platz.

Das Licht der Aufklärung, in Musik gebracht

Mendelssohns «Lobgesang»
beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Das nennt man Künstlerpech. Angesagt beim Lucerne Festival war der Abschluss des thematischen Schwerpunkts rund um Felix Mendelssohn Bartholdy, der vor Jahresfrist das neue Frühlings-Festival mit dem Lucerne Festival Orchestra und seinem Chefdirigenten eröffnet hatte. Doch exakt jetzt musste sich Riccardo Chailly als erkrankt melden und seine beiden Auftritte absagen. Als Glück im Unglück kann wiederum gesehen werden, dass für das grosse Finale mit Mendelssohns zweiter Sinfonie, dem «Lobgesang», Andrés Orozco-Estrada gewonnen werden konnte.

Ein Glück – und das trotz der Turbulenzen der letzten Jahre rund um den 45-jährigen Kolumbianer. Von Wien aus, wo er von 1997 bis 2003 studiert hat und wo er 2004 beim Tonkünstler-Orchester Niederösterreich mit nachhaltigem Erfolg eingesprungen ist, hat er blendend Karriere gemacht. Als Nachfolger von Paavo Järvi war er 2014 bis 2021 Chefdirigent beim Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt, ab 2020 wirkte er als Chefdirigent der Wiener Symphonikern. Mitte 2021 wurde dann allerdings berichtet, dass er für das Jahr zuvor eine sehr stattliche Summe aus dem Topf der Corona-Hilfen beantragt und erhalten habe. Das ist ihm übelgenommen worden. Als er im Frühjahr 2022 völlig überraschend und fristlos von seiner Aufgabe bei den Wiener Symphonikern zurücktrat, wurde jedoch weniger vom umstrittenen Verhalten des Dirigenten während der Pandemie gesprochen als von Differenzen mit dem Intendanten und dem Wunsch des Orchesters, den bis 2025 laufenden Vertrag nicht zu verlängern. Diesem Wunsch war von den Wiener Behörden stattgegeben worden.

So weit, so heikel. Inzwischen hat Orozco-Estrada ein neues Dach gefunden: 2025 wird er als Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor das Erbe von François-Xavier Roth antreten, der seinerseits als Chefdirigent zum SWR-Sinfonieorchester Stuttgart zurückkehrt. Und an den künstlerischen Fähigkeiten Orozcos kann nicht der geringste Zweifel herrschen, das hat sein Auftritt in Luzern in aller Deutlichkeit gezeigt. Mendelssohns «Lobgesang» kam zu einer stimmigen, musikalisch erfüllten Aufführung, die vom Publikum mit Stehapplaus quittiert wurde. Keine Spur von den Tempoexzessen und den dynamischen Ausreissern, die vor einigen Wochen Paavo Järvi beim Tonhalle-Orchester Zürich hat hören lassen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.02.23). Frisch, aber ohne Druck, dafür übers Ganze der Partitur aufeinander bezogen die Tempi. Der Klang körperhaft, in seinen Extremwerten jederzeit kontrolliert – will sagen: die Posaunen deutlich auftragend, doch nicht mit geballter Faust, die Trompeten weniger als Klangkrone denn als Verlängerung des Farbspektrums nach oben, die Hörner rund und kompakt, das Holz in ausgezeichneter Feinabstimmung und lebendig sprechend. Mit ihrem energischen Zugriff und ihrer griffigen Artikulation trugen die Streicher das Geschehen. Nur die Orgel, die hätte etwas besser hörbar sein können.

So kam es in der Sinfonia, der dreisätzigen instrumentalen Einleitung, mehr als einmal zu besonderen Momenten, etwa dank der Holzbläser, deren individuelle Klangfarben sich ganz wunderbar mischten. So ist es eben beim Lucerne Festival Orchestra, und so kann es sein, wenn ein Dirigent das Potential dieser noch immer aussergewöhnlichen Formation zu nutzen versteht. Dann aber, nach dem ruhig fliessend genommenen Adagio religioso, schlug die Stunde des von Howard Arman vorbereiteten MDR-Rundfunkchors aus Leipzig, einer grossen, mit strahlenden Stimmen in allen Registern versehenen Körperschaft. In den Chorklang mischte sich die Sopranistin Regula Mühlemann in ihrer Natürlichkeit und mit ihrem obertonreichen Timbre; ihr zur Seite stand, in der undankbaren Partie des zweiten Soprans, aber nicht minder eindrucksvoll, Simona Šaturová. Bleibenden Eindruck hinterliess auch der Tenor Allan Clayton – nicht zuletzt deshalb, weil er subtil mit jenen piano-Wirkungen arbeitete, welche die Partitur verlangt.

Überhaupt wurde raffiniert leise, aber auch gepflegt kraftvoll agiert. Und zudem durchaus mit Effekt. «Die Nacht ist vergangen»: Für den entscheidenden Satz stieg Regula Mühlemann ganz in die Höhe und sang  ihn von einem der oberen Balkone aus in den Saal – frappant war das. Es offenbarte, dass im «Lobgesang» von 1840 der 400 Jahre zuvor erfundene Buchdruck mit beweglichen Lettern gepriesen wird, aber mehr noch dessen Weiterungen in der Reformation, in der Aufklärung, in der Entwicklung hin zu einer sinnvoll lebbaren Gleichheit aller Menschen. Dies in den Klängen eines in eine jüdische Familie geborenen, jedoch im bürgerlichen Protestantismus der Universitätsstadt Leipzig aufgewachsenen Komponisten.

Der anregenden, in jeder Hinsicht hochstehenden Auslegung von Mendelssohns «Lobgesang» ging voran das glückliche Cellokonzert seines Freundes Robert Schumann. Leicht und luftig liess Andrés Orozco-Estrada das Lucerne Festival Orchestra klingen, was vortrefflich passte zu dem feingliedrigen Ausdruck, den Pablo Ferrández anschlug. Grossartig der Reiz der klanglichen Abschattierungen, die der junge Spanier verwirklichte, berührend die Ruhe, die er in den drei ineinander übergehenden Sätzen fand. Etwas eintönig wirkte allein das durchgehende, immer gleiche Vibrato und das bisweilen manierierte Pianissimo; beides erinnert an Anne-Sophie Mutter, die dem aufstrebenden Musiker Förderung zuteilwerden lässt. Dass er seinen eigenen Weg finden wird, ist freilich nur eine Frage der Zeit.

Diva, ohne Diva zu sein

Die Sopranistin Patrizia Ciofi
in La Chaux-de-Fonds

 

Von Peter Hagmann

 

Keine Sängerin wie sie. Keine wie Patrizia Ciofi. Die italienische Sopranistin verfügt nicht nur über ein ausgeprägt individuelles, sondern auch über ein sehr spezielles Timbre – das zu beschreiben nicht eben leichtfällt. Ihre Stimme ist prächtig geerdet und wundervoll gefügt, dazu ausserordentlich beweglich, wovon nicht zuletzt das Repertoire der Sängerin zeugt. Zugleich gibt es bei ihr aber eine besondere Ebene der Farbgebung. Über ihren Lineaturen liegt ein zarter, transparenter Schleier, eine Art Hauch, der eine reiche Palette an Färbungen hervorbringt und die Konturen vielgestaltig miteinander verschmelzen lässt. In vielen ihren zahlreichen Aufnahmen ist es zu hören; besonders stark wirkte es 2018 im Genfer Grand Théâtre, wo Patrizia Ciofi die Donna Anna in Mozarts «Don Giovanni» gab und dieser oftmals etwas erstarrt wirkenden Figur bewegendes menschliches Profil verlieh.

Jetzt also ein Rezital – eines mit ihren Lieblingsarien, und erst noch eines mit Orchesterbegleitung. Ein populärer Abend? Gewiss, aber zum Glück. Im Konzertsaal sind Auftritte solcher Art ausgesprochen selten, was zu bedauern ist. Denn im Gegensatz zur Opernaufführung mit ihrem Drum und Dran lässt sich an einem solchen Abend die Gesangskunst sozusagen in nuce erfassen. Und Kunst gab es in diesem Fall reichlich. Das Publikum geriet förmlich aus dem Häuschen; es sparte nicht mit bewundernden, anspornenden Zwischenrufen, auch nicht mit Bravi und Stehapplaus. In grosse Robe gekleidet, in zwei verschiedene Modelle vor und nach der Pause, erschien Patrizia Ciofi als gewiefte Diva, die den Saal zu verzaubern weiss. Unnahbar erschien sie allerdings keineswegs, sie suchte den Kontakt zu ihrem Publikum, griff nach dem bereitliegenden Mikrophon und erläuterte in fliessendem Französisch die Ideen hinter der Werkwahl und den Kontext zu den jeweiligen Arien. Zwei Mal drei Stücke aus dem Bereich der französischen wie jenem der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts gab sie. In beiden Teilen ging es um die Liebe, im ersten um die aufblühende Liebe und die damit verbundenen Hoffnungen, im zweiten um die zu Ende gehende, in Abschied und Trennung mündende.

Den Anfang machte «Depuis le jour», der Monolog der titelgebenden Protagonistin aus dem dritten Akt der Oper «Louise» von Gustave Charpentier. Ganz zart kam die Selbstreflxion der durch das Liebesglück berückten jungen Frau daher – denn mit ihren stimmlichen Möglichkeiten vermag Patricia Ciofi gerade das Pianissimo sehr ausdrucksvoll zu formen. Das kam auch «Caro nome» zugute, der Arie der Gilda aus dem ersten Akt von Giuseppe Verdis «Rigoletto»; nicht zuletzt wurde hier übrigens deutlich, wie nahe sich italienische und französische Gesangskultur stehen. Schliesslich «Roméo et Juliette» von Charles Gounod und hieraus «Je veux vivre», der Walzer der Juliette aus dem ersten Akt, in dem sich am Ende, wie von den herabfallenden Blättern der Rose die Rede ist, schon ein Wechsel der Temperatur ankündigt. Patrizia Ciofi war hier aber noch einmal sprühende Fröhlichkeit und zeigte blendende Agilität.

Darauf jedoch der Rückbau der Liebesgefühle. In «Adieu, notre petite table», ihrer Arie aus dem zweiten Akt von Jules Massenets «Manon», beklagt die Protagonistin den erzwungenen Abschied von Des Grieux. Grossartig, wie Patrizia Ciofi in den Beiträgen von Charpentier, Gounod und Massenet den enthusiastischen Ton der französischen Musik, etwa den Sprung in die Terzlage im Moment der emotionalen Kulmination, zu bewältigen verstand. Und hinreissend ihr Legato, ihre Arbeit mit der Dynamik, ihr sinnliches Vibrato. Auf «Piangete Voi» aus «Anna Bolena» von Gaetano Donizetti folgte schliesslich das vokale und expressive Feuerwerk von «Sempre libera» aus Verdis «Traviata». Die Absage Violettas an die bürgerlich geprägte Lebens-Liebe und das emphatische Bekenntnis zum Moment geriet absolut bezwingend.

Durchsetzt waren die vokalen Vorträge durch instrumentale Nummern, durch Ouvertüren und Zwischenspiele, die vom Ensemble Symphonique de Neuchâtel mit seinem Dirigenten Victorien Vanoosten mit temperamentvoller Spielfreude und allem Sinn für Humor präsentiert wurden. Neuchâtel? Ja, das hatte seinen speziellen Sinn, denn der Abend mit Patrizia Ciofi fand abseits der musikalischen Zentren statt – in der Provinz, die so gar nichts Provinzielles an sich hat. Ort des Geschehens war La Chaux-de-Fonds, wo bekanntlich ein akustisch exzellenter Musiksaal steht und wo mit der Société de Musique eine in würdiger Tradition verankerte, freilich höchst lebendige Institution für eine reich gedeckte musikalische Tafel sorgt. Grosse Interpreten glänzen dort mit spannenden Programmen, zum Beispiel der Pianist Alexander Melnikov, der die Symphonie fantastique von Hector Berlioz in der Bearbeitung von Franz Liszt vortrug. Zu Gast waren etwa auch Les Vents français mit dem Flötisten Emmanuel Pahud an der Spitze, der britische Chor Solomon’s Knot, der zusammen mit dem von Meret Lüthi geleiteten Berner Barockorchester Les Passions de l’Ame Musik Georg Philipp Telemanns der Vergessenheit entriss, oder der Pianist Iddo Bar-Shaï, der auf dem Steinway «Les Ombres errantes» von François Couperin vortrug und sich dabei von der Kunst eines Schattenspielers begleiten liess. Die zwei Spielzeiten im Zeichen der Pandemie haben auch in La Chaux-de-Fonds Spuren hinterlassen; inzwischen scheint die Konzertreihe wieder Tritt gefasst zu haben. Die Stimmung in Foyer und Saal war jedenfalls so aufgekratzt wie eh und je.

Krippenspiel und Ritual

Das Theater Basel wagt sich an Bachs «Matthäus-Passion»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Muss es wirklich sein, die «Matthäus-Passion» auf der Opernbühne? Nun, so fern liegt es nicht, wenn man an die latente Dramatik von Johann Sebastian Bachs magistraler geistlicher Musik denkt. Und Versuche in diese Richtung der Interpretation gab es immer wieder, bis hin zur Aneignung durch den Choreographen John Neumeier. Aber eine Aufführung als Fest der »Community« unter Beteiligung von Kindern sowie Bürger- und Jugendchören aus Stadt und Region, ja selbst unter Mitwirkung des Publikums, das an zwei Stellen zum Mitsingen eingeladen ist – sieht das nicht sehr nach einer gutmenschlichen, wenn nicht gar populistischen Aktion aus?

Tatsächlich erscheint die «Matthäus-Passion» im Theater Basel auf den ersten Blick als ein monumentales Krippenspiel, denn die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi wird von Kindern vorgeführt. Rührend wirkt das – und zugleich berührend, denn das szenische Arrangement, das Benedikt von Peter, der Intendant des Basler Dreispartenhauses, als Regisseur zusammen mit der Bühnenbildnerin Natascha von Steiger und einem grossen Team entwickelt hat, nimmt den ganzen Raum des Theaters in Anspruch und lebt so von einer eigenen Wirkungsmacht. Sitzplätze finden sich im Auditorium wie ihm gegenüber auf einer ansteigenden, weit in den Bühnenhintergrund reichenden Rampe. Das Orchester ist nach Vorgabe der doppelchörig konzipierten Partitur links und rechts von der Spielfläche platziert. Weitere Instrumentalisten finden sich im Hintergrund des Zuschauerraums wie jenem der Bühne; auch die Chöre klingen von allen Seiten her. Der Raum, mit dem Benedikt von Peter immer wieder gerne und bewusst arbeitet, umfasst alles und schafft Gefühle der Gemeinschaftlichkeit.

Vorne rechts André Morsch, der mit seinem klangvollen Bariton einen emotionalen, teils heftig aufbrausenden, teils zutiefst verzagten Jesus gibt, auf der linken Seite, von der Kostümbildnerin Lene Schwind schwarz gewandet wie alle musikalisch Mitwirkenden, Robin Tritschler als ein stimmlich vielfarbiger, plastisch und daher verständlich deklamierender Evangelist, der als Hilfsregisseur auf der Bühne unentwegt die grosse Gruppe der Kinder durchs Geschehen lenkt, hier liebevoll zugewandt, dort energisch. Allein, so niedlich das aussieht, so sehr fällt die Stilisierung auf – im Agieren der Kinder, aber auch in den Projektionen auf Bildschirme in der Bühnenmitte, die immer wieder zu Tableaux vivants gefrieren. Benedikt von Peter sieht die «Matthäus-Passion» nicht nur als ein geistliches Drama, sondern auch als ein Ritual, in dem Grundwerte unserer Gesellschaft bestätigt und bekräftigt werden.

Gebrochen wird das Ritual durch eine Volksschülerin mit blondem Haarschopf, die immer wieder störend und dazwischenrufend über die Bühne stürmt – eine Art Greta, die das Gezeigte und Vorgetragene mitnichten akzeptiert. Dem gebundenen und gedemütigten Jesus löst sie die Fesseln, gegen Ende warnt sie mit beschwörenden Rufen vor dem drohenden Zusammenbruch des Klimas, und wenn sich beim Schlusschor alles zum Schlafen legt, wirbelt sie die Bettdecken durcheinander. Ist der Schlussakkord verklungen, erscheinen einige der Kinder in Grossaufnahme auf den Bildschirmen und geben Stellungnahmen zum Zustand der Welt und der Gesellschaft ab. Die «Matthäus-Passion» als ein Spiel von Kindern für Kinder, denen hier Aug und Ohr für eine zentrale Tradition geöffnet werden, aber ebenso sehr als ein Spiel von Kindern für Erwachsene, denen der Spiegel vorgehalten wird. Vielleicht etwas viel Moral, doch keineswegs fehl am Platz.

Jedenfalls, zum befürchteten Krippenspiel wird der Abend nicht wirklich; er lässt vielmehr eine Produktion erleben, die konsequent durchdacht ist und in der künstlerischen Verwirklichung auf ambitionierte Professionalität setzt. Das Sinfonieorchester Basel tritt in kleiner Besetzung auf, mit modernen Instrumenten, aber in hohem Mass historisch informiert – wofür der Dirigent Alessandro De Marchi zu sorgen weiss. Durchwegs flüssige Tempi herrschen hier, prägnante Artikulation, sorgsamer Umgang mit dem Vibrato, bisweilen zugespitzte Expressivität. Zu sehr im Hintergrund bleibt der Generalbass, der neben den Orgeln auch Lauten kennt. Und nicht zu befriedigen vermag der von Michael Clark vorbereitete Theaterchor, der, gross besetzt, schwerfällig klingt und an der Premiere manch heiklen Moment des Zusammenwirkens durchlebte. Erstklassig dagegen das Solistenquartett mit der jungen Isländerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir an der Spitze, einer erstaunlichen Sopranistin. Ihr zur Seite standen an der Premiere die ebenso bewegliche wie stimmgewaltige Altistin Beth Taylor, der Tenor Nathan Haller mit seinem hellen, klar zeichnenden Timbre und der Bass Christian Senn.

«Berio To Sing» – mit Lucile Richardot und den Cris de Paris

 

Von Peter Hagmann

 

Unter den Avantgardisten des 20. Jahrhunderts war Luciano Berio (1925-2003) keineswegs der bissigste; was die mit Donnerstimme vorgetragenen Wortmeldungen und die Komplexität der Ideen zur Weiterentwicklung des musikalischen Materials betrifft, waren ihm Kollegen wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez deutlich voraus. Aber in Sachen Nonkonformität, in Sachen Verspieltheit, in Sachen Witz war Berio einzigartig. Früh schon, als das noch verpönt, wenn nicht verboten war, wandte sich der Italiener, der zwischen der Alten und der Neuen Welt pendelte, bereits existierender, von anderer Seite geschaffener Musik zu, die er aufnahm, betrachtete, weiterdachte und verwandelte. In seinem Orchesterstück «Rendering» von 1989 verwendete er Skizzen Franz Schuberts zu einer Fragment gebliebenen Symphonie, zu Giacomo Puccinis unvollendeter Oper «Turandot» schrieb er 2002 ein Finale. Weitgespannt war dabei der Horizont. Er schweifte durch Märkte, erkundete Volksmusik und stand offen zu seiner Begeisterung für die Beatles.

Viel von dem spiegelt sich in Berios Vokalmusik – das Ensemble Les Cris de Paris, das aus Sängern und Instrumentalistinnen (das Gendersternchen darf mitgedacht werden) besteht, und sein musikalischer Leiter Geoffroy Jourdain zeigen es auf ihrer neuen CD. Packend an dieser Neuerscheinung ist zunächst die Agilität, mit der sich die Beteiligten in den doch ganz unterschiedlichen Gewässern der Musik Berios bewegen. Die eigentliche Überraschung stellt jedoch die Mitwirkung der Mezzosopranistin Lucile Richardot dar – einer Sängerin, die in der alten Musik bekannt geworden ist, die sich aber ebenso selbstverständlich mit neuer und neuster Musik auseinandersetzt. Ihre Stimme zeichnet sich durch einen ungeheuer weiten Tonumfang, durch ein kerniges, enorm wandelfähiges Timbre und, vor allem, durch eine Art des Singens ohne Vibrato, die im Bereich des Kunstgesangs absolut einzigartig ist.

Der gerade Ton, der von vielen Sängerinnen, übrigens auch von Sängern, als unschön abgelehnt wird, er bildet die Grundlage und zugleich die Besonderheit, die Lucile Richardot in ihrer Interpretation der «Sequenza III» herausschält. Ja, tatsächlich, Lucile Richardot singt die «Sequenza III». In seinen insgesamt vierzehn «Sequenze», Solostücken für diverse Instrumente und eben auch für eine Frauenstimme, versucht Berio, die Möglichkeiten und Grenzen der Tonerzeugung wie der klanglichen Gestaltung zu erkunden – und sie zum Teil radikal zu erweitern. Die «Sequenza III» versammelt in einem Verlauf von knapp zehn Minuten so gut wie alles, was die Stimme zu leisten vermag: Ton und Geräusch, Höhe und Tiefe, Beweglichkeit und Effekt. Im Raum steht hier natürlich die legendäre Aufnahme des Werks mit der Amerikanerin Cathy Berberian, der ersten Frau Berios, für die das Stück geschrieben ist. Was das technische Können und Spannkraft betrifft, steht Lucile Richardot ihrer grossartigen Vorgängerin jedoch in nichts nach, mit ihrer Kunst des geraden Tons bringt sie zudem eine Spezialität ein, die das verrückte Stück Berios in ganz anderem Licht erscheinen lässt.

Mit ihrem stimmlichen Profil bereichert Lucile Richardot auch Berios «Folk Songs» für Mezzosopran und Instrumentalensemble, deren Quellen in Italien und Frankreich, in Amerika und Aserbeidschan liegen, sie bringt aber auch eine alternative Einrichtung von «Michelle», dem berühmten Song der Beatles, für dieselbe Besetzung zum Leuchten – und den geneigten Zuhörer zum Schmunzeln. Wie überhaupt «Berio To Sing», so nennt sich die CD, die ehrwürdige Avantgarde von ihrer frisch-fröhlichen, erheiternden Seite zeigt. Was Les Cris de Paris unter der Leitung von Geoffroy Jourdain, einem phantasievollen, kreativen Musiker, als reines Vokalensemble zu bieten vermögen, erweisen die «Cries of London». Berio nimmt hier die im Rahmen einer Forschungsreise aufgezeichneten Rufe sizilianischer Händler auf Märkten zum Ausgangspunkt einer witzigen, dem Folklorismus gekonnt aus dem Weg gehenden Verarbeitung. Auch bei diesen Sängern gibt es nicht selten gerade Töne – und es sind genau die, welche einem Schauer über den Rücken jagen.

«Berio To Sing». Luciano Berio: Sequenza III (1966), Folk Songs (1964), Cries of London (1976), Michelle II (1965-76), O King (1968), There Is No Tune (1994). Lucile Richardot (Mezzosopran), Les Cris de Paris, Geoffroy Jourdain (Leitung). Harmonia mundi 902647 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Mit Véronique Gens im Pariser Salon

Lieder – nicht nur aus Frankreich, sondern auch mit ungewöhnlicher Begleitung

 

Von Peter Hagmann

 

So treten wir denn ein in diesen vornehmen Salon an der, sagen wir, Rue du Faubourg Saint-Honoré und schauen uns, das Glas Champagner in der Hand, etwas verlegen um zwischen den schweren Samtvorhängen, den prallvollen Bücherregalen, den Gemälden und dem Flügel von Erard. Eine musikalische Soirée werde es geben, ungewöhnlich im Repertoire wie in der Besetzung. Und eine Sängerin, die allen ein Begriff sei, werde auftreten – da ist sie schon, die grosse Véronique Gens. Sie ist auf der Suche nach ihren Kolleginnen und Kollegen vom Ensemble I Giardini, nach Shuichi Okada und Pablo Schatzman (Violinen), Léa Hennino (Viola), Pauline Buet (Violoncello) und David Violi (Klavier). Doch halt, es ist ja bloss ein Traum. Ein Traum, in den man unter dem Eindruck des Eröffnungsstücks auf dieser wunderbaren CD mit dem geheimnisvollen Titel «Nuits» versinken könnte.

Von der Nacht ist in dem Lied, das der 23-jährige Guillaume Lekeu 1893, ein Jahr vor seinem frühen Tod, auf einen eigenen Text geschrieben hat, tatsächlich die Rede – von einer Nacht der Erinnerung an liebevolle Begegnungen. Silberhelle Klänge liegen unter der Gesangsstimme; in ihren eigenartigen Mischungen, sie erinnern bisweilen an den Ton des Harmoniums, evozieren sie Bilder von klarer Kontur und eindringlicher Emotion. Das Lied ist kein Lied, jedenfalls keines im Sinne des deutschen Kunstlieds mit seiner Blüte in der Romantik, es ist vielmehr eine «mélodie», um diesen spezifisch französischen (und letztlich unübersetzbaren) Gattungsbegriff zu nennen. Und begleitet wird die Singstimme nicht von einem Klavier, sondern von einem Klavierquintett. Wie es sich in einem Pariser Salon der III. Republik hätte ergeben können.

Vier Stadien der Nacht werden auf dieser dramaturgisch konsequent gestalteten CD besungen. Und dies von Komponisten wie Hector Berlioz, Gabriel Fauré, Ernest Chausson, aber auch von Unbekannten wie eben Guillaume Lekeu oder Guy Ropartz. Jules Massenet steuert Hispanismus im Stil von Bizets «Carmen» bei, Camille Saint-Saëns erzeugt mit liegenden Quinten orientalisch angehauchte Stimmung. Zwischen die vokalen Beiträge eingestreut sind einige rein instrumentale Nummern, unter deren Komponisten der Organist Charles-Marie Widor erscheint. Und am Ende kommt es zum nahtlosen Übergang von der Mélodie zum Chanson – dann nämlich, wenn «La Vie en rose» erklingt, das herrlich kitschige Liebeslied des Filmkomponisten Louis Guglielmi, genannt Louiguy, auf einen Text von Edith Piaf, die damit aller Herzen eroberte.

Véronique Gens beherrscht auch dieses Idiom – obwohl natürlich auffällt, dass da eine perfekt ausgeformte, an barocker und klassischer Musik gewachsene Stimme zu hören und somit eine doch merkliche Differenz zur Welt von Edith Piaf zu erleben ist. Bedeutender sind hier jedoch die stimmliche Schönheit, die stille, aber wirkungsvolle Gestaltungskraft und, verbunden mit der erstklassigen Diktion, die Sorgfalt im Umgang mit den Texten, die Véronique Gens einbringt. Und I Giardini sorgen für ausgesuchteste Begleitung. Aufgenommen wurde die CD in dem schönen Konzertsaal von Lüttich, der dank dem Tonmeister Olivier Rosset seine eigene Rolle spielen darf. Und entwickelt wurde das Projekt von Bru-Zane, der in Venedig, ja dort, domizilierten Stiftung für die Erkundung und die Pflege der französischen Musik der Romantik. Dass diese einzigartige CD bei dem Label Alpha erschienen ist, erscheint geradezu als naheliegend.

Nuits. Lieder von Hector Berlioz, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré, Jules Massenet, Ernest Chausson u.a. Véronique Gens (Mezzosopran), I Giardini. Alpha 589 (CD, Aufnahme 2019, Publikation 2020).

Roland Hermann – eine Erinnerung

Bei ihm kam vor dem Singen stets das Denken. Damit hat der Bariton Roland Hermann gut Karriere gemacht. Ein Blick auf einige Aufnahmen mag das veranschaulichen.

 

Von Peter Hagmann

 

Er gehörte ganz einfach dazu. In manchem Konzert tauchte er als Zuhörer lauf – trotz dem sogenannten Ruhestand hatte er das Interesse nicht verloren. Und er war unübersehbar. Wenn er einen Raum betrat, gehörte er ihm – dem hochgewachsenen Bariton mit seiner auch im Sprechen unverkennbaren Stimme und einer Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte. Im Gespräch blieb er aber vollkommen unprätentiös: freundlich, kollegial, kommunikativ, nicht selten auch ironisch. Jetzt hat uns Roland Hermann verlassen. Am 17. November ist er, 84 Jahre alt, unerwartet in Zürich gestorben. Es ist echt traurig.

Ein typischer Sänger war Roland Hermann nicht, er gehörte zu den Ausnahmeerscheinungen der Branche. Vor dem Singen kam bei ihm das Denken – wie bei Dietrich Fischer-Dieskau oder Christian Gerhaher. Zu hören war das etwa in der ausgesprochen fasslichen Deklamation; sie liess spüren, dass bei ihm der vokale Ton nicht als ein Ton an sich, sondern vielmehr als Bedeutungsträger erscheinen sollte – Singen, um es wieder einmal zu sagen, als eine höhere Form des Sprechens. Die geistige Agilität, die Neugier auch, sie führten bei Roland Hermann zu einem ausgesprochen weit gespannten Repertoire. Bei Haydns «Schöpfung» mitzuwirken oder bei einer Aufführung der Neunten Beethovens war ihm so selbstverständlich wie das Engagement für das Unbekannte, für das Randständige, für das Neue.

Kein Wunder. Vor der Gesangsausbildung hat Roland Hermann Anglistik studiert, das Singen trat vergleichsweise spät in sein Leben. Früh kam er dagegen nach Zürich: 1968, ein Jahr nach seine Debüt in Trier, trat er auf Einladung des damaligen Chefdirigenten Ferdinand Leitner hin ins Ensemble des Opernhauses Zürich ein. Er blieb ihm treu, bis weit in die neunziger Jahre hinein – als er längst vom Bühnenkünstler zum Pädagogen geworden war und eine Professur an der Musikhochschule Karlsruhe übernommen hatte. In Zürich und darüber hinaus machte er sich einen Namen als Spezialist der zu grösstenteils vergessenen deutschen Romantik. Werktitel wie «Der Vampyr» oder «Hans Heiling» (von Heinrich Marschner), wie «Genoveva» (von Robert Schumann) oder «Der Evangelimann» (von Wilhelm Kienzl) tauchen in diesem Zusammenhang auf. Vor den Grosswerken des Repertoires machte er deswegen keineswegs Halt. 1976 beteiligte er sich etwa an einer in der Deutschen Oper Berlin für die Deutsche Grammophon erstellten Produktion von Wagners «Meistersingern» – dies unter der Leitung von Eugen Jochum und an der Seite von Grössen wie Plácido Domingo (Stolzing) oder Dietrich Fischer-Dieskau (Sachs). Roland Hermann, damals vierzig, gab einen feurig und selbstbewusst argumentierenden Beckmesser, wobei er sich stimmlich unerhört ins Zeug legte, ohne dass darunter die Verständlichkeit zu leiden hatte.

Roland Hermann war auch dabei, als im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die von den Nationalsozialisten verdrängten Komponisten ans Licht geholt wurden. Besonders eng war damals die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Gerd Albrecht, unter dessen Leitung er sich um den «Wozzeck» von Manfred Gurlitt oder den «Zerbrochenen Krug» von Victor Ullmann verdient gemacht hat. Eindrucksvoll hier sein Auftritt im «Kreidekreis» (Capriccio), der letzten Oper Alexander Zemlinskys, die 1933 am damaligen Stadttheater Zürich aus der Taufe gehoben wurde. Roland Hermann ist hier der reiche Herr Ma. «Mein Name ist Ma. Ganz einfach: Ma» – das muss man gehört haben. Es ist nämlich nicht gesungen, bloss gesprochen – und welche Intensität Roland Hermann, ohne dass er die Stimme erhöbe, in diese Passage einfliessen lässt, wie er zum Beispiel bei der Verauktionierung der Jungfrau Haitang so beiläufig wie bedrohlich den höchsten Preis bietet, ist unüberbietbar. Geradezu unmerklich verwandelt sich dann der Sprecher in den Sänger – einen Sänger, der mit seinem samten gerundeten Timbre den transparenten, zerbrechlichen Ton Zemlinskys trefflich meistert.

Weniger bekannt ist die Rolle Roland Hermanns als Protagonist der Moderne. «Doktor Faust» von Ferruccio Busoni, «Karl V.» von Ernst Krenek, Hans Werner Henzes «Prinz von Homburg», «Ein Engel kommt nach Babylon» und «Der Kirschgarten» von Rudolf Kelterborn, «Der Meister und Margarita» von York Höller – solche Partituren gehörten für ihn zum Kern seiner Tätigkeit. Aufsehen erregt hat er zum Beispiel bei der Uraufführung von «…den 24.xii.1931», den «Verstümmelten Nachrichten», die sich Mauricio Kagel zu seinem sechzigsten Geburtstag 1991 geschenkt hat. Das war eine Gaudi damals an den Donaueschinger Musiktagen. Der Komponist selbst leitete das Ensemble Modern, Roland Hermann lief zu grosser Form auf – dokumentiert worden ist es vom Label Montaigne.

Grundlage des Stücks bilden Annoncen und Nachrichten aus Tageszeitungen vom 24. Dezember 1931, die Vertonungen geben sich teils zugespitzt ironisch, teils grotesk in ihrem übersteigerten Pathos. Den Höhepunkt markiert gewiss das Inserat aus dem «Völkischen Beobachter», das die Zigarettenmarke für den tüchtigen Parteisoldaten empfiehlt: «Der Nationalsozialist raucht „Parole“», lautet der lapidare Satz, der hier zu einer fünf Minuten langen Szene wird. Von weitem hört man sie herantorkeln, die johlende Horde der Sturzbetrunkenen, die den Nationalsozialisten immer und immer wieder anrufen, um ihm am Schluss in einem knallhart hingelegten Satz die Zigarettenmarke aufzutischen. Mauricio Kagel steckte damals seine beiden Hände in Stiefel, die er nach der Art eines schrägen Marsches über einen kleinen Kiesplatz auf dem Tischchen neben dem Dirigentenpult schlurfen liess. Und Roland Hermann liess die Episode mit seiner unnachahmlichen Stimmkunst in einer Art zur Szene werden, dass einem das Lachen im Halse stecken blieb. Singen war bei ihm eine ganz und gar existentielle Angelegenheit.