Gipfelstürmer

Zwei Soloabende in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Mit einem tosend in die Tiefe stürzenden Lauf und gleich darauf einem heftigen, sich in erregte Tremoli auflösenden Akkord, so hebt Sergej Rachmaninows Klaviersonate Nr. 2 in b-moll an – ein stärkeres Ausrufezeichen ist kaum denkbar. Ohne die Spur eines Zweifels aufkommen zu lassen, nahm Francesco Piemontesi die Herausforderung an. Mit stählerner Kraft und staunenswerter Fingerfertigkeit stürzte sich der Tessiner an seinem Zürcher Klavierabend in den Kampf mit den Elementen. Liess er den Steinway, ein Instrument mit herrlichen Bässen, in aller denkbaren Kraft, aller vorstellbaren Farbenpracht aufrauschen – so als sässe nicht ein einsamer Solist auf dem Podium in der Grossen Tonhalle Zürich, sondern ein ganzes Orchester. Piemontesi, was Rachmaninow betrifft in den letzten Tagen beim Tonhalle-Orchester und bei der Philharmonia aus dem Opernhaus sehr beschäftigt, spielte die erste Fassung der Sonate von 1913 und machte vergessen, was der Komponist selbst an seinem in drei Teile gegliederten, im Grunde aber einsätzigen Werk bemängelte: zu viel der Noten. In einem grossartigen Bogen zog der Pianist durch die Partitur, und als er am Schluss die riesigen Akkordtürme in hellstes Licht stellte, war jeder Widerstand gebrochen. War wieder einmal deutlich, dass gegen die Verführungskünste Rachmaninows am Ende doch kein Kraut gewachsen ist.

Das war der Mittel- und Höhepunkt eines vom Tonhalle-Orchester Zürich gemeinsam mit der Genfer Konzertagentur Caecilia in ihrer Reihe Meisterinterpreten veranstalteten Klavierabends – der im Ganzen doch auch etwas Zweifel aufkommen liess. Und zwar in der Programmgestaltung wie den interpretatorischen Ansätzen. Nach der schweren Kost Rachmaninows kam es zwar zur Pause, doch dann folgte die nicht weniger schwierige, wenn auch ganz anders gelagerte Klaviersonate in B-dur, D 960, von Franz Schubert. Das war keine glückliche Wahl, Schuberts fragile Kunst hatte da zu wenig Chancen. Zumal Piemontesi die Charaktere dieser vielgestaltigen Musik eher pauschal formte. Im zweiten Satz zum Beispiel, einem Andante sostenuto, liess er den untergründig mitlaufenden Trauermarsch kaum zur Geltung kommen, weil er die Aufmerksamkeit einseitig auf die Melodielinien fokussierte. Und was diese Melodielinien betrifft, war an mancher Stelle zu beobachten, wie der Pianist die Bässe zurückhielt, um die Lineaturen der Oberstimmen singen zu lassen; so schön das geriet, gerade dank dem subtil eingesetzten Rubato, so sehr fehlte da doch bisweilen der Boden. Auch etwas wenig Biss hatte die Auswahl von sechs Stücken aus dem zweiten Band der Préludes von Claude Debussy. Gewiss, «Général Lavine – eccentric» geriet witzig, und das «Feu a’artifice» sparte nicht an glitzerndem Effekt. Doch andernorts, etwa bei den Farbenspielen in den «Brouillards» oder im «Clair de lune», mischten sich auch Züge gepflegter Beliebigkeit ins Spiel.

Solche Momente blieben bei Iveta Apkalna aus. Die lettische Organistin, in ihrer Art eine Gipfelstürmerin wie Francesco Piemontesi, leitete ihren Auftritt an der neuen Orgel in der Tonhalle Zürich mit einer «Evocation» des französischen Organisten und Komponisten Thierry Escaich ein – mit einem effektvollen Stück, in dem sich die tausendundeine Möglichkeiten des Instruments von Orgelbau Kuhn aus Männedorf schon gut erahnen liessen. Erst recht gilt das für die «Deux Visions de l’Apocalypse» von Lionel Rogg, einer Art aufgezeichneter Improvisation des Westschweizer Organisten und Komponisten, die im Ton Olivier Messiaens anhebt, in der Folge aber wilde, farbenreiche Kreise zieht. Schliesslich das Ricercar a sei aus dem «Musikalischen Opfer» Johann Sebastian Bachs. Sehr plausibel ging Iveta Apkalna das kontrapunktische Wunderwerk aus dem Geist des späteren 19. Jahrhunderts an, vermied sie den auf der Orgel in der Tonhalle gewiss auch möglichen Barockklang und formte stattdessen eine mächtige Steigerung hin zu einem Klang, der seine Verankerung im Wesen der Orchesterorgel behielt.

Dann aber die Kulmination: die Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» von Franz Liszt – einem Sturm, der einen während mehr als dreissig Minuten durchschüttelt. Heute wird das ins Riesenhafte auswachsende Stück, wenn überhaupt, dann eher auf dem Klavier als auf der Orgel gespielt (zum Beispiel von Igor Levit, der das Werk 2018 beim Lucerne Festival zu hinreissender Aufführung brachte). Erdacht und niedergeschrieben ist «Ad nos» jedoch ganz klar als eine auf der Spieltechnik der Klaviervirtuosen aus dem 19. Jahrhundert basierenden, klanglich jedoch genuin für die spätromantische Orgel konzipierte Schöpfung – Iveta Apkalna hat das in eindrucksvollster Weise erleben lassen. Untadelig ihre Fingertechnik wie ihr Pedalspiel, staunenswert ihre Körperbeherrschung im Umgang mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten der Registersteuerung, die das grosse Zürcher Instrument bietet – und dass all das nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen war, gehörte mit zu den Besonderheiten des Rezitals. Bezaubernd das flüsterleise Summen einer Flöte oder das kehlige Singen eines Zungenregisters, umwerfend aber vor allem die geschmeidigen, farblich vielfach abgestuften Steigerungen bis hin zu einem Fortissimo, das jenem eines Orchesters in keiner Weise nachsteht. Da blieb kein Wunsch offen.

Fazit, wieder einmal festgehalten: Beim Tonhalle-Orchester Zürich gibt es das Tonhalle-Orchester Zürich, aber eben nicht nur.

Kunst und Gunst des Alters

Bruckners Fünfte mit Herbert Blomstedt

 

Von Peter Hagmann

 

Alles hatte seine Stimmigkeit an diesem Abend des Tonhalle-Orchesters Zürich – fast alles, doch davon später. Der fünften Sinfonie Anton Bruckners mit ihren knapp eineinhalb Stunden Spieldauer etwas voranzustellen, hat seinen Sinn. Erst recht, wenn es von Johann Sebastian Bach stammt, dem Meister jener Kunst des Kontrapunkts, der sich Bruckner nicht nur im Finale seiner Fünften, dort aber mit besonderer Inständigkeit hingegeben hat. Wenn aber das Vorangestellte von Bach kommt und für Orgel geschrieben ist, dann ist ein Optimum erreicht. So war es beim Auftritt des Tonhalle-Orchesters im Rahmen der erstmals durchgeführten Internationalen Orgeltage. Zu Beginn des Abends spielte der Organist Christian Schmitt, der zusammen mit Peter Solomon am Bau der neuen Orgel in der Tonhalle wesentlich beteiligt war und die erste Saison des Orchesters im neu erstrahlenden Saal als Fokus-Künstler begleitet, Bachs Fantasie mit Fuge in g-moll (BWV 542) – und führte vor Ohren, dass das Instrument der Firma Kuhn aus Männedorf nicht nur eine präzis auf die Bedürfnisse der Chöre und Orchester abgestimmte Konzertsaalorgel ist, dass auf ihr vielmehr auch Werke der Barockzeit adäquat dargeboten werden können. Mit einem Ausschnitt aus dem «Livre du Saint-Sacrement» des grossen Olivier Messiaen, eines wie Bruckner tiefgläubigen Katholiken und Organisten, konnte er das Publikum ausserdem in die Welt der französischen Klanglichkeit entführen.

Im hellsten Licht, wo es ihm wohl gar nicht so behagt, stand aber Herbert Blomstedt, der amerikanische Dirigent schwedischer Herkunft, der in Kürze seinen 95. Geburtstag begehen kann – und der nach den drei Zürcher Konzerten vier weitere Auftritte in Hamburg, Bremen und Berlin im Kalender stehen hat. Raschen Schrittes, ohne jede Gehhilfe, absolvierte er seine Auftritte, aufrecht, mit etwas hochgezogener linker Schulter, aber das tat er schon in jüngeren Jahren, stand er vor dem Orchester, das ganze Werk hindurch ohne Sitzpause – es ist zum Staunen. Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Nikotin sowie auf jede Form von Liften und Rolltreppen, das soll seinen eigenen Worten gemäss das Rezept sein. Vollends unbegreiflich ist aber, wie er in diesem methusalemischen Alter in der Lage ist, ein derart ausgreifendes, derart komplexes Werk wie Bruckners Fünfte so souverän zu meistern, wie es ihm am dritten seiner drei jüngsten Zürcher Abende gelang. Es ist natürlich Frucht ausgeprägter Begabung und lebenslanger Erfahrung, vielleicht aber auch, um es mit Bruckner zu sagen, eine Gnade Gottes. Das Tonhalle-Orchester Zürich fing jedenfalls sogleich Feuer und blieb dem Dirigenten in letzter Aufmerksamkeit zugewandt. Von strahlender Kraft das Tutti, pointiert und bestens integriert die Farben der Bläser, weshalb der Tonsatz jederzeit durchhörbar blieb.

Von Feuer zu sprechen ist aber vielleicht doch verkehrt; das ist es gerade nicht, was Blomstedt im Sinn hat. Er pflegt vielmehr einen sachlichen, strukturbezogenen Bruckner. Davon zeugt der helle, etwas strenge Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt – das reine Gegenteil zu der runden, emotional durchdrungenen Wärme, die Bernard Haitinks, auch Claudio Abbados Sache war. Für einen modernen Zugang zu Bruckner stehen aber auch die vergleichsweise flüssigen Tempi und der sparsame Einsatz der agogischen Unterstreichung; sie gehören zu den Kernmerkmalen von Blomstedts Auffassung. Am deutlichsten trat es im Finale zutage, wo sich der Dirigent mit geradezu neckischer Verspieltheit den Vertracktheiten hingab, wie sie die Kunst der Fuge bietet. Mit den kleinen Handzeichen, die er, ohne Taktstock schlagend, seit langem pflegt, wies er auf die jeweils erklingenden Hauptsachen hin, auf die Vergrösserungen, auf die Umkehrungen – und es war zu hören, was er sehen liess. Doch schon im Eröffnungssatz war deutlich geworden, aus welcher Übersicht heraus er die Bögen zu spannen und dennoch das Ganze zusammenzuhalten weiss. Sehr getragen, doch ohne jeden Bombast das Adagio des zweiten Satzes, entspannt, ja keck das Scherzo mit seinem Trio. Welche Erleuchtung.

Alles schön, alles gut, wäre nicht der Beginn vor dem Beginn gewesen. Der herrliche Frühsommerabend lud dazu ein, die neue Terrasse vor dem Foyer, die bei der Eröffnung der Tonhalle mit Nachdruck als deren neues Highlight bezeichnet wurde, zu erkunden und einen Blick über den See in die Glarner Alpen zu werfen. Allein, justament dort, wo die Aussicht am schönsten wird, stand wieder einer jener schwarzgewandten Aufseher, der die herandrängenden Konzertbesucher in barschem Ton darauf hinwies, dass hier weiterzugehen untersagt sei; wer es dennoch wage, werde nicht mehr in den Konzertsaal kommen. Wir salutierten und wandten uns um zurück ins Foyer, wo die unsäglichen Kordeln, die das Publikum in Zugelassene und Ausgeschlossene teilten, verschwunden waren, aber deshalb nicht viel bessere Atmosphäre herrschte. Was waren das für Zeiten im Maag-Areal, ohne Aussicht zwar, dafür aber mit Gastfreundlichkeit und ausgesuchter Höflichkeit. Vielleicht wäre es doch endlich an der Zeit, das Kongresshaus von Aufgaben zu entbinden, die es offenkundig nicht zu bewältigen in der Lage ist.

PS., erfreulicher: Am kommenden Sonntag, 12. Juni 2022, um 11.15 kommt die neue Orgel in der Grossen Tonhalle nochmals zu Wort. Anlässlich einer Matinee im Rahmen der Reihe «Literatur und Musik» spielt Christian Schmitt zusammen mit Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters Zürich Werke von Johann Sebastian Bach, Frank Martin und Petr Eben. Dazwischen liest Stefan Kurt Gedichte von Rainer Maria Rilke.

Farbenfroh und beweglich

Die neue Orgel in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

© Fotograf Michael Reinhard, Zürich

So klingt sie also, die neue Orgel in der Tonhalle Zürich. Mit einer Aufführung der Sinfonie Nr. 3, der sogenannten Orgelsinfonie, von Camille Saint-Saëns und einer veritablen Orgelnacht mit nicht weniger als acht Rezitals wurde die neue Königin gekrönt. Ein grossartiges Instrument. In ihrer äusseren Erscheinung passt die von der Firma Kuhn in Männedorf erbaute Orgel optimal in die nach vierjähriger Renovation wiedereröffnete Grosse Tonhalle (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 22.09.21); der von Christoph Jedele entworfene Prospekt schliesst an die Vorbauten an und nimmt die wiederhergestellten Form- und Farbgebungen des Saals auf. Für das Klangliche gilt das erst recht, steht hier doch ein Instrument, wie es in seiner ästhetischen Grundausrichtung grosso modo 1895, im Eröffnungsjahr der Tonhalle am See, hätte entstehen können.

Das kann als Zeichen nicht hoch genug gewertet werden. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galten die Prinzipien der sogenannten Orgelbewegung, die sich, grob gesagt, zum Ziel gesetzt hatte, die Orgel im Geist und im Klangbild des 18. Jahrhunderts wiederaufleben zu lassen – will sagen: die Orgel nicht, wie es im späten 19. Jahrhundert üblich war, als eine Imitation des Orchesters zu sehen, sondern ihr ein eigenständiges Gesicht, eben jenes des Barockzeitalters, zurückzugeben. Manche spätromantische Orgel, gerade auch solche aus dem Hause Kuhn, ist darum geringgeschätzt, wenn nicht sogar abgebrochen worden. Und mancher Organist, etwa Rudolf Meyer, der an der Stadtkirche Winterthur wirkte, hat dagegen opponiert – teilweise mit Erfolg, obwohl auf einsamem Posten stehend. Heute ist die Orgelbewegung – die ihrerseits nicht unterschätzt werden sollte – überwunden, wird das Orgelideal des späteren 19. Jahrhunderts wieder wertgeschätzt; im Neubau der Luzerner Musikhochschule zum Beispiel steht als Lern- und Übungsinstrument auch eine kleine Orgel in spätromantischem Geist. Das ist gut so, denn nur auf Instrumenten dieser Art lässt sich das wertvolle Repertoire von Komponisten wie Franz Liszt oder Max Reger, von César Franck oder Charles-Marie Widor adäquat wiedergeben.

Davon abgesehen wurden mit dem Neubau der Orgel in der Tonhalle Zürich einige Nachteile behoben, die bisher im Raum standen. Die erste Orgel – sie kam 1872 in die alte Tonhalle auf dem Sechseläutenplatz, wurde 1895 in die neue Tonhalle am See transferiert und dort 1927 einem erweiternden Umbau unterzogen – stammte aus dem Hause Kuhn und tat lange Zeit gute Dienste. 1988 wurde in der Tonhalle ein neues Instrument von Kleuker und Steinmeyer eingeweiht. Das wenig geliebte Geschenk eines wenig geliebten Gönners erwies sich bald als fehl am Platz. Von Jean Guillou entworfen, spiegelte die Disposition den Geschmack eines solistisch tätigen Virtuosen, während für die Aufgaben, die eine Orgel im Konzertsaal auch zu erfüllen hat, nämlich für die Begleitung von Vokalsolisten und Chören, die nötigen Klangfarben fehlten. Nicht zuletzt war das Instrument in seiner Dimension zu gross geraten; es nahm Raum auf dem Orchesterpodium für sich in Anspruch und schuf damit auch akustische Probleme.

All das ist mit dem Neubau der Orgel gelöst. Einem Neubau, der auf die Initiative von Peter Solomon zurückgeht, dem langjährigen Tastenspieler des Tonhalle-Orchesters Zürich und Professor für Orchesterklavier, Kammermusik und Korrepetition an der Zürcher Hochschule der Künste. Die Tonhalle-Gesellschaft hatte zunächst abwartend auf die Initiative reagiert, doch als mit der Zürcher Baugarten-Stiftung ein Sponsor gefunden war, der die Hauptlast der Finanzierung übernahm, gab die Trägerschaft des Tonhalle-Orchesters grünes Licht. Eine Expertengruppe ging ans Werk; zu ihr gehörten Solomon, der Wiener Organist Martin Haselböck und Michael Schmitt, Hausorganist der Bamberger Symphoniker und vielgesuchter Solist. Schmitt entwarf eine erste Disposition, die dann in zahlreichen Schritten verfeinert wurde. Was des Organisten Herz begehrt, was die von ihm gespielten oder begleiteten Werke verlangen – es lässt sich mehr als befriedigend lösen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 20.05.20). Und das mit einem Instrument, das etwas kleiner ist als die Vorgängerorgel, also Raum freigibt auf dem Orchesterpodium und sogar die Orgelnische als solche wieder wahrnehmbar macht.

Und vor allem: das grandios klingt – was auch auf das Wirken des Intonateurs Gunter Böhme zurückgeht. Eine einzige Einschränkung gibt es. Sie betrifft das Generaltutti, das doch etwas brüllend klingt – ähnlich wie das Generaltutti der Cavaillé-Coll-Orgel in der Pariser Notre-Dame. Gute Gesellschaft ist das darum, weil auch das Fortissimo der Wiener Philharmoniker, anders als jenes der Berliner Philharmoniker, zur Schärfe neigen kann und weil auch Les Siècles, das von François-Xavier Roth geleitete Originalklang-Orchester, damit umzugehen hat. Mag sein, dass die Masse sehr charakteristischer Einzelfarben nicht von vornherein ein gerundetes Ganzes ergibt. Und an sehr charakteristischen Einzelfarben fehlt es der neuen Tonhalle-Orgel nun wirklich nicht, das haben die Konzerte des vergangenen Wochenendes in aller Eindrücklichkeit hörbar gemacht. Es gibt grundtönige Stimmen in reicher Farbigkeit und unterschiedlichsten Stärkegraden, aber auch tragende Bässe, die den Saal zart zum Vibrieren bringen. Es gibt Zungenregister in ausgeprägter Zeichnung, es gibt Aliquoten, also Register mit gemischten Teiltönen, es gibt die Klarinette, die dem Klang des Harmoniums ähnelt, und das runde Waldhorn, ganz zu schweigen von der neu erfundenen Nasenflöte und den reizenden Crotales, den wie ein Zimbelstern klingenden Klangplatten. Das alles gegliedert in ein Hauptwerk, ein deutsches Orchesterwerk, ein französisches Récit, beide in Schwellkästen, sowie natürlich ein auf festem Fundament stehendes Pedalwerk. Ach, ist das herrlich. Wer es genauer wissen will: https://www.orgelbau.ch/de/orgel-details/114680.html.

Nun also die Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns. Gewaltig der vollgriffige C-Dur-Akkord der Orgel, der das Maestoso einleitet, den zweiten Teil des zweiten Satzes. Gewaltig, aber in stilgerechter Registrierung mit mächtigem Pedal, starken Grundtönen, bestimmenden Zungenregistern, nur eben, wenn ich richtig gehört habe, ohne Mixturen. Dasselbe gilt angewandt für den lange liegenden Schlussakkord ebenfalls in C-Dur, zu dem die Pauke das majestätische, hier aber nicht pathetisch aufgeladene Ritardando durchführt. Sehr markant dagegen kurz zuvor jener Abstieg im Pedal, der in vielen Wiedergaben zu schwach gerät. Das war alles sehr überzeugend im Geist der spätromantischen Orgelpraxis gehalten. Nicht weniger packend gerieten jedoch die drei vorangehenden Teile der Sinfonie, in denen das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung seines Musikdirektors Paavo Järvi und Christian Schmitt an der Orgel die Farbenpracht und die Emotionalität des klanglich höchst abwechslungsreichen Werks in aller Pracht zur Geltung brachten. So war denn eins zu eins zu erleben, was das neue Instrument an Sinnlichkeit und, vor allem, an Beweglichkeit einzubringen vermag: die Orgel als das andere Orchester.

Oder: die Orgel als das weit in den Raum hinein vergrösserte Klavier. In der Orgelnacht war es zu erfahren, als Christan Schmitt in wahrhaft magistraler Darstellung Franz Listzs Fantasie und Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» aus Giacomo Meyerbeers Oper «Le Prophète» zum Klingen brachte. Das halbstündige Stück, in dem sich Horribilitäten sondergleichen auftürmen, existiert auch in einer von Ferruccio Busoni erstellten Fassung für Klavier; Igor Levit spielte sie im Herbst 2018 beim Lucerne Festival. Tatsächlich handelt es sich bei «Ad nos» um ein Klavierstück für die Orgel – allerdings für eine Orgel, die der Phantasie des Komponisten gerecht zu werden vermag. Die neue Zürcher Kuhn-Orgel vermag es in denkbar bester Weise. Nicht nur bietet die Disposition ausreichend farbliche und dynamische Möglichkeiten, mit seinem Spektrum an digitalen Steuerungen stellt das Instrument enorme technische Möglichkeiten zur Verfügung. Komponisten von heute wissen das zu nutzen. In seinem Präludium «Vision in Flames» bietet der Japaner Akiro Nishimura ein Feuerwerk an Effekten, dass man in Ah und Oh ausbricht – auch weil Marco Amherd, der 1988 geborene Musiker und Wirtschaftswissenschafter, der zurzeit das Davos Festival leitet, die Partitur so blendend umsetzte. Daneben gab es erheiterndes wie die Paganini-Variationen für Orgelpedal, die von der jungen deutschen Organistin Anna-Victoria Baltrusch nicht weniger brillant realisiert wurden. Oder Prélude, fugue et variations von César Franck nicht für Klavier, sondern in einer vom Komponisten stammenden Einrichtung für Orgel und Konzertflügel – mit Christian Schmitt und Peter Solomon.

Die Orgel ist nicht das, wofür wir sie halten. Sie ist weit mehr. In der Tonhalle Zürich kann es erkundet werden. Weiter geht es im Juni kommenden Jahres mit einem Internationalen Orgelfestival.

Die Orgel in der Tonhalle Zürich. Herausgegeben von Lion Galluser und Michael Meyer. Tonhalle-Gesellschaft Zürich und Orgelbau Kuhn Männedorf, Zürich 2021. 58 S., zahlreiche Abbildungen.

© Fotograf Michael Reinhard, Zürich

Zuzana Ferjenčíková, Aloys Mooser und Franz Liszt in Fribourg

Bös dreingeschaut habe der Orgelbauer, als Franz Liszt in Begleitung zweier Damen das neue Instrument Aloys Moosers in der Kathedrale von Fribourg habe ausprobieren wollen. Ja, Liszt war auch ein fantastischer Organist – wie Zuzana Ferjenčíková hören lässt.

 

Von Peter Hagmann

 

Man kann sich den Auftritt nicht lebhaft genug vorstellen. Am 15. September 1836 betrat Franz Liszt, 25 Jahre alt, ein Model von Mann und ein schon sehr berühmter Zauberer an den Klaviertasten, das Münster im schweizerischen Freiburg, um die dort zwei Jahre zuvor fertiggestellte Orgel von Aloys Mooser kennenzulernen. Das Instrument, eine neue Inkarnation deutsch-romantischer Orgelbaukunst, hatte Aufsehen erregt; Mendelssohn sollte es ebenfalls erkunden, genau gleich wie später Bruckner. Aber Liszt, der Starpianist, der die Frauen taumeln machte? Gewiss, als Organist war er damals noch nicht wirklich bekannt, als Orgelkomponist erst recht nicht. Aber das majestätische Instrument hatte es ihm längst angetan, und dass er dem Katholischen und den Düften des Weihrauchs nicht abgeneigt war, sollte sich im Verlauf seines späteren Lebens noch vielfach zeigen.

Natürlich hatte Franz Liszt, als er die Empore von Saint-Nicolas erklommen hatte, zwei Damen an seiner Seite: die Gräfin Marie d’Agoult, die ihm eben erst seine Tochter Blandine zur Welt gebracht hatte, und George Sand, eine enge Freundin des Paares. Die Schriftstellerin, die ihren späteren Gefährten Frédéric Chopin kurz nach der Freiburger Episode zusammen mit Liszt und seiner Marie bei einem Empfang in Paris erstmals zu Gesicht bekommen sollte, war es auch, die von der finsteren Miene des Orgelbauers bei der Begrüssung der Gäste schrieb. Sie dürfte sich bald erhellt haben, denn nach dem Freiburger Organisten Jacques Vogt setzte sich Liszt selbst an den Spieltisch, um eine gross angelegte Fantasie über das «Dies irae» zu extemporieren. Ob es tatsächlich, wie berichtet wird, das «Dies irae» aus dem Requiem Mozarts war, ist umstritten.

Über all das berichtet die junge, sehr ambitionierte, hochbegabte Organistin Zuzana Ferjenčíková aus der Slowakei. In Bratislava hat sie die Grundlagen des Orgelspiels erworben, beim Wiener Domorganisten Peter Planyavsky hat sie später weitergelernt, und schliesslich hat sie eng mit Jean Guillou an Saint-Eustache in Paris zusammengearbeitet. Zur Liszt-Spezialistin wurde sie in den sieben Jahren als Titularorganistin des Schottenstifts an der Wiener Freyung. Dort hat sie 2011, zweihundert Jahre nach der Geburt des Komponisten, die Orgelwerke Liszts in sechs Konzerten zur Aufführung gebracht. Jetzt ist sie zu einer Gesamtaufnahme dieses Korpus aufgebrochen – und dass sie den ersten Schritt an der Mooser-Orgel in Fribourg gemacht hat, hat seine eigene Richtigkeit.

Denn: was für ein Instrument. Betörend schön – und exzellent aufgenommen durch den Tonmeister Werner Dabringhaus von MDG, dem speziellen, für seine natürliche Akustik bekannten Label aus Deutschland. Anders als die historisch etwas später liegenden Instrumente der französischen Romantik, nämlich jene von Aristide Cavaillé-Coll, geht die Orgel Aloys Moosers fast ausschliesslich von Grundstimmen aus; in der vier Manuale und Pedal umfassenden Disposition dominieren die Achtfuss- und die eine Oktave höher als notiert klingenden Vierfuss-Register, während die Aliquoten, die für Glanz sorgen, weit im Hintergrund stehen. Runde Wärme bringt das auch schon bald zweihundert Jahre alte, ausgezeichnet erhaltene Instrument ein – mit einem unerhört vielgestaltigen Spektrum an Streicherfarben und einer ganz eigenen Fülle auf der Grundlage eines 32-Fuss-Registers im Pedal, also einer zwei Oktaven tiefer als notiert klingenden Basis. Blendend, wie Zuzana Ferjenčíková die Reize des Instruments zu nutzen versteht.

Und stupend die manuelle Fertigkeit wie die Pedaltechnik der Organistin. Ohne je an Grenzen zu stossen, macht sie hörbar, wie Liszt durch die Integration pianistischer Mittel das Orgelspiel revolutioniert hat. Wer mit Präludium und Fuge über das Thema B-A-C-H einsteigt, gerät nach einer guten Minute allerdings arg ins Stolpern. Denn dort, wo das berühmte Viertonmotiv vom Pedal zum zweiten Mal eingeführt wird, erklingt statt des erwarteten Halbtons doch tatsächlich ein veritabler Ganztonschritt. Ein Fehler? Eine Peinlichkeit? Alles andere, genau so steht es im Notentext – in der nie gespielten, sehr rhapsodischen, sehr pianistischen Erstfassung des Werks von 1855. Spektakulärer lässt sich die Eröffnung des grossen Projekts von Zuzana Ferjenčíková nicht denken; die üblicherweise vorgetragene Zweitfassung des Stücks, sie stammt von 1870, soll in eine der folgenden Ausgaben integriert werden.

Hier aber, in Vol. 1, folgen auf B-A-C-H Transkriptionen von Werken Johann Sebastian Bachs, die viel zum romantischen Bach-Bild und zur tiefen Verehrung Liszts für diesen Komponisten zu erkennen geben. Ausserdem finden sich kirchliche oder kirchlich gemeinte Stücke wie ein «Regina coeli» von Orlando di Lasso in einer Orgelfassung Liszt – und dies gleich zwei Mal, denn Zuzana Ferjenčíková spielt das Stück nicht nur an der Mooser-Orgel, sondern auch auf der Chororgel von Sebald Manderscheidt von 1657.

Den krönenden Abschluss bieten Einleitung, Fuge und Magnificat aus der Symphonie zu Dantes «Divina Commedia». Sperrig, ja spröd klingt diese Musik bisweilen. Auf dem Klavier sind die langsamen, weit gespannten einstimmigen Verläufe in den späteren Werken Liszts fast nicht zu bewältigen. Hier, auf der Orgel, auf dem herrlichen Freiburger Instrument und unter den Händen von Zuzana Ferjenčíková, der ebenso phantasievoll wie strukturbezogen registrierenden Interpretin, offenbart sich die radikale Modernität von Liszts Denken: in Form von Klangfarbenmelodien avant la lettre. Nicht zuletzt macht die sinnliche, geradezu trunkene Koloristik bewusst, dass die künstliche Realität der Aufnahme das alles aus einer Position heraus erfahren lässt, die in der Wirklichkeit des Konzerts niemand einnehmen könnte. Denn hier ergibt sich ein Hörerlebnis, das detaillierte Nähe und die Weite des Raumklangs kongenial miteinander verbindet.

Franz Liszt: Das Orgelwerk, Vol. 1. Zuzana Ferjenčíková (Orgel, Saint-Nicolas de Fribourg). MDG 9062140-6 (CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020).

Eine Sternstunde für die Orgel im Konzertsaal

Von Peter Hagmann

 

Goldene Zeiten waren das – als Eduard Müller, der legendäre Hauptlehrer für Orgel an der Basler Musikhochschule, die damals noch «Konservatorium» hiess, im Münster zu Basel einen seiner Orgelabende gab. Dicht gedrängt sassen die Menschen, auch auf den Emporen; viele Junge hatten Stehplätze und lehnten sich rundherum an die Säulen. Die zahlreichen Schüler Müllers, die in Basel wirkten, nahmen die Tradition auf. An den verschiedenen Kirchen mit ihren oft wertvollen Instrumenten gab es Reihen von Orgelkonzerten, die spezifische Profile aufwiesen. Dazu kamen grosse Zyklen mit den Orgelwerken Johann Sebastian Bachs und Max Regers. Nach und nach schwand jedoch das Publikum, der Faden der Tradition wurde dünner, zum Riss kam es aber nicht. 2003 gab es nochmals Bewegung, als das Basler Münster eine neue Orgel erhielt, ein Instrument aus dem Glarner Hause Mathis.

Inzwischen scheinen Orgelmusik und Orgelspiel in Basel in einer besonderen Weise neues Leben zu erhalten. Grund dafür ist der von dem Büro Herzog & de Meuron konzipierte und durchgeführte Umbau des Musiksaals im Stadtcasino Basel (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.09.20). Im Rahmen dieser spektakulären Aktion erhielt der Saal eine neue Orgel – wie es auch in der Tonhalle Zürich geschehen wird. Ursprünglich wies der 1876 eröffnete Musiksaal des Architekten Johann Jakob Stehlin kein solches Instrument auf, erst bei seiner Neueinrichtung im Jahre 1905 erhielt der Saal eine Orgel. Bis 1945 wurde sie gespielt, dann verfiel sie zusehends. Nach Jahrzehnten des Klagens über den bedauerlichen Zustand des Instruments und die damit verbundenen künstlerischen Einschränkungen erhielt der Musiksaal 1971 eine neue Orgel; bezahlt wurde das von der Firma Orgelbau Genf erstellte Instrument von dem Mäzen und Dirigenten Paul Sacher.

Ursprünglich war im Sanierungsprojekt nur eine Revision dieses Instruments vorgesehen. Auf die Initiative einer privaten Gruppierung hin beschloss die Basler Casino-Gesellschaft als Bauherrin jedoch, den Raum mit einer neuen Orgel zu versehen. Die Mittel dafür, immerhin 2,5 Millionen Franken, wurden von privater Seite zusammengetragen. Jetzt steht sie, jetzt klingt sie, die neue Orgel aus dem Hause Metzler in Dietikon bei Zürich. 56 Register auf drei Manualen und Pedal sind im ursprünglichen, restaurierten Gehäuse von 1905 untergebracht – eine Forderung des Denkmalschutzes. Für die besonders grossen Pfeifen der tiefen Bassregister wurde zusätzlicher, nicht sichtbarer Raum hinter dem Gehäuse geschaffen.

Bedient wird das Instrument mit elektrischer Traktur an einem mobilen Spieltisch auf dem Orchesterpodium; versehen mit den neusten digitalen Segnungen, lässt er zum Beispiel die Registrierungen für einen ganzen Abend, nein: für mehrere ganze Abende voreinstellen, abspeichern und per Knopfdruck abrufen. Zusätzlich zum mobilen gibt es einen seitlich fest angebauten, mit mechanischer Traktur arbeitenden Spieltisch, der zudem auf einem vierten Manual das von Metzler propagierte Prinzip der «winddynamischen Orgel» verwirklichen lässt. Hierbei können alle Parameter, die das Entstehen des Orgeltons beeinflussen, in letzter Flexibilität beeinflusst werden. Darauf ist die Firma Metzler ebenso stolz wie auf die Tatsache, dass für den Bau des Instruments, insbesondere für die verwendeten Materialien, höchste ökologische und ethische Anforderungen galten.

Die Disposition vereinigt die klassische, an barocken Idealen orientierte Orgel des 20. Jahrhunderts, wie sie das auf 16 Fuss basierende Hauptwerk zeigt, mit Elementen der französischen Spätromantik im Geiste Aristide Cavaillé-Colls, repräsentiert durch das ebenfalls von 16 Fuss ausgehende Récit, und mit Farben der englischen Orgelkultur, dies auf einem Schwellwerk mit 8-Fuss-Grundlage. Das Pedal wiederum geht von zwei 32-Fuss-Registern aus und dient auf diesem gewaltigen Fundament allen drei Stilrichtungen. Klug durchdacht und schön ausgeformt ist das – und so war die Spannung beträchtlich, als das neue Instrument zum Ende eines zweiwöchigen Orgelfestivals seinen Auftritt an der Seite des Kammerorchesters Basel hatte. Und das im Rahmen eines Konzerts, das von der Länge her der üblichen Dimension entsprach, auch eine Pause enthielt, aber mit Maske und unter Einhaltung von Abstandsregeln zu besuchen war.

Das Programm galt der französischen Klanglichkeit. Es hob mit dem Zyklus «Ma mère l’Oye» von Maurice Ravel an und führte zu «Cyprès et lauriers», einem vollkommen unbekannten Stück für Orgel und grosses Orchester, mit dem Camille Saint-Saëns das Ende des Ersten Weltkriegs besang – es wurde in einer von Eberhard Klotz eingerichteten Fassung für Orgel und Kammerorchester geboten. Als Martin Sander als Solist die neue Orgel aufrauschen liess, war die klangliche Signatur des Hauses Metzler – einer Firma, die sich um die Wiederbelebung der Barockorgel besonders verdient gemacht hat – auf Anhieb zu erkennen. Nur hatte, was da in den Raum trat, mit den Klangidealen von Saint-Saëns, der während zweier Jahrzehnte an der Cavaillé-Coll Orgel der Pariser Madeleine wirkte, nicht sehr viel zu tun. Zu direkt, ja etwas trocken klang es, im majestätischen Tutti auch sehr kompakt, ausserdem geprägt durch kräftig zeichnende Mixturen. Die exzellente Akustik im Musiksaal des Basler Stadtcasinos trug es mit, brachte es zur Geltung – aber am Ende blieb doch ein Fragezeichen.

Nicht für lange freilich, denn nach Albert Roussels Concert pour petit orchestre und der «Pastorale d’été» von Arthur Honegger nahm Olivier Latry am Spieltisch Platz. Titulaire der grossen Orgel in Notre-Dame de Paris – das Instrument hat die Feuersbrunst des letzten Jahres fast unbeschadet überstanden, kann derzeit aber nicht benützt werden –, kennt sich Latry in den Gefilden der französischen Klanglichkeit wie kein Zweiter aus. Im frech-fröhlichen Orgelkonzert von Francis Poulenc liess er erkennen, was die Basler Metzler-Orgel auch kann. Es ist nicht wenig. Das Summen gehört dazu, das Näseln, das Schweben, aber auch das stolz, füllige, grundtönig eingekleidete Fortissimo. In einer ganz selbstverständlich wirkenden Virtuosität (und dank der digitalen Steuerungsmöglichkeiten) brachte er das Instrument zum Atmen, baute er geschmeidige Steigerungen auf und liess sie wieder in sich zusammenfallen, erzeugte er schimmernde Farbwirkungen. Ein Vergnügen erster Güte war das – aber es kam noch besser, in der Zugabe nämlich, in der Toccata aus Léon Boëllmanns «Suite gothique», einem Renner aus der Literatur der französischen Spätromantik, den Latry mit einem Drive sondergleichen durchzog. Die neue Orgel im Basler Musiksaal ist eine grossartige Maschine. Am Ende kommt es aber doch auf den Menschen an, der sie bedient.

Ein fantastischer Auftritt des so sehr mit der Kirche verbundenen Instruments im weltlichen Ambiente des Konzertsaals. Allein, das Kammerorchester Basel spielte dabei durchaus prominent mit, besonders fulminant in Poulencs g-Moll-Konzert. Die drei reinen Orchesterstücke liessen ein wenig die Fülle des gross besetzten Streicherapparats vermissen, lebten dafür, ein Verdienst des Dirigenten Pierre Bleuse, von klarer Zeichnung und subtiler Koloristik. Auffällig dabei war, dass der lange Nachhall, der bei dem wenige Wochen zurückliegenden Konzert des Sinfonieorchesters Basel und seines Chefdirigenten Ivor Bolton so stark in Erscheinung getreten war, in keiner Weise auffiel. Er war ganz einfach: genau richtig.

Hannes Meyer – der Organist, der ins Freie trat

 

Von Peter Hagmann

 

Unglücklich geht die musikalische Saison 2019/20 zu Ende; in voller Fahrt wurde sie zu Fall gebracht, gestoppt durch ein Virus und die mit seiner Verbreitung verbundenen Folgen. Ab Mitte März herrschte behördlich verfügtes Schweigen in Oper und Konzert, weshalb es «Mittwochs um zwölf» nichts mehr zu berichten gab. So ist der Blog denn auf die Beobachtung des (inzwischen auch im Streaming abgebildeten) CD-Marktes ausgewichen – wo es immerhin manch Bemerkenswertes zu entdecken gab. Das Beste folgt aber hier und jetzt, als eine kleine Überraschung der anderen und vielleicht erheiternden Art.

Der Zufall spielte mir dieser Tage eine vor mehr als vierzig Jahren entstandene Langspielplatte auf den Tisch – nein, auf den Teller, denn tatsächlich hatte der Plattenspieler seinen Geist nicht aufgegeben. «SpielOrgelSpiel» nennt sich die von dem Schweizer Label Claves unter der Verkaufsnummer P 702 aufgelegte Platte. Im Antiquariat mag sie noch zu finden sein, im Netz ist sie in der originalen Fassung nicht greifbar, ähnliche Versionen gibt es auf den diversen Plattformen aber durchaus. «SpielOrgelSpiel» bietet ein klingendes Porträt des 2013 im Alter von 74 Jahren verstorbenen Organisten Hannes Meyer. Eines Könners erster Güte, aber eines ganz und gar untypischen Vertreters seines Fachs.

Davon spricht schon das erste Stück auf der Langspielplatte von 1977: die von Hannes Meyer eigenhändig komponierte «Schanfigger Bauernhochzeit». Drei Teile folgen einander im Rahmen von knapp fünf Minuten: ein Hochzeitsmarsch, ein Walzer mit Jodel, ein Schottisch. Der Klang ist der authentischer Volksmusik, nur entstammt er der Imagination von Hannes Meyer und entsteigt er den Pfeifen der wunderschönen Orgel in der Kirche Hilterfingen am Thunersee. Wer das Stück gehört hat, ist sogleich guter Dinge. Das liegt an den strahlenden, charakteristischen Farben der Registrierung. Es liegt am Rhythmus, der äusserst lüpfig wirkt, und er tut das, weil er mit allerletzter Präzision realisiert wird. Vor allem aber liegt es an der Artikulation, am bewussten, pointierten Umgang mit der Länge der einzelnen Töne, einem zentralen Ausdrucksmittel des Organisten. Volksmusik erklingt hier, dargeboten jedoch mit allem Raffinement der Kunstmusik.

Hannes Meyer war eine durch und durch ungewöhnliche, unkonventionelle Erscheinung. Ein Genussmensch war er. Bei Speis und Trank ohnehin, erst recht aber beim Orgelspielen. Zu seinem Instrument hatte er nicht nur eine lustvolle, sondern auch eine genuin taktile Beziehung – dies vielleicht darum, weil es mit seinen Augen nicht zum Besten stand und er ohnehin auswendig zu musizieren pflegte. Die Tasten fasste er mit einer eigenartigen Sensibilität an. Und auch wenn bei der Orgel von der Taste bis zu jenem Ventil, das die Luft in die Pfeife strömen lässt, ein komplizierter Weg zurückgelegt wird, ergab sich bei Hannes Meyer der Eindruck, dass ihn mit jedem Ton, der aus dem Instrument hervorklang, eine individuelle, höchstpersönliche Beziehung verband. Eine Achtsamkeit ganz eigener Art war da am Werk.

Die eigene Art – das galt bei Hannes Meyer auch, und vor allem, für das Repertoire, das er als Organist pflegte. Er war ein Virtuose, dem nichts verschlossen blieb, die Triosonaten Johann Sebastian Bachs nicht, die Orgelsinfonien Charles-Marie Widors nicht – mit der Fünften war er 1979 zu einem Rezital in die Tonhalle Zürich gekommen, zu einem Orgelabend mit Frack und dem Spieltisch auf dem Podium wie bei einem Klavierabend. Mit den ästhetischen Zwängen, die nicht zuletzt von der Evangelisch-Reformierten Kirche gelebt wurden, hatte er jedoch nichts am Hut. Nachdem er 1980 bei einer Trauung im Berner Münster auf Wunsch des Brautpaars den «Hochzeitsmarsch» aus Mendelssohns «Sommernachtstraum» und den von den Wiener Neujahrskonzerten her bekannten «Radetzkymarsch» intoniert hatte, bekam er von Heinrich Gurtner, dem an der Trauung als Zuhörer anwesenden Berner Münsterorganisten, geradewegs Hausverbot, was an die Öffentlichkeit getragen wurde und in der Folge zu Auseinandersetzungen in den Medien führte.

Die Orgel sei für alle da, für die Huren wie für die Pfaffen, befand Hannes Meyer. Und umgekehrt: für die Orgel sei alles da, das Präludium mit Fuge wie das Volkslied und der Zapfenstreich. Das hat er absolut wörtlich genommen. Ausgebildet vom Zürcher Grossmünsterorganisten Hans Vollenweider und dem Basler Komponisten Rudolf Moser, war Hannes Meyer ein einziges Mal angestellt: in dem guten Jahrzehnt zwischen 1967 und 1978 als Organist an der reformierten Kirche Arosa. Seither war er freischaffend tätig, und er lebte nicht schlecht davon. Das darum, weil er die eng mit der Kirche verbundene Orgel ihrer Fesseln entledigte und sie zu den Menschen brachte, hauptsächlich zu den orgelfremden unter ihnen. Er gab nicht nur Konzerte und Kurse auf der ganzen Welt, als geborener Ohrenöffner und Lustmacher bot er etwa auch Orgelwochen an, bei denen er ganztags auf der Orgelbank anzutreffen war und dort Jung und Alt hören, spüren und erfahren liess. Sogar die ganz Kleinen durften auf die Bank hüpfen und dem riesigen Instrument einige Töne entlocken.

Geradezu zwingend verband sich dieses Berufsverständnis mit einem ausserordentlich weiten musikalischen Horizont. Auf die «Schanfigger Bauernhochzeit», die seinen Namen weitherum bekannt gemacht hat, folgen auf der Langspielplatte «SpielOrgelSpiel» ein kurzes Stück von Hannes Meyer zu Ehren des Alphorns, in dem das berühmte Alphorn-Fa, vor dem sich auch Johannes Brahms verneigt hat, nicht fehlt, und später der «Cäcilienmarsch» des Einsiedler Benediktiners Anselm Schubiger. Wer sich heute im Internet nach Aufnahmen mit Hannes Meyer umtut, wird leicht fündig. Zum Beispiel kanner sich eine zweite Ausgabe von «SpielOrgelSpiel», aufgenommen in der Kirche von Bäretswil im Zürcher Oberland, zu Gemüte führen. Dort erklingt etwa der fröhliche Monte-Crappa-Marsch, in dem man Hannes Meyers Umgang mit gebundenen und gestossenen Noten besonders gut verfolgen kann. Und die 1997 bei Tudor erschienene CD «Stars and Pipes Forever» enthält als abschliessendes Feuerwerk eine vom Organisten erstellte Einrichtung von Maurice Ravels Orchesterwerk «Boléro», für die mit Dieter Zimmer ein Schlagzeuger mit von der Partie ist. Dieser spektakuläre Track, auf der Orgel des Münsters zu Konstanz gespielt, lebt ganz toll von Rhythmusgefühl und Farbensinn. Das ist es eben, was, unter manch anderem, das Orgelspiel Hannes Meyers auszeichnete.

Eine Orgel der neuen Art für die Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn, so Corona will, im Herbst 2021 das Band durchschnitten und die Tonhalle am See wieder in Betrieb genommen werden kann, wird es in Zürich an Jubel gewiss nicht fehlen. Der Grosse Tonhallesaal wird sich in neuen Farben zeigen, den originalen aus dem Eröffnungsjahr 1885, das Foyer ist zwar das alte, es wird aber eine ausladende Terrasse mit Blick in die Alpen aufweisen, das Orchester ist auch noch dasselbe, doch wird es in der berühmten Akustik wieder richtig aufblühen. Neu ist nicht zuletzt die Orgel – und da scheint sich eine denkbar schöne Überraschung anzubahnen. Das Instrument der Firma Kuhn aus Männedorf, das so gut wie fertiggestellt ist und in der Werkstatt besichtigt werden konnte, verspricht Ausserordentliches.

Gewiss, es sind erst Versprechen. Wie die neue Orgel klingt, weiss noch niemand, darum sind Äusserungen zur Frage, welche Musik sich auf ihr überzeugend wird spielen lassen und welche nicht, Mutmassungen in dünner Luft. Zuerst nämlich muss das rund 25 Tonnen schwere Instrument an seinem provisorischen Standort in der Männedorfer Werkstatt auseinandergenommen, nach Zürich transportiert und an seinem definitiven Platz im Grossen Tonhallesaal wieder zusammengefügt werden. Dort wird dann das von Christoph Jedele entworfene Gehäuse, das sich an der Formensprache des Saals orientiert, in Übereinstimmung mit der Farbgebung im Raum bemalt. Vor allem aber wird es dort intoniert, werden die Klangfarben in ihren Eigenarten definitiv ausgestaltet und zueinander in Balance gebracht. Erst die Intonation – ein Arbeitsgang, der Handwerk und Kunst in besonderem Masse vereint – verleiht dem Instrument das klangliche Gesicht.

Heute jedoch schon möglich ist der Blick auf die Disposition. Die neue Orgel – von den äusseren Dimensionen her etwas kleiner als das Vorgänger-Instrument, was nicht zuletzt Platz auf dem Podium schafft – umfasst 67 Register auf drei Manualen und Pedal. Die einzelnen Pfeifengruppen sind auf fünf unterschiedliche Werke verteilt, auf ein Hauptwerk, ein schwellbares Orchesterwerk im Geist des spätromantischen deutschen Klangs, ein ebenfalls schwellbares Récit nach der Art französischer Instrumente, ein Solowerk für die Klangkronen und natürlich ein Pedalwerk. Die vier von den Manualen aus gespielten Werke basieren auf 16-Fuss-Registern, gehen also von Stimmen aus, die um eine Oktave tiefer klingen als der angespielte Ton, was für üppige Klangwirkungen sorgen dürfte. Das Pedal dagegen verfügt über zwei Register in 32-Fuss-Lage; es bietet somit Töne, die um zwei Oktaven tiefer klingen als die niedergedrückte Taste – an Basswirkung wird es daher nicht fehlen.

Die Disposition ist von einem Dreierteam entworfen und in enger Zusammenarbeit mit der Orgelbaufirma Kuhn entwickelt worden. Christian Schmitt, der Organist der Bamberger Symphoniker, hat seinen Hintergrund als virtuoser Interpret spätromantischer Literatur eingebracht und Martin Haselböck seinen Horizont als Orgelprofessor an der Musikuniversität Wien, während Peter Solomon, bis vor kurzem Pianist, Cembalist und Organist des Tonhalle-Orchesters Zürich und Professor für Orchesterklavier, Kammermusik und Korrepetition an der Zürcher Hochschule der Künste, seine langjährige Erfahrung als Musiker im Zürcher Saal und am Vorgänger-Instrument beisteuern konnte. Bei dieser 1988 eingeweihten Orgel von Kleuker & Steinmeyer war das anders. Damals hat ein Gönner bezahlt und den berühmten Pariser Orgelvirtuosen Jean Guillou für die Disposition beiziehen lassen. Das exzentrische Instrument hat sich rasch als problematisch erwiesen; die Bauarbeiten in der Tonhalle ermöglichten seinen Ersatz. Heute versieht es seinen Dienst in Slowenien.

Was an seine Stelle tritt, mag als «Universalorgel» apostrophiert werden – insofern, als das neue Instrument für die Musik von Johann Sebastian Bach bis zu György Ligeti gleichermassen geeignete Voraussetzungen zu bieten sucht. Tatsächlich fehlt es von der Disposition her an nichts, was es für barocke Orgelmusik braucht – bis hin zu einer Art Zimbelstern. Zugleich aber hält das Angebot an Klangfarben so viele Spezialitäten bereit, dass der Begriff der «Universalorgel» sehr weit gefasst werden muss. Da gibt es erheiternde Extravaganzen wie die vierteltönige Nasenflöte, die als unscheinbares Ornament im Prospekt zu sehen ist, die aus dem Archiv der Firma stammende Physharmonica mit ihren durchschlagenden Zungen oder die Starkregister mit den Namen der Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula.

Wichtiger ist jedoch der Schwerpunkt bei einem Klangideal, wie es im späten 19. Jahrhundert, der Entstehungszeit der Zürcher Tonhalle, entwickelt worden ist. Dieses Klangideal, sei es in der deutschen, sei es in der französischen Ausprägung, lebt von einem reich ausgebauten Angebot an Grundstimmen, an Registern in der 8-Fuss-Lage. Davon enthält die Disposition der neuen Orgel eine bemerkenswerte Auswahl – von Salicional bis zu Unda maris, von voix céleste bis zu voix humaine. Nicht der Terrassendynamik der Barockorgel, sondern vielmehr dem bruchlosen Übergang zwischen den Klangfarben und der geschmeidigen Steigerung der Lautstärke soll damit der Boden bereitet werden – ganz so, wie es von einem Orchester verwirklicht werden kann. Für die Orgel als eine andere Art Orchester haben in Frankreich Komponisten wie César Franck, Charles-Marie Widor oder Louis Vierne, im deutschsprachigen Kulturbereich Franz Liszt und Max Reger geschrieben. Die Orgel als zweites Orchester wird dagegen in Werken wie der Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns oder der achten Sinfonie Gustav Mahlers verlangt. Nicht zuletzt ist ein Instrument solcher Ausprägung aber auch in der Lage, sensibel auf die Erfordernisse in der Begleitung von Chören zu reagieren.

In ihrer Anlage, das ist nicht zu übersehen, repräsentiert die Disposition (wie übrigens auch manche technische Eigenheit) der neuen Zürcher Orgel einen recht eigentlichen Paradigmenwechsel. Sie tut einen Schritt zurück vom Zurück. Die Rückbesinnung auf die Prinzipien des barocken Orgelbaus, die sogenannte «Orgelbewegung» des 20. Jahrhunderts, hat die romantische Orgel nachhaltig in Verruf gebracht; zahlreiche Instrumente dieses Typs sind abgebrochen und durch solche barocker Bauart ersetzt worden. Oftmals mit Gewinn, stets aber auch um den Preis des Verlusts einer Klangkultur, für die es ein immenses Repertoire gibt. Inzwischen ist der missionarische Furor erlahmt, hat die Orgelbewegung an Wirkungsmacht eingebüsst. So wird heute manches Instrument aus dem Geist der Romantik erhalten, gar restauriert; so kann auch eine Orgel entstehen, wie sie vom nächsten Herbst an in der Tonhalle Zürich erklingen wird – und hoffentlich oft genug erklingen wird.

Dass in die Tonhalle eine Orgel aus dem Hause Kuhn kommt, hat übrigens auch seine historische Logik. Es ist gleichsam eine Rückkehr. Die erste Orgel der Tonhalle-Gesellschaft Zürich hat der Firmengründer Johann Nepomuk Kuhn auf das Jahr 1872 hin in das Kornhaus am Bellevue gesetzt. Als 1895 die damals so genannte Neue Tonhalle beim Bürkliplatz eröffnet wurde, war das Instrument dorthin transferiert worden. Zweimal wurde es erweitert, bis es 1988 durch die Orgel von Kleuker & Steinmeyer ersetzt wurde. Inzwischen die alte Orgel aus der Neuen Tonhalle im Zürcher Neumünster, wo sie seit 1995 wieder zu hören ist. Ihre Nachfolgerin in der renovierten Tonhalle am See hat es in sich. Hoffen wir das Beste.