Das Luzerner Sinfonieorchester mit seinem Chefdirigenten Michael Sanderling
Von Peter Hagmann
Die neue Saison, 2023/24, setzt ein mit «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, kurze Zeit später folgt die Sinfonie Nr. 4 von Gustav Mahler; im Frühjahr stehen Ernest Chaussons Sinfonie In B-dur und die Sechste Anton Bruckners an. Dessen vierte Sinfonie steht heute Abend auf dem Programm, dies nach der Schweizer Erstaufführung eines Violinkonzerts des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa, einem Auftrag, der gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern erteilt wurde. Nicht weniger.
Das alles wäre vor einiger Zeit undenkbar gewesen. Das Luzerner Sinfonieorchester, gegründet 1805, galt lange als eine Formation der Kategorie B, die dafür bekannt war, ihre Dienste im Graben des kleinen Luzerner Stadttheaters zu verrichten und daneben Abonnementskonzerte zu geben. Seit der Eröffnung des Kultur- und Kongresszentrums Luzern, des KKL, im August 1998 und vor allem seit dem Amtsantritt von Numa Bischof Ullmann als Intendant sechs Jahre später ist indessen nichts mehr wie ehedem – hat das Luzerner Sinfonieorchester einen überaus eindrucksvollen Weg zurückgelegt und ist mit allem Aplomb aus dem Schatten hinaus ans Licht getreten.
Die Besetzung wurde kräftig vergrössert, und das auf der Basis einer Verbindung zwischen der öffentlichen Hand und einer privaten Stiftung; für ergänzende Mittel sorgt ein weit ausgreifender Freundeskreis. Das Konzertprogramm wurde aufgefrischt und erweitert, was auch darauf zurückgeht, dass sich der Intendant, von Haus aus Cellist, in den musikalischen Gefilden auskennt und zudem über Ideenreichtum und Mut verfügt. Bald mussten jedenfalls die im KKL abgehaltenen Sinfoniekonzerte doppelt geführt werden – und bekanntlich zieht nichts so sehr den Erfolg an wie der Erfolg selbst. Entwickelt und stark ausgebaut wurde auch ein breites Spektrum an Musikvermittlung; im Zentrum stand da ein origineller Musikwagens, mit dem das Orchester unter die Menschen ging, unter die jungen wie die alten. Inklusion ist ein Modewort; hier wird sie gelebt. Inzwischen nimmt das Luzerner Sinfonieorchester eine neue Position in der Schweizer musikalischen Landschaft ein: Das Orchestre de la Suisse Romande war in Luzern zu Gast, während umgekehrt die Luzerner in der Genfer Victoria Hall gastierten. Spitzenorchester unter sich.
Zwei ganz besondere Schritte erfolgten in jüngster Vergangenheit. 2020 wurde das Luzerner Orchesterhaus eröffnet. Zwar definiert sich das Luzerner Sinfonieorchester als Residenzorchester des KKL. Mit dem Neubau auf dem musikalischen Kampus Südpol verfügt es nun aber auch über einen eigenen Sitz, einen von weitem sichtbaren Kubus mit einem grossartigen hölzernen Saal für die Probenarbeit, für Kammerkonzerte und die Musikvermittlung, mit Übungsräumen für die Musikerinnen und Musiker und mit dem Notwendigen für die Administration. Ein Jahr später trat das Luzerner Sinfonieorchester mit einem Festival, einer Insel im Saisonprogramm, an die Öffentlichkeit. «Le Piano Symphonique» nennt es sich, und es versteht sich als Ersatz für die aus unklaren Gründen aufgegebene Klavierwoche des Lucerne Festival. «Le Piano Symphonique» prunkt mit grossen Namen, wartet aber auch mit manch unkonventioneller Programmidee auf.
Die grossen Namen haben durchaus ihren Platz in Luzern, nicht nur während des Festivals. So kommen Martha Argerich, Maria João Pires und Elisabeth Leonskaja fürs sinfonische Klavier nach Luzern – und setzen sich sogar zu zweit an die Tasten. Jean-Yves Thibaudet gibt zusammen mit Martha Argerich die «Petite Suite» für Klavier zu vier Händen von Claude Debussy, worauf sich Kit Armstrong – an der Orgel, notabene – der technisch wie musikalisch höchst anforderungsreichen Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» von Franz Liszt annimmt. Um sich am Tag darauf, nun wieder am Klavier, Liszts «Etudes d’exécution transcendante» zuzuwenden.
Sehr gut nimmt sich auch der Name von Michael Sanderling aus, der dem Luzerner Sinfonieorchester seit der Spielzeit 2021/22 verbunden ist. Erst recht kann sich der Dirigent aber hören lassen. Zum Beispiel auf jener fünf Compact Discs umfassenden Box von Warner Classics, auf der sich, neben dem Klavierquartett Nr. 1 in g-moll op. 25 in der Orchestration Arnold Schönbergs, die vier Sinfonien von Johannes Brahms finden: ein hervorragend gelungener Anschluss an den Faden, den Wolfgang Rihm vor gut zehn Jahren mit «Nähe fern», den nachsinnenden Fantasien zu diesen Sinfonien, ausgelegt hat. Brahms mit Sanderling und den Luzernern – das sorgt für hochstehendes Erleben. Das Orchester bietet einen herrlich austarierten, voluminösen, aber nirgends schweren Ton; er lebt von natürlicher Kantabilität und bewusster Phrasierung. Das erweist schon der Kopfsatz der Ersten, dessen langsame Einleitung alle Grösse zeigt – freilich eine Grösse, die auch strukturell begründet ist, wird das Tempo in der Folge doch streng im Schlag ins Allegro übergeführt.
Exzellent der Streicherkörper mit seinen schlanken Kontrabässen und, zumal im Finale, die Bläser: Flöte und Horn, später Posaune und, für einmal gut vernehmbar, Kontrafagott. Im Kopfsatz der Zweiten spielen die Violinen ihre ganze Zartheit aus, und die Posaunen fügen sich geschmeidig in deren Klang ein. Schade nur, dass die beiden Geigengruppen nebeneinander sitzen und nicht einander gegenüber nach hergebrachter deutscher Art – von Brahms intendierte Echowirkungen kommen in dieser Aufstellung nicht zur Geltung. Packend dagegen, wie sorgfältig in der Durchführung dieses Satzes mit dem Wechsel zwischen Gebundenem und Gestossenem gespielt wird. Und wie zwingend dann der Übergang in die Reprise gelingt.
Besonders plausibel das Finale der Vierten, die grosse Passacaglia über einen achttaktigen, immergleichen Bass, die sich in Aufführungen bisweilen etwas in die Länge ziehen kann. Keine Rede davon in der Luzerner Aufnahme. Würdig, in gemessenem Tempo und rundem Klang (wiederum mit hörbarem Kontrafagott) das von den Bläsern allein vorgetragene Thema. Schon in der ersten Variation fällt auf, wie der Dirigent das von Brahms vorgeschriebene Diminuendo etwas früher einsetzen lässt, um ausreichend Zeit für einen sorgfältigen Abschluss zu finden. Das langsame Tempo erlaubt ihm in der vierten Variation, in der die Streicher die Führung übernehmen, das «largamente» schön aussingen zu lassen und von dort aus dann eine beinah unmerkliche Steigerung auf die Variation sieben hin zu erzielen. Die Aufnahmetechnik trägt mit ihrer Tiefenstaffelung das Ihre dazu bei, dass die Instrumentation (und damit die Schönheit des Orchesterklangs) zu voller Geltung kommt.
Michael Sanderling stellt ohne Zweifel einen bedeutenden Gewinn für das Luzerner Sinfonieorchester dar. Mal sehen, welche Eindrücke nach der Sommerpause die gigantische «Alpensinfonie» interlassen wird.
Johannes Brahms: Die vier Sinfonien, Klavierquartett Nr. 1 in g-moll op. 25 (orchestriert von Arnold Schönberg). Luzerner Sinfonieorchester, Michael Sanderling (Leitung). Warner 5054197482373 (5 CD, Aufnahmen 2022, Produktion 2023).