Mit dem Saxophon im Konzertsaal

Ein Abend des Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Valentine Michaud (rot) und Gabriel Michaud (blau) in Harrison Birtwistles «Panic» / Bild Magali DOugados, Orchestre de la Suisse Romande

So schnell findet sich ein Abonnementskonzert wie dieses nicht wieder. Das Programm: durchkomponiert von A bis Z, und das mit Werken ausschliesslich aus dem 20. Und 21. Jahrhundert. Die Ausführung: erstklassig in jeder Hinsicht, obwohl höchste Anforderungen gestellt waren. Der Saal: so gut wie ausverkauft – und besetzt mit einem altersmässig gut durchmischten Publikum. So ist es eben beim Orchestre de la Suisse Romande und seinem Musikdirektor Jonathan Nott. Und so ist es, wenn in der ehrwürdigen Genfer Victoria Hall eine so unkonventionelle Musikerin wie Valentine Michaud ihren Auftritt hat.

Seit sie 2020 den Credit Suisse Young Artist Award gewonnen hat und im Rahmen dessen als erste Vertreterin ihres Instruments mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen beim Lucerne Festival in Erscheinung getreten ist, steht die 1993 geborene Saxophonistin im Begriff, die Konzertsäle zu erobern. Sie tut es in Zusammenarbeit mit Orchestern oder im Duo mit der Pianistin Akvilé Šileikaité, aber auch mit ihrem Bruder, dem Schlagzeuger Gabriel Michaud. Und nicht nur das. Zusammen mit Emmanuel Michaud, einem weiteren Bruder, hat sie mit Sibja, einem transdisziplinären Kollektiv, eine Initiative gestartet, die neue, auf verschiedenen Ebenen basierende Konzertformate entwickelt. Was das für das Repertoire der Musikerin und ihr Erscheinungsbild bedeutet, veranschaulicht ihre neue CD unter dem Titel «Oiseaux de paradis», die einen Bogen von François Couperin zu John Lennon schlägt.

Bei Jonathan Nott ist Valentine Michaud mit ihrem im Konzertsaal noch nicht wirklich etablierten Instrument und ihrer künstlerischen Neugier auf offene Ohren gestossen. Für ihren ersten grossen Auftritt als Residenzkünstlerin des Orchestre de la Suisse Romande hat der Dirigent ein Programm zusammengestellt, das in der Vielfalt seiner inhaltlichen Bezüge von einzigartiger Attraktion war. Wie der Abend mit den Trois Danses pour orchestre op. 6 von Maurice Duruflé anhob, mischte sich bald, aber sehr diskret ein Saxophon in den Klang des gross besetzten Orchesters. Und kaum hatte man das wahrgenommen, gesellte sich für einen Augenblick der Bolero-Rhythmus der Trommel dazu. Wegweiser in Richtung dessen, was sich weiter ereignen sollte.

Die viel zu selten gespielten Tänze des Organisten-Komponisten Maurice Duruflé glänzen mit eigener, sehr schöner Musik unschwer zu erkennender französischer Tradition aus dem Jahre 1932. In der romantischen Tradition verankert, entfalten sie einen breiten Fächer an Stimmungen und sinnlichen Wirkungen – wie das Jonathan Nott mit dem Genfer Orchester erlebbar machte, liess keinen Wunsch offen. Das gilt auch für die «Escapades», eine Musik von John Williams zu dem Film «Catch me if you can», und das umso mehr, als hier das Alt-Saxophon von Valentine Michaud hören liess, zu welch sirenenartiger Lieblichkeit das gewöhnlich ganz anders konnotierte Instrument in der Lage ist.

Dann freilich wurde kräftig umgebaut. Das Orchester war nur mit seinen Bläsern präsent; sie sassen im Hintergrund des Podiums vor der Orgel. In Vordergrund wurde Platz geschaffen für zwei Inseln mit einer Fülle an Schlaginstrumenten und Raum für die Solistin. «Panic» von Harrison Birtwistle war angesagt, ein wildes, wüstes, horribel schweres Stück aus dem Jahre 1995, dessen Uraufführung bei den BBC Proms in London einen Skandal auslöste. In der Tat nimmt Birtwistle (auch) hier kein Blatt vor den Mund. Es geht um das Treiben des Gottes Pan auf Erden, und da bleibt bekanntlich kein Stein auf dem anderen. So auch in der Victoria Hall, wo zuerst der Dirigent allein auftrat und damit das Feld offen liess für Valentine Michaud und ihren Bruder Gabriel Michaud – beide mit nach allen Seiten zerzaustem Kopfputz aus der Manufaktur der Saxophonistin, die auch ihre Kostüme selber schneidert. Ein zwanzigminütiger Tonsturm kam da auf, Schrei folgte auf Schrei, Schlag auf Schlag – alles in denkbar brillanter Weise gemeistert vom Solistenpaar wie vom Orchester. Grosser Jubel.

Daraufhin und zum Schluss ein erneutes «ballet des techniciens», die innert weniger Minuten das Podium wieder herrichteten – für «Boléro», ein Kernstück aus dem Repertoire des Orchestre de la Suisse Romande, und bekanntlich fehlt auch hier das Saxophon nicht. Wunderbar, wie zart Jonathan Nott den Anfang aufsteigen, wie sorgfältig er die Farben aufscheinen liess. Und grossartig, wie es ihm gelang, das Repetitive des Stücks Schritt für Schritt mit innerer, vibrierender Spannung aufzuladen – bis zu jenem Punkt, da die Harmonie wechselt und neues Licht angeht. Und einmal mehr erwies sich, auf welch brillantem Niveau das Orchestre de la Suisse Romande mit Jonathan Nott Musik macht.

Genf honoriert das. Eben konnte das Orchester mit Hilfe eines Mäzens ein Gebäude, das an die Victoria Hall anschliesst, mieten und für seine Zwecke einrichten. Und die Zahl der Abonnemente, so der Intendant Steve Roger, sei klar im Steigen begriffen; seien 2019/20, in der letzten Spielzeit vor der Pandemie, rund 2000 Abonnemente verkauft worden, so zähle das Orchester in der Saison 2023/24 deren 4000. Eine Verdopplung auch in der Kasse – und dies zu einer Zeit, da allerorten über Publikumsschwund und insbesondere den Bedeutungsverlust des Abonnements geklagt wird. Es kann es auch anders gehen.

Oiseaux de Paradis. Valentine Michaud (Saxophone), Gabriel Michaud (Schlagzeug), Kurt Rosenwinkel (Gitarre). Mirare 716 (CD, Aufnahme 2023, Publikation 2024).

Was ewig währt

Wagners «Götterdämmerung» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Walhall brennt, Wotan ist der Brandstifter / Bild Ingo Hoehn, Theater Basel

Manches lief und läuft eigenartig bei jener «Götterdämmerung», mit der die Basler Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» schliesst. Befremdlich schon die Ansetzung einer Vorstellung, der zweiten nach der Premiere, unter der Woche und mitten in den Ferien. Man mag Wagner lieben, aber die Möglichkeit, an einem Donnerstag um fünf im Theater zu sein, hat nicht jeder. Und dass die Herbstferien der Schulen die Auslastung drücken, ist bekannt. Das Basler Stadttheater war jedenfalls, so der Eindruck, knapp zur Hälfte besetzt, die Balkone wurden geschlossen, die Besucher von dort ins Parkett gebeten – ein trauriger Anblick. Dort, im Parkett, wurde freilich so enthusiastisch applaudiert, dass man sich in einem ausverkauften Haus wähnte.

Besonders seltsam nimmt sich der Eingriff in die Partitur aus, für den sich der Regisseur Benedikt von Peter entschieden hat. Nach dem Schluss des ersten Aufzugs gibt es eine kurze Pause, worauf das Vorspiel zum zweiten Aufzug einsetzt und ihm die erste Szene mit der Begegnung zwischen Alberich (Andrew Murphy) und seinem Sohn Hagen folgt. Bekanntlich verweigert sich der Junge dem Alten; Ruhe soll er geben, ruft Hagen dem Vater zu, der wiederum fordert vom Sohn unbedingte Gefolgschaft, dann versinkt die Musik ins Leise. In Basel wird die Stille dieses Moments durch das Kreischen einer Kettensäge zerstört, mit deren Hilfe sich zwei Arbeiter an den Bäumen im Einheitsbühnenbild Natascha von Steigers zu schaffen machen. Zugleich geht das Licht im Auditorium an, denn es folgt die erste, die grosse Pause.

Das ist Unsinn. Dass an dieser Stelle etwas Neues beginnt, nämlich die dramatische, um nicht zu sagen: opernhaft erzählte Geschichte von Siegfrieds Besuch bei den Gibichungen und dessen Folgen, liegt auf der Hand. Nur ist dieses neue Geschehen nahtlos verknüpft mit dem alten, gemäss dem Prinzip der Unendlichkeit, das sich Wagner auf die Fahne geschrieben hat. Die Nahtlosigkeit wird hier gebrochen von einem Regisseur, der nicht in der Lage oder nicht willens ist, der Musik zuzuhören. Einer ganz wesentlich vom Orchester getragenen Musik, die vom Sinfonieorchester Basel und dem genuinen Wagner-Dirigenten Jonathan Nott in denkbar packender Weise aus dem Keller unter der Bühne an die Oberfläche getragen wird (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.10.24). Von der Partitur aus gesehen geht der Eingriff in die Abfolge der Szenen vollkommen daneben; er steht für eine Vorstellung von Regietheater, die in ihrer Dominanz der szenischen gegenüber der musikalischen Interpretation als überholt gelten darf.

Dramaturgisch lässt er sich allerdings sehr wohl rechtfertigen. Denn mit der Fortsetzung im zweiten Aufzug gerät «Der Ring des Nibelungen» auf eine neue Ebene. Die Welt der Götter hat sich so gut wie ganz verabschiedet; allein Waltraute (die stimmgewaltige Jasmin Etezadzadeh), die ihre zur Menschenfrau gewordene Schwester Brünnhilde besucht und an ihr abprallt, lässt die im Untergang befindliche Gesellschaft der Lichtalben noch einmal präsent werden. Beherrscht wird die Szenerie inzwischen jedoch durch die Gibichungen, eine ziemlich gewöhnliche Familie, in welcher der tatendurstige Siegfried grausam in die Falle tappt. Und hier darf nun vom hohen vokalen Niveau der Basler «Ring»-Produktion die Rede sein. Von Heather Engebretson beispielsweise, die mit ihrer stimmlichen Wandelbarkeit und ihrer szenischen Präsenz die Partie der Gutrune entschieden aus der Ecke der Nebenrollen herausholt. Oder von Günter Papendell, der als Gunther den perfekten Mitläufer gibt, dabei von der Stimme her jedoch alles andere als ein Pappkamerad ist. Auch von Patrick Zielke, der als Hagen, von der Kostümbildnerin Katrin Lea Tag wie alle Gibichungen ganz in Weiss gekleidet, eine rabenschwarze Donnerstimme erklingen lässt. Ob Trine Møller wirklich die Richtige ist für die Riesenpartie der Brünnhilde, muss hier und jetzt dahingestellt bleiben; ihre Sonorität wirkt äusserst gepflegt, doch die dramatische Zuspitzung und die Schärfung des Profils gelingen noch nicht wirklich. Überragend dagegen Rolf Romei als Siegfried, stimmlich ohnehin, aber auch darstellerisch auf seinem Weg, auf dem er nicht weiss, wie ihm geschieht. Sogar reiten kann er: auf dem Ross Grane, das als gutmütiger echter Schimmel mit von der Partie ist. Viel kann auch der Chor, zumal der Männerchor, des Theater Basel; seine Einstudierung lag in den Händen von Michael Clark.

Der dritte Aufzug der Basler «Götterdämmerung» wartet mit einigen Überraschungen auf. Dass zu Beginn die drei Rheintöchter – Puppen aus der Wiener Werkstatt von Marianne Meinl, die auf Stangen von Helfern getragen und bewegt werden –, dass die drei Rheintöchter aufgeregt schwänzelnd über die Bühne jagen, bildet einen ärgerlichen Gegensatz zu ihrer fliessenden Musik. Sie sind vielleicht aufgeregt, weil sie wissen, dass sie den Ring nicht zurückbekommen werden – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ja gleichzeitig präsent in der Inszenierung Benedikt von Peters. Tatsächlich gelangt der Ring am Ende nicht zu ihnen, vielmehr ist es der inzwischen stumm die Vorgänge steuernde Wotan (Nathan Berg), der ihn nach erneutem Gerangel mit Alberich an sich nimmt – soll dieses Ende als Wiederkehr des Beginns verstanden werden?

Zum Schluss – und der geht voll zu Lasten der grandiosen Musik Wagners, die von Jonathan Nott und dem versenkten Orchester empathisch ausgeformt wird – stellt Wotan als die Zentralfigur ein Modell der linkerhand ragenden Burg Walhall auf den Tisch, um es alsbald eigenhändig in Brand zu setzen. Und kommt es zum grossen Stechen: wird Siegfried mehrmals durchstochen und gibt sich schliesslich selbst den Rest, beseitigt Hagen seinen Halbbruder Gunther, befördert Alberich seinen zu wenig treuen Sohn Hagen ins Jenseits. Das radikale Ende einer weit ausholenden Familiengeschichte, wie es Brünnhilde als Marionette ihres Vaters Wotan hat herbeiwünschen müssen. Ist es verfehlt, für einen Augenblick an Thomas Mann zu denken? Nicht an die erotisch aufgeladene Erzählung «Wälsungenblut», wohl aber an die «Buddenbrocks»?

Eine Traumwelt, gross und klein

Wagners «Siegfried» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Besonders süss: das ziemlich gewachsene Waldvögelein von Álfheiður Erla Guðmundsdóttir. Rechts neben Siegfried (Rolf Romei) der Kröte gebliebene Alberich (Andrew Murphy) / Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Da sind sie wieder auf Natascha von Steigers Bühne, das mehrstöckige Haus, das als die Burg Walhall gelten mag, der kahle Baum, der sich vervielfältigt und zu einem mittleren Wald verdichtet hat, der ausladende Tisch, der die Küche Mimes ziert und später zum Brünnhilden-Felsen wird. «Siegfried», der zweite Tag und der dritte Teil in Richard Wagners «Ring des Nibelungen» am Theater Basel, bleibt den vom Regisseur Benedikt von Peter angesetzten Leisten treu. Die Tetralogie wird in einer Rückblende erzählt, als Erinnerung Brünnhildes, die wie alle Figuren des Geschehens in verschiedenen Lebensaltern, in diversen Stadien ihrer Existenz auf der Bühne erscheint: als Kind, als Mädchen, als junge Frau. Auch Siegfried ist in Person wie zugleich als Bub mit Hörnchen und Holzschwert anwesend. Der Ansatz des Regisseurs mag den Anspruch, den der «Ring» an den Zuschauer stellt, noch erhöhen; er übernimmt jedoch szenisch, was Wagner mit seinen immer wieder auftauchenden Rekapitulationen in seinem Text verwirklicht hat. Von den über sechzig Leitmotiven ganz zu schweigen.

Besonders ins Auge fällt die Präsenz der Opfer. Als überlebensgrosse Puppen aus der Wiener Werkstatt von Marianne Meinl stehen sie im Hintergrund der Bühne – stumm, aber nicht bewegungslos, denn zahlreiche Helfer hauchen ihnen eine Art Leben ein. Mächtig mit arg herabgezogenem Mund der Riese Fasolt, der um den Goldschatz aus dem temporären Besitze Alberichs erschlagen wurde. Der wiederum, der auf Rache sinnende Chef der Nibelungen (Andrew Murphy), kriecht als gefesselte Riesenkröte in Gold über die Bretter und weiss sich am Ende artig zu verbeugen. Siegmund und Sieglinde sind als Wolfspaar dabei, die drei Rheintöchter werden an Stangen durch die Lüfte geführt, wie es das alte Theaterlexikon zeigt. Das schafft enorm Atmosphäre. Wie einer Traumwelt kommt man sich vor oder wie in einem Märchen. Betont wird das durch den Auftritt des Waldvögeleins, das von der Kostümbildnerin Katrin Lea Tag als ein süsser roter Waldvogel mit Kirschkernbeisserschnabel und munter schlagenden Flügeln gezeigt wird – wunderbar, wie Álfheiður Erla Guðmundsdóttir immer wieder ihren Kopf dreht, um ganz so, wie es die Vögel tun, mit einem Auge auf den Boden zu blicken, und wie sie mit ihrem Schnabel den ahnungslosen Siegfried stupft. Und vor allem: Wie sie in ihrem kurzen Auftritt singt, mit heller Stimme und lieblichem Locken. Ein grosser Auftritt wie jener der Erda, für den sich die legendäre Hanna Schwarz hat verpflichten lassen – unerhört, was diese Grande Dame des Musiktheaters zustande bringt.

Zugleich ist mit dem szenischen Ansatz Benedikt von Peters jedoch ein bedeutendes Problem verbunden. Der Regisseur wünschte sich das Orchester nach der Art von Bayreuth versteckt. Die Mitglieder des übrigens blendend aufspielenden Sinfonieorchesters Basel sitzen unter der Bühne, im zugedeckten Orchestergraben und einem als «Garage» bezeichnet Raum unter den ersten Sitzreihen. In der Spielfläche selbst findet sich ein breiter Rost, aus dem der Klang des Orchesters nach oben dringt – aber eben nur nach oben und nicht wirklich in den Raum insgesamt. Die in grosser Besetzung angetretenen Musikerinnen und Musiker können darum geben, was sie zu geben haben, ohne dass sich jemand aus dem Vokalensemble bedrängt fühlen müsste. Nur ist es so, dass sich das szenische Geschehen weitgehend an der Rampe abspielt, was als Prinzip der Bühnendarstellung von vorgestern stammt – und was ausserdem dazu führt, dass das Vokale und das Instrumentale immer wieder spürbar auseinanderklaffen. Nicht dass das Orchester je zu laut oder zu leise wäre, es ist herrlich laut und subtil leise, doch die Stimmen stehen oft krass im Vordergrund und erhalten zu wenig Kontakt mit dem Instrumentalen. Das mag die zahlreichen Stimmfetischisten unter den Opernfreunden befriedigen, widerspricht aber der Intention Wagners, der das Orchester die Geschichte aktiv kommentieren, wenn nicht gar erzählen lässt.

Das ist keineswegs das Problem des Dirigenten Jonathan Nott, eines Wagner-Spezialisten der allerersten Garnitur. Wie weit die Interaktion zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen gehen und was sie, klar ausgeformt, bewirken kann, hat Nott anlässlich der konzertanten Aufführung der Tetralogie beim Lucerne Festival im Wagner-Jahr 2013 erleben lassen. Nott geht Wagners Musik mit jenem ausgebauten strukturellen Bewusstsein an, das etwa bei der von ihm ebenso kompetent gepflegten neuen Musik gefordert ist. Zugleich dirigiert er ganz aus dem Körper und aus seiner Sinnlichkeit heraus. Mit geschmeidigen Tempi und sorgsamen Phrasierungen hält er die musikalischen Verläufe in Fahrt, lässt er die rezitativischen Momente strömen und findet er zu einem Erzählfluss, der die vier Stunden Musik im Nun vergehen lässt. Dazu kommt eine kraftvolle, in einen enorm schönen Mischklang eingebundene Farbigkeit, die den Sängerinnen und Sängern ausgezeichnet zur Seite stehen könnte. Und von entschiedenem Interpretieren zeugt der wache Umgang mit den Leitmotiven, etwa mit dem Motiv der Riesen, das, wenn es im ersten Aufzug erklingt, gleichsam auf Samtpfoten daherkommt. Umso bedauerlicher, dass das alles das Ensemble nur bedingt erreicht.

Die Vokalsolisten hätten es mehr als verdient. In der Riesenpartie des Siegfried zeigt Rolf Romei mit seinem leuchtenden, ganz selbstverständlich sprechenden Tenor erstaunliches Profil. Als sein Gegenspieler Mime, der von vornherein zu den Verlierern gehört und zum Schluss seinen Kopf wie das Leben verliert, verbleibt Karl-Heinz Brandt etwas einförmig im Bereich des gellenden Ausdrucks. Einen durch und durch grossen Abend hat dagegen Nathan Berg mit seiner unerhörten Sonorität als der Wanderer – und als ein Chef des Familienclans, der auch nach der fatalen Begegnung mit seinem Enkel die Fäden in der Hand behält. Gewinnend auch Runi Brattaberg als Fafner, der liegt und besitzt, der zudem trinken wollte und zu seiner Überraschung auch Frass findet – nur ist leider die Empathie Siegfrieds gegenüber seinem Opfer völlig ausgeblendet. Schliesslich darf Trine Møller, die als Brünnhilde von Anfang an auf der Bühne stand, ihre tragende, aber nirgends übersteuernde Stimme erheben – in der demnächst folgenden «Götterdämmerung» wird mehr von ihr zu hören sein.

Oper ohne Gesang

«Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy als Sinfonische Dichtung in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Als Ende Februar 2020 Covid-19 um sich zu greifen begann, mussten die kulturellen Institutionen ihre Häuser schliessen. Zur Untätigkeit gezwungen war auch Jonathan Nott – doch der britische Dirigent aus der Schweiz, seines Zeichens musikalischer und künstlerischer Direktor des Orchestre de la Suisse Romande in Genf, liess sich dadurch nicht in die Enge treiben. Er zog sich zurück auf die Musik an sich und versenkte sich in sein Herzensstück seit früher Zeit, in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy. Warum nicht, das war seine Frage.

Genauer: Warum nicht das Drame lyrique von 1902 für den Konzertsaal gewinnen? Natürlich nicht auf dem Weg der konzertanten Aufführung, sondern vielmehr in der Form eines eigenen Werks: als eine zusammenhängende Folge von Abschnitten aus der durchkomponierten Oper. Einrichtungen solcher Art waren in den Jahren vor und nach 1900 an der Tagesordnung, man denke etwa an das Ballett «Daphnis et Chloé» von Maurice Ravel, aus dem der Komponist selbst zwei Suiten zum Gebrauch im Konzertsaal zog. Auch zu «Pelléas et Mélisande» gibt es derlei Einrichtungen, die berühmteste unter ihnen stammt von dem österreichischen Dirigenten Erich Leinsdorf. Die Bearbeitungen dieser Art gehen von den zahlreichen instrumentalen Teilen in Debussys Partitur aus. Jonatan Nott hatte jedoch etwas anderes im Sinn.

Er wollte die Oper als eigenen, vollgültigen Kosmos auf dem Konzertpodium verankern, und dies in rein instrumentaler Ausführung. Kürzung auf eine in der Praxis vertretbare Konzertlänge war also angesagt – und zugleich eine Erweiterung der Orchesterpartitur durch all das an Ausgesprochenem, Angedeutetem und vor allem leitmotivisch Notwenigem, was inneren Zusammenhang schafft. Trotz der Kürzungen sollte die Oper in ihrer Ganzheit, in ihrer immanenten Spannung, auch dramaturgischen Logik erlebbar werden. In welchem Masse das gelungen ist, erwies eine noch im November 2020 entstandene Aufnahme, deren besonderer Reiz ausserdem darin besteht, dass das kondensierte und intensivierte Werk Debussys mit dem fast zu gleicher Zeit entstandenen Poem «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönbergs kombiniert ist – was zu spannenden Vergleichen einlädt.

Auf dem Markt fand das zwei Compact Discs umfassende Projekt aus dem Hause Pentatone gute Resonanz. Es kam sogar auf die Vierteljahresliste im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Und auch im Netz ist die Aufnahme greifbar, selbst, was offenbar noch nicht bis zur Administration des Orchesters durchgedrungen ist, auf dem französischen Portal Qobuz und bei dem bedeutenden, auf klassische Musik spezialisierten Anbieter Idagio. Inzwischen jedoch, beinahe drei Jahre nach der Aufnahme, ist «Pelléas et Mélisande» in der von Jonathan Nott stammenden Einrichtung als Sinfonische Dichtung auch im Konzert vorgestellt worden – als Uraufführung notabene in der Genfer Victoria Hall. Ein grosser, mit lebendiger Zustimmung aufgenommener Moment.

Die Live-Aufführung stellt den Effekt, den die rein orchestrale Erzählung der Oper Debussys intendiert, in besonders helles Licht. Zumal sich das Orchestre de la Suisse Romande und sein Musikdirektor in Bestform präsentiert haben. Jonathan Nott hat die Musik Debussys in der Tiefe seines Inneren verankert; die Verdichtung erlaubt ihm, innerhalb einer knappen Stunde sehr nah an den Kern des Werks heranzukommen. Und die seine Musikalität prägende Neigung zum Dramatischen tut in einem solchen Moment das Ihre. In geschmeidigen Tempi und natürlichem Zug entfaltete sich die schauerliche Geschichte; die Seelenzustände, die der alte, verzweifelte Golaud, die ganz junge, scheue Mélisande und der naiv feurige Pelléas exponieren, sie waren förmlich mit Händen zu greifen – und dies in einem Wechselbad zwischen aufschäumender Liebe, bedrohlichem Misstrauen und Tod. Unerhört spannend geriet das, geradewegs zum Anhalten des Atems. Allerdings, je besser man die Oper Debussys kennt, desto mehr kann man in der Sinfonischen Dichtung erleben.

So ausgezeichnet gelungen ist die Aufführung, weil das Orchester und sein Dirigent auf der gesicherten Basis einer deutlich hörbaren Gemeinsamkeit agieren. Alle atmen sie gemeinsam, alle streben nach Identifikation, alle geben ihr Bestes. In einem warmen, geradezu üppigen Gesamtklang finden die einzelnen Farben zu leuchtender Präsenz; reich ist das Ausdrucksspektrum zwischen der Sensibilität der klanglichen Feinzeichnung und der dramatischen Eruption – wobei auch in den Momenten der Kraft Balance und Schönheit gewahrt bleiben. Bekanntlich versteht sich das gerade keineswegs von selbst.

Vorzüge solcher Art bestätigten sich, nun in ganz anderer Sprache, bei Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. In Kit Armstrong war hier sehr kurzfristig ein geradezu sensationeller Einspringer für die aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Maria João Pires gefunden worden. Der sagenhaft begabte, auch stilistisch in hohem Ausmass versierte Pianist überraschte mit sorgfältiger Lesart der Partitur und manch überraschender Artikulation, ausserdem mit einem leichten, hellen Ton am Steinway. Während Orchester wie Dirigent ihm in berührender Weise nahe blieben.

Allein, genau jetzt, da das Orchestre de la Suisse Romande und Jonathan Nott definitiv in die gleiche Strasse eingebogen sind und die Fruktifizierung ihren Lauf genommen hat, wird von der Trägerschaft des Orchesters mitgeteilt, dass der 2017 als unbefristet geschlossene Vertrag zwischen den beiden Partnern auf den 1. Januar 2026 beendet werden soll. Im März 2026 soll noch eine Tournee folgen, Jonathan Nott wird sie dann aber als «chef invité» leiten. Fast ein Jahrzehnt an der Spitze eines Orchesters sind genau das Richtige, am besten geht man, wenn es am schönsten ist – derlei lässt sich dazu sogleich anführen. Nur: Die Trennung von Jonathan Nott erfolgt in einem nicht unproblematischen Klima.

Vor eineinhalb Jahren trug ein regionaler Fernsehsender die (gewiss hohe, aber keineswegs unübliche) Gage des Dirigenten an die Öffentlichkeit getragen, was eine lebhafte, wenn auch wenig produktive Debatte auslöste – ist hier etwa ein Kesseltreiben in Gang gesetzt worden? Der Verdacht liegt darum nahe, weil sich beim Orchestre de la Suisse Romande in den vergangenen zwei Jahrzehnten eigenartige Personalbewegungen gehäuft haben – vom missglückten Versuch, dem Orchester einen seinem Niveau nicht entsprechenden Dirigenten aufzudrängen über die zahllosen, raschen Wechsel in der Geschäftsführung bis hin zu dem kostspieligen Abgang eines Orchesterdirektors schon nach wenigen Monaten der Tätigkeit. Welcher Art die Gründe hinter der jüngsten Personalie seien, ob der Wechsel am Grand Théâtre auf die Saison 2026/27 eine Rolle spiele, es muss offen bleiben. Klar ist nur, dass ein künstlerisches Projekt abgebrochen wird, das dem Orchester eine neue Perspektive wie kaum mehr seit der Ära mit Armin Jordan verschafft hat.

Wagners «Ring» nach Basler Art

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Trine Møller) klärt Sieglinde (Theresa Kronthaler) auf, Siegfried, noch ungeboren, aber anwesend, hört zu: «Die Walküre» im neuen Basler «Ring des Nibelungen / Bild Ingo Höhn, Theater Basel»

Nun hat der «Ring» auch Basel ergriffen – und wie. Anders als in Bern und Zürich, wo die Nibelungen seit der Spielzeit 2021/22 ihr Unwesen treiben, wird Richard Wagners Tetralogie am Theater Basel nicht einfach an und für sich gezeigt – was nach den gescheiterten Annäherungen im frühen und im späten 20. Jahrhundert für ausreichend Sensation gesorgt hätte. Nein, am Rheinknie erscheint der «Ring» eingebettet in ein Festival, das die Geschichte in einem Vorabend und drei Tagen sinnlich oder kritisch begleitet. Das greift freilich etwas hoch. Unter dem Titel «Rheinklang» gibt es vor den Aufführungen von «Rheingold» auf dem Theaterplatz ein «Chorritual» des Briten Matthew Herbert, das den Fluss, in dem das Gold lagert, zu den wartenden Zuschauern und den vorbeigehenden Passanten bringt.

Vor der grossen Treppe stehen fünf Schalen mit den brennenden Scheiten aus der «Götterdämmerung», vor einem Mikrophon finden sich schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger ein, die den Ton Es aus dem Vorspiel zu «Rheingold» intonieren; in der Folge schliessen sich ihnen Mitglieder aus dem Chor und dem Extrachor des Theater Basel an, die, in einer langen Kolonne die Feuerschalen umkreisen und ebenfalls das Es, bisweilen auch das dazugehörige B intonieren. Immer enger werden die Kreise, bis schliesslich alle das Wasser aus ihren mitgebrachten Gefässen über die starken Scheite in den Schalen giessen und eine dichte Rauchwolke aufsteigt. Eine Kürzestfassung der Tetralogie, die zwar Zusammenhänge schafft, in ihrem latenten Jekami-Charakter aber nicht mehr als nette Stimmung erzeugt, jedenfalls wirklich Substanzielles beisteuert.

Drinnen im Haus geht dann aber die Post ab – am einen Abend mit «Rheingold», am zweiten mit der «Walküre» (die Teile drei und vier folgen in der kommenden Spielzeit). Was hier sogleich ins Auge fällt, ist der bis auf einen kleinen Schlitz geschlossene Orchestergraben – ganz nach der Art des Bayreuther Festspielhauses. Das Sinfonieorchester Basel sitzt in grosser Formation nicht nur im Graben, sondern auch in der sogenannten Garage, einem Raum, der sich hinter dem Graben weit unter die Bühne erstreckt. Dort, wo sonst Bretter die Welt bedeuten, ist ein schwarzes Gitter eingefügt, durch das der instrumentale Klang in den Zuschauerraum findet. Die Kommunikation zwischen dem orchestralen Nibelheim und der Bühne wird mit Hilfe von Bildschirmen erzeugt. Unerhört voll und fasslich klingt das Orchester für den Zuhörer in der vierten Reihe; später, auf einem Platz hinten auf der Estrade, ändert sich wenig an diesem Eindruck. Saft und Kraft in aller Schönheit erzeugen die Streicher, aber auch die Hörner, während die solistisch hervortretenden Bläser, namentlich das Englischhorn, farbig schimmernde Linien aufscheinen lassen.

Das alles geschieht unter der Leitung von Jonathan Nott, der 1996 als junger Kapellmeister in Wiesbaden seinen ersten «Ring» dirigiert und im Wagner-Jahr 2013 mit einer konzertanten Aufführung der Tetralogie sensationellen Erfolg erzielt hat. Die Erfahrung ist zu hören. In Wagners Partituren kennt er sich eins zu eins aus; mit sicherem Gespür für die Tempi und ihre Verbindungen, mit instinktivem Gefühl für das Rauschhafte und zugleich mit untrüglichem Wissen um die Einzelheiten zieht er durch die beiden Abende: als ein genuiner Theatermusiker, der den Leitmotiven ihre Rechte lässt, sich aber nie bemüssigt fühlt, den belehrenden Zeigefinger auszustrecken. Alte Instrumente, wie sie diesen Sommer beim Lucerne Festival zu hören waren, haben ihren Reiz; in Basel ist zu erleben, dass es auch ohne sie zu spannenden Ergebnissen kommen kann.

Die spezielle szenische Konfiguration bildet die Basis für Musiktheater im Raum – denn Benedikt von Peter, Intendant des Theater Basel und, zusammen mit Caterina Cianfarini, Regisseur des Basler «Ring», ist ein Raumkünstler. Das hat er in verschiedenen, in ihrer Wirkung oft überwältigenden Inszenierungen, etwa mit Luigi Nonos «Prometeo» 2016 in Luzern oder in Basel 2020 mit «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen, vor Augen geführt. In Wagners Tetralogie macht die Heranführung der Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne ans Publikum heran besonders Sinn und gehörig Effekt. Wer die bebenden Körper ganz nah vor sich sieht und dabei jedes Wort versteht, bekommt eine Ahnung davon, was Singen heisst – erst recht Singen auf der Bühne und Wagner-Singen. Indessen weist das Konzept zwei entscheidende Schwächen auf. Zunächst ist die Nähe natürlich nur in den ersten Sitzreihen wirklich erlebbar; wer seinen Sitz weiter hinten im Zuschauerraum vorfindet, für den bleibt die Nähe fern wie stets in der Oper – zumal die durch Natascha von Steiger konzipierte Einheitsbühne mit grossen Elementen, etwa einem mehrstöckigen Holzhaus als Sinnbild für die Burg Walhalla, arbeitet und den Blick in den Hintergrund zieht. Das führt zu einer deutlichen Ungleichbehandlung des Publikums.

Vor allem aber erhält in der Basler szenischen Einrichtung der Körperausdruck besonderes Gewicht – und der ist, wie stets bei Benedikt von Peter, handgreiflich, bisweilen jedoch nicht sonderlich differenziert ausgeprägt. Zwar setzt das die musikalische Vitalität fasslich in Gang und Geste um, zugleich aber steht es dem Werk Wagners im Weg. In den beiden grossen Streitgesprächen zwischen Wotan und Fricka in «Rheingold» wie in der «Walküre» verliert die hochstehende Schlagfertigkeit und dessen musikalische Umsetzung an Schärfe, weil zu viel szenische Betriebsamkeit herrscht. Mit seinem dunklen Timbre gibt Nathan Berg einen überherrischen und darum schon merklich angeknacksten Göttervater, der viel zu oft und viel zu stark auf den Tisch haut, während Solenn‘ Lavanant Linke die Göttergattin packend singt, aber zu sehr mit Hysterie versieht. Auch der Loge von Michael Laurenz, stimmlich von hohem Format, wirkt überzeichnet. Rollendeckend dagegen die Erda der ehrwürdigen Hanna Schwarz und Frickas Schwester Freia, die für einmal nicht von einer Soubrette, sondern von Lucie Peyramaure mit ihrer pointierten stimmlichen Präsenz gesungen wird.

Das alles findet Platz in einer Inszenierung, die den «Ring des Nibelungen» als Rückblende, als Erinnerung Brünnhildes an ihr Leben, zu erzählen sucht. Wotans Lieblingstochter, Trine Møller bringt das mit farbenreicher Stimme, aber ebenfalls mit etwas heftiger Körpersprache zur Geltung, sieht ihren Vater, seinen zum Scheitern verurteilten Machtanspruch, ausgesprochen kritisch – ja, sie schildert es so, dass ihre Stiefmutter Fricka als Anführerin einer Verschwörung gegen Wotan erscheint. Immer wieder tritts Fricka hinter einer Wand hervor und fordert, ohne ein Wort zu singen, von ihren Untergebenen Donner (Michael Borth) und Froh (Ronan Caillet), ins Bühnengeschehen einzugreifen. Dieses Geschehen zeigt sich in einer Art Zeitlosigkeit, indem sich Ungleichzeitiges gleichzeitig ereignet. Die handelnden Figuren sind in ihren unterschiedlichen Lebensaltern gegenwärtig – Siegfried zum Beispiel mit einem Hörnchen am Gürtel und einem Holzschwert als Kind, auch als Jugendlicher. Das mag aufgesetzt wirken, denkt aber die dramaturgischen Ansätze Wagners weiter, denn durch die Leitmotive und die immer wieder eingefügten Rekapitulationen bleibt die Tetralogie über weite Strecken als Ganzes präsent.

Allerdings schafft die Basler Art der Bühnenerzählung für das Publikum auch Momente der Verwirrung und solche der Ablenkung. Zudem wird hier «Der Ring des Nibelungen», der von A bis Z durchkomponiert ist, durch unnötige, weil banale Zwischentexte unterbrochen. Dabei gäbe es reichlich genug zu erleben. «Rheingold» etwa als ein ins Grosse verlängertes Puppentheater, in dem die Rheintöchter wie in den ersten Inszenierungen der Tetralogie als an Stäben geführte Nixen erscheinen, während Alberich (der vorzügliche Andrew Murphy) als riesige Kröte herumhüpft und später als veritabler Drache aus den seitlichen Vorhängen hervorschnaubt. Oder in der «Walküre», mit Ric Furman und Theresa Kronthaler, Siegmund und Sieglinde als ein von Anfang an schwer gefährdetes Liebespaar. Artyom Wasnetsov gibt einen furchterregenden Hunding, Runi Brattaberg neben Thomas Faulkner als Fasolt einen nicht weniger schlagkräftigen Fafner, und Karl-Heinz Brandt macht als Mime auf die Fortsetzung im nächsten Herbst neugierig.

Von den Nibelungen, deren rhythmisch vertrackte Hammerschläge leider nicht sehr gut vernehmbar geraten, wird erzählt, sie gewännen das Gold in den Tiefen des Rheins und dort in Schluchten und Grüften. Fast in denselben Worten berichtet das die Basler Mission in einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Schilderung ihrer Tätigkeit in Afrika. Dies im Rahmen eines dokumentarischen Theaterstücks von Regine Dura und Hans-Werner Koestinger mit dem Titel «Gold, Glanz und Götter» – einem Teil des Festivals zum «Ring». Es handelt vom globalen Wirken der Basler Handelsherren, die mit ihren auch den Sklavenhandel einbeziehenden Dreiecksgeschäften zwischen Europa, Afrika und Südamerika im Namen Gottes des Herrn mächtig Gold an die Gestade des Rheins gebracht haben. Davon die Rede ist zunächst in einem kleinen Raum im obersten Stock des Basler Stadttheaters, später dann, nach einem eiligen Gang durch ein endlos wirkendes Treppenhaus in die tiefste Tiefe des Materiallagers. Dort wird diese von heute aus peinliche Geschichte anhand vieler nicht ganz neu entdeckter, aber doch hochinteressanter Dokumente ausgebreitet. Und dort kommen auch wieder jene Messing-Gefässe zum Einsatz, die schon im «Chorritual» auf dem Theaterplatz zu sehen waren und die auf der Bühne als Rheingold den Körper Freias zudecken. Auch hier: Leitmotive. Aber solche der eigenen Art.

Herbe Schönheit

Asmik Grigorian mit Jonathan Nott beim
Orchestre de la Suisse Romande in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

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Kaum ist das Konzert zu Ende, bricht in der Seitenstrasse neben der Genfer Victoria Hall hektisches Treiben aus. Schwere Lastwagen fahren vor, von erfahrenen Spezialisten millimetergenau an den Randstein gelotst. Auf dem Gehsteig, wo kaum mehr ein Durchkommen ist, warten enorme Kisten auf Rädern. In ihnen verstaut sind Pauken und anderes Schlagwerk, die Kontrabässe mitsamt den Fräcken der jeweiligen Musiker, das Podest für den Dirigenten. Die Situation gleicht der auf Tournee; auch dort geht es, wenn der Beifall verklungen ist, bei den Orchestertechnikern erst richtig los – nur sind wir ja zu Hause, in Genf. Allein, zu Hause ist das Orchestre de la Suisse Romande (OSR) in der Victoria Hall keineswegs. Es gibt dort zwar seine Konzerte und hält auch die Proben ab. Doch zum Schluss muss das Podium jeweils piekfein aufgeräumt werden, selbst nachmittags nach der Generalprobe und vor dem Konzert. Der Saal gehört eben der Stadt Genf, das Orchester bespielt ihn zur Miete und muss das Gebäude nach absolviertem Dienst für Veranstaltungen anderer Art freigeben. Stauraum gibt es keinen in der innerstädtischen Lage der Victoria Hall, darum die komplexen Transporte. Und eine vertretbare Garderobe fehlt ebenso – nur dem Dirigenten und den Solisten stehen ultrakleine camerini zur Verfügung. Das war einer der Gründe für das privat finanzierte Projekt einer «Cité de la Musique» für das Orchester und die Musikhochschule. Es ist einer Volksabstimmung zum Opfer gefallen.

Da drängen sie sich nun also um einen grossen Tisch, die Musikerinnen und Musiker, doch es herrscht ausgezeichnete Stimmung. Die offizielle Saison ist zu Ende, das Abschlusskonzert formidabel gelungen. Selbst den ersten Teil des Abends kann man gelten lassen, denn hier gab es eine Uraufführung. Aus der Taufe gehoben wurde ein Werk, das für das OSR entstand, der Pandemie wegen aber noch nicht gespielt werden konnte. Ein Werk ausserdem, das als Konzert für Streichquartett und Orchester eine äusserst seltene Besetzung aufweist. Gewiss, im Barock gab es konzertante Formen wie das Concerto grosso mit seinen Wechselspielen zwischen dem solistisch besetzten Concertino und dem vollen Orchester als dem Ripieno, später dann die konzertante Sinfonie mit mehreren solistisch behandelten Instrumenten vor der Gesamtheit des Orchesters. Aber das Streichquartett in expliziter solistischer Vorrangstellung vor dem Orchester, das ist eine ausgesuchte Rarität. Arnold Schönberg hat sie (im Geiste Georg Friedrich Händels) gepflegt, vor ihm Louis Spohr, nach ihm Bohuslav Martinů oder der Schweizer Conrad Beck. Jetzt gesellt sich Yann Robin dazu, der bald fünfzigjährige Franzose, der hierzulande trotz einem gut bestückten Werkkatalog so gut wie unbekannt ist. Sein Konzert für Streichquartett und Orchester lässt die Herkunft des Komponisten aus dem Jazz nicht verkennen. Die Musik ist von pulsierender rhythmischer Energie getragen, bisweilen gerät sie regelrecht ins Keuchen, worauf ein tiefes Löwengebrüll (eine umgekehrte Trommel, durch deren einziges Fell ein dickes Seil gezogen wird) für Ordnung sorgt. Was heisst hier «Ordnung»? Chaotisch geht es zu in dieser über weite Strecken lauten, aber alles andere als ungeordneten Partitur. Äusserst viel wird von den Solisten verlangt – und diese Position war mit dem im Bereich des Zeitgenössischen hochversierten Quatuor Tann (mit Antoine Maisonhaute und Ivan Lebrun an den Geigen, Natanael Ferreira an der Bratsche und Jeanne Maisonhaute am Cello) hervorragend besetzt. Da flogen die Bogenhaare, und Jonathan Nott sorgte dafür, dass das Orchester jederzeit bei der Stange blieb.

Damit war die Temperatur vorgegeben. Sie erfüllte sich im zweiten Teil, in der Musik von Richard Strauss. Fulminant stieg Jonathan Nott in den «Schleiertanz» aus der Oper «Salome» ein, man konnte beinah ins Fürchten geraten. Bald glätteten sich jedoch die Wogen und wurde deutlich, dass nach dem Ausrufezeichen des Beginns das Ritual, in dessen Verlauf die Stieftochter vor dem geilen Herodes die Schleier fallen lässt, in grandios gezügeltem Spannungsverlauf gesteigert wird. Phänomenal die solistischen Einwürfe etwa der kernigen Bratsche oder der klangvollen, subtiles Vibrato beifügenden Flöte. Und grossartig die Streicher, die zu einem warmen, kompakten, aber nirgends schwergewichtigen Klang gefunden haben. Doch dann erschien Asmik Grigorian, die Sopranistin aus Vilnius, die von den Salzburger Festspielen aus aufgestiegen ist und heute zu den gefragtesten Vertreterinnen ihres Fachs gehört. Würde die 42-jährige Sängerin die ganz gelöste, zurückhaltende Nostalgie der Vier letzten Lieder von Richard Strauss treffen können? Würde sie sich mit dem herben Stahl in ihrer Stimme und mit ihrer sagenhaften Präsenz in den ziselierten Orchestersatz einfügen? Die «dämmrigen Grüfte» im «Frühling» nährten anfangs noch Zweifel, die Solistin klang da bisweilen dominant, verselbständigt. Aber rasch hatte die unerhört professionell agierende und gleichzeitig spontane Expressivität ausstrahlende Künstlerin ihre vokalen Möglichkeiten und die Raumakustik im Griff. Vom «September» an konnte man sich voll auf die nahezu perfekte Diktion einlassen, «Beim Schlafengehen» kam die von Hermann Hesse angesprochene Seele tatsächlich in ein ruhiges Schweben – und schliesslich «Im Abendroth» auf einen Text Joseph von Eichendorffs: eine Offenbarung. Ganz diesseitig, aufrauschend – das Orchester zeigte hier seine ganzen Qualitäten – der Beginn, dann freilich das zusehende Zurücksinken bis hin zur Frage nach dem Tod: zusammen mit Jonathan Nott hat das Asmik Grigorian hinreissend gestaltet. Ganz einfach: richtig, hier ist das in Fragen der musikalischen Interpretation falsche Adjektiv am Platz.

Glückliche Hand

Mahlers Neunte mit Jonathan Nott und dem
Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 hatte sich Jonathan Nott im Herbst 2014 dem Orchestre de la Suisse Romande als neuer Chefdirigent (und Nachfolger des nur kurze Zeit präsenten Esten Neeme Järvi) empfohlen. Anfang 2015 wurde er dann auch gewählt – mit Amtsantritt im Januar 2017. Sechs Jahre sind seither vergangen, die Beziehung zwischen dem Genfer Orchester und seinem Directeur musical et artistique steht in voller Blüte. Die Konzerte in der altehrwürdigen Victoria Hall (das Projekt eines neuen Konzertsaals ist in einer Volksabstimmung 2021 durchgefallen) sind gut besucht, auch dank den Initiativen des Intendanten Steve Roger. CD-Aufnahmen für das Label Pentatone machen auf sich aufmerksam; eine der jüngsten mit einer von Nott selbst eingerichteten Suite aus Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 12.01.22) erhielt den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Die Beziehung zum Grand Théâtre de Genève, in dessen Graben das Orchester wirkt, ist nicht zuletzt dank dem Einvernehmen zwischen Nott und Aviel Cahn, dem Direktor des Grand Théâtre, zu beiderseitigem Gewinn verfestigt worden. Inzwischen ist Notts Vertrag verlängert worden, ohne zeitliche Begrenzung notabene. Wie sagte Herbert von Karajan, als er von den Berliner Philharmonikern für das Amt des Chefdirigenten angefragt wurde: Gerne, aber auf Lebenszeit…

Dass es mit Mahlers Siebter geklappt hat, ist kein Wunder, der Komponist steht Nott besonders nahe, und so kommt er immer wieder auf ihn zurück. In Genf war jetzt war die Reihe an der neunten – für das Orchester ein Parforceritt der Sonderklasse. An diesem Abend galt das besonders, ging der knapp neunzig Minuten dauernden, nach allen Seiten hin anspruchsvollen Musik Mahlers doch noch das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy inklusive Pause voraus. Das war definitiv zu viel des Guten. Und das umso mehr, als das Orchester zwar ganz ausgezeichnet begleitete, die junge Solistin Alexandra Conunova ihren Part aber im Geist der russischen Schule anging, was zu den bekannten Missverständnissen und Geschmacklosigkeiten führte. Im weiteren Verlauf des Abends kam es denn auch zu Einbrüchen in der Konzentration, was sich in einer erhöhten Frequenz von Hustenanfällen niederschlug. Das fiel deshalb ins Gewicht, weil Jonathan Nott gerade in den Momenten des allerleisesten Verklingens am Schluss des ersten Satzes wie am Ende des Finales mit letzter Konsequenz zu Werk ging. In spannungsvoller, ausgesprochen mutiger Ruhe zog er die Prozesse der Verlangsamung und der Auflösung durch. Und das Orchestre de la Suisse Romande, dessen Streicher in diesen Momenten der Zurücknahme ins Piano-Pianissimo extrem gefordert waren, blieben mit bewundernswertem Engagement an des Dirigenten Seite.

Insgesamt bot die Aufführung freilich ein sehr bewegendes Wechselbad der Gefühle. Nott nimmt Mahler beim Wort. Und das Orchester gibt seinem Dirigenten, war er braucht. So herrscht denn nicht jene Abgeklärtheit, die bei so grossartigen Mahler-Dirigenten wie Claudio Abbado und Bernard Haitink das Geschehen im Zaum gehalten hat. Vielmehr schiessen die Emotionen immer wieder mit erschreckender Urgewalt hoch; explizit spricht die Musik von dem in vielerlei Weise zerrissenen Innern des Komponisten – das so direkt, so greifbar mitgeteilt zu bekommen, führt zu Hörerlebnissen eigener Intensität. Bei aller Emotionalität bleibt Nott aber doch der in Kategorien der Moderne denkende Musiker, der er seit jeher ist (die jüngste CD-Publikation des Genfer Orchesters mit dem fabulösen Tessiner Pianisten Francesco Piemontesi gruppiert Klavierkonzerte von Maurice Ravel und Arnold Schönberg um die «Oiseaux exotiques» für Klavier und Ensemble von Olivier Messiaen). In gleichem Mass, wie er auf den zugespitzten Gefühlsausbruch hinsteuert, hat der Dirigent die strukturelle Seite des musikalischen Geschehens im Blick – und die ist im Falle von Mahlers Neunter von besonderer Vielschichtigkeit. Mit Blicken, mit den Händen, dem Oberkörper ist Nott zur Stelle, wenn es ernst gilt. Das bringt musikalische Energie zutage, sorgt aber auch für jene Trennung der Farben, die das Stimmengeflecht zum Leuchten bringt. Besondere Spannung trug den zweiten Satz, und das bis zum Schluss, wo Elçim Özdemir, die Stimmführerin der Bratschen, mit ihren kernigen solistischen Interventionen das Bild wesentlich prägte. Überhaupt fehlte es nicht an glanzvollen Leistungen einzelner Orchestermitglieder; einmal mehr war zu begreifen, wie sehr die Wirkung des Ganzen bei der Beteiligung des Einzelnen beginnt.

Der Leuchtturm in Genf

Besuch beim Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konzertsäle und Opernhäuser hätten Mühe, ihr Publikum zurückzugewinnen, die Musik als Kunst sei am Ende, sie müsse aktiv und mit allen, auch mit ungewöhnlichen Mitteln unter die Leute gebracht werden, unter die jungen Leute vor allem, denn die älteren wiesen nicht das notwendige Potential auf. So wird geschrieben, so wird gesprochen, aber wohl doch eher von Menschen, die nicht in die Oper, nicht ins Konzert gehen, bestenfalls Statistiken lesen. Wer die Branche kennt, wird wissen, dass sich eine zwei Jahre dauernde Zwangspause nicht von heute auf morgen bereinigt, dass es also verfehlt ist, vom aktuellen Zustand im Vergleich mit den Verhältnissen vor dem Ausbruch der Pandemie auf die Zukunft zu schliessen. Und wer ihn und wieder ein Konzert anhört oder eine Opernaufführung besucht, wird gut und gerne von vollen Rängen berichten können – Momentaufnahmen, gewiss, aber doch Wirklichkeit. Bruckners Fünfte mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Herbert Blomstedt, «Rheingold» in der Inszenierung von Andreas Homoki und unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda im Opernhaus Zürich stehen als zwei beliebige Beispiele aus jüngerer Zeit dafür, dass von einem allgemeinen, grundlegenden Zerfall keine Rede sein kann.

So gedacht auch eben erst in der Genfer Victoria Hall, wo das Orchestre de la Suissse Romande mit seinem Chefdirigenten Jonathan Nott aufgetreten ist: im Abschlusskonzert der Saison und mit einem Programm eher konventionellen Zuschnitts (was ja keineswegs verboten ist).  Gut besucht war der Saal, das Publikum durchaus gemischt, die Stimmung ausgezeichnet. Vielleicht ist es, so der spontane Gedanke dazu, doch ganz einfach eine Frage der Qualität. Das Genfer Orchester hat eine Stufe der Kompetenz erreicht, die sich vergleichen lässt mit den dank der Schallplatte noch immer lebendigen Ära mit dem Gründer Ernest Ansermet und später dem Goldenen Jahrzehnt mit Armin Jordan.

Nott hat das klangliche Profil der Formation entschieden geschärft, und die Ausstrahlung des Dirigenten im Moment des Konzerts trägt ganz wesentlich zum Gelingen der künstlerischen Projekte bei. Notts Handschrift ist jedenfalls klar und auf Anhieb erkennbar, das bezeugt auch die sehr spezielle, in ihrer Weise sensationelle Doppel-CD mit einer von Nott erstellten Suite aus der Oper «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy und der gleichnamigen Tondichtung Arnold Schönbergs (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 12.01.22) – kein Wunder, ist die CD-Produktion durch den Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden.

Die besondere Qualität trat an besagtem Abend im angestammten Genfer Konzertsaal beim Violinkonzert von Johannes Brahms heraus. Frank Peter Zimmermann bewältigte den Solopart auf seiner ihm so sehr ans Herz gewachsenen, inzwischen wieder zur Verfügung gestellten Stradivari mit dem Namen «Lady Inchquin» mit einer Souveränität sondergleichen. Üppig und warm der Ton, innig die Musikalität der Wiedergabe. Das Orchester wiederum stand dem vom Publikum gefeierten Solisten in grossartiger Übereinstimmung und geradezu kammermusikalischer Flexibilität zur Seite.

Besonderes Aufsehen erregte jedoch die zu Beginn des Abends gespielte Sinfonie Nr. 5 von Jean Sibelius. Im Norden Europas hat der Bannstrahl Theodor W. Adornos, der die Musik Sibelius’ aus den Konzertsälen des deutschsprachigen Kulturbereichs verbannte, weniger Wirkung entfaltet. Gleich Simon Rattle, Brite wie jener, geht Jonathan Nott vorurteilslos und unverkrampft an Sibelius heran. Nicht weil er eine ganz natürliche Neigung für Pathos und Pomp hätte, wie sie etwa in der Musik von Edward Elgar zum Ausdruck kommt. Sondern weil er das Moderne bei Sibelius hört, die seelische Verlorenheit, das hilflose Kreisen, im musikalischen Ausdruck aber auch die Anklänge an den Impressionismus und die harmonischen Wagnisse.

In seiner Auslegung von Sibelius’ Fünfter betont er das durch einen leichten Klang, durch sensible, differenzierte Artikulation und hohe Durchhörbarkeit – all das bot ihm das Orchestre de la Suisse Romande mit seinen wunderbaren Bläsern und seinen bestens austarierten Streichern. Das Anrührende der Musik ergibt sich da von selbst: nicht durch Druck wie weiland bei Herbert von Karajan, sondern gerade umgekehrt durch Empfindlichkeit gegenüber der Struktur – und dort, in der Struktur, sind bekanntlich die Geheimnisse verborgen. Ein Beispiel dafür bietet ein kleines, aus fünf Tönen bestehendes  Motiv im zweiten Satz, das entweder mit einem Aufstieg oder mit einem Abstieg beginnt und auf der Wiederholung zweier gleicher Töne endet. Diese beiden Töne werden üblicherweise einfach wiederholt. Jonathan Nott versteht sie aber aus dem Kontext ihrer Position im Takt heraus und lässt den ersten, schweren Ton etwas länger, den zweiten, leichteren etwas kürzer und ein wenig leiser spielen. Interpretierende Arbeit am Detail, das macht es eben aus.

Ist hier beispielhaftes Niveau erreicht, zeigt sich die kulturpolitische Lage in Genf einigermassen schwierig. Nach der verlorenen Abstimmung zu der als privat finanziertes Projekt gedachten Cité de la Musique, in der die Musikhochschule wie das Orchester adäquate räumliche Verhältnisse hätten finden können, herrscht beim Orchestre de la Suisse Romande ein gewisser Katzenjammer. Der Intendant Steve Roger sieht keine Perspektiven zur erneuten Behandlung der infrastrukturellen Probleme. Es bleibt dabei, dass sich das Orchester für Proben und Konzerte in der städtischen Victoria Hall einmietet, dort aber nicht die nötige Planungsflexibilität und vor allem nicht die Nebenräume findet, die für einen vernünftigen Betrieb vonnöten wären. Schwierigkeiten gibt es aber auch beim Grand Théâtre, dessen Renovation zahlreiche Nachtragskredite erforderlich machte. Überdies wurde bekannt, dass beim Weiterverkauf der von der Comédie Française in Paris übernommenen und in Genf erweiterten Holzkonstruktion, der «Opéra des Nations», in der das Grand Théâtre die Jahre der Renovation zwischen 2016 und 2019 überdauerte, Probleme aufgetreten seien, die zu einer Klage des aus China stammenden Käufers gegen die Genfer Oper geführt hätten. Diese Klage habe nun mit Hilfe eines Vergleichs abgewendet werden können. Über die damit verbundenen Kosten erfährt die Öffentlichkeit aber nichts. Dem Vertrauen in die Kulturpolitik ist das nicht eben förderlich.

Die Elektramaschine – im Genfer Grand Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Carole Parodi, Grand Théâtre de Genève

Der italienische Stil der Operninszenierung füllt den Raum mit Bebilderungen – zumal mit solchen, welche die Anweisungen der Librettisten und Komponisten getreulich umsetzen; «Bohème» ohne Pariser Dachstüberl ist dort unmöglich. Gerade umgekehrt ist es beim deutschen Regietheater; hier wird die Bühne jenseits aller Vorgaben in der Partitur durch Zeichen eigener Erfindung im Geiste deutender Intention angereichert. Das Gegenmodell dazu bildet der leere Raum, nicht jener von Peter Brook, aber etwa jener von Robert Wilson, der sich, um dies Beispiel auszudenken, für Wagners «Parsifal» mit einem am Boden liegenden Speer aus Neonlicht und seiner ausgeprägten Gestensprache begnügt. Eng mit dem leeren Raum verbunden, so scheint mir, ist das Bildertheater neuerer Art, wie es Pierre Audi in vielen seiner Inszenierungen für die Amsterdamer Oper, besonders in jener von Wagners «Ring», so virtuos gepflegt hat.

Im Gegensatz zum bebildernden Theater italienischer Provenienz, auch anders als das Regietheater, füllt dieses Bildertheater nicht den Raum, es lässt ihn vielmehr erst als solchen entstehen und wahrnehmen. Indem es nämlich von der Leere ausgeht und mit wenigen, grossformatigen Elementen die Umrisse schafft, innerhalb derer sich die Darstellerinnen und Darsteller bewegen. Genau das verfolgt der deutsche Bühnenkünstler Ulrich Rasche. Für seine Inszenierung von «Elektra», dem Schauspiel Hugo von Hofmannsthals, 2019 am Münchner Residenztheater erfand er eine stählerne Bühnenskulptur, die einen langsam rotierenden Spielort ergab. Dieselbe Einrichtung bestimmt auch Hofmannsthals «Elektra» in der Vertonung von Richard Strauss, seine erste Arbeit für das Musiktheater, zu der er vom Genfer Grand Théâtre eingeladen worden ist.

Zu sehen ist ein kreisrunder, schräg in den Raum fallender Turm von mächtiger Dimension und zugleich filigraner Ausarbeitung. Unter dem Turm befinden sich zwei ebenfalls kreisrunde, schräggestellte Scheiben, die in ihrem äusseren Bereich mit Laufbändern versehen sind. Enorm wirkt diese Konstruktion, zugleich ist sie aber von hoher Beweglichkeit, da sie sich in all ihren Elementen drehen und wenden lässt. Dazu kommt, vom Regisseur und Szenographen zusammen mit Michael Bauer eingerichtet, eine unerhört effektvolle Beleuchtung, die den Bühnenraum in tiefstem Schwarz belässt, die Skulptur jedoch ganz verschiedenartig erhellt und ihre Materialität wandelbar erscheinen lässt. Im Ansatz ist das nicht neu, wenn man an die in den leeren Raum gestellte Schreibe Wieland Wagners denkt, die für die Wiederbelebung der Bayreuther Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg steht. In der Ausfertigung ist es aber einzigartig. Und von hinreissender szenischer Wirkung. Bildertheater eben.

Alles ist da unentwegt in Bewegung, meist in schwieriger, anstrengender Bewegung – es fällt gleich zu Beginn auf, wenn die Mägde, die sich auf der unteren Ebene aufzuhalten haben, in die Situation einführen. Doch auch auf der oberen, der Herrschaft vorbehaltenen Ebene, auf der sich die grossen Konfrontationen ereignen, muss aufs Gleichgewicht geachtet werden. Indes, die Bewegung führt keineswegs zu Fortgang, alles dreht sich im Kreis – im unentrinnbaren Kreis einer blutrünstigen Rache. Verdeutlicht wird das durch den immer wieder abgesenkten Turm, der Klytemnästra und deren Töchter Elektra und Chrysothemis gefangen hält: Dem Fatum, von dem «Elektra» handelt, entweicht niemand. So kommt es auch kaum zu Dramatik – auch dann nicht, wenn sich der alte Diener (Dimitri Tikhonov) vor seinem sich noch bedeckt haltenden Herrn verneigt und wenn Elektra den für tot gehaltenen Bruder Orest wiedererkennt. Wie ein gigantisches Ritual läuft die Oper ab, gleichsam der Zeit enthoben, wie es das Libretto Hofmannsthals anlegt, und doch in anhaltend vibrierender Spannung.

Das gelingt, weil die Inszenierung den Raum schafft, in dem die strukturelle Komplexität und die hochgetriebene Expressivität der Musik von Richard Strauss uneingeschränkt zur Geltung kommen. Jonathan Nott, der Musikdirektor des Orchestre de la Suisse Romande, der an der Genfer Oper keine offizielle Position einnimmt, aber künstlerisch hohen Einfluss ausübt, durchdringt die Partitur bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein mit pulsierendem Leben. Dabei ergibt sich ein Bogen, dessen durch Identifikation erzeugte Intensität in keinem Augenblick nachlässt; gleichzeitig hat Nott für jeden das erforderliche Handzeichen und für jede einen nützlichen Blick bereit. Das grossbesetzte Orchester schont sich in keinem Augenblick; es sitzt an der Stuhlkante und gibt, was es zu geben vermag. Kraftvoll und klangschön, das ist nicht selbstverständlich, die Eruptionen im Fortissimo, rund und warm die Tiefen, hell leuchtend und schimmernd die Momente der Zärtlichkeit, federnd die punktierten Rhythmen auch im grossen Ton. Zu laut ist da nichts, auch an den Stellen der vollen Kraftentfaltung sorgen die Balancierung durch den Dirigenten und die grossartig gewachsene Klangkultur des Orchesters für sinnreiche Grenzziehungen.

So bleibt ausreichend Raum für die vokale Seite, und die erheischt allen Respekt. Die drei Protagonistinnen – sie sind wie alle Mitglieder des grossen Ensembles von den Kostümbildnerinnen Sara Schwartz und Romy Springsguth in schlichtes Schwarz gewandet und mit markanten Korsetts versehen, an denen die zur Besteigung der stählernen Skulptur notwendigen Sicherheitsseile befestigt sind –, die drei Protagonistinnen sind in der Höhe postiert, ihre Stimmen überfliegen den Orchestergraben und bleiben dementsprechend präsent. Tanja Ariane Baumgartner gibt die Klytemnästra mit wohlgrundiertem, gerundetem Mezzosopran und in hohem Mass verständlich, ausserdem fern jener Hysterie, die hier so nahe liegt. Mit hellem Timbre dringt Sarah Jakubiak als Chrysothemis auf ein Leben als Frau. Während bisweilen Ingela Brimberg mit ihrem weiten Ton als eine Elektra von menschlichem Format erscheint – nicht als eine Kranke, sondern als eine Frau, die ganz einfach weiss, was sie will und keinen Schritt davon abweicht. Wunderbar der Orest von Karoly Szemeredy, köstlich der Ägisth von Michael Laurenz. Dass dem Musikalischen in der szenischen Einrichtung von Ulrich Rasche so viel Bedeutung zukommt, wie es bei «Elektra» selten der Fall ist, stellt die eigentliche Wohltat des Genfer Abends dar.