Oper ohne Gesang

«Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy als Sinfonische Dichtung in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Als Ende Februar 2020 Covid-19 um sich zu greifen begann, mussten die kulturellen Institutionen ihre Häuser schliessen. Zur Untätigkeit gezwungen war auch Jonathan Nott – doch der britische Dirigent aus der Schweiz, seines Zeichens musikalischer und künstlerischer Direktor des Orchestre de la Suisse Romande in Genf, liess sich dadurch nicht in die Enge treiben. Er zog sich zurück auf die Musik an sich und versenkte sich in sein Herzensstück seit früher Zeit, in «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy. Warum nicht, das war seine Frage.

Genauer: Warum nicht das Drame lyrique von 1902 für den Konzertsaal gewinnen? Natürlich nicht auf dem Weg der konzertanten Aufführung, sondern vielmehr in der Form eines eigenen Werks: als eine zusammenhängende Folge von Abschnitten aus der durchkomponierten Oper. Einrichtungen solcher Art waren in den Jahren vor und nach 1900 an der Tagesordnung, man denke etwa an das Ballett «Daphnis et Chloé» von Maurice Ravel, aus dem der Komponist selbst zwei Suiten zum Gebrauch im Konzertsaal zog. Auch zu «Pelléas et Mélisande» gibt es derlei Einrichtungen, die berühmteste unter ihnen stammt von dem österreichischen Dirigenten Erich Leinsdorf. Die Bearbeitungen dieser Art gehen von den zahlreichen instrumentalen Teilen in Debussys Partitur aus. Jonatan Nott hatte jedoch etwas anderes im Sinn.

Er wollte die Oper als eigenen, vollgültigen Kosmos auf dem Konzertpodium verankern, und dies in rein instrumentaler Ausführung. Kürzung auf eine in der Praxis vertretbare Konzertlänge war also angesagt – und zugleich eine Erweiterung der Orchesterpartitur durch all das an Ausgesprochenem, Angedeutetem und vor allem leitmotivisch Notwenigem, was inneren Zusammenhang schafft. Trotz der Kürzungen sollte die Oper in ihrer Ganzheit, in ihrer immanenten Spannung, auch dramaturgischen Logik erlebbar werden. In welchem Masse das gelungen ist, erwies eine noch im November 2020 entstandene Aufnahme, deren besonderer Reiz ausserdem darin besteht, dass das kondensierte und intensivierte Werk Debussys mit dem fast zu gleicher Zeit entstandenen Poem «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönbergs kombiniert ist – was zu spannenden Vergleichen einlädt.

Auf dem Markt fand das zwei Compact Discs umfassende Projekt aus dem Hause Pentatone gute Resonanz. Es kam sogar auf die Vierteljahresliste im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Und auch im Netz ist die Aufnahme greifbar, selbst, was offenbar noch nicht bis zur Administration des Orchesters durchgedrungen ist, auf dem französischen Portal Qobuz und bei dem bedeutenden, auf klassische Musik spezialisierten Anbieter Idagio. Inzwischen jedoch, beinahe drei Jahre nach der Aufnahme, ist «Pelléas et Mélisande» in der von Jonathan Nott stammenden Einrichtung als Sinfonische Dichtung auch im Konzert vorgestellt worden – als Uraufführung notabene in der Genfer Victoria Hall. Ein grosser, mit lebendiger Zustimmung aufgenommener Moment.

Die Live-Aufführung stellt den Effekt, den die rein orchestrale Erzählung der Oper Debussys intendiert, in besonders helles Licht. Zumal sich das Orchestre de la Suisse Romande und sein Musikdirektor in Bestform präsentiert haben. Jonathan Nott hat die Musik Debussys in der Tiefe seines Inneren verankert; die Verdichtung erlaubt ihm, innerhalb einer knappen Stunde sehr nah an den Kern des Werks heranzukommen. Und die seine Musikalität prägende Neigung zum Dramatischen tut in einem solchen Moment das Ihre. In geschmeidigen Tempi und natürlichem Zug entfaltete sich die schauerliche Geschichte; die Seelenzustände, die der alte, verzweifelte Golaud, die ganz junge, scheue Mélisande und der naiv feurige Pelléas exponieren, sie waren förmlich mit Händen zu greifen – und dies in einem Wechselbad zwischen aufschäumender Liebe, bedrohlichem Misstrauen und Tod. Unerhört spannend geriet das, geradewegs zum Anhalten des Atems. Allerdings, je besser man die Oper Debussys kennt, desto mehr kann man in der Sinfonischen Dichtung erleben.

So ausgezeichnet gelungen ist die Aufführung, weil das Orchester und sein Dirigent auf der gesicherten Basis einer deutlich hörbaren Gemeinsamkeit agieren. Alle atmen sie gemeinsam, alle streben nach Identifikation, alle geben ihr Bestes. In einem warmen, geradezu üppigen Gesamtklang finden die einzelnen Farben zu leuchtender Präsenz; reich ist das Ausdrucksspektrum zwischen der Sensibilität der klanglichen Feinzeichnung und der dramatischen Eruption – wobei auch in den Momenten der Kraft Balance und Schönheit gewahrt bleiben. Bekanntlich versteht sich das gerade keineswegs von selbst.

Vorzüge solcher Art bestätigten sich, nun in ganz anderer Sprache, bei Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur. In Kit Armstrong war hier sehr kurzfristig ein geradezu sensationeller Einspringer für die aus gesundheitlichen Gründen verhinderte Maria João Pires gefunden worden. Der sagenhaft begabte, auch stilistisch in hohem Ausmass versierte Pianist überraschte mit sorgfältiger Lesart der Partitur und manch überraschender Artikulation, ausserdem mit einem leichten, hellen Ton am Steinway. Während Orchester wie Dirigent ihm in berührender Weise nahe blieben.

Allein, genau jetzt, da das Orchestre de la Suisse Romande und Jonathan Nott definitiv in die gleiche Strasse eingebogen sind und die Fruktifizierung ihren Lauf genommen hat, wird von der Trägerschaft des Orchesters mitgeteilt, dass der 2017 als unbefristet geschlossene Vertrag zwischen den beiden Partnern auf den 1. Januar 2026 beendet werden soll. Im März 2026 soll noch eine Tournee folgen, Jonathan Nott wird sie dann aber als «chef invité» leiten. Fast ein Jahrzehnt an der Spitze eines Orchesters sind genau das Richtige, am besten geht man, wenn es am schönsten ist – derlei lässt sich dazu sogleich anführen. Nur: Die Trennung von Jonathan Nott erfolgt in einem nicht unproblematischen Klima.

Vor eineinhalb Jahren trug ein regionaler Fernsehsender die (gewiss hohe, aber keineswegs unübliche) Gage des Dirigenten an die Öffentlichkeit getragen, was eine lebhafte, wenn auch wenig produktive Debatte auslöste – ist hier etwa ein Kesseltreiben in Gang gesetzt worden? Der Verdacht liegt darum nahe, weil sich beim Orchestre de la Suisse Romande in den vergangenen zwei Jahrzehnten eigenartige Personalbewegungen gehäuft haben – vom missglückten Versuch, dem Orchester einen seinem Niveau nicht entsprechenden Dirigenten aufzudrängen über die zahllosen, raschen Wechsel in der Geschäftsführung bis hin zu dem kostspieligen Abgang eines Orchesterdirektors schon nach wenigen Monaten der Tätigkeit. Welcher Art die Gründe hinter der jüngsten Personalie seien, ob der Wechsel am Grand Théâtre auf die Saison 2026/27 eine Rolle spiele, es muss offen bleiben. Klar ist nur, dass ein künstlerisches Projekt abgebrochen wird, das dem Orchester eine neue Perspektive wie kaum mehr seit der Ära mit Armin Jordan verschafft hat.

Wagners «Ring» nach Basler Art

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Trine Møller) klärt Sieglinde (Theresa Kronthaler) auf, Siegfried, noch ungeboren, aber anwesend, hört zu: «Die Walküre» im neuen Basler «Ring des Nibelungen / Bild Ingo Höhn, Theater Basel»

Nun hat der «Ring» auch Basel ergriffen – und wie. Anders als in Bern und Zürich, wo die Nibelungen seit der Spielzeit 2021/22 ihr Unwesen treiben, wird Richard Wagners Tetralogie am Theater Basel nicht einfach an und für sich gezeigt – was nach den gescheiterten Annäherungen im frühen und im späten 20. Jahrhundert für ausreichend Sensation gesorgt hätte. Nein, am Rheinknie erscheint der «Ring» eingebettet in ein Festival, das die Geschichte in einem Vorabend und drei Tagen sinnlich oder kritisch begleitet. Das greift freilich etwas hoch. Unter dem Titel «Rheinklang» gibt es vor den Aufführungen von «Rheingold» auf dem Theaterplatz ein «Chorritual» des Briten Matthew Herbert, das den Fluss, in dem das Gold lagert, zu den wartenden Zuschauern und den vorbeigehenden Passanten bringt.

Vor der grossen Treppe stehen fünf Schalen mit den brennenden Scheiten aus der «Götterdämmerung», vor einem Mikrophon finden sich schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger ein, die den Ton Es aus dem Vorspiel zu «Rheingold» intonieren; in der Folge schliessen sich ihnen Mitglieder aus dem Chor und dem Extrachor des Theater Basel an, die, in einer langen Kolonne die Feuerschalen umkreisen und ebenfalls das Es, bisweilen auch das dazugehörige B intonieren. Immer enger werden die Kreise, bis schliesslich alle das Wasser aus ihren mitgebrachten Gefässen über die starken Scheite in den Schalen giessen und eine dichte Rauchwolke aufsteigt. Eine Kürzestfassung der Tetralogie, die zwar Zusammenhänge schafft, in ihrem latenten Jekami-Charakter aber nicht mehr als nette Stimmung erzeugt, jedenfalls wirklich Substanzielles beisteuert.

Drinnen im Haus geht dann aber die Post ab – am einen Abend mit «Rheingold», am zweiten mit der «Walküre» (die Teile drei und vier folgen in der kommenden Spielzeit). Was hier sogleich ins Auge fällt, ist der bis auf einen kleinen Schlitz geschlossene Orchestergraben – ganz nach der Art des Bayreuther Festspielhauses. Das Sinfonieorchester Basel sitzt in grosser Formation nicht nur im Graben, sondern auch in der sogenannten Garage, einem Raum, der sich hinter dem Graben weit unter die Bühne erstreckt. Dort, wo sonst Bretter die Welt bedeuten, ist ein schwarzes Gitter eingefügt, durch das der instrumentale Klang in den Zuschauerraum findet. Die Kommunikation zwischen dem orchestralen Nibelheim und der Bühne wird mit Hilfe von Bildschirmen erzeugt. Unerhört voll und fasslich klingt das Orchester für den Zuhörer in der vierten Reihe; später, auf einem Platz hinten auf der Estrade, ändert sich wenig an diesem Eindruck. Saft und Kraft in aller Schönheit erzeugen die Streicher, aber auch die Hörner, während die solistisch hervortretenden Bläser, namentlich das Englischhorn, farbig schimmernde Linien aufscheinen lassen.

Das alles geschieht unter der Leitung von Jonathan Nott, der 1996 als junger Kapellmeister in Wiesbaden seinen ersten «Ring» dirigiert und im Wagner-Jahr 2013 mit einer konzertanten Aufführung der Tetralogie sensationellen Erfolg erzielt hat. Die Erfahrung ist zu hören. In Wagners Partituren kennt er sich eins zu eins aus; mit sicherem Gespür für die Tempi und ihre Verbindungen, mit instinktivem Gefühl für das Rauschhafte und zugleich mit untrüglichem Wissen um die Einzelheiten zieht er durch die beiden Abende: als ein genuiner Theatermusiker, der den Leitmotiven ihre Rechte lässt, sich aber nie bemüssigt fühlt, den belehrenden Zeigefinger auszustrecken. Alte Instrumente, wie sie diesen Sommer beim Lucerne Festival zu hören waren, haben ihren Reiz; in Basel ist zu erleben, dass es auch ohne sie zu spannenden Ergebnissen kommen kann.

Die spezielle szenische Konfiguration bildet die Basis für Musiktheater im Raum – denn Benedikt von Peter, Intendant des Theater Basel und, zusammen mit Caterina Cianfarini, Regisseur des Basler «Ring», ist ein Raumkünstler. Das hat er in verschiedenen, in ihrer Wirkung oft überwältigenden Inszenierungen, etwa mit Luigi Nonos «Prometeo» 2016 in Luzern oder in Basel 2020 mit «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen, vor Augen geführt. In Wagners Tetralogie macht die Heranführung der Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne ans Publikum heran besonders Sinn und gehörig Effekt. Wer die bebenden Körper ganz nah vor sich sieht und dabei jedes Wort versteht, bekommt eine Ahnung davon, was Singen heisst – erst recht Singen auf der Bühne und Wagner-Singen. Indessen weist das Konzept zwei entscheidende Schwächen auf. Zunächst ist die Nähe natürlich nur in den ersten Sitzreihen wirklich erlebbar; wer seinen Sitz weiter hinten im Zuschauerraum vorfindet, für den bleibt die Nähe fern wie stets in der Oper – zumal die durch Natascha von Steiger konzipierte Einheitsbühne mit grossen Elementen, etwa einem mehrstöckigen Holzhaus als Sinnbild für die Burg Walhalla, arbeitet und den Blick in den Hintergrund zieht. Das führt zu einer deutlichen Ungleichbehandlung des Publikums.

Vor allem aber erhält in der Basler szenischen Einrichtung der Körperausdruck besonderes Gewicht – und der ist, wie stets bei Benedikt von Peter, handgreiflich, bisweilen jedoch nicht sonderlich differenziert ausgeprägt. Zwar setzt das die musikalische Vitalität fasslich in Gang und Geste um, zugleich aber steht es dem Werk Wagners im Weg. In den beiden grossen Streitgesprächen zwischen Wotan und Fricka in «Rheingold» wie in der «Walküre» verliert die hochstehende Schlagfertigkeit und dessen musikalische Umsetzung an Schärfe, weil zu viel szenische Betriebsamkeit herrscht. Mit seinem dunklen Timbre gibt Nathan Berg einen überherrischen und darum schon merklich angeknacksten Göttervater, der viel zu oft und viel zu stark auf den Tisch haut, während Solenn’ Lavanant Linke die Göttergattin packend singt, aber zu sehr mit Hysterie versieht. Auch der Loge von Michael Laurenz, stimmlich von hohem Format, wirkt überzeichnet. Rollendeckend dagegen die Erda der ehrwürdigen Hanna Schwarz und Frickas Schwester Freia, die für einmal nicht von einer Soubrette, sondern von Lucie Peyramaure mit ihrer pointierten stimmlichen Präsenz gesungen wird.

Das alles findet Platz in einer Inszenierung, die den «Ring des Nibelungen» als Rückblende, als Erinnerung Brünnhildes an ihr Leben, zu erzählen sucht. Wotans Lieblingstochter, Trine Møller bringt das mit farbenreicher Stimme, aber ebenfalls mit etwas heftiger Körpersprache zur Geltung, sieht ihren Vater, seinen zum Scheitern verurteilten Machtanspruch, ausgesprochen kritisch – ja, sie schildert es so, dass ihre Stiefmutter Fricka als Anführerin einer Verschwörung gegen Wotan erscheint. Immer wieder tritts Fricka hinter einer Wand hervor und fordert, ohne ein Wort zu singen, von ihren Untergebenen Donner (Michael Borth) und Froh (Ronan Caillet), ins Bühnengeschehen einzugreifen. Dieses Geschehen zeigt sich in einer Art Zeitlosigkeit, indem sich Ungleichzeitiges gleichzeitig ereignet. Die handelnden Figuren sind in ihren unterschiedlichen Lebensaltern gegenwärtig – Siegfried zum Beispiel mit einem Hörnchen am Gürtel und einem Holzschwert als Kind, auch als Jugendlicher. Das mag aufgesetzt wirken, denkt aber die dramaturgischen Ansätze Wagners weiter, denn durch die Leitmotive und die immer wieder eingefügten Rekapitulationen bleibt die Tetralogie über weite Strecken als Ganzes präsent.

Allerdings schafft die Basler Art der Bühnenerzählung für das Publikum auch Momente der Verwirrung und solche der Ablenkung. Zudem wird hier «Der Ring des Nibelungen», der von A bis Z durchkomponiert ist, durch unnötige, weil banale Zwischentexte unterbrochen. Dabei gäbe es reichlich genug zu erleben. «Rheingold» etwa als ein ins Grosse verlängertes Puppentheater, in dem die Rheintöchter wie in den ersten Inszenierungen der Tetralogie als an Stäben geführte Nixen erscheinen, während Alberich (der vorzügliche Andrew Murphy) als riesige Kröte herumhüpft und später als veritabler Drache aus den seitlichen Vorhängen hervorschnaubt. Oder in der «Walküre», mit Ric Furman und Theresa Kronthaler, Siegmund und Sieglinde als ein von Anfang an schwer gefährdetes Liebespaar. Artyom Wasnetsov gibt einen furchterregenden Hunding, Runi Brattaberg neben Thomas Faulkner als Fasolt einen nicht weniger schlagkräftigen Fafner, und Karl-Heinz Brandt macht als Mime auf die Fortsetzung im nächsten Herbst neugierig.

Von den Nibelungen, deren rhythmisch vertrackte Hammerschläge leider nicht sehr gut vernehmbar geraten, wird erzählt, sie gewännen das Gold in den Tiefen des Rheins und dort in Schluchten und Grüften. Fast in denselben Worten berichtet das die Basler Mission in einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Schilderung ihrer Tätigkeit in Afrika. Dies im Rahmen eines dokumentarischen Theaterstücks von Regine Dura und Hans-Werner Koestinger mit dem Titel «Gold, Glanz und Götter» – einem Teil des Festivals zum «Ring». Es handelt vom globalen Wirken der Basler Handelsherren, die mit ihren auch den Sklavenhandel einbeziehenden Dreiecksgeschäften zwischen Europa, Afrika und Südamerika im Namen Gottes des Herrn mächtig Gold an die Gestade des Rheins gebracht haben. Davon die Rede ist zunächst in einem kleinen Raum im obersten Stock des Basler Stadttheaters, später dann, nach einem eiligen Gang durch ein endlos wirkendes Treppenhaus in die tiefste Tiefe des Materiallagers. Dort wird diese von heute aus peinliche Geschichte anhand vieler nicht ganz neu entdeckter, aber doch hochinteressanter Dokumente ausgebreitet. Und dort kommen auch wieder jene Messing-Gefässe zum Einsatz, die schon im «Chorritual» auf dem Theaterplatz zu sehen waren und die auf der Bühne als Rheingold den Körper Freias zudecken. Auch hier: Leitmotive. Aber solche der eigenen Art.

Herbe Schönheit

Asmik Grigorian mit Jonathan Nott beim
Orchestre de la Suisse Romande in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

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Kaum ist das Konzert zu Ende, bricht in der Seitenstrasse neben der Genfer Victoria Hall hektisches Treiben aus. Schwere Lastwagen fahren vor, von erfahrenen Spezialisten millimetergenau an den Randstein gelotst. Auf dem Gehsteig, wo kaum mehr ein Durchkommen ist, warten enorme Kisten auf Rädern. In ihnen verstaut sind Pauken und anderes Schlagwerk, die Kontrabässe mitsamt den Fräcken der jeweiligen Musiker, das Podest für den Dirigenten. Die Situation gleicht der auf Tournee; auch dort geht es, wenn der Beifall verklungen ist, bei den Orchestertechnikern erst richtig los – nur sind wir ja zu Hause, in Genf. Allein, zu Hause ist das Orchestre de la Suisse Romande (OSR) in der Victoria Hall keineswegs. Es gibt dort zwar seine Konzerte und hält auch die Proben ab. Doch zum Schluss muss das Podium jeweils piekfein aufgeräumt werden, selbst nachmittags nach der Generalprobe und vor dem Konzert. Der Saal gehört eben der Stadt Genf, das Orchester bespielt ihn zur Miete und muss das Gebäude nach absolviertem Dienst für Veranstaltungen anderer Art freigeben. Stauraum gibt es keinen in der innerstädtischen Lage der Victoria Hall, darum die komplexen Transporte. Und eine vertretbare Garderobe fehlt ebenso – nur dem Dirigenten und den Solisten stehen ultrakleine camerini zur Verfügung. Das war einer der Gründe für das privat finanzierte Projekt einer «Cité de la Musique» für das Orchester und die Musikhochschule. Es ist einer Volksabstimmung zum Opfer gefallen.

Da drängen sie sich nun also um einen grossen Tisch, die Musikerinnen und Musiker, doch es herrscht ausgezeichnete Stimmung. Die offizielle Saison ist zu Ende, das Abschlusskonzert formidabel gelungen. Selbst den ersten Teil des Abends kann man gelten lassen, denn hier gab es eine Uraufführung. Aus der Taufe gehoben wurde ein Werk, das für das OSR entstand, der Pandemie wegen aber noch nicht gespielt werden konnte. Ein Werk ausserdem, das als Konzert für Streichquartett und Orchester eine äusserst seltene Besetzung aufweist. Gewiss, im Barock gab es konzertante Formen wie das Concerto grosso mit seinen Wechselspielen zwischen dem solistisch besetzten Concertino und dem vollen Orchester als dem Ripieno, später dann die konzertante Sinfonie mit mehreren solistisch behandelten Instrumenten vor der Gesamtheit des Orchesters. Aber das Streichquartett in expliziter solistischer Vorrangstellung vor dem Orchester, das ist eine ausgesuchte Rarität. Arnold Schönberg hat sie (im Geiste Georg Friedrich Händels) gepflegt, vor ihm Louis Spohr, nach ihm Bohuslav Martinů oder der Schweizer Conrad Beck. Jetzt gesellt sich Yann Robin dazu, der bald fünfzigjährige Franzose, der hierzulande trotz einem gut bestückten Werkkatalog so gut wie unbekannt ist. Sein Konzert für Streichquartett und Orchester lässt die Herkunft des Komponisten aus dem Jazz nicht verkennen. Die Musik ist von pulsierender rhythmischer Energie getragen, bisweilen gerät sie regelrecht ins Keuchen, worauf ein tiefes Löwengebrüll (eine umgekehrte Trommel, durch deren einziges Fell ein dickes Seil gezogen wird) für Ordnung sorgt. Was heisst hier «Ordnung»? Chaotisch geht es zu in dieser über weite Strecken lauten, aber alles andere als ungeordneten Partitur. Äusserst viel wird von den Solisten verlangt – und diese Position war mit dem im Bereich des Zeitgenössischen hochversierten Quatuor Tann (mit Antoine Maisonhaute und Ivan Lebrun an den Geigen, Natanael Ferreira an der Bratsche und Jeanne Maisonhaute am Cello) hervorragend besetzt. Da flogen die Bogenhaare, und Jonathan Nott sorgte dafür, dass das Orchester jederzeit bei der Stange blieb.

Damit war die Temperatur vorgegeben. Sie erfüllte sich im zweiten Teil, in der Musik von Richard Strauss. Fulminant stieg Jonathan Nott in den «Schleiertanz» aus der Oper «Salome» ein, man konnte beinah ins Fürchten geraten. Bald glätteten sich jedoch die Wogen und wurde deutlich, dass nach dem Ausrufezeichen des Beginns das Ritual, in dessen Verlauf die Stieftochter vor dem geilen Herodes die Schleier fallen lässt, in grandios gezügeltem Spannungsverlauf gesteigert wird. Phänomenal die solistischen Einwürfe etwa der kernigen Bratsche oder der klangvollen, subtiles Vibrato beifügenden Flöte. Und grossartig die Streicher, die zu einem warmen, kompakten, aber nirgends schwergewichtigen Klang gefunden haben. Doch dann erschien Asmik Grigorian, die Sopranistin aus Vilnius, die von den Salzburger Festspielen aus aufgestiegen ist und heute zu den gefragtesten Vertreterinnen ihres Fachs gehört. Würde die 42-jährige Sängerin die ganz gelöste, zurückhaltende Nostalgie der Vier letzten Lieder von Richard Strauss treffen können? Würde sie sich mit dem herben Stahl in ihrer Stimme und mit ihrer sagenhaften Präsenz in den ziselierten Orchestersatz einfügen? Die «dämmrigen Grüfte» im «Frühling» nährten anfangs noch Zweifel, die Solistin klang da bisweilen dominant, verselbständigt. Aber rasch hatte die unerhört professionell agierende und gleichzeitig spontane Expressivität ausstrahlende Künstlerin ihre vokalen Möglichkeiten und die Raumakustik im Griff. Vom «September» an konnte man sich voll auf die nahezu perfekte Diktion einlassen, «Beim Schlafengehen» kam die von Hermann Hesse angesprochene Seele tatsächlich in ein ruhiges Schweben – und schliesslich «Im Abendroth» auf einen Text Joseph von Eichendorffs: eine Offenbarung. Ganz diesseitig, aufrauschend – das Orchester zeigte hier seine ganzen Qualitäten – der Beginn, dann freilich das zusehende Zurücksinken bis hin zur Frage nach dem Tod: zusammen mit Jonathan Nott hat das Asmik Grigorian hinreissend gestaltet. Ganz einfach: richtig, hier ist das in Fragen der musikalischen Interpretation falsche Adjektiv am Platz.

Glückliche Hand

Mahlers Neunte mit Jonathan Nott und dem
Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 hatte sich Jonathan Nott im Herbst 2014 dem Orchestre de la Suisse Romande als neuer Chefdirigent (und Nachfolger des nur kurze Zeit präsenten Esten Neeme Järvi) empfohlen. Anfang 2015 wurde er dann auch gewählt – mit Amtsantritt im Januar 2017. Sechs Jahre sind seither vergangen, die Beziehung zwischen dem Genfer Orchester und seinem Directeur musical et artistique steht in voller Blüte. Die Konzerte in der altehrwürdigen Victoria Hall (das Projekt eines neuen Konzertsaals ist in einer Volksabstimmung 2021 durchgefallen) sind gut besucht, auch dank den Initiativen des Intendanten Steve Roger. CD-Aufnahmen für das Label Pentatone machen auf sich aufmerksam; eine der jüngsten mit einer von Nott selbst eingerichteten Suite aus Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» (vgl. «Mittwochs um zwölf vom 12.01.22) erhielt den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Die Beziehung zum Grand Théâtre de Genève, in dessen Graben das Orchester wirkt, ist nicht zuletzt dank dem Einvernehmen zwischen Nott und Aviel Cahn, dem Direktor des Grand Théâtre, zu beiderseitigem Gewinn verfestigt worden. Inzwischen ist Notts Vertrag verlängert worden, ohne zeitliche Begrenzung notabene. Wie sagte Herbert von Karajan, als er von den Berliner Philharmonikern für das Amt des Chefdirigenten angefragt wurde: Gerne, aber auf Lebenszeit…

Dass es mit Mahlers Siebter geklappt hat, ist kein Wunder, der Komponist steht Nott besonders nahe, und so kommt er immer wieder auf ihn zurück. In Genf war jetzt war die Reihe an der neunten – für das Orchester ein Parforceritt der Sonderklasse. An diesem Abend galt das besonders, ging der knapp neunzig Minuten dauernden, nach allen Seiten hin anspruchsvollen Musik Mahlers doch noch das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy inklusive Pause voraus. Das war definitiv zu viel des Guten. Und das umso mehr, als das Orchester zwar ganz ausgezeichnet begleitete, die junge Solistin Alexandra Conunova ihren Part aber im Geist der russischen Schule anging, was zu den bekannten Missverständnissen und Geschmacklosigkeiten führte. Im weiteren Verlauf des Abends kam es denn auch zu Einbrüchen in der Konzentration, was sich in einer erhöhten Frequenz von Hustenanfällen niederschlug. Das fiel deshalb ins Gewicht, weil Jonathan Nott gerade in den Momenten des allerleisesten Verklingens am Schluss des ersten Satzes wie am Ende des Finales mit letzter Konsequenz zu Werk ging. In spannungsvoller, ausgesprochen mutiger Ruhe zog er die Prozesse der Verlangsamung und der Auflösung durch. Und das Orchestre de la Suisse Romande, dessen Streicher in diesen Momenten der Zurücknahme ins Piano-Pianissimo extrem gefordert waren, blieben mit bewundernswertem Engagement an des Dirigenten Seite.

Insgesamt bot die Aufführung freilich ein sehr bewegendes Wechselbad der Gefühle. Nott nimmt Mahler beim Wort. Und das Orchester gibt seinem Dirigenten, war er braucht. So herrscht denn nicht jene Abgeklärtheit, die bei so grossartigen Mahler-Dirigenten wie Claudio Abbado und Bernard Haitink das Geschehen im Zaum gehalten hat. Vielmehr schiessen die Emotionen immer wieder mit erschreckender Urgewalt hoch; explizit spricht die Musik von dem in vielerlei Weise zerrissenen Innern des Komponisten – das so direkt, so greifbar mitgeteilt zu bekommen, führt zu Hörerlebnissen eigener Intensität. Bei aller Emotionalität bleibt Nott aber doch der in Kategorien der Moderne denkende Musiker, der er seit jeher ist (die jüngste CD-Publikation des Genfer Orchesters mit dem fabulösen Tessiner Pianisten Francesco Piemontesi gruppiert Klavierkonzerte von Maurice Ravel und Arnold Schönberg um die «Oiseaux exotiques» für Klavier und Ensemble von Olivier Messiaen). In gleichem Mass, wie er auf den zugespitzten Gefühlsausbruch hinsteuert, hat der Dirigent die strukturelle Seite des musikalischen Geschehens im Blick – und die ist im Falle von Mahlers Neunter von besonderer Vielschichtigkeit. Mit Blicken, mit den Händen, dem Oberkörper ist Nott zur Stelle, wenn es ernst gilt. Das bringt musikalische Energie zutage, sorgt aber auch für jene Trennung der Farben, die das Stimmengeflecht zum Leuchten bringt. Besondere Spannung trug den zweiten Satz, und das bis zum Schluss, wo Elçim Özdemir, die Stimmführerin der Bratschen, mit ihren kernigen solistischen Interventionen das Bild wesentlich prägte. Überhaupt fehlte es nicht an glanzvollen Leistungen einzelner Orchestermitglieder; einmal mehr war zu begreifen, wie sehr die Wirkung des Ganzen bei der Beteiligung des Einzelnen beginnt.

Der Leuchtturm in Genf

Besuch beim Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konzertsäle und Opernhäuser hätten Mühe, ihr Publikum zurückzugewinnen, die Musik als Kunst sei am Ende, sie müsse aktiv und mit allen, auch mit ungewöhnlichen Mitteln unter die Leute gebracht werden, unter die jungen Leute vor allem, denn die älteren wiesen nicht das notwendige Potential auf. So wird geschrieben, so wird gesprochen, aber wohl doch eher von Menschen, die nicht in die Oper, nicht ins Konzert gehen, bestenfalls Statistiken lesen. Wer die Branche kennt, wird wissen, dass sich eine zwei Jahre dauernde Zwangspause nicht von heute auf morgen bereinigt, dass es also verfehlt ist, vom aktuellen Zustand im Vergleich mit den Verhältnissen vor dem Ausbruch der Pandemie auf die Zukunft zu schliessen. Und wer ihn und wieder ein Konzert anhört oder eine Opernaufführung besucht, wird gut und gerne von vollen Rängen berichten können – Momentaufnahmen, gewiss, aber doch Wirklichkeit. Bruckners Fünfte mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Herbert Blomstedt, «Rheingold» in der Inszenierung von Andreas Homoki und unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda im Opernhaus Zürich stehen als zwei beliebige Beispiele aus jüngerer Zeit dafür, dass von einem allgemeinen, grundlegenden Zerfall keine Rede sein kann.

So gedacht auch eben erst in der Genfer Victoria Hall, wo das Orchestre de la Suissse Romande mit seinem Chefdirigenten Jonathan Nott aufgetreten ist: im Abschlusskonzert der Saison und mit einem Programm eher konventionellen Zuschnitts (was ja keineswegs verboten ist).  Gut besucht war der Saal, das Publikum durchaus gemischt, die Stimmung ausgezeichnet. Vielleicht ist es, so der spontane Gedanke dazu, doch ganz einfach eine Frage der Qualität. Das Genfer Orchester hat eine Stufe der Kompetenz erreicht, die sich vergleichen lässt mit den dank der Schallplatte noch immer lebendigen Ära mit dem Gründer Ernest Ansermet und später dem Goldenen Jahrzehnt mit Armin Jordan.

Nott hat das klangliche Profil der Formation entschieden geschärft, und die Ausstrahlung des Dirigenten im Moment des Konzerts trägt ganz wesentlich zum Gelingen der künstlerischen Projekte bei. Notts Handschrift ist jedenfalls klar und auf Anhieb erkennbar, das bezeugt auch die sehr spezielle, in ihrer Weise sensationelle Doppel-CD mit einer von Nott erstellten Suite aus der Oper «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy und der gleichnamigen Tondichtung Arnold Schönbergs (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 12.01.22) – kein Wunder, ist die CD-Produktion durch den Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden.

Die besondere Qualität trat an besagtem Abend im angestammten Genfer Konzertsaal beim Violinkonzert von Johannes Brahms heraus. Frank Peter Zimmermann bewältigte den Solopart auf seiner ihm so sehr ans Herz gewachsenen, inzwischen wieder zur Verfügung gestellten Stradivari mit dem Namen «Lady Inchquin» mit einer Souveränität sondergleichen. Üppig und warm der Ton, innig die Musikalität der Wiedergabe. Das Orchester wiederum stand dem vom Publikum gefeierten Solisten in grossartiger Übereinstimmung und geradezu kammermusikalischer Flexibilität zur Seite.

Besonderes Aufsehen erregte jedoch die zu Beginn des Abends gespielte Sinfonie Nr. 5 von Jean Sibelius. Im Norden Europas hat der Bannstrahl Theodor W. Adornos, der die Musik Sibelius’ aus den Konzertsälen des deutschsprachigen Kulturbereichs verbannte, weniger Wirkung entfaltet. Gleich Simon Rattle, Brite wie jener, geht Jonathan Nott vorurteilslos und unverkrampft an Sibelius heran. Nicht weil er eine ganz natürliche Neigung für Pathos und Pomp hätte, wie sie etwa in der Musik von Edward Elgar zum Ausdruck kommt. Sondern weil er das Moderne bei Sibelius hört, die seelische Verlorenheit, das hilflose Kreisen, im musikalischen Ausdruck aber auch die Anklänge an den Impressionismus und die harmonischen Wagnisse.

In seiner Auslegung von Sibelius’ Fünfter betont er das durch einen leichten Klang, durch sensible, differenzierte Artikulation und hohe Durchhörbarkeit – all das bot ihm das Orchestre de la Suisse Romande mit seinen wunderbaren Bläsern und seinen bestens austarierten Streichern. Das Anrührende der Musik ergibt sich da von selbst: nicht durch Druck wie weiland bei Herbert von Karajan, sondern gerade umgekehrt durch Empfindlichkeit gegenüber der Struktur – und dort, in der Struktur, sind bekanntlich die Geheimnisse verborgen. Ein Beispiel dafür bietet ein kleines, aus fünf Tönen bestehendes  Motiv im zweiten Satz, das entweder mit einem Aufstieg oder mit einem Abstieg beginnt und auf der Wiederholung zweier gleicher Töne endet. Diese beiden Töne werden üblicherweise einfach wiederholt. Jonathan Nott versteht sie aber aus dem Kontext ihrer Position im Takt heraus und lässt den ersten, schweren Ton etwas länger, den zweiten, leichteren etwas kürzer und ein wenig leiser spielen. Interpretierende Arbeit am Detail, das macht es eben aus.

Ist hier beispielhaftes Niveau erreicht, zeigt sich die kulturpolitische Lage in Genf einigermassen schwierig. Nach der verlorenen Abstimmung zu der als privat finanziertes Projekt gedachten Cité de la Musique, in der die Musikhochschule wie das Orchester adäquate räumliche Verhältnisse hätten finden können, herrscht beim Orchestre de la Suisse Romande ein gewisser Katzenjammer. Der Intendant Steve Roger sieht keine Perspektiven zur erneuten Behandlung der infrastrukturellen Probleme. Es bleibt dabei, dass sich das Orchester für Proben und Konzerte in der städtischen Victoria Hall einmietet, dort aber nicht die nötige Planungsflexibilität und vor allem nicht die Nebenräume findet, die für einen vernünftigen Betrieb vonnöten wären. Schwierigkeiten gibt es aber auch beim Grand Théâtre, dessen Renovation zahlreiche Nachtragskredite erforderlich machte. Überdies wurde bekannt, dass beim Weiterverkauf der von der Comédie Française in Paris übernommenen und in Genf erweiterten Holzkonstruktion, der «Opéra des Nations», in der das Grand Théâtre die Jahre der Renovation zwischen 2016 und 2019 überdauerte, Probleme aufgetreten seien, die zu einer Klage des aus China stammenden Käufers gegen die Genfer Oper geführt hätten. Diese Klage habe nun mit Hilfe eines Vergleichs abgewendet werden können. Über die damit verbundenen Kosten erfährt die Öffentlichkeit aber nichts. Dem Vertrauen in die Kulturpolitik ist das nicht eben förderlich.

Die Elektramaschine – im Genfer Grand Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Carole Parodi, Grand Théâtre de Genève

Der italienische Stil der Operninszenierung füllt den Raum mit Bebilderungen – zumal mit solchen, welche die Anweisungen der Librettisten und Komponisten getreulich umsetzen; «Bohème» ohne Pariser Dachstüberl ist dort unmöglich. Gerade umgekehrt ist es beim deutschen Regietheater; hier wird die Bühne jenseits aller Vorgaben in der Partitur durch Zeichen eigener Erfindung im Geiste deutender Intention angereichert. Das Gegenmodell dazu bildet der leere Raum, nicht jener von Peter Brook, aber etwa jener von Robert Wilson, der sich, um dies Beispiel auszudenken, für Wagners «Parsifal» mit einem am Boden liegenden Speer aus Neonlicht und seiner ausgeprägten Gestensprache begnügt. Eng mit dem leeren Raum verbunden, so scheint mir, ist das Bildertheater neuerer Art, wie es Pierre Audi in vielen seiner Inszenierungen für die Amsterdamer Oper, besonders in jener von Wagners «Ring», so virtuos gepflegt hat.

Im Gegensatz zum bebildernden Theater italienischer Provenienz, auch anders als das Regietheater, füllt dieses Bildertheater nicht den Raum, es lässt ihn vielmehr erst als solchen entstehen und wahrnehmen. Indem es nämlich von der Leere ausgeht und mit wenigen, grossformatigen Elementen die Umrisse schafft, innerhalb derer sich die Darstellerinnen und Darsteller bewegen. Genau das verfolgt der deutsche Bühnenkünstler Ulrich Rasche. Für seine Inszenierung von «Elektra», dem Schauspiel Hugo von Hofmannsthals, 2019 am Münchner Residenztheater erfand er eine stählerne Bühnenskulptur, die einen langsam rotierenden Spielort ergab. Dieselbe Einrichtung bestimmt auch Hofmannsthals «Elektra» in der Vertonung von Richard Strauss, seine erste Arbeit für das Musiktheater, zu der er vom Genfer Grand Théâtre eingeladen worden ist.

Zu sehen ist ein kreisrunder, schräg in den Raum fallender Turm von mächtiger Dimension und zugleich filigraner Ausarbeitung. Unter dem Turm befinden sich zwei ebenfalls kreisrunde, schräggestellte Scheiben, die in ihrem äusseren Bereich mit Laufbändern versehen sind. Enorm wirkt diese Konstruktion, zugleich ist sie aber von hoher Beweglichkeit, da sie sich in all ihren Elementen drehen und wenden lässt. Dazu kommt, vom Regisseur und Szenographen zusammen mit Michael Bauer eingerichtet, eine unerhört effektvolle Beleuchtung, die den Bühnenraum in tiefstem Schwarz belässt, die Skulptur jedoch ganz verschiedenartig erhellt und ihre Materialität wandelbar erscheinen lässt. Im Ansatz ist das nicht neu, wenn man an die in den leeren Raum gestellte Schreibe Wieland Wagners denkt, die für die Wiederbelebung der Bayreuther Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg steht. In der Ausfertigung ist es aber einzigartig. Und von hinreissender szenischer Wirkung. Bildertheater eben.

Alles ist da unentwegt in Bewegung, meist in schwieriger, anstrengender Bewegung – es fällt gleich zu Beginn auf, wenn die Mägde, die sich auf der unteren Ebene aufzuhalten haben, in die Situation einführen. Doch auch auf der oberen, der Herrschaft vorbehaltenen Ebene, auf der sich die grossen Konfrontationen ereignen, muss aufs Gleichgewicht geachtet werden. Indes, die Bewegung führt keineswegs zu Fortgang, alles dreht sich im Kreis – im unentrinnbaren Kreis einer blutrünstigen Rache. Verdeutlicht wird das durch den immer wieder abgesenkten Turm, der Klytemnästra und deren Töchter Elektra und Chrysothemis gefangen hält: Dem Fatum, von dem «Elektra» handelt, entweicht niemand. So kommt es auch kaum zu Dramatik – auch dann nicht, wenn sich der alte Diener (Dimitri Tikhonov) vor seinem sich noch bedeckt haltenden Herrn verneigt und wenn Elektra den für tot gehaltenen Bruder Orest wiedererkennt. Wie ein gigantisches Ritual läuft die Oper ab, gleichsam der Zeit enthoben, wie es das Libretto Hofmannsthals anlegt, und doch in anhaltend vibrierender Spannung.

Das gelingt, weil die Inszenierung den Raum schafft, in dem die strukturelle Komplexität und die hochgetriebene Expressivität der Musik von Richard Strauss uneingeschränkt zur Geltung kommen. Jonathan Nott, der Musikdirektor des Orchestre de la Suisse Romande, der an der Genfer Oper keine offizielle Position einnimmt, aber künstlerisch hohen Einfluss ausübt, durchdringt die Partitur bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein mit pulsierendem Leben. Dabei ergibt sich ein Bogen, dessen durch Identifikation erzeugte Intensität in keinem Augenblick nachlässt; gleichzeitig hat Nott für jeden das erforderliche Handzeichen und für jede einen nützlichen Blick bereit. Das grossbesetzte Orchester schont sich in keinem Augenblick; es sitzt an der Stuhlkante und gibt, was es zu geben vermag. Kraftvoll und klangschön, das ist nicht selbstverständlich, die Eruptionen im Fortissimo, rund und warm die Tiefen, hell leuchtend und schimmernd die Momente der Zärtlichkeit, federnd die punktierten Rhythmen auch im grossen Ton. Zu laut ist da nichts, auch an den Stellen der vollen Kraftentfaltung sorgen die Balancierung durch den Dirigenten und die grossartig gewachsene Klangkultur des Orchesters für sinnreiche Grenzziehungen.

So bleibt ausreichend Raum für die vokale Seite, und die erheischt allen Respekt. Die drei Protagonistinnen – sie sind wie alle Mitglieder des grossen Ensembles von den Kostümbildnerinnen Sara Schwartz und Romy Springsguth in schlichtes Schwarz gewandet und mit markanten Korsetts versehen, an denen die zur Besteigung der stählernen Skulptur notwendigen Sicherheitsseile befestigt sind –, die drei Protagonistinnen sind in der Höhe postiert, ihre Stimmen überfliegen den Orchestergraben und bleiben dementsprechend präsent. Tanja Ariane Baumgartner gibt die Klytemnästra mit wohlgrundiertem, gerundetem Mezzosopran und in hohem Mass verständlich, ausserdem fern jener Hysterie, die hier so nahe liegt. Mit hellem Timbre dringt Sarah Jakubiak als Chrysothemis auf ein Leben als Frau. Während bisweilen Ingela Brimberg mit ihrem weiten Ton als eine Elektra von menschlichem Format erscheint – nicht als eine Kranke, sondern als eine Frau, die ganz einfach weiss, was sie will und keinen Schritt davon abweicht. Wunderbar der Orest von Karoly Szemeredy, köstlich der Ägisth von Michael Laurenz. Dass dem Musikalischen in der szenischen Einrichtung von Ulrich Rasche so viel Bedeutung zukommt, wie es bei «Elektra» selten der Fall ist, stellt die eigentliche Wohltat des Genfer Abends dar.

«Pelléas et Mélisande» orchestral

Debussys Oper als Sinfonische Dichtung – von und mit Jonathan Nott

 

Von Peter Hagmann

 

Schon damals, als Radio und Fernsehen, als Langspielplatte und Compact Disc, YouTube und Streaming noch nicht existierten – schon damals gab es Strategien der Vermarktung. Von gross besetzten Werken, in erster Linie von Opern, Oratorien und Sinfonien, wurden Klavierauszüge zu zwei und vier Händen hergestellt. Auch Fassungen für klein besetzte Ensembles, wie sie im Salon und im Wohnzimmer üblich waren, wurden angefertigt; «Le nozze di Figaro» in der reizvollen Fassung für Streichquartett von Franz Danzi mag dafür als Beispiel stehen. Bei den Werken des Musiktheaters weit verbreitet war zudem die Einrichtung von Orchestersuiten – nicht selten durch die Komponisten selbst. Alban Berg hat für «Wozzeck» wie für «Lulu» Teile aus den Partituren zu konzertanten Satzfolgen gefügt. Besonders bekannt geworden sind die Orchestersuiten zu Opern von Richard Strauss, etwa zum «Rosenkavalier» oder zur «Frau ohne Schatten».

Auch zu «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy gibt es eine Menge an Bearbeitungen, selbst eine Einrichtung für Klaviertrio, die 2011 mit dem Trio Parnassus auf CD erschienen ist. Auch an orchestralen Suiten fehlt es nicht. Das liegt insofern nahe, als das Werk zahlreiche Vor- und Zwischenspiele enthält; der Komponist sah seine Oper bewusst als ein Ganzes und hat zur Überbrückung der Umbaupausen für Musik gesorgt. Immer wieder gespielt wird die Suite, die der Dirigent Erich Leinsdorf 1938 erstellt und 1946 mit dem Cleveland Orchestra aufgenommen hat; gefolgt sind ihm 1991 Serge Baudo mit der Tschechischen Philharmonie und, mit einigen Modifikationen, Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern 1998. Leinsdorfs Einrichtung basiert im Wesentlichen auf den Vor- und Zwischenspielen – was Jonathan Nott nun gerade nicht interessiert. Eine solche Zusammenstellung lasse den den Kontext ausser Acht und bringe nicht ans Licht, was diese rein orchestralen Teile von «Pelléas et Mélisande» verbänden.

Nott hat darum eine eigene Einrichtung erstellt. Sie formt die Oper Debussys zu einer recht eigentlichen Sinfonischen Dichtung um, in der das Orchester die emotionalen Stationen, die Pelléas, Mélisande und Golaud durchleben, in seiner eigenen Art und Weise erzählt. Dabei sind die Singstimmen bisweilen durchaus integriert, indem entscheidende Momente charakteristischen Instrumentalfarben anvertraut sind. Sehr geschickt hat Nott den musikalischen Verlauf der zweieinhalb Stunden währenden Oper in einen rein instrumentalen Verlauf von fünfundvierzig Minuten verdichtet. Wer die Oper kennt, kann sie hier in einer kondensierten und dementsprechend intensiven Version erleben; eine fassliche Einführung dagegen kann erhalten, wer das Stück kennenlernen möchte. Die Düsternis auf Schloss Allemonde und die Furcht Mélisandes bei der ersten Begegnung mit Golaud, das helle Licht der noch verborgenen Liebe zwischen Pelléas und Mélisande, das fatale Spiel mit dem Ehering, der in den Brunnen fällt, und die brutalen Konsequenzen, die sich daraus ergeben – die von Jonathan Nott erstellte Sinfonische Dichtung bringt es in aller Konkretheit zum Ausdruck. Und während die Oper je nach Aufführung da und dort etwas stehenzubleiben droht, herrscht bei Nott formidable Spannung.

Vorgestellt wird die neue «Pelléas et Mélisande»-Sinfonie in einer (selbstverständlich auch online greifbaren) CD-Box, die der 1903 abgeschlossenen Oper Debussys die Sinfonische Dichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg aus dem Jahre 1905 gegenüberstellt. Nicht nur begegnen sich hier zwei Kulturkreise, die, wenn man Debussys Wagnérisme in Rechnung stellt, ebenso viel Gemeinsames wie Trennendes haben. Zu erleben sind auch zwei grundsätzlich unterschiedliche Zugänge zu dem um 1900 in der musikalischen Welt sehr beachteten Schauspiel Maurice Maeterlincks von 1902. Anders als Debussy und zugespitzt in der gestenreichen, kraftvollen, ja dramatischen Suite Notts stellt die rauschhaft spätromantische Sinfonische Dichtung Schönbergs die Emotionen und Situationen der Hauptfiguren parataktisch zueinander. In der direkten Nachbarschaft zu Debussy erfährt das im Konzertleben vernachlässigte Werk Schönbergs eine höchst erwünschte Aufwertung.

Nicht zuletzt geht das zurück auf die in jeder Hinsicht hochkarätigen Interpretationen durch das Orchestre de la Suisse Romande und seinen Musikdirektor Jonathan Nott – der nicht nur eine blendende Idee hatte, sondern sie auch meisterlich umzusetzen verstand. Opulent, dabei jederzeit klar und transparent klingt das Orchester; hörbar und mit Gewinn agiert es in deutscher Aufstellung, während die Technik dafür gesorgt hat, dass die Bratschen ausgezeichnet hörbar werden. Nott pflegt einen ganz spezifischen, individuellen Ton, der in seiner Sinnlichkeit und seinem Strukturbewusstsein auch in dieser Aufnahme ungeschmälert zutage tritt. Er streichelt die Musik, und das Orchester leuchtet in prächtigen Farben. Mit diesem anregenden Projekt, das hoffentlich rasch seine Kreise ziehen wird, hat das Orchestre de la Suisse Romande zu alter Grösse zurückgefunden – zu jenem bedeutenden Profil, das es mit Ernest Ansermet und Armin Jordan erreicht hat.

Claude Debussy: Pelléas et Mélisande, als Sinfonische Dichtung eingerichtet von Jonathan Nott. Arnold Schönberg: Pelleas und Melisande. Orchestre de la Suisse Romande, Jonathan Nott (Leitung). Pentatone 5186782 (2 CD, Aufnahmen 2019 (Schönberg) und 2020 (Debussy), Produktion 2021).

Ein Jubiläum im Zeichen des Aufbruchs

Hundert Jahre Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Das Orchestre de la Suisse Romande beim Festkonzert vom 28. November 2018 in der Genfer Victoria Hall / Bild Niels Ackermann, Lundi13, OSR
Welches Orchester drinnen spiele, fragte der Passant. Das Orchestre de la Suisse Romande, so die Antwort des Gegenübers. Ach so, meinte der Passant, mit Ansermet? Die Geschichte ist alt, aber bezeichnend. Sie stammt aus dem Herbst 1991, als das Orchestre de la Suisse Romande mit seinem Chefdirigenten Armin Jordan auf Tournee war und die eben eröffnete Symphony Hall in Birmingham besuchte – einen Saal, der in seiner räumlichen Disposition und seiner Akustik erahnen liess, wie der Konzertsaal im geplanten Kultur- und Kongresszentrum Luzern aussehen und klingen könnte. Der Name Ernest Ansermets, so war damals festzustellen, stand noch immer im Raum, wenn die Rede auf das Genfer Orchester kam. 1918 hatte der Schweizer Dirigent das Orchestre de la Suisse Romande ins Leben gerufen, um in der welschen Schweiz ein Gegengewicht zu den grossen Sinfonieorchestern in Zürich, Basel und Bern zu bilden. Fast fünfzig Jahre, bis 1967, blieb Ansermet an der Spitze des Klangkörpers – den er, nicht zuletzt dank der intensiven Tätigkeit für das Plattenlabel Decca, zum berühmtesten Orchester der Schweiz macht.

 

Vielleicht auch zum besten. Zwar nicht in technischer Hinsicht, denn mit der Intonation scheint es Ansermet, das lässt sich in mancher seiner Aufnahmen feststellen, nicht besonders genau genommen zu haben. Das beste Orchester der Schweiz jedoch auf der Ebene des künstlerischen Profils. Geschätzt wurde das Orchestre de la Suisse Romande für seinen Klang; er steht klar in der französischen Tradition. Deutlich hörbar sind in den Einspielungen – sie sind heute grösstenteils als Übertragungen auf CD greifbar – das näselnde Basson anstelle des deutschen Fagotts, die schlankere und darum ausgesprochen klar zeichnende Oboe sowie der leichte, helle Ton im Tutti. Besondere Aufmerksamkeit erregte das Orchester jedoch durch sein Repertoire. Dank Ansermets immensem Beziehungsnetz lebten die Programme von einer ausgeprägten Nähe zur neuen Musik von damals. Jedenfalls zu einem Teil davon, denn Ansermet lehnte die Atonalität ab und schloss damit bedeutende Wege der musikalischen Innovation aus. Aber für die französischen Impressionisten und ihre Nachfolger wie für Strawinsky und seine Schule war das Orchestre de la Suisse Romande eine erste Adresse.

Der Übervater und seine Nachfolger

Das blieb nicht so. Auf die goldenen Zeiten mit Ansermet folgten für das Genfer Orchester beschwerliche Jahre – und nicht wenige davon. Statt das sorgsam aufgebaute Alleinstellungsmerkmal zu pflegen, versuchte man sich an deutsch-angelsächsischer Tradition auszurichten. Die Chefdirigenten kamen und gingen. Paul Klecki, der Schweizer aus Polen blieb als unmittelbarer Nachfolger Ansermets nur drei Jahre, später kamen Horst Stein (1980-85), Fabio Luisi (1997-2002), Pinchas Steinberg (2002-05), Marek Janowski ( (2005-12) und Neeme Järvi (2012-15). Keiner von ihnen wurde glücklich mit dem Orchester, keiner von ihnen stiess zu einer intensiveren Zusammenarbeit vor. Etwas länger, nämlich ein Jahrzehnt ab 1970, blieb Wolfgang Sawallisch. Aber nichts könnte die Distanz zwischen dem allseits geschätzten Kapellmeister und dem Orchester mit seiner speziellen DNA besser veranschaulichen als der kapitale Schmiss, dem Sawallisch in Igor Strawinskys «Sacre du printemps» bei einem Gastkonzert in Basel zum Opfer fiel.

Einen einzigen Lichtblick gab es, und das waren, ab 1985, die zwölf Jahre mit Armin Jordan als Chefdirigent. Jordan war genau der Richtige für das Orchester. Perfekt zweisprachig und in der französischen Musik genau so beheimatet wie in der deutschen, verkörperte Jordan das, was das französische Orchester aus der mehrsprachigen Schweiz ausmacht. Zahlreich die konzertanten Höhepunkte in der Victoria Hall, unvergesslich Produktionen wie «Tristan und Isolde» 2005 im Grand Théâtre  – Jordan war dem Orchester über seinen Rücktritt hinaus verbunden geblieben. Wunderbar kantabel und stimmungsreich, aber fern jeder Süsslichkeit nahm er Debussys «Prélude à l’après-midi d’un faune», weich zeichnete er Strawinskys «Sacre» – darin wie in der ausgeprägten Vielfarbigkeit ganz anders als der Mainstream. Und in der urdeutschen Musik Richard Wagners verwandelte Jordan den französischen Klang in eine Wärme ganz eigener Art. Auch für die Moderne hatte er seinen Sinn; als das Genfer Orchester 1993 sein 75-jähriges Bestehen feierte, hob er zusammen mit der Mezzosopranistin Cornelia Kallisch die Zwei Lieder nach Gedichten von Georg Trakl, die Heinz Holliger fürs Festkonzert geschrieben hatte, aus der Taufe. Mit einem Wort: Armin Jordan war der wirkliche Nachfolger Ansermets.

Ein Orchester im Grenzland der Kulturen

Jonathan Nott, der Chefdirigent / Bild Niels Ackermann, Lundi 13, OSR

Und Jonathan Nott, der 2017 als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter zum Orchestre de la Suisse Romande kam, ist der nächste wirkliche Nachfolger Ansermets. Mit dem 56-jährigen Briten, der in Paris genau so gut wie in Luzern, in Berlin und in Wien gearbeitet hat, der ganz selbstverständlich Deutsch, Französisch und Englisch spricht – mit Jonathan Nott könnte das Orchester sein Profil wieder in jene Richtung hin schärfen, die Ansermet vorgezeichnet hat. Nott, der einige Jahre das Pariser Ensemble Intercontemporain geleitet hat, ist mit der neuen Musik genuin vertraut. Mit den Bamberger Symphonikern, denen er von 2000 bis 2016 als Chefdirigent zur Verfügung stand, hat er aber auch seine Position gegenüber dem klassisch-romantischen Repertoire gefestigt – die vollständige Aufführung von Wagners «Ring des Nibelungen» beim Lucerne Festival 2013 setzte da neben dem Bamberger Mahler-Zyklus den wohl gewichtigsten Akzent. Vor allem aber lässt er eine Affinität zum Französischen spüren, die von einem sehr persönlichen Klangbild geprägt wird. «Jeux», das Poème dansé Debussys, das sich auf der ersten CD Notts mit seinem Orchester findet, gibt in der hellen Beleuchtung der Strukturen und der ausgebauten klanglichen Sinnlichkeit ein Beispiel dafür ab.

Was geschehen kann, wenn Jonathan Nott mit dem Orchestre de la Suisse Romande ans Werk geht, erwies jetzt eine Woche, in der das hundertjährige Bestehen des Orchesters gefeiert wurde. Am 30. November 1918, der Erste Weltkrieg war eben gerade beendet, gab das das Orchestre Romand, aus dem 1940 das Orchestre de la Suisse Romande werden sollte, mit Ansermet sein erstes Konzert. Daran hat das Festkonzert am Feiertag selbst erinnert. Davor gab es jedoch zwei weitere Programme, die je zweimal gespielt wurden: ein gerüttelt Mass, das hier zusammenkam. Die 112 Musikerinnen und Musiker des Orchestre de la Suisse Romande haben sich jedoch mit unglaublichem Engagement auf das Projekt eingelassen – kollegial angeführt von ihrem Chefdirigenten, der in seinem Umgang mit dem Kollektiv nicht den patriarchalisch strengen Ton anschlägt, den Marek Janowski gepflegt hat, sondern vielmehr ein wenig an die Lockerheit seines fernen Vorgängers Armin Jordan erinnert. Dabei wird aber hart gearbeitet. Noch in der Generalprobe weist der Dirigent auf Verbesserungspotential in der rhythmischen Präzision oder in der klanglichen Balance hin.

Ja, der Klang, ruft Jonathan Nott aus, der sei zentral – für jede Formation, für die aus Genf aber besonders. Das Orchestre de la Suisse Romande sei nun mal ein Orchester französischer Tradition, das sei dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben. Er schätze das und wolle es es so weiterentwickeln, dass es die Identität des Orchesters trage. Darum soll die französische Musik auch in Zukunft eine Hauptsache bleiben. Das hat seine Richtigkeit, präsentiert sich die Szene der französischen Orchester doch nicht gerade in blühendsten Farben. In gleichem Masse will Nott aber auch das Wirken des Orchestre de la Suisse Romande an der Schnittstelle zwischen dem Französischen und dem Deutschen ans Licht heben. Dies nicht nach der Maxime, deutsche Musik à la française zu spielen, sondern vielmehr mit dem Versuch, aus dem Französischen heraus eine neue Klangkultur für das Deutsche entstehen zu lassen. Wie sehr das Früchte tragen kann, erweist das Berner Symphonieorchester, dessen Chefdirigent Mario Venzago sich in seiner Arbeit am Klang explizit von französischen Elementen inspirieren lässt. In Genf wiederum spiegelt sich das in neuen Prinzipien der Programmgestaltung. Das Generalprogramm ist durch thematische Felder gegliedert, die sich auch in der Abonnementsstruktur niederschlagen. Béla Bartók, Igor Strawinsky und die russische Musik stehen auf der einen Seite, Johannes Brahms, Robert Schumann und die deutsche Romantik auf der anderen.

Genfer Dramaturgie

Einen Begriff von der, wenn man so will, «Genfer Dramaturgie» vermittelten die Konzerte der Jubiläumswoche. Das Festkonzert war Peter Tschaikowsky gewidmet. In den beiden anderen Programmen gab es mit «Core» von Dieter Ammann ein sorgfältig gebautes, wohlklingendes Werk der Jetztzeit, mit dem ersten Klavierkonzert Bartóks (und Pierre-Laurent Aimard als Solisten) ein Stück Hardcore-Moderne, während der Abschluss Beethovens sechster Sinfonie galt. Hier, bei Beethoven, herrschte zwar gelöste Munterkeit, aber auch noch reichlich philharmonische Behäbigkeit – trotz der kleinen Besetzung und der deutschen Aufstellung mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten. Jonathan Nott kann in diesem musikalischen Bereich auch ganz anders, das hat er mit Sinfonien Haydns gezeigt, weshalb es gerade bei Beethoven noch durchaus zu Bewegung kommen könnte. Im zweiten Programm bildete die Überraschung nicht das neue, etwas ausführliche Posaunenkonzert des Schotten James Macmillan, in dem Jörgen van Rijen brillierte, sondern die Sinfonie Nr. 3, die «Liturgique», von Arthur Honegger, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und die Not jener Zeit beredt in Klang setzt. Wie Jonathan Nott die Emotionalität dieser etwas herben Musik zum Leuchten brachte, war schon in der Generalprobe schlicht grandios. Zum Schluss bot dieses Programm eine schmissige Wiedergabe der «Rhapsody in blue» von George Gershwin mit dem untadeligen Pianisten Lucas Debargue sowie die Sinfonischen Tänze aus der «West Side Story» von Leonard Bernstein.

Alles blendend, orchestral jedenfalls auf hohem Niveau. Und auch wenn da und dort Wünsche offen blieben, zeigte sich das Orchestre de la Suisse Romande klar im Aufbruch begriffen, so wie es diesen Sommer auch beim Lucerne Festival zu erleben war (und auf der bereits erwähnten CD mit Richard Strauss’ Ballettmusik «Schlagobers» als unbotmässigem Hauptstück nachzuhören ist). Als Performer, der er nun einmal ist, vermag Jonathan Nott die Musiker formidabel aus dem Busch zu holen. Das ist dringend notwendig, denn in seiner institutionellen Konstitution erscheint das Orchester noch immer etwas geschwächt. Die personellen Turbulenzen wollten kein Ende nehmen. Innerhalb der letzten sechs Jahre sind zwei Präsidenten jener Stiftung, die das Orchester trägt, in die Wüste geschickt worden, hat es auf dem Sessel des Intendanten drei abrupte Wechsel gegeben und ist ein so gut wie designierter Chefdirigent vom Orchester abgelehnt worden. Das scheint fürs erste überwunden. Mit Jonathan Nott mag ohne Zweifel eine neue Ära angebrochen sein, und mit der 42-jährigen Pariserin Magali Rousseau – Musikwissenschaftlerin, Pianistin und Schlagzeugerin, aber auch Kulturmanagerin – steht ihm eine eine Intendantin zur Seite, die als ehemalige Generaldirektorin des Orchestre philharmonique de Radio France in Paris ihr Metier fürwahr kennt. Die Probleme sind damit aber noch nicht aus der Welt geschafft.

Probleme und Perspektiven

Wie jeder Klangkörper spürt das Orchestre de la Suisse Romande die Zeichen der Zeit. Die Besucherzahlen insgesamt (2017/18 waren es 77’000 Personen bei einer Auslastung von 79 Prozent) seien stabil, sagt die Intendantin Magali Rousseau, zu beobachten sei aber eine klare Umschichtung weg von den Abonnementen hin zu Spontanbesuchen – das fordert verstärkte Aktivität in der Vermittlung der künstlerischen Ambition. Und wie jeder Klangkörper ist das Genfer Orchester, das zu 74 Prozent von der öffentlichen Hand lebt, auch von Sponsoren und deren Zuwendungen abhängig. An Geld fehlt es in der Rhonestadt keineswegs, auch nicht an Melomanen, die darüber verfügen. Es aufzutreiben, ist aber ein harter Job – und vor allem scheinen in Genf mit den Zuwendungen auch Versuche der Einflussnahme verbunden zu sein. Noch immer haben der Chefdirigent und die Intendantin, welche die Saisonprogramm gemeinsam erstellen, nicht wirklich freie Hand, noch immer gibt es beim Orchestre de la Suisse Romande eine künstlerische Kommission, in welcher der Stiftungspräsident den Vorsitz führt und in der auch ein Vertreter der Freunde des Orchesters das Sagen hat. Ausserdem hat das Orchester auf das Grand Théâtre, wo es einen Drittel seiner Dienste absolviert, Rücksicht zu nehmen. Erfreulich immerhin, dass Jonathan Nott, wenn mit Aviel Cahn 2019 ein neuer Intendant ins Amt kommt, das Orchester auch regelmässig in der Oper dirigieren wird.

Zukunftsmusik: der Konzertsaal in der geplanten Cité de la Musique in Genf / Bild Cité de la Musique Genève

Indessen steuert das Orchester auf einen weiteren, allerdings vielversprechenden Einschnitt zu. Wenn alles gut geht, wird das Orchester in fünf Jahren die Victoria Hall im Stadtzentrum verlassen und in die neben dem Uno-Gelände geplante Cité de la Musique umziehen. Das ist ein Verlust, weil der gründerzeitliche, akustisch wertvolle Saal, der seinerzeit von einem begüterten Mäzen für die von ihm gegründete Blasmusik erbaut worden ist und heute im Besitz der Stadt steht, einen stimmungsvollen Konzertort bildet. Im Foyer dominiert jedoch wenig erbauliche Enge, im Hinterbühnenbereich herrschen unwürdige Zustände, und die räumliche Disposition zwingt zu erheblichem Aufwand im Auf- und Abbau des Podiums. Dem allem wird die Cité de la Musique, die auch die 1835 gegründete Genfer Musikhochschule aufnehmen und zu einem eigentlichen Musik-Campus werden soll, Abhilfe schaffen. Der Wettbewerb für das rein privat finanzierte Projekt versammelte die besten Architekten der Welt; gewonnen haben ihn der Genfer Pierre-Alain Dupraz und der Portugiese Gonçalo Byrne zusammen mit dem japanischen Akustiker Minoru Nagata. Äusserst attraktiv sieht der Entwurf aus, er könnte zu einem musikalischen Leuchtturm in der Schweiz werden – und ein welsches Gegengewicht setzen zum KKL Luzern, ähnlich wie es seinerzeit die Gründung des Orchestre de la Suisse Romande versucht hat. «Premier siècle» nennt das Orchester sein Jubiläum. Die Bezeichnung deutet an, dass sich der Rückblick selbstbewusst als Ausblick versteht.

 

Zum Jubiläum seines hundertjährigen Bestehens legt das Orchestre de la Suisse Romande ein Buch auf. Keine Geschichte des Orchesters, sondern zehn Beiträge von Schriftstellern zu den zehn Jahrzehnten des Orchesters: «OSR. Premier siècle. Nouvelles». Slatkine, Genf 2018. 242 S.

Ausserdem ist eine hochinteressante Box mit fünf CDs erschienen: «One century of music. Orchestre de la Suisse Romande, premier siècle». Aufnahmen mit den Chefdirigenten des Orchesters aus den Archiven des Westschweizer Radios. Pentatone 5186791.

Gastorchester am Lucerne Festival

Zwischen Aufbruchsstimmung und Katzenjammer

 

Von Peter Hagmann

 

Vgl. www.republik.ch vom 14.09.18