«Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss
mit dem Luzerner Sinfonieorchester
Von Peter Hagmann
Sie sind nicht aufzuhalten auf ihrem Weg nach oben. Soeben haben die Musikerinnen und Musiker des Luzerner Sinfonieorchesters zusammen mit ihrem Chefdirigenten Michael Sanderling die Saison 2023/24 eröffnet – mit nicht weniger als der «Alpensinfonie» von Richard Strauss. Und dies auf jenem Podium, das sechs Wochen zuvor, im Rahmen des Lucerne Festival, der Sächsischen Staatskapelle Dresden und ihrem (Noch-)Chefdirigenten Christian Thielemann für einen geradezu sensationellen Auftritt mit genau dieser Tondichtung gedient hat. Nicht nur die zeitliche Nachbarschaft und damit die Möglichkeit des Vergleichs mochten als heikel erscheinen, das Unterfangen selbst liess staunen, ist zu dessen Verwirklichung doch eine Orchesterbesetzung im XXL-Format gefordert. Mit weniger als sechzehn Ersten Geigen und somit einer Gruppe von rund sechzig Streichern, weniger als vierfacher, bei den Hörnern gar achtfacher Besetzung bei den Bläsern sowie einer ganzen Reihe an Spezialinstrumenten geht es in der «Alpensinfonie» nicht.
Zu zeigen, dass ein Auftritt in solcher Grossformation dem Luzerner Sinfonieorchester möglich ist, das war, unter anderem, die Ambition dieses Abends im sehr gut besuchten KKL. Nicht bei der Auslastung insgesamt, jedoch bei der Zahl der gelösten Abonnements, sei der Status aus der Zeit vor der Pandemie wieder erreicht, betont Numa Bischof Ullmann, der seit nunmehr zwanzig Jahren erfolgreich und ohne Ermüdungserscheinung wirkende Intendant des Luzerner Orchesters. Entschieden weiter gehe auch die Entwicklung des Klangkörpers hin zu einem voll ausgebauten Sinfonieorchester mit knapp achtzig fest angestellten Mitgliedern. Bald werde dieses Ziel erreicht sein – dies auf der Basis der von Bischof eingerichteten Verbindung zwischen öffentlicher und privater Finanzierung. Der grössere Teil des Budgets, gegen zwei Drittel, wird getragen von der Stiftung für das Luzerner Sinfonieorchester mit dem Mäzen Michael Pieper im Zentrum und einer grossen Zahl an Stiftern, Gönnern und Freundeskreisen.
Ist diese Konstruktion schon bemerkenswert genug, so gilt das erst recht für den Einfallsreichtum im Bereich der Programmgestaltung. Das zeigt das Konzertangebot des Orchesters, im KKL wie in dem 2020 eröffneten Orchesterhaus am Stadtrand, das erweist aber auch «Le piano symphonique», das vom KKL ausgeschriebene und nach einem Wettbewerb an das Luzerner Sinfonieorchester vergebene Klavierfestival, welches das von heute auf morgen aufgegebene Klavierfestival des Lucerne Festival ersetzt. Da fehlt es denn nicht an Überraschungen. Die Eröffnung des Festivals bestreitet Maria João Pires, die sich im «2. Akt» des Abends für Schuberts vierhändige Fantasie in f-Moll mit Martha Argerich zusammentut und sich später gemeinsam mit Elisabeth Leonskaja den ebenfalls vierhändigen «Lebensstürmen» Schuberts widmet. Schliesslich folgt Kit Armstrong mit den Etudes d’exécution transcendantes von Franz Liszt, nachdem er am Abend zuvor dessen gewaltige Fantasie mit Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» gespielt hat: an der Orgel notabene.
Dass die in Luzern verfolgte Richtung stimmt – die «Alpensinfonie» hat es in denkbar eindrucksvoller Weise bestätigt. Eine hinreissende Darbietung war das. Gelingen konnte sie, weil der Kern des Orchesters so sicher in sich ruht, dass die zahlreichen Zuzüger ihre Einsätze in einer stimmig eingerichteten Umgebung beitragen konnten. Mit zündender Energie ging die Konzertmeisterin Lisa Schatzman der Gruppe der Ersten Violinen voran, während sich Gregory Ahss, ihr gleichberechtigter Kollege aus dem Kreis um Claudio Abbado, mit Innbrunst den Kaskaden an Tremoli hingab. Phantasievoll ausgespielte Soli liessen die Holzbläser glänzen, während das massiv besetzte Blech in reicher Abschattierung einwirkte und majestätische Klangkronen bildete. Probleme mit der Lautstärke, mit der Balance? Nicht die Spur. Dazu ist Michel Sanderling, Sohn eines berühmten Dirigenten-Vaters, viel zu sehr Kapellmeister.
In dem guten Sinn nämlich, dass er den Notentext mit aller Genauigkeit liest und sich ihm vorbehaltlos in den Dienst stellt. Das Raunen, das Verschwimmen, der Dunst – das hat Christian Thielemann mit Wagners «Wunderharfe» aus Dresden bei seiner Luzerner Auslegung der «Alpensinfonie» auf die Spitze getrieben; gelernt und vervollkommnet hat er es bei den Wiener Philharmonikern, die sich gegen nichts mehr sträuben als gegen den präzisen Schlag. Michael Sanderlings Sache ist das nicht, er schlägt präzise und führt das Orchester mit sicherer Hand, ohne ihm den Atem und dem Stück die Atmosphäre zu nehmen. Der Ansatz erlaubt ihm, die Partitur in aller Helligkeit leuchten zu lassen, die einzelnen Instrumentalfarben in gebotener Klarheit herauszustellen und so die unerhört weitreichenden Verästelungen in dieser nur dem Schein nach auf den grossen Effekt zielenden Tondichtung zu zeigen. Symptomatisch dafür waren das auffallend präsente, mit viel Hall versehene Herdengeläut und der sehr zu Recht prägnante Auftritt der Orgel, deren Spieltisch ins Orchester integriert war. Und was die beiden Herren an den zwei Windmaschinen an schweisstreibender Kurbelbewegung leisteten, gab zu erkennen, dass man von Starkregen und Gewitterböen schon vor 108 Jahren überrascht werden konnte. Eine äusserst fassliche, bildhafte Interpretation ist hier gelungen. Dass sie sich unter einem schlüssig von A bis Z reichenden Spannungsbogen ereignete, machte das Besondere dieser erfrischenden Bergwanderung mit Richard Strauss aus.