Lucerne Festival – Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla und ihr Orchester aus Birmingham
Von Peter Hagmann
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Von Peter Hagmann
Ein Exerzitium war das, ebenso aufschluss- wie erlebnisreich. An drei langen Abenden die drei Opern, die von Claudio Monteverdi überliefert sind, und das in strenger Kost, ohne die Wirkungen eines Bühnenbilds und ohne die Segnungen szenischer Interpretation, vielmehr ganz und gar auf die Musik konzentriert. Das war die Idee, die sich John Eliot Gardiner zusammen mit den von ihm begründeten Formationen des Monteverdi Choir und der English Baroque Soloists für den halbrunden vierhundertfünfzigsten Geburtstag des Komponisten ausgedacht – und zur Verwirklichung gebracht hat. Tatsächlich läuft das gewaltige Vorhaben seit April diesen Jahres; es macht Station in einer ganzen Reihe europäischer Städte, darunter eben Luzern.
Gardiner ist nun einmal nicht Musiker allein, er wirkt auch als Unternehmer. Als sein Vertrag mit der Deutschen Grammophon auslief, dockte er nicht irgendwo anders an, sondern gründete, damals war das noch keineswegs üblich, sein eigenes Label: Soli Deo Gloria – so lautete die Zeile, mit der Johann Sebastian Bach seine Werke zu signieren pflegte. Zum dreihundertsten Geburtstag des Thomaskantors, dem er inzwischen auch ein überaus anregendes Buch gewidmet hat, brachte er dessen Kantaten zu einer Gesamtaufführung und veranstaltete damit eine Tournée durch eine Reihe bedeutender Kirchen Europas. Wenn Gardiner etwas will, will er es und bringt es auf den Punkt.
Entsprechend radikal das Monteverdi-Unternehmen – in logistischer wie in künstlerischer Hinsicht. Ein Team über fast ein Jahr für Arbeitsphasen unterschiedlicher Länge zusammenzuhalten und es bis nach Chicago und New York zu bringen, ist mit beträchtlichem logistischem Aufwand verbunden. Und unter den beteiligten Sängern waren einige, die an mehr als einem Abend in tragenden Rollen mitwirkten. Die Sopranistin Hana Blažícková zum Beispiel sang die Euridice in «L’Orfeo» sowie die weibliche Hauptrolle und die der Glücksgöttin in «L’incoronazione di Poppea» – und sie tat das mit einer hellen, überaus beweglichen Stimme und ganz selbstverständlichem Umgang mit den technischen Prämissen im Bereich der alten Gesangstechnik.
Anforderungen stellte das Monteverdi-Projekt nicht zuletzt auch ans Publikum – und da stellte sich Erstaunliches ein. Die Reihen waren dicht besetzt, die Bereitschaft, sich einzulassen und die Konzentration zu wagen, schien hoch, der Geräuschpegel hielt sich jedenfalls sehr in Grenzen, und am Ende gab es die berühmte standing ovation: das anspruchsvolle Angebot des Lucerne Festival war auf Resonanz gestossen. Wer sich den drei Werken öffnete, konnte tatsächlich eine Erfahrung der eigenen Art machen. Konnte zum Beispiel dem schöpferischen Kosmos eines Künstlers nahekommen, der vor fast einem halben Jahrtausend gelebt hat, konnte in seine musikalische Welt eintauchen und sie sich in einer Weise aneignen, wie sie im Alltag des Musikbetriebs kaum je möglich ist. Dabei konnte er ganz bewusst wahrnehmen, wie Monteverdi das Fundament baute für das, was wir heute als Oper kennen – oder anders gesagt: wie die Oper als Gattung entstand.
Der frühe «Orfeo» ist noch sehr überkommenen Modellen verpflichtet. Davon zeugt der reichliche Einsatz des Chors, wovon der Monteverdi Choir mit seiner kompakten Strahlkraft glänzendes Zeugnis ablegte. Mit den Zinken, den leicht gebogenen Blasinstrumenten mit ihrem an die Trompete erinnernden Klang, und der Gruppe der fünf Posaunisten, mit den Violini piccoli und dem schnarrenden Regal für die Sphäre der Unterwelt boten die English Baroque Soloists, das ganz und gar auf seinen Dirigenten eingeschworene Ensemble, farbliche Interventionen von hohem Reiz. Aber schon in diesem Stück trat zutage, wie individuell die Figur des Orfeo gezeichnet ist. Mit seiner Kunst vermag der Sänger angriffige Tiere, ja sogar den finsteren Caronte zu bändigen, und doch ist er ein Mensch wie alle – einer mit Selbstgewissheit wie Unsicherheit. Krystian Adam brachte das mit einem etwas engen Timbre, aber hoch entwickelter Technik packend zur Geltung. Und das mit den damals neuen, von Monteverdi entwickelten Mitteln des rezitativischen Singens: mit dem Leben der Melodielinie über einem harmonisierten Bass.
Mitten in die fröhlichen Vorbereitungen zur Hochzeit von Orfeo und Euridice platzt die Botin mit der entsetzlichen Nachricht, dass die Braut einem Schlangenbiss zum Opfer gefallen sei. Was das heisst, rezitativisches Singen, und was es vermag, liess Lucile Richardot erfahren. Von einem Lautenisten begleitet, strebte sie von hinten durch den Konzertsaal des KKL auf das Podium, wo sie Schrecken und Verzweiflung auslöste – allein durch ihr Singen. Eine grossartige Künstlerin war da kennenzulernen, eine Sängerin mit einem stupenden Stimmumfang zwischen tenoraler Tiefe und zarter Höhe und eine Darstellerin von schwindelerregender expressiver Kraft. Herzerweichend sang sie im «Ritorno d’Ulisse in patria» die im Warten auf ihren Odysseus erstarrte, am Ende wieder zur Frau werdende Penelope, erheiternd in der «Incoronazione di Poppea» die Amme der ehrgeizigen Thronanwärterin.
Da sind wir im Zentrum dieser überwältigenden Operntrilogie angelangt. Nicht nur machte sie bewusst, wie gegenwärtig diese vierhundert Jahre alten Werke sind; das kindische Stampfen des narzisstischen Kaisers Nero, das der Sopranist Kangmin Justin Kim fabelhaft umsetzte, liess durchaus an einen Präsidenten unserer Tage denken. Sie führte auch exemplarisch vor, worin die epochale Leistung Monteverdis liegt. Ohne die Monodie wäre die Oper nicht geworden, was sie wurde. Und diese Art des Singens ist, wenn sie so exemplarisch ausgeführt wird, wie es in Luzern der Fall war, von einer Kraft, dass sie auch lange Abende zu tragen vermag. Im Zentrum des Ausdrucks steht, das wurde im Durchgang durch «Ulisse» und «Poppea» immer fassbarer, das Wort – das in italienischer Sprache gehaltene Wort, das an diesen drei Abenden ohne Makel ausgesprochen und weitestgehend verständlich war.
Dem Wort schmiegt sich die Musik an – und wie das realisiert wurde, war grandios. Das Ensemble der Vokalsolisten wies nicht nur Glanzlichter auf, das schon, aber alle seine Mitglieder gaben sich mit letztem Elan dem sinnerfüllten, weil eben den Text musikalisch aussprechenden Singen hin. Und das von John Eliot Gardiner mit höchster Konzentration geleitete Instrumentalensemble stand den Sängerinnen und Sängern in einer unerhört flexiblen Präzision zur Seite. Besonderen Effekt machte hier der Generalbass, der, auf zwei Seiten des Podiums plaziert, mit zwei Cembali, zwei Orgeln und vier Lauten (zum Teil unterschiedlicher Bauart) sowie einer Gambe, einem Cello und einem Kontrabass so reichhaltig wie sparsam besetzt war. Auf dieser instrumentalen Basis kamen zum Teil hinreissende vokale Momente zustande. Im «Ulisse», wo Furio Zanasi die Titelpartie mit allem technischen Raffinement versah, gelang Robert Burt ein unglaublich komischer Auftritt des Gourmands Iro und zeigte Silvia Frigato als der das Geschehen steuernde Liebesgott, was Barockgesang sein kann. Mit von der Partie waren aber auch Sänger aus dem sozusagen konventionellen Bereich – denn auf einen so klangvollen Bass wie den von Gianluca Buratto (Caronte) mag niemand verzichten.
Alles, was die drei Abende zu Opernabenden machte, entstand allein in der Musik und aus ihr heraus. Des Szenischen war kein Bedarf. Was John Eliot Gardiner zusammen mit Elsa Rooke, dem Lichtgestalter Rick Fisher und der Kostümbildnerin Isabella Gardiner hier einbrachte, sorgte für nette Abwechslung, wirkte bisweilen aber doch recht zufällig, wenn nicht hausbacken – in der Körpersprache wurde jedenfalls nicht dieselbe Professionalität erreicht wie im musikalischen Geschehen. Das war indessen von wenig Belang, denn an den drei Abenden, an denen das Drama aus der Musik allein entstand, ging es ums Zuhören. Schon Robert Wilson hat gezeigt, wie weit das Szenische entmaterialisiert werden kann, ohne dass die dramatische Wirkung leidet. Dasselbe, wenn auch ganz anders und unter dem Strich vielleicht noch stärker, hat das Luzerner Monteverdi-Projekt erwiesen. Oper ist auch ohne Bühne Oper. Und vielleicht sogar ohne Salle Modulable.
Von Peter Hagmann
Verächter des Lucerne Festival – die gibt es – behaupten nach wie vor, nach Luzern brauche man nicht zu reisen, die grossen Orchester, die dort in verdichteter Folge auftreten, könne man in jeder Weltstadt hören: beim Musikfest Berlin oder im Wiener Musikverein, in der Philharmonie de Paris oder einem der Konzertsäle in London. Damit hat es etwas auf sich; vieles, was das Lucerne Festival bietet, basiert auf Tourneen – jetzt zum Beispiel der dreiteilige Monteverdi-Zyklus mit John Eliot Gardiner, der seit April dieses Jahres durch Europa zieht. Was die Verächter jedoch übersehen, ist der Wandel, der sich beim Lucerne Festival in den vergangenen fünfzehn Jahren ereignet hat. Der mit Emphase vertretene Fokus auf neue Musik gehört ebenso dazu wie die Förderung nachrückender Musiker sowie die Pflege junger und jüngster Publikumsschichten – da hat sich rund um die Sinfoniekonzerte ein Angebot ausgebildet, das seinesgleichen sucht. Gewachsen ist aber auch der Anteil an Eigenproduktionen und damit die Stärkung der eigenen Marke, wie sie das Lucerne Festival Orchestra und das Lucerne Festival Academy Orchestra ermöglichen. Eine bedeutsame Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch das Chamber Orchestra of Europe, das seit Jahren als heimliches Residenzorchester am Lucerne Festival mitwirkt.
Und dies nicht nur, aber vor allem, weil Bernard Haitink ebenfalls seit Jahren als heimlicher «Conductor in Residence» bei den Luzerner Festivals auftritt, und das oft und besonders gerne mit dem Chamber Orchestra of Europe. Ganze Zyklen sind so entstanden; die Sinfonien und Instrumentalkonzerte Ludwig van Beethovens, Robert Schumanns und Johannes Brahms‘ hat sich Haitink mit dem 1981 gegründeten, eng mit dem Denken und Wirken Claudio Abbados verbundenen Orchester erarbeitet – animiert durch die Möglichkeiten, die dieser verhältnismässig klein besetzte, agile und ästhetisch offene Klangkörper bietet. Für den hoch in den Jahren stehenden, über eine Erfahrung sondergleichen verfügenden Dirigenten war mit dieser Zusammenarbeit nochmals ein echter Aufbruch verbunden. Und das Orchester, das ist zu sehen wie zu hören, schätzt die Kooperation mit dem alten Meister über die Massen. So haben diese Konzerte, inzwischen fester Bestandteil des Festivals, immer wieder zu tief berührenden Hörerlebnissen geführt – zu Erlebnissen, die so eben nur in Luzern möglich geworden sind.
Diesen Sommer erreichte das Wechselspiel zwischen dem Chamber Orchestra of Europe und Bernard Haitink eine ganz besondere Qualität. Nicht wegen der Sinfonie in C-dur, KV 425, der «Linzer», von Wolfgang Amadeus Mozart. Die war ein Vorspiel – wenn auch eines, das erkennen liess, in welchem Mass Haitink in der Gegenwart steht, wie offen er sich gegenüber den Strömungen dieser Zeit verhält und wie kreativ er den Wandel der Paradigmen für sich nutzbar macht. Nein, zum Ereignis wurden elf ausgewählte Lieder aus der Sammlung «Des Knaben Wunderhorn» von Gustav Mahler. Sie liessen den Zuhörer, die Zuhörerin sprachlos zurück: existentiell berührt durch Dimensionen der musikalischen Vertiefung, die ganz selten nur zutage treten. Das Konzert als magischer Moment, fürwahr. Was Achim von Arnim und Clemens Brentano in ihrer Sammlung von Gedichten zu Papier gebracht haben, spitzt alltägliche Situationen immer wieder in fast unerträglicher Manier auf Katastrophen hin zu, und Mahler hat das in ungeheuer treffende, mit wenigen Strichen arbeitende Musik gefasst. Zusammen mit der jungen Sopranistin Anna Lucia Richter, die Haitink in Luzern kennen und schätzen gelernt hat, und dem Bariton Christian Gerhaher haben Orchester und Dirigent diese Wunderwerke zu erschütternder Wirkung gebracht.
Zu Beginn, in «Der Schildwache Nachtlied», mochte man fürchten, Christian Gerhaher sei nicht voll bei Stimme, die Schilderung des Lebens im Krieg aus der Sicht des seiner Hoffnungslosigkeit bewussten Soldaten klang wie markiert. Es war aber gerade umgekehrt, Gerhaher befand sich bereits im Modus des Ultraleisen, fast Gesprochenen, das Haitink hier im Sinn hatte, während das Orchester noch eine Spur zu laut war. Bei «Des Antonius Fischpredigt» befanden sich Vokales und Instrumentales dann auf gleicher Ebene, die Ironie des Textes trat ungeschmälert heraus. Äusserst witzig der vom Esel entschiedene Wettbewerb zwischen Kuckuck und Nachtigall, den Anna Lucia Richter mit ihrer hellen und gleichwohl körperhaften Stimme und ihrer fabelhaften Diktion schilderte. Danach wurde es arg und ärger, sang die Sopranistin von der Mutter, die dem hungrigen Kind nicht rechtzeitig ein Stück Brot zu reichen vermag, und schilderte Gerhaher mit seinem einzigartigen Vermögen, die Worte in Klang zu bringen und doch Worte zu lassen, von den Soldaten in Reih und Glied und dem Tambourgesell, der zum Galgen schreitet. Schliesslich: «Urlicht», eine Begegnung mit letzten Dingen. Dieses ebenso niederschmetternde wie tröstliche Gedicht, das hier nicht einer Frauenstimme übertragen war wie in der zweiten Sinfonie, sondern von Gerhaher intoniert wurde – es klang noch leiser als möglich, noch eindringlicher als denkbar. Am Schluss erstarb die Musik und wurde zu jener Stille, aus der sie kommt.
Vgl. auch: Im Garten der Identität. Ein Luzerner Wochenende mit Riccardo Chailly und Heinz Holliger (Bericht aus der NZZ vom 23.08.17)
Von Peter Hagmann
Über Identität wird diesen Sommer beim Lucerne Festival nachgedacht – da war beim Eröffnungskonzert mit dem Lucerne Festival Orchestra Richard Strauss genau der Richtige. Die Tondichtungen seiner frühen Jahre – nur die «Symphonia domestica» und die «Alpensinfonie» fallen in die Zeit nach 1900 – nehmen diverse Sujets in den Blick, richten ihre Aufmerksamkeit vor allem aber auf: Richard Strauss. Der Komponist als Herzensbrecher, als tragischer Held, als Übermensch, als Nonkonformist: stets geht es weniger um die Sache selbst als um die mit ihr verbundene, ja intendierte Pose – Daniel Ender hat das in seiner anregenden Strauss-Biographie luzide herausgearbeitet (vgl. NZZ vom 14.11.14). Komponist sein, das heisst ja nicht nur Musik erfinden, sondern auch seinen Beruf darstellen, seine Berufung verkörpern. Darin war Strauss ein Meister. Schon früh ging er daran, seine Identität zu erschaffen – eine Identität als bedeutender Komponist, als fortschrittlicher Künstler, als öffentliche Person. Dies in steter Auseinandersetzung mit seiner Umgebung, vor allem seinem Vater, einem geschätzten Hornisten, der dem drängenden, strebenden Sohn unablässig zu Mässigung riet.
Dass die Sommerausgabe 2017 des Lucerne Festival mit den drei Tondichtungen «Also sprach Zarathustra», «Tod und Verklärung» und «Till Eulenspiegels lustige Streiche» anhob und in der Zugabe ausserdem zum Schleiertanz aus «Salome» führte, war aber noch in anderer Hinsicht bedeutsam. Mit aller Eindeutigkeit hat das Programm klar gemacht, dass für das Lucerne Festival Orchestra jetzt eine neue Zeitrechnung beginnt. Auch mit einem neuen Repertoire. Um Richard Strauss hat Claudio Abbado einen weiten Bogen gemacht – was wenig erstaunt. Für einen Musiker seiner Generation und einen Intellektuellen eher linker Prägung war Strauss, was Theodor W. Adorno in seinem grossen Essay zum hundertsten Geburtstag des Komponisten umriss: ein Ausbund an bürgerlicher Spiessigkeit, ein Anpasser an autoritäre Ideologie, ein rücksichtsloser Vertreter eigener, nicht zuletzt pekuniärer Interessen. Dieses wirkungsmächtige Verdikt ist inzwischen revidiert. Heute können die Tondichtungen von Strauss oder seine Opern, und zwar auch «Der Rosenkavalier» oder «Capriccio», ohne Verdacht auf politische Inkorrektheit geschätzt werden. Ähnlich wie im Falle Wagners werden die musikalischen Qualitäten für sich selber genommen.
Genau da, in den musikalischen Qualitäten, liegt nun freilich die Crux dieses grossartig erfundenen Eröffnungskonzerts. Mit Mahlers Achter, inzwischen wie alle anderen Sinfonien Mahlers mit dem Lucerne Festival Orchestra auf DVD erschienen, hat sich Riccardo Chailly letzten Sommer respektvoll vor seinem Vorgänger und Mentor verneigt. Dieses Jahr richtet sich der Blick auf die neuen Horizonte, die geballte Strauss-Ladung hat es deutlich gemacht – nur eben leider in der Art eines Paukenschlags, wie er dieser Musik nicht unbedingt entspricht. Schwergewichtig schon der Anfang von «Also sprach Zarathustra»: mit herrlich vibrierender Basswirkung das liegende C, aber nicht in einem Pianissimo, wie es die Partitur für alle beteiligten Instrumente ausser der Orgel vorsieht. Strahlend später die über eine Quint aufsteigende Oktav der vier Trompeten – so strahlend, wie es vielleicht doch nur beim Lucerne Festival Orchestra möglich ist. Und dann er erste Ausbruch des gesamten Orchesters: laut und grobkörnig, weil wenig strukturiert in der Klangfülle. Die Symptome, die sich hier anzeigten, traten in der Folge immer wieder auf. Die Fuge «Von der Wissenschaft» in der Stückmitte erhob sich aus einem reichlich muskulösen Pianissimo, im «Tanzlied» gegen das Ende hin wogte der Dreivierteltakt einigermassen handfest. Das heikle hohe Ende, das auch bei berühmten Orchestern misslingen kann, geriet aber vorzüglich.
Indes sind das keine Fragen der Qualität, weder auf Seiten des Orchesters noch beim Dirigenten. Es ist Ausdruck der ästhetischen Differenz. In dem Jahrzehnt der Existenz mit Claudio Abbado hat das Lucerne Festival Orchestra den Charakter eines vergrösserten Kammerorchesters ausgebildet. Man könnte sogar sagen, dass es sich, auch wenn es im Endeffekt für den einzelnen Musiker doch keine Möglichkeit der direkten Entscheidungskompetenz gab, als eine Demokratie etabliert hat – Abbado selbst hat ja bemerkt, dass er am liebsten bloss den ersten Einsatz gäbe und dann verschwände, um den in eigener Verantwortung agierenden Musikern das Feld zu überlassen. Riccardo Chailly dagegen scheint ein Orchester eher in einem hergebrachten Sinn als ein feudales System zu verstehen – gewiss nicht als eine absolute Monarchie, aber doch als ein Gebilde mit einer eindeutigen Ausrichtung auf eine entscheidende und führende Zentralfigur. Im Fall des Lucerne Festival Orchestra stellt das einen Paradigmenwechsel dar, der sich nicht von heute auf morgen und schon gar nicht von selbst einrichtet. Mit anderen Worten: Es braucht Zeit, damit die beiden Seiten aufeinander zugehen können. Damit sich die Orchestermitglieder mit dem ganz anders gelagerten Temperament ihres neuen Chefdirigenten auseinandersetzen können und dass umgekehrt Chailly das besondere Potential dieses nach wie vor einzigartigen Klangkörpers erkennen und in sein Wirken einbauen kann.
Dazu kommt, dass Chailly nicht nur einen ausgeprägten Gestaltungswillen lebt, sondern auch den geschlossenen, festgefügten Klang pflegt. Bei der Musik von Strauss birgt das Gefahren. Gewiss lässt es den hohen Anspruch an die technische Virtuosität hinreissend heraustreten; ein Orchester, das so kompakt klingt, wie es Chailly mag, und sich gleichzeitig so schlangenartig agil bewegt, wie es Strauss einfordert, kann sich der Bewunderung sicher sein. Auf der anderen Seite unterstreicht es den präpotenten, ja auftrumpfenden Charakter, den der Komponist (nicht nur) in seiner Musik zu erkennen gibt, und das kann ganz schön unangenehm werden. Zumal die Momente ironisierender Brechung, mit denen Strauss immer wieder lustvoll spielt, von der Kraftentfaltung zugedeckt und damit vernichtet werden. Überhaupt ist es so, dass in Chaillys Zugriff die kleinen, reichhaltigen Verästelungen, die ja alle kontrapunktisch gesteuert sind, viel weniger zur Geltung kommen als in einem hellen, aufgelichteten Klangbild – wo dann nicht zuletzt auch dem Jugendstil in dieser Musik Gerechtigkeit widerfährt.
Strauss selbst hat das kontrapunktische Netzwerk, das unter seinen Melodielinien und der chromatisch reizvoll geschärften Harmonik liegt, als Mittel der Selbstvergewisserung eingesetzt: der Komponist auch, ja vor allem als solider Handwerker. Auf diesem Fundament steht seine Identität – bis in die letzten Lebensjahre. Mehr davon war am Eröffnungsabend im KKL Luzern bei «Tod und Verklärung» zu erfahren. Dort herrschte hörbar weniger Anspannung als im «Zarathustra». Und dort trug auch Chaillys oft bewiesener Mut zum Zügeln der Tempi seine Früchte. «Till Eulenspiegel» geriet dann wieder dröhnend, bisweilen grell – aber dort, wo es dem armen Helden an den Kragen geht, blieb die klangliche Zuspitzung in den Holzbläsern ausgespart. Am Ende verbreitete sich einige Ratlosigkeit; das Lucerne Festival Orchestra musste mit einem lauen Applaus Vorlieb nehmen wie bisher noch niemals. Das war nun doch etwas ungerecht. Aller Anfang ist schwer, besonders in diesem hochkomplexen Fall. Die Perspektiven aber sind, wenn sie in geeigneter Weise wahrgenommen werden, ausgesprochen vielversprechend.
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 8. Vokalsolisten, Chöre, Lucerne Festival Orchestra, Riccardo Chailly (Leitung). Accentus 20390 (DVD).
Von Peter Hagmann
Kurz vor Ostern ballt sich das Geschehen zu einmaliger Dichte. Bringt die klassische Musik – womit hier wie immerdar die Kunst-Musik im allgemeinen gemeint ist – in einer Art Frühlings-Explosion ans Licht, dass sie alles andere als einen Endzustand erreicht hat, dass sie vielmehr farbenfroh lebt und Publikum in hellen Scharen anzieht. Die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden prunken mit einer «Tosca», bei der Simon Rattle den Taktstock führt und Kristine Opolais, Marcelo Alvarez und Evgeny Nikitin auf der Bühne stehen. Zu gleicher Zeit ereignen sich die durch Herbert von Karajan 1967 ins Leben gerufenen Osterfestspiele Salzburg, die mit einer «Walküre» aufwarten – dies mit Christian Thielemann am Pult der Staatskapelle Dresden und in einer szenischen Produktion, für welche die Regisseurin Vera Nemirova in einem Nachbau jenes Bühnenbilds arbeitet, das Günther Schneider-Siemssen vor fünfzig Jahren für Karajan gebaut hat. Exquisit die Besetzung mit Anja Harteros und Anja Kampe, mit Peter Seiffert und Georg Zeppenfeld. Ohne die Sensation der Oper kommt dagegen das Osterfestival Luzern aus; es sorgt still und leise, aber ausgesprochen nachhaltig für künstlerische Bereicherung.
Zum Beispiel durch eine Aufführung der Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock und den Kräften des Balthasar-Neumann-Ensembles. Wie üblich im Bereich der alten Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis hat der Dirigent Sängerinnen und Sänger, Instrumentalistinnen und Instrumentalisten um sich geschart, die ihm eng verbunden sind und sich seine Intentionen restlos zu eigen gemacht haben. Und ähnlich wie Philippe Herreweghe lässt Hengelbrock die vokalsolistischen Nummern von den Mitgliedern des Chors ausführen – mit Ausnahme der Partien des Evangelisten und des Jesus. Da nun stellten sich im KKL Luzern Momente einzigartiger Verdichtung ein. Mit der Helligkeit und der leuchtenden Lineatur seines Tenors zeigte Daniel Behle, dass der Evangelist der Johannes-Passion weder ein neutral berichtender Erzähler noch ein das Geschehen aufplusternder Dramatiker sein muss, dass es vielmehr einen dritten Weg gibt. Sein stimmliches Vermögen, das von einem lyrischen Grundansatz durchaus auch packende Expansion einschliesst, erlaubte es Behle, ganz aus der Sprache heraus zu einer musikalischen Griffigkeit zu finden, die den Zuhörer restlos in Bann schlug. Nicht weniger anziehend Markus Butter, der mit seinem kernigen Bariton die Worte Jesu in eine Atmosphäre geradezu herrscherlicher Selbstgewissheit kleidete.
Das passte ganz ausgezeichnet – zunächst zur Johannes-Passion, die den Gekreuzigten weniger als ein Empathie auslösendes Opfer denn als Überwinder zeigt. Vor allem aber passte es zur zweiten Fassung der Passion, die Bach ein Jahr nach der Uraufführung 1725 in Leipzig vorgestellt hat. Dass das Werk in nicht weniger als vier Versionen existiert, ist kaum jemandem bewusst, weil für Aufführungen gewöhnlich ungefragt auf die Neue Bach-Ausgabe zurückgegriffen wird. Anders Thomas Hengelbrock, in Sachen Quellenforschung nicht weniger akribisch als Nikolaus Harnoncourt; er entschied sich für eine von Bach selbst stammende Ausfertigung. Anstelle des Eingangschors steht in der zweiten Fassung der Passion eine grosse Choralbearbeitung, während diverse neu eingefügte Arien von der hohen Kunstfertigkeit des Komponisten zeugen. Die im Ton zurückhaltende, in Ausdruck wie Wirkung aber ausserordentlich starke Aufführung hob diese Seite der Passion exzellent heraus. Mit dem prominenten Konzertmeister Daniel Sepec als Energiezentrum spielte das Orchester ungemein beweglich, in den konzertierenden Beiträgen zudem glanzvoll virtuos. Und der Chor, dessen Mitglieder im Solistischen nicht allesamt gleichermassen überzeugten, liess an Deutlichkeit der Textgestaltung wie an klanglicher Homogenität keinerlei Wunsch offen.
Wurde an diesem Abend ein bekanntes Werk in ein neues Licht gerückt, so präsentierte das erstmals durchgeführte Stifterkonzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung, für das der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München mit dem Chefdirigenten Mariss Jansons nach Luzern gekommen waren, eine neue Komposition. Und ein Werk in grosser Besetzung. «Requiem-Strophen» heisst es, und es stammt von Wolfgang Rihm, der hier sehr persönlich und musikalisch ausserordentlich berührend spricht. Die 2015/16 im Auftrag der Reihe «musica viva» des Bayerischen Rundfunks entstandene Partitur orientiert sich nur vage an der katholischen Totenmesse. Näher steht sie dem «Deutschen Requiem» von Johannes Brahms, das mit einer vom Komponisten selbst zusammengestellten Abfolge von Texten arbeitet. Rihm hält es ähnlich; die Verbindung zu Brahms wird gleich zu Beginn deutlich, wo Rihm den Propheten Jesaja sprechen lässt. Alles Sterbliche sei wie das Gras, das verdorrt – wie Brahms, der den Apostel Petrus herbeiruft und in seinem Requiem darauf hinweist, dass am Ende das Gras «verdorret und die Blume abgefallen» sei. Rihms Textwahl kreist einerseits um die «Missa pro defunctis», andererseits um Rainer Maria Rilke, der mit Versen aus «Das Buch der Bilder», aber auch mit Übersetzungen von Sonetten Michelangelos vertreten ist. Die in vierzehn Schritte gegliederte, äusserst stimmige Textwahl ist geprägt durch Wiederholungen, die dazu führen, dass einzelne Textpassagen in immer wieder anders geartete Kontexte geraten und dergestalt eine Art Kommentierung erhalten. In seiner subtilen Vielschichtigkeit ist allein schon das Textbuch ein Kunstwerk höchsten Anspruchs.
Aber es ist ja in Klang gebracht, und was die Musik Wolfgang Rihms vermag, zeigt sich besonders frappierend im überraschenden letzten, dem vierzehnten Schritt seiner «Requiem-Strophen». Hier greift der Komponist nach dem Gedicht «Strophen» von Hans Sahl, einem Autor der Weimarer Republik. Der Moment des Todes ist in diesen zwei sich gleichenden und sich ebenso voneinander abhebenden Strophen in zart gelassene Worte gefasst. Die Musik nimmt da einen sequenzierenden Charakter an, und wenn es am Schluss heisst «…als wär ich nie gewesen oder kaum», zieht sie sich in allerleiseste Sphären zurück – unglaublich, wie der Chor das meisterte – und verstummt dann auf dem zweitletzten Wort, dem unversehens zur Frage gewordenen «oder». Für die Einleitung zu diesem Finalteil sorgen zwei Bratschen, deren Linien sich eng verschlingen – so wie es die beiden Soprane (grossartig Mojca Erdmann und Anna Prohaska) im Lauf des Stückes immer wieder tun. Ihnen gegenüber steht ein Bariton, dem die drei Sonette Michelangelos übertragen sind; Hanno Müller-Brachmann versah diese Aufgabe mit Strahlkraft und Sicherheit in jedem Bereich seines weiten Ambitus, ausserdem mit einer Diktion, die hörend erleben liess, wie bei Wolfgang Rihm Sprache zu Musik werden kann. Hier zu einer sich organisch ausfaltenden, geschmeidig fliessenden, selten eruptiven, ihren Reichtum viel eher im Leisen findenden Musik. Dass sich Mariss Jansons diesem wunderbaren Stück mit der ihm eigenen Einlässlichkeit widmete und dass er damit bei der «musica viva» debütierte, kann dem Dirigenten nicht hoch genug angerechnet werden.
Peter Hagmann
Uns Heutigen gilt er als der Thomaskantor – aber in Leipzig, wo er von 1723 bis an sein Lebensende 1750 gewirkt hat, ist es Johann Sebastian Bach denkbar schlecht ergangen. Natürlich hat er in den Anfängen seiner Leipziger Zeit in einem unvorstellbaren Furor des Schaffens drei Jahreszyklen an Kantaten geschrieben (und zur Aufführung gebracht), hat er dazu zwei grosse Passionen geschaffen und im Café Zimmermann seinen Ruf als Dirigent eines blendenden Kammerorchesters gemehrt. Aber er litt nachhaltig unter Spannungen mit seinen Vorgesetzten, die von Musik nichts verstanden, ihm aber ästhetische Vorgaben machten, seine Dienstwohnung eng und laut, und die Schüler der Thomasschule wollten an den Projekten ihres Kantors partout nicht ordentlich mitwirken. So erstaunt nicht, dass Bach mit einigen Hintergedanken nach Dresden blickte, wo es einen kurfürstlichen Hof und reichlich Mittel für die Musik gab und wo, vor allem, sein Sohn Wilhelm Friedemann zum Organisten an die Sophienkirche berufen worden war.
Allerdings, der Dresdener Geschmack war ganz und gar anders gelagert als der in Leipzig. In Dresden gaben die Italiener mit ihrer Oper den Ton an und mit ihnen die deutschen Musiker, die auf dieses Pferd gesetzt hatten. Up to date war die Gesangslinie mit ihrer homophon gedachten Begleitung, während die Kunst des Kontrapunkts, wie sie Bach Vater vertrat, für eine vergangene Zeit stand. Bach freilich, er konnte nicht anders – die Goldberg-Variationen zeugen davon. Wie genau es zu diesen dreissig Variationen über ein vergleichsweise simples Thema (respektive über eine relativ einfache Abfolge von Bass-Schritten) gekommen ist, ist nicht bekannt. Es gibt die Legende von dem mit dem Kurfürstlichen Hof in Dresden verbundenen Reichsgrafen von Keyserlingk, der unter Schlaflosigkeit gelitten haben und als Mittel dagegen die Goldberg-Variationen erhalten haben soll – nur war der Cembalist, der neben dem reichsgräflichen Schlafzimmer die hochkomplexe Musik Bachs aus den frühen 1740er Jahren gespielt haben soll, zu jener Zeit noch ein Kind. Das ist nur eine von vielen Unklarheiten, die sich um dieses Werk ranken.
Dass die Goldberg-Variationen mit Dresden zu tun haben, mithin als leuchtender Edelstein kontrapunktischer Kunst in einem auf die Monodie fokussierten Umfeld empfunden werden können, steht freilich fest. Bach selbst spielt mit diesem Spannungsfeld, und dies an mehr als einer Stelle. Und fast hat es den Anschein, als hätte Igor Levit mit seiner Auslegung der Goldberg-Variationen im Rahmen des Luzerner Klavierfestivals genau das unterstreichen wollen. Schon die Aria, die zu Beginn das Thema vorgibt und am Ende die symmetrische Klammer bildet, deutete das bei ihm an – insofern nämlich, als die Oberstimme stets deutlich führende Melodie blieb, während die linke Hand aus dem Hintergrund heraus einen begleitenden Bass und etwas Harmonie beifügte. Das war bei András Schiff vor Jahresfrist ähnlich, nur hat Schiff in den Wiederholungen, die auch Levit ausführte, den Bass jeweils ganz leicht hervorgehoben – zum Zeichen dafür, dass es ja justament der Bass ist, der hier des Pudels Kern bildet.
Denn gleich bleibt in den dreissig Veränderungen, die der eröffnenden Aria folgend, der Bass: die Goldberg-Variationen als eine riesige, knapp eineinhalb Stunden dauernde Passacaglia. Das zu schultern, ohne unter der Last zusammenzubrechen, ist schon eine Tat. Igor Levit, dem noch nicht dreissigjährigen Pianisten aus Nischni Nowgorod, der seine Wurzeln aber klar in der deutschen Kultur hat, gelang das ganz ausgezeichnet – und dies trotz dem einschüchternd definitiven Statement, das András Schiff im Herbst 2015 im Konzertsaal des Luzerner KKL zu den Goldberg-Variationen abgegeben hat. Während Schiff das Wechselspiel der musikalischen Linien, die sich viefältigst miteinander verschlingen und äusserst vielgestaltig aufeinander reagieren, mit seiner einzigartigen Erzählkraft zum Leben brachte, schien Levit die Goldberg-Variationen eher als ein sehr unmittelbares Dokument aus dem bewegten Lebens Bachs zeigen zu wollen.
Mit dem geschmeidigen Laufwerk auf der Ebene der Sechzehntel und dem eleganten Non-Legato auf jener der Achtel betonte Levit in der ersten Variation das Element des Konzertanten, das bei Vivaldi anschliesst und in Dresden besonders geschätzt wurde. Überhaupt sparte der Pianist nicht mit dem Effekt des Virtuosen, mit der perlenden Geläufigkeit und dem behenden Überkreuzen der Hände – dies allerdings da und dort zu Lasten der satztechnischen Klarheit. Vor allem in jenen raschen Stücken, für deren Ausführung eigentlich zwei Manuale erforderlich wären, ging das Geschehen gern in Klangwolken unter, was den Intentionen des Komponisten widerspricht, denn bei aller Neigung zum modernen Dresdener Still ist Bach doch stets Kontrapunktiker geblieben. Je weiter der Abend voranschritt, desto mehr spitzte sich das zu – bis hin zu den Variationen ab der Nummer 23, die mit durchbrochenem Satz arbeiten und die in den Tempi und im Pedalgebrauch Levits unverständlich blieben.
Das mag auch eine Frage der Erfahrung sein, nicht zuletzt der Vertrautheit mit dem Luzerner Konzertsaal. Igor Levits CD-Aufnahme der Goldberg-Variationen – Teil jener grandiosen, auch grandios gewagten Dreierbox, die ausserdem die Diabelli-Variationen Beethovens und «The People United Will Never Be Defeated» des Amerikaners Frederic Rzewski enthält –, Levits Aufnahme zeigt, dass im Studio die reine Makellosigkeit herrschte und die Transparenz jederzeit gegeben war. Anders als im Luzerner Konzert bilden auf der CD diese Stücke der blitzenden Lineatur das ebenbürtige Gegengewicht zu den Variationen, in denen Bach die Monodie, aber auch die damals moderne Strömung der Empfindsamkeit aufnimmt. Gerade die empfindsamen Variationen gerieten im Luzerner Konzert zu Momenten entrückter Schönheit. Mit Mut zum lauschenden Verfolgen der musikalischen Verläufe, mit Vorstellungskraft und Atem versenkte sich Levit etwa in die Nummern 13 und 15, nach denen er, die Mitte des Zyklus markierend, eine grosse Pause machte, um dann die französische Ouvertüre der Nummer 16 mit federnder Punktierung anzugehen.
Unter den Händen Igor Levits erschienen Bachs Goldberg-Variationen somit weniger als das Monument der kontrapunktischen Kunst, das sie zweifellos sind. Vielleicht ungewollt, aber doch deutlich wahrnehmbar liess der Pianist in seiner Deutung vielmehr das um 1740 Moderne heraustreten. Als ob Bach mit den Goldberg-Variationen hätte in Erinnerung rufen wollen, dass er als Thomaskantor den Kontrapunkt wie kein Zweiter beherrsche, dass er sich in den neueren Gestaltungsweisen aber nicht weniger auszudrücken wisse. Interpretation als deutender Akt ist das, explizit und angreifbar zugleich. Jedenfalls gab der Abend ebenso viel Anregung wie Hörgenuss – kein Wunder bei einem Pianisten, der nicht nur technisch und musikalisch für höchstes Niveau steht, sondern seinem Gegenüber auch als hellwacher Kopf begegnet. Dass Igor Levit seines jugendlichen Alters zum Trotz zu den bedeutendsten Erscheinungen in der anhaltend lebendigen Welt des Klaviers gehört, hat sich an diesem einzigartigen Abend beim Lucerne Festival erneut bestätigt.
Peter Hagmann
Ist das nun der befürchtete Scherbenhaufen? Nach der Abstimmung im Luzerner Kantonsparlament, das am 12. September, am Montag nach Abschluss der erfolgreichen Sommerausgabe des Lucerne Festival, den von der Kantonsregierung begehrten Projektierungskredit für die Salle Modulable in der Höhe von 7 Millionen Franken mit 62 gegen 51 Stimmen (bei 2 Enthaltungen und 5 Abwesenden) verworfen hat, steht diese Frage absolut im Raum. Wie wird sich die Stadt, deren Parlament sich demnächst ebenfalls zu dem Projekt äussern soll, jetzt verhalten? Was werden die Initianten dem fatalen Votum entgegensetzen? Ist das Projekt, das für die Entwicklung der darstellenden Kunst und die Ausstrahlung der Kulturstadt Luzern so einzigartige Perspektiven böte, definitiv beerdigt? Noch ist nicht aller Tage Abend, in der Politik gilt das ganz besonders. Aber der Rückschlag ist bitter.
Zumal die diesjährige Sommerausgabe des Lucerne Festival über ein ganz besonderes Profil verfügte. «PrimaDonna», das Thema dieses Jahres, das die Rolle der Frau in der klassischen Musik, insbesondere in der führenden Position am Dirigentenpult in den Blick nahm, hat Fragen aufgeworfen, die nah an den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit stehen. Gleichzeitig, und Besseres hätte wohl nicht geschehen können, hat sich das Thema selber ausser Kraft gesetzt. Durch den bewussten Einbezug von Frauen ins sommerliche Geschehen – ein thematisch zentrierter «Erlebnistag» öffnete Dirigentinnen den Weg ans Pult, Olga Neuwirth trat als «composer in residence» in Erscheinung – wurde offenkundig, dass die klassische Musik weiter ist, als es den Anschein hat; jedenfalls betreten Frauen heute die Bühnen ohne lauten Ton, aber unmissverständlich. Bei einem ausserordentlichen Talent wie Mirga Gražinytė-Tyla, der 30jährigen Dirigentin aus Litauen, die soeben die Leitung des City of Birmingham Symphony Orchestra übernommen hat, wurde deutlich, dass es in der Tonkunst zuallererst noch immer um die Qualität, keineswegs aber um das Geschlecht geht. Die Frau, die etwas bietet, setzt sich nicht weniger durch als der entsprechende Mann.
Dass sich die Qualität keineswegs von selbst versteht, das war bei den 28 Orchesterkonzerten, die nach wie vor das Rückgrat des Lucerne Festival bilden, mit Händen zu greifen. Als vielversprechend darf der Einstand von Riccardo Chailly an der Spitze des Lucerne Festival Orchestra gelten. Die achte Sinfonie von Gustav Mahler wurde – mit allen Einschränkungen, die das Ende des ersten Teils betreffen – zu einem Ereignis der besonderen ersten Art. Genauso die Sinfonie Nr. 8 von Anton Bruckner, die der 87jährige Bernard Haitink im zweiten Auftritt des Festivalorchesters magistral auslegte. Es geht doch nichts über alte Meister – das bestätigte Herbert Blomstedt am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters. Knapp zwei Jahre älter als Haitink, eilte er behende zum Podium; dort stand er seine neunzig Minuten aufrecht durch – denn Blomstedt dirigierte, auswendig notabene, Bruckners Fünfte. Dabei schöpfte er aus der Fülle seiner Erfahrung, was ihm erlaubte, die Energien effizient zu bündeln und die klanglichen Gewichte optimal in Balance zu halten. Zugleich zeigte er sich ganz auf der Höhe der Zeit: stand er für eine aktuelle Sicht auf Bruckner ein – logischerweise, hat er sie doch selbst mitgestaltet hat. Schlank und durchhörbar blieb darum der Klang, zügig waren die Tempi angelegt, für Pathos blieb keine Zeit. Umzog mehr Aufmerksamkeit galt den Strukturen; trennscharf und bis weit ins Innere des Geschehens hinein erkennbar erklang etwa das Finale mit seinen ausgedehnten fugierten Teilen.
Bei Daniele Gatti, den sich das Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam als Chefdirigenten ans Pult geholt hat, war es gerade umgekehrt. Fast 35 Jahre jünger als Blomstedt, wirkte er als Interpret um Jahrzehnte älter als sein Kollege. Er hatte sich Bruckners Vierte vorgenommen, die lyrisch singende «Romantische», die bei ihm dick und fett, klanglich massiv und mit schwerer Emotion beladen daherkam. Unglaublich gedrosselt die Tempi. Gewiss, das Orchester wusste diese Verläufe zu tragen, da Mariss Jansons seinem Nachfolger einen Klangkörper in ausgezeichneter Verfassung hinterlassen hat, und der Dirigent verstand sie mit Spannung zu erfüllen. Dennoch wirkte Gattis Ansatz im Ganzen unangenehm mystifizierend, bisweilen führte er gar zu Anflügen von Kitsch. Dass Bruckners Musik nicht reines Gefühl verströmt, vielmehr hochgradig strukturiert ist und lebendig atmet, das haben in der jüngeren Vergangenheit Dirigenten wie Günter Wand oder Nikolaus Harnoncourt vorgeführt; Daniele Gatti scheint davon nichts zu Kenntnis nehmen zu wollen. So war nicht weiter verwunderlich, dass auch die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers leichtfüssiger Zauberoper «Oberon» ausgesprochen zähflüssig geriet. Dem wunderbaren Concertgebouworkest könnten schwierige Jahre bevorstehen.
Das dürfte auch für die Münchner Philharmoniker gelten, die sich für Valery Gergiev als neuen Chefdirigenten entschieden und sich damit im Vorfeld des Amtsantritts erhebliche Turbulenzen eingehandelt haben. Sie sind – das ist nun mal so Sitte und macht eine der Besonderheiten des Luzerner Festivals aus – in dieser neuen Konstellation gleich ins KKL gekommen und haben dort denkbar unglückliche Figur gemacht. Das Orchester erschien als mau und klang unidentifiziert, ohne Persönlichkeit und Ausstrahlung – in der Luzerner Konkurrenzsituation nicht gerade von Vorteil. Allerdings war das auch kein Wunder angesichts eines Programms, das mit Auszügen aus «Romeo und Julia» von Sergej Prokofjew, mit der Fantasie über «Die Frau ohne Schatten» und der Tondichtung «Don Juan» von Richard Strauss sowie dem «Poème de l’extase» von Alexander Skrjabin lauter Reisser enthielt. Valery Gergiev, der wieder mit seinem Zahnstocher in der Hand agierte und genialisch in die Musik hineinbrüllte, gelang es nicht, den vier Werken je eigenes interpretatorisches Profil zu schaffen, es klang alles ähnlich laut und schwarzweiss. Wenn im «Poème de l’extase» die Wellenbewegungen den Zuhörer nicht mitreissen, wenn im «Don Juan» kein jugendfrischer Enthusiasmus aufschiesst, dann stimmt etwas nicht. Auffallend mässiger Beifall und betretene Gesichter.
Auch nicht gerade prickelnd geriet der Auftritt des Cleveland Orchestra, mit dem es in den nächsten vielleicht einmal eine Pause geben könnte. Seinem langjährigen Chefdirigenten Franz Welser-Möst ist es gelungen, die «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» trotz korrekter Aufstellung des Orchesters mit dem Klavier in der Mitte (und einer fulminanten Pianistin) so spannungsarm und farblos erscheinen zu lassen, dass die Köpfe bald nach vorne fielen. Beethovens «Eroica» lud er dafür derart auf, dass die Wände wackelten, denn das Orchester war stark besetzt und klanglich auf mächtige Kompaktheit getrimmt. Das erlaubte dem Dirigenten, in der Wahl der Tempi den Wünschen des Komponisten zu folgen, was neueren Erkenntnissen entspricht; die Wiederholung der Exposition liess er nach alter Väter Sitte dann aber wieder aus. Laut, aber unerhört klangschön fuhren auch die Berliner Philharmoniker ein; fast hatte es den Anschein, als habe sich Simon Rattle mehr von der Pracht des Orchesters verführen zu lassen, als dass er sie gestaltet hätte. Bei den acht Slawischen Tänzen von Antonín Dvořák wurde das zum Problem. So verdienstvoll die Idee war, sie einmal nicht als Zugaben zu verwenden, sondern sie als Sammlung in ihrer Gesamtheit erklingen zu lassen, so rasch verflog der Reiz, weil sich die einzelnen Stücke – auch und gerade in der orchestralen Ausführung – zu ähnlich waren. Und die Sinfonie Nr. 2 von Johannes Brahms, das lichte, sommerliche Werk in D-dur, fand an diesem Abend der Berliner einen Ton, dessen unerhörte Kompaktheit der Partitur doch merklich widersprach.
Unter dem Strich sorgten diesen Sommer die etablierten Grössen weder für An- noch für Aufregung. Besorgniserregend ist das noch nicht, es bildet eher den courant normal ab, der beim Lucerne Festival (und nur dort in dieser Breite wie dieser Dichte) sehr genau beobachtet und bemessen werden kann. Für Aufsehen ausserhalb des Gewohnten sorgte ein Newcomer. Es war der Russe Kirill Petrenko, der in absehbarer Zukunft als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker nach Luzern kommen wird. Sein Luzerner Debüt absolvierte er aber noch mit dem Bayerischen Staatsorchester München, dem Orchester der Bayerischen Staatsoper, bei der er als Generalmusikdirektor zum Rechten schaut – und er schuf eine Sensation, wie sie vor zwei Jahren dem Schweizer Philippe Jordan und dem von ihm geleiteten Orchester der Oper Paris gelungen ist. Welch glühende Verbindung zwischen Orchester und Dirigent, welch feuriges Musizieren auf der Stuhlkante – und was für ein Effekt beim jubelnden Publikum. Das Vorspiel zum ersten Aufzug von Wagners «Meistersingern» feingliedrig und äusserst ziseliert, die Vier letzten Lieder von Richard Strauss mit Diana Damrau in einer Innigkeit sondergleichen – und zum Abschluss doch tatsächlich dessen «Sinfonia domestica», das nicht gerade von ironischer Distanz lebende Selbstporträt des jungen Komponisten als Hausvater mit zickiger Gattin und süssem Kleinkind. Nur wer diese überladene Partitur bis ins Innerste zu zügeln vermag und sie dennoch wie ein Feuerwerk explodieren lassen kann, darf es wagen, sie aufs Programm zu setzen. Kirill Petrenko ist es gelungen – ein Sieg der Qualität.
Peter Hagmann
Nicht nur beim Lucerne Festival Orchestra, auch bei der Lucerne Festival Academy stand ein Neubeginn an. Wobei der Wechsel von Pierre Boulez, dem Anfang dieses Jahres verstorbenen Mitbegründer und Künstlerischen Leiter der Academy, zu dem Komponisten Wolfgang Rihm und seinem dirigierenden Alter ego Matthias Pintscher wesentlich weniger geräuschvoll verlief als beim Orchester. Natürlich wäre auch Heinz Holliger für die Nachfolge denkbar gewesen; er hätte die Doppelfunktion des Komponisten und Dirigenten wahrnehmen können, mit der Boulez der Academy ihre Spezialität geschaffen hat, und als «Schüler» von Boulez hätte er ohne Zweifel auch die in den vergangenen zehn Jahren etablierten Paradigmen weiterverfolgt. Das gilt angewandt auch für Wolfgang Rihm, der nun aber doch als die Galionsfigur des zeitgenössischen musikalischen Schaffens gelten darf und ausserdem gut zehn Jahre jünger ist als Holliger. Und dass die Lucerne Festival Academy einen Meister als Leiter braucht, nicht einen in jüngeren Jahren stehenden Revolutionär, scheint sich von Geist und Zweckbestimmung der Akademie her von selbst zu verstehen.
Zu dieser Zweckbestimmung gehört, dass die Lucerne Festival Academy zum einen den Stipendiaten neue Horizonte eröffnet, zum anderen aber auch dem Festival etwas bringt. Die verschiedenen kleineren Formationen, von Mitgliedern des Pariser Ensemble Intercontemporain betreut, vor allem aber auch das gross besetzte Orchester ermöglichen es, Dinge ins Programm aufzunehmen, welche die in Luzern gastierenden Orchester nicht im Reisegepäck führen. Neue Musik eben – und sei sie auch schon etwas älter als hundert Jahre. Vor den Werken aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule zum Beispiel schrecken viele Konzertgänger zurück, vor Stücken neueren Datums erst recht; in Tourneeprogrammen nehmen sie bestenfalls die Funktion des Feigenblatts wahr. Wird diese Musik jedoch von einem bekannten Interpreten aufgeführt, wird sie angenommen. So haben Maurizio Pollini in seinen Rezitals und Pierre Boulez, in Luzern verehrt und geliebt, am Pult des Lucerne Festival Academy Orchestra manches möglich gemacht und zahlreiche Türen aufgestossen. In diesem Jahr, dem Jahr der PrimaDonna, kam die Funktion der Türöffnerin Anne-Sophie Mutter zu.
Die weltbekannte Geigerin gab zusammen mit ihrem langjährigen Duopartner Lambert Orkis am Klavier ein Rezital, mit dem sie daran erinnerte, dass sie vor vierzig Jahren zum ersten Mal beim Luzerner Festival aufgetreten ist, sie war sich aber auch nicht zu schade, mit den Stipendiaten des Luzerner Sommers zusammenzuwirken. Mit Alan Gilbert, dem Chefdirigenten des New York Philharmonic, der ans Pult des Akademieorchesters getreten war, erarbeitete sie ein ausgesprochen stimmiges Programm mit Alban Bergs Violinkonzert, mit «En rêve», einem zu Unrecht vergessenen Violinkonzert des Welschschweizers Norbert Moret von 1988 und mit der riesigen Tondichtung «Pelleas und Melisande» von Arnold Schönberg. Nicht nur, dass dieses Programm im Rahmen eines ausverkauften Sinfoniekonzerts mit denkbar grossem Erfolg gegeben wurde, Anne-Sophie Mutter stellte sich zusammen mit Alan Gilbert auch für das Format «40min» zur Verfügung, in dessen Rahmen bei freiem Eintritt eine gute halbe Stunde Musik vorgestellt wird. Der Erfolg war immens, die Schlange der wartenden Zuhörer reichte vom Haupteingang des KKL rund ums Haus bis hin zum Treppenabgang zum Bahnhof. Noch feiner wäre es gewesen, wenn es eine Gesprächsführung gegeben hätte, und noch schöner, wenn in der Ansage zur Veranstaltung Schönbergs Tondichtung nicht mit der Oper Claude Debussys verwechselt, sondern in der korrekten, deutschsprachigen Formulierung des Titels vorgestellt worden wäre.
Sehr berührend, wie Anne-Sophie Mutter Bergs Violinkonzert heute spielt: schlank im Ton, zurückhaltend im Einsatz des Vibratos, sorgsam in der Emphase. So spricht diese eminent biographisch geprägte Musik ganz direkt. Bei Morets Geigenkonzert wiederum sparte sie nicht mit klangsinnlichem Reiz – was das nur mit Streichern und etwas Schlagwerk besetzte Orchester glänzend aufnahm. Sehr respektabel gelang auch «Pelleas und Melisande». Gewiss kann man sich fragen, wie sinnvoll es ist, das Lucerne Festival Academy Orchestra, das in seiner grossen Formation vergleichsweise selten zusammenkommt, der Konkurrenz durch die auf Hochglanz polierten reisenden Orchester auszusetzen – zumal Schönbergs Tondichtung ein ganz und gar spätromantisches Idiom spricht, die jungen Musikerinnen und Musiker also auf heikles Gelände führt. Andererseits bot ihnen die Aufführung eine Begegnung mit den Wurzeln der Avantgarde und zudem eine Gelegenheit, die sich für die wenigsten von ihnen so rasch wieder ergeben wird. Schönbergs unglaublich opulent besetztes Werk wird ja nicht allzu häufig gespielt; die Veranstalter scheuen es, weil es hohe Kosten verursacht und tiefe Einnahmen in Aussicht stellt, denn nur wenig bekannt ist, dass es sich bei «Pelleas und Melisande» nicht um ein Werk in Zwölftontechnik handelt. Genau darauf spielte Alan Gilbert in seiner ebenso sympathischen wie nützlichen Einführung an, mit der er das Stück vor der Aufführung kurz vorstellte. Die Interpretation selbst lebte von des Dirigenten Erfahrung und seiner dezidierten Hand; die Kräfte blieben kontrolliert, die farblichen Reize der Partitur wurden gleichwohl in aller Pracht ausgebreitet.
Begab sich hier die Lucerne Festival Academy in vormoderne Gefilde, so kommt die neue Musik, das hat sich noch nicht überall herumgesprochen, im Programm des Lucerne Festival insgesamt zu erheblicher, inzwischen selbstverständlicher Präsenz – dafür sorgt nicht zuletzt Mark Sattler als der für diesen Sektor zuständige Dramaturg. Dieses Jahr ergab sich eine zusätzliche Akzentuierung durch den Umstand, dass der Schweizerische Tonkünstlerverein seine Jahresversammlung und das mit ihr verbundene Tonkünstlerfest im Rahmen des Festivals abhielt. So ergab sich die Gelegenheit, zahlreiche neue Werke kennenzulernen, unter ihnen, als Uraufführung im Südpol, eine Oper von Michel Roth. Der Innerschweizer Komponist des Jahrgangs 1976, der an der Musikhochschule Basel unterrichtet, packte den Stier bei den Hörnern – und das ist in diesem Fall «Die Künstliche Mutter», Hermann Burgers zweiter Roman aus dem Jahre 1982: eine ausladende, in Dauer-Fortissimo gehaltene Schelte des Autors auf die Schweiz im allgemeinen und seine Mutter im speziellen, ein Wiedergänger des Zürcher Skandal-Buchs «Mars» von Fritz Zorn.
Eine Literaturoper also – und genau daran ist Michel Roth gescheitert. Die Umwandlung des Romans, die der Komponist zusammen mit Nils Torpus, dem Regisseur der Uraufführung, vorgenommen hat, muss notgedrungen verkürzen und setzt eigenwillige Gewichte. In den Vordergrund geraten, auch in der Inszenierung, die militärischen Aspekte: der Mythos der Alpenfestung, das Denken in Hierarchien und die militärischen Alltäglichkeiten, die jedem braven Schweizer Mann vertraut sind. Aber eben nur dem. Dass der Untergebene eine Uniform mit höheren Gradabzeichen trägt als der Vorgesetzte, dass das Porträt von General Guisan auf den Kopf gestellt wird und der nahrhafte Spatz aus der Gamelle zu Ehren kommt, mag für einen Zuschauer ohne spezifischen lokalen Bezug weder verständlich noch reizvoll sein. Dazu kommt die merkliche Sprachlastigkeit. Gegenüber der donnernden Gewalt des Textes bleibt die Musik insgesamt im zweiten Glied. In ihrer fragmentarischen, illustrierenden, jedenfalls wenig konstitutiven Anlage bleibt sie Beiwerk, bisweilen verstummt sie gar und wird die Oper zum Schauspiel – als hätte der Komponist nicht mehr weitergewusst.
Dabei wirkte «Die Künstliche Mutter» vom Konzept wie der szenischen Umsetzung her durchaus originell. Der erste Teil ereignete sich im Foyer, einem länglichen Raum, der in der Einrichtung von Renato Grob den Wänden entlang drei Spielorte bot und das von Jürg Henneberger geleitete Ensemble Phoenix in der Mitte plazierte. Interaktion war angesagt. Wer wollte, konnte sich an Holztischen unter die Darsteller mischen, Schauspielerinnen wirkten neben Sängerinnen und Sängern, Instrumentalisten eroberten die Bühne, während einer der Sänger dem Dirigenten den Taktstock entriss. Für den zweiten Teil des Abends begab man sich in den Hauptsaal – und dort konnte man etwa ein fulminantes Solo des grunzenden, jaulenden, stöhnenden Kontrabassisten Alexander Gabryś erleben, der als personifizierter Gletscher zum Protagonisten sprach. Eigenartig, wie in der Anlage der Guckkastenbühne das Ensemble greifbarer wurde, wie viel deutlicher das Engagement von Robert Koller (Bariton), Christoph Waltle (Tenor), Ann-May Krüger (Mezzosopran) und Jeannine Hirzel (Sopran) sowie der beiden Schauspielerinnen Rachel Braunschweig und Miriam Japp spürbar wurde. Es war die Einlässlichkeit der Interpreten, die den Abend trug.
Peter Hagmann
Ausser beim zweitbesten Orchester der Welt, jenem aus Wien, das bis vor wenigen Jahren ausdrücklich den Herren der Schöpfung vorbehalten war, das inzwischen aber auch schon zwei, drei Vertreterinnen des schwachen Geschlechts aufgenommen hat, ist die Präsenz von Frauen auf den Konzertpodien der Welt kein Thema mehr. In einigen Klangkörpern bilden die Musikerinnen mittlerweile sogar die Mehrheit, und selbst Instrumente wie Kontrabass, Posaune oder Schlagzeug sehen sich heute bisweilen in zarten Händen. Solistischen Ambitionen steht das Geschlecht höchstens noch insofern im Weg, als die für das gedeihliche Vorankommen erforderliche Präsenz allenfalls mit der Familienplanung kollidiert. Ohnehin ist nicht zu übersehen, dass an den musikalischen Ausbildungsstätten Studentinnen mindestens ebenso präsent sind wie Studenten.
So wäre denn die Gleichberechtigung in musicis erreicht? Das wäre nun doch eine arge Täuschung, denn wenigstens in zwei Bereichen des Musiklebens kann davon keine Rede sein. Komponistinnen, die zu den zentralen Figuren des Betriebs gehören, also keine noch so angesehene Aussenseiterposition einnehmen, sind noch immer eine Seltenheit. Erst recht aber gilt es für Frauen am Pult von Orchestern. Gewiss sind wir weiter als zu jenen Zeiten, da das Erscheinen einer Dirigentin Befremden, wenn nicht Gelächter auslöste. Heute gehören Dirigentinnen wie Laurence Equilbey, Julia Jones, Karen Kamensek oder Simone Young ganz einfach dazu; sie stehen im Betrieb und nehmen prestigeträchtige Chefpositionen ein. Aber sie bilden noch immer mit Erstaunen quittierte Ausnahmen.
Das Lucerne Festival schlägt hier nun eine kräftige Bresche. Es stellt seine diesjährige Sommerausgabe unter das Thema «PrimaDonna» – wobei in den Publikationen das «i» durch eine klar als solche erkennbare weibliche Hand ersetzt ist, die einen Taktstock hält. Dass es eine linke Hand ist, mag sich aus graphischen Gründen aufgedrängt haben, zumal sich dadurch ein «accent aigu» ergeben hat. Es ist aber auch von leiser Ironie, wie überhaupt das Thema ohne jeden demagogischen Zug, vielmehr geradezu spielerisch durchgeführt wird. Weniger amüsant sind die fleissigen Bienen aus dem Orchester, die dem von weiblicher Hand geführten Taktstock zu gehorchen haben – da bleibt die Graphik hinter den Errungenschaften des Festivals zurück.
Aber es wird ernst gemacht mit der Primadonna, nicht auf der Bühne, sondern am Pult. Ein gutes Dutzend Dirigentinnen treten diesen Sommer in Luzern auf, und das durchaus nicht an Nebenschauplätzen. Die Wiener Philharmoniker bitten Emmanuelle Haïm zum Gastspiel und lassen sich durch die französische Spezialistin für alte Musik, die nicht zuletzt von William Christie und Simon Rattle gefördert wurde, durch Händels «Wassermusik» führen. Susanna Mälkki, inzwischen Chefdirigentin bei den Philharmonikern von Helsinki, dirigierte das Orchester der Lucerne Festival Academy und hob ein neues Werk von Olga Neuwirth, dieses Jahr «composer in residence», aus der Taufe. Und Marin Alsop war nicht mit dem Orchester von Baltimore, das sie seit 2007 leitet, sondern mit dem von ihr 2012 übernommenen São Paulo Orchestra zu Gast.
Und dann: Barbara Hannigan. Die gefeierte Sopranistin, die das Lucerne Festival 2016 mit dem Solostück «Djamila Boupacha» von Luigi Nono einleitete und dann eine vielleicht etwas lange, aber sehr persönliche Eröffnungsrede im Gedenken an Pierre Boulez hielt, Barbara Hannigan stellte sich auch als Dirigentin, ja selbst als dirigierende Sängerin vor. Das war nicht das Gelbe vom Ei, um ehrlich sein. Als Sängerin in neuem Repertoire, etwa bei der Uraufführung von Toshio Hosokawas «Matsukaze» an der Brüsseler Monnaie-Oper 2011, ist sie unübertroffen, zumal auch in ihrer körperlichen Agilität und ihrer darstellerischen Präsenz. Selbst in der Titelpartie von Alban Bergs «Lulu» am selbenn Haus war sie eine Besonderheit. Aber Dirigentin muss sie erst noch werden, wie die farblose Wiedergabe von Joseph Haydns Pariser Sinfonie in D-dur, Hob. I:86 erwies.
Bei der Tondichtung «Luonnotar» von Jean Sibelius wirkte sie gar in Doppelfunktion: als Dirigentin wie als Solistin. Neu ist das nicht; es kommt etwa bei Klavier- oder Violinkonzerten Mozarts vor, wo es in der Regel, aber durchaus nicht immer, problemlos funktioniert, weil sich der dirigierende Solist meist mitten unter den Musikern aufhält. Hier bei Sibelius ging es daneben. Wenn sich Barbara Hannigan auf ihrem Podium zum Publikum hin umdrehte und als Dirigentin zu singen anhob, wirkte das geradezu grotesk; singend führte sie einem lahmen Vogel gleich halbe Armbewegungen aus, während der Konzertmeister das Mahler Chamber Orchestra bei der Stange zu halten suchte. Weil sie als Sängerin mit dem Rücken zu den Musikern und gleichzeitig vor ihnen stand, litt die Verbindung zum Orchester, was Mängel der klanglichen Balance und der Intonation in diesem harmonisch schwierigen Stücks hören liessen. Um so auffälliger dagegen die Show, die Barbara Hannigan aus dem Moment machte: mit effektvoller, aber nicht unbedingt effizienter Körpersprache und mit barfüssigem Auftritt.
Dass es all das nicht braucht, erwies der Erlebnistag dieses Sommers, der das Podium ganz den PrimaDonnen überliess. Der Knoten sei zerschlagen, versicherte Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festival, in dem von der Radioredaktorin Gabriela Kaegi witzig moderierten Podiumsgespräch – und er hatte recht damit. Um ernst zu machen mit dem Thema, hatte das Festival das Chamber Orchestra of Europe, das Orchester und Ensembles der Lucerne Festival Academy sowie die Festival Strings engagiert und sechs Damen jüngerer Generation zum Dirigieren eingeladen – zu einer Art Vordirigieren vielleicht, so konnte einem die friedliche Konkurrenz in der dichten Abfolge der Ereignisse vorkommen. Das Pech wollte (oder war es ganz maliziös beabsichtigt?), dass dabei auch fest verankerte Rollenbilder gepflegt wurden. Zum Beispiel von der Geigerin Arabella Steinbacher, die sich neben den irritierend beiläufig spielenden Festival Strings mit den «Vier Jahreszeiten» von Antonio Vivaldi befasste: ohne ernsthaften Kontakt mit dem Ensemble und ohne Auseinandersetzung mit neueren Strömungen der musikalischen Interpretation – als Geigensternchen alter Schule eben.
Echt weiblich halt. Wer so dachte, durfte sich an diesem Sonntag von den übrigen Damen in leitender Funktion auf den Boden einer ganz anderen Realität holen lassen. Von der Estin Anu Tali zum Beispiel, die mit einem Fräcklein erschien, festen Schrittes dem Podium zueilte und dort mit feurigem Temperament, äusserst eifrig und mit herrscherlicher Führung des Taktstocks zu erkennen gab, dass Frau in dieser Domäne durchaus ihren Mann zu stellen weiss. In der Sinfonie Nr. 1 von Sergej Prokofjew, der «Symphonie classique», fand das Chamber Orchestra of Europe darum zugespitzte Kontraste und einen kompakten Ton, was dem gelassenen Blick zurück, der in diesem Stück herrscht, doch merklich widersprach. Auch die Griechin Konstantia Gourzi schien die Geschlechterfrage bewusst aus dem Spiel lassen zu wollen. Sie gab sich in Erscheinung und Zeichengebung ausgeprägt neutral und liess in ihrem ganz auf die Moderne ausgerichteten Programm mit dem Orchester der Lucerne Festival Academy Werke wie «Le Sacrifice» von Iannis Xenakis oder das frühe «Concert Românesc» von György Ligeti in blendender, aber auch nüchterner Klarhheit erklingen.
Ganz anders dagegen Mirga Gražinytė-Tyla. Die dreissigjährige Dirigentin aus Litauen macht kein Aufhebens darum, dass sie als Frau ans Dirigentenpult tritt; ihre Weiblichkeit kommt ganz selbstverständlich und natürlich zur Geltung. Zartgliedrig, wie sie ist, bleiben ihr autoritäre Züge im Auftreten verschlossen, ihre Zeichengebung zielt vielmehr auf die Auslösung energetischer Prozesse. Den Taktstock führt sie mit feinem Griff, ihre Linke dagegen spricht in vielerlei Gestalt. So machte sie Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 6 in F-dur, die «Pastorale», zu einem Gang durch ein äusserst belebtes Landleben.
Das Chamber Orchestra of Europe war klein besetzt und sprach leise, für diesen Klangkörper mit seiner reichen Beethoven-Erfahrung vertrautes Terrain. Bemerkenswert aber die Ausdrücklichkeit, die Mirga Gražinytė-Tyla im Rahmen der ziselierten Diktion erzielte. Dass sie dabei die Tempi, die sich Beethoven gewünscht hat, nur annährend erreichte, war nicht von Belang; die vom Komponisten stammenden Metronomzahlen stellen kein Dogma dar, sie sind vielmehr aus dem Kontext heraus zu verwirklichen. Und dieser Kontext war hier von enormer Stimmigkeit: reich an struktureller Einsicht wie an emotionaler Dichte. Intensiv wuchs das Geschehen aus dem Geflecht der Stimmen, auch der Binnenstimmen, und der instrumentalen Farbwirkungen heraus; und es lebte von manch überraschendem Einfall – etwa von dem ganz und gar ungewohnt von oben genommenen Triller, mit dem sich vor der Reprise des Kopfsatzes die Ersten Geigen vernehmen lassen. Die Szene am Bach, in leichtem Fluss gehalten, geriet zu einem bunten Vogelkonzert, die Tänze der Landleute steigerten sich in so heftiges Temperament, dass der Wechsel in die bedrohliche Stimmung vor dem Gewitter von geradezu dramatischer Wirkung war, während sich das Unwetter selbst dann elementar entlud. Nichts von dem geriet jedoch überzeichnet, in jedem Moment herrschten vielmehr die authentische Hinwendung der Dirigentin zum Text und ihre Ausstrahlung an die Adresse der äusserst animiert wirkenden Orchestermitglieder.
Zutiefst berührend war das. Dieser Tage tritt Mirga Gražinytė-Tyla ihr neues Amt als Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra an; in dieser Funktion folgt sie Vorgängern wie Simon Rattle oder Andris Nelsons – und kommenden Sommer wird sie mit dem Orchester aus Birmingham in Luzern gastieren. Dass es eine Frau ist, die im Begriff steht, zu einer grossen Karriere abzuheben, ist absolut bedeutungslos; im Vordergrund steht die einzigartige Begabung. Wenn sie sich so selbstverständlich durchsetzt, wie es bei Mirga Gražinytė-Tyla den Anschein hat, zeugt das aber doch von einem gewissen Wandel in der Frage nach der PrimaDonna. Das Lucerne Festival darf sich da durchaus seiner Verdienste rühmen.